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THEMENHEFT FORSCHUNG Systembiologie Universität Stuttgart • 2005

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T H E M E N H E F T F O R S C H U N G

Systembiologie

Univers i tä t S tut tgar t • 2005

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TH E M E N H E FT FORSCH U NG SYSTE M B IOLOG I E2

Editorial

Impressum

Liebe Leserinnen und Leser,

vor Ihnen liegt die erste Ausgabe des neuenT H E M E N H E F T F O R S C H U N G derUniversität Stuttgart. Das Themenheft ist kein Forschungs-Magazin im üblichenSinne, das wissenschaftliche Breite durchmöglichst viele Themen in einem Heft an-strebt. Diese Aufgabe erfüllen bereits zahl-reiche andere Publikationen der Universi-tät. Ziel des Themenheftes ist dagegen dieausführliche Vorstellung eines jungen undzukunftsträchtigen Forschungsgebietes,das schon bestehenden Fachrichtungenoder organisatorischen Einrichtungennicht ohne weiteres zugeordnet werdenkann. In unserer ersten Ausgabe wird dasfakultäts- und institutsübergreifende Ge-biet der Systembiologie vorgestellt. Hierarbeiten Ingenieure, Biologen und System-wissenschaftler gemeinsam an einemneuen Verständnis organischen Lebens.

Die Universität Stuttgart bietet mit ihremThemenheft den jungen und aufstreben-den neuen Forschungsinitiativen einForum zur Information der Öffentlichkeitund gleichzeitig eine Plattform zur inner-universitären Selbstverständigung. Die in-haltliche Darstellung neuer Technologienund Wissenschaftsfelder und ihrer Auswir-kungen auf Wirtschaft und Gesellschaftdient damit auch der Profilschärfung derUniversität.

Mit dem Konzept für das T H E M E N H E F TF O R S C H U N G findet eine Veröffent-lichungsreihe zu einem neuen Gesicht undneuen Namen, die einmal mit einer revue-artigen Universitätsdarstellung als „Ball-broschüre“ begann, in der organisations-orientierten Darstellung aller Fakultätenfortgesetzt wurde und in den letztenJahren mit der Darstellung der Sonderfor-schungsbereiche und der Simulations- undVisualisierungstechnologien bereits eineWendung zur Darstellung von disziplinen-und fakultätsübergreifenden Forschungs-themen genommen hatte.

Gerade die Darstellung eines noch jungenForschungsgebietes für die Öffentlichkeitsteht in besonderem Maße vor dem Pro-blem der Verständlichkeit. Ich möchtemich an dieser Stelle bei allen Autoren desvorliegenden Heftes bedanken für dienicht unerhebliche zusätzliche Arbeit andem heute oft geforderten „Public Under-standing of Science“. Vielleicht trägt dieseBroschüre ja auch ein wenig dazu bei, überdie zahlreichen bestehenden wissenschaft-lichen Kooperationen und Vernetzungenhinaus weitere Synergien zwischen denFächern, Instituten und Fakultäten anzu-regen. •

Dr. Ulrich Engler

Das Themenheft Forschung wird herausgegeben im Auf-trag des Rektorats der Universität Stuttgart.

Koordination des Themenhefts Forschung:Ulrich Engler, Tel. 0711/121-2205, E-Mail: [email protected]

Wissenschaftlicher Koordinator Systembiologie:Matthias Reuß

Autoren Systembiologie: Frank Allgöwer, Sandra Barth,Thomas Eißing, Ernst Dieter Gilles, Lisa Grundmann,Christoph Hubig, Stefan Lange, Karin Lemuth, KlausMauch, Dirk Michel, Dirk Müller, Jürgen Pleiss, Thomas

Reichart, Matthias Reuß, Peter Scheurich, Rolf Schmid,Stephan Tatzel, Jörg Wrachtrup et al.

Titelseite und Grundlayout Themenheft Forschung:Zimmermann Visuelle Kommunikation, Gutenberg-straße 94 A, 70197 Stuttgart

Druck und Anzeigenverwaltung: Alpha Informations-gesellschaft mbH, Finkenstraße 10, 68623 Lampertheim,Tel. 06206/939-0, Fax 06206/939-232, Internet: www.alpha-werbung.deVerkaufsleitung: Peter Asel

© Universität Stuttgart 2005 ISSN 1861-0269

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TH E M E N H E FT FORSCH U NG SYSTE M B IOLOG I E4

InhaltEditorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2

Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2

Grußwort des Rektors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7Prof. Dr.-Ing. Dieter Fritsch

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8Forschungsschwerpunkt Systembiologie an der Universität StuttgartMatthias Reuß

Komplexität in Technik und Biologie . . . . . . . 10Ernst Dieter Gilles

Integration von zellulären Stoff-wechsel- und Signalnetzwerken . . . . . . . . . . . . 18Klaus Mauch, Dirk Müller, Matthias Reuß

Sein oder Nichtsein?Mathematische Systemtheorie zur Analyse Biologischer Signalverarbeitung . . . . . . . 32Frank Allgöwer, Thomas Eißing, Peter Scheurich

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I N HALT 5

Das grüne LeuchtenDem Molekül auf der Spur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42Margarita Gerken, Elmar Thews, Carsten Tietz, Jörg Wrachtrup

Funktionelle Genomikin mikrobiellen und humanen Systemen . . . . . . . 52Lisa Grundmann, Stefan Lange, Karin Lemuth, Dirk Michel, Thomas Reichart, Rolf Schmid

Von der Sequenz zur FunktionDatenbanken und Modellierung . . . . . . . . . . . . . . 58Sandra Barth, Jürgen Pleiss, Stephan Tatzel

Systembiologie als Paradigma der Technik – Technik als Paradigma derSystembiologie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64Christoph Hubig

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G R USSWORT 7

Grußwort des Rektors

Mit dem T H E M E N H E F T F O R S C H U N Gverfügt die in der Forschung ausgewieseneUniversität Stuttgart nun über eine Platt-form, um innovative wissenschaftliche Ini-tiativen profiliert herausstellen zu können.Die Systembiologie gehört zu den wichti-gen strategischen Forschungsimpulsen inBaden-Württemberg, die zuletzt in einerBestandsaufnahme der Landesstiftung un-ter dem Namen „Modellierung komplexerbiologischer Prozesse“ genannt wurde.Gerade wegen des in Europa noch beste-henden frühen Entwicklungsstadium kon-statiert die Studie für diese Wissenschafts-richtung einen bedeutenden Finanzie-rungsbedarf. Angesichts der in nahezu al-len Gebieten der lebenswissenschaftlichenSpitzenforschung drohenden Gefahr derAbwanderung vor allem junger Wissen-schaftler ist es besonders zu begrüßen, dassdie Einrichtung eines Zentrums für Sys-tembiologie an der Universität Stuttgartvom Land unterstützt wird. Das ZentrumSystembiologie soll als zentrale wissen-schaftliche Einrichtung fakultätsübergrei-fend und interdisziplinär wirken; unter an-derem durch die Vorbereitung eines Son-derforschungsbereichs, die Einrichtungeiner International Summer School undeiner Graduate School sowie die Planungeines eigenen Studiengangs. Stuttgart wirddamit zu einem wichtigen Standort aufdem bislang vor allem von den USA domi-nierten Forschungsfeld. Besonders in derfach- und fakultätsübergreifenden Integra-tion von Ingenieurwissenschaftlern, Sys-temwissenschaftlern und Biologen besitztdie Universität Stuttgart eine bundesweiteinmalige Ausrichtung.

Nur eine kleine Auswahl aus dem breitenSpektrum systembiologischer Forschungkonnte im Themenheft Platz finden, den-noch spannt sich ein weiter Bogen von derKomplexität in Technik und Biologie überden Beitrag der mathematischen System-theorie, die Rolle der funktionellen Geno-mik, die Integration von Stoffwechsel- undSignalnetzwerken, zu Nachweis- und Ver-folgungstechniken einzelner Moleküle inder Zelle und das Zusammenspiel von Da-tenbanken und Modellierung bis zur phi-losophischen Reflexion über die Rolle derSystembiologie als Paradigma der Technik.

Allen Wissenschaftlern, die an der Einrich-tung des Zentrums Systembiologie be-teiligt sind, und auch den Autoren diesesThemenheftes möchte ich meine Aner-kennung für die bereits geleistete Arbeitaussprechen. Ein besonderer Dank giltjedoch dem Kollegen Matthias Reuß, dernicht nur die wissenschaftliche Koordina-tion für dieses Heft übernommen hat, son-dern vor allem maßgeblich die Einrichtungdes Zentrums Systembiologie mit voran-getrieben hat. •

Prof. Dr.-Ing. Dieter Fritsch

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Vor dem Hintergrund des wünschenswertenErwerbs neuer Erkenntnisse zum Verhal-ten biologischer Systeme wie aber auch fürdie Beantwortung bedeutsamer Fragestel-lungen in der Biomedizin und Bioprozess-technik stoßen diese reduktionistischenBetrachtungsweisen indes immer dann aufkonzeptionelle Grenzen, wenn es um dasVerständnis des biologischen Systems alsGanzes geht. Diese Grenzen haben ihreUrsachen zunächst einmal in der unglaub-lich großen Zahl von Einzelkomponentender Systeme. Eine Rekonstruktion desGesamtverhaltens des Systems würde abereine Verschaltung der Informationen überdas dynamische Verhalten sämtlicher Ein-zelbausteine erfordern, was angesichts derimmensen Zahl als nicht realistisch anzu-sehen ist. Darüber hinaus würde diese„bottum-up“ Rekonstruktion immer dannscheitern, wenn das ganzheitliche Verhal-ten des Systems durch neu hinzutretendeQualitäten charakterisiert ist. Dieses durchden Begriff der Emergenz gekennzeichnetePhänomen, bei dem Systemeigenschaftenaus dem Ganzen auftauchen, die nichtEigenschaften der individuellen Teile sind,trifft man in der Biologie außerordentlichhäufig an. Von besonderem systembiologi-schen Interesse sind hierbei vor allem Fra-gen der Robustheit und Fragilität großerNetzwerke.

Die anerkannten Schwierigkeiten, biologi-sches Systemverhalten durch Aggregationaus den Informationen über das Kompo-nentenverhalten zu generieren, stelleneinen treibenden Faktor für eine ganzheit-lich orientierte Systembiologie dar. Weiterebedeutsame Agenzien für diese mit gewis-ser Vorsicht als Paradigmenwechsel zu be-zeichnende neue Forschungsrichtung sinddie stürmischen Entwicklungen neuerHochdurchsatztechnologien zur Sequen-zierung der Genome, experimentellenAnalyse der Expression der genetischen In-formation, Beobachtung der mannigfalti-gen Interaktionen zwischen den Proteinenund ganzheitlichen Messungen von Meta-boliten. Der durchaus berechtigte Begriffder „Datenfluten“ spiegelt eindrucksvolldas unverkennbare Missverhältnis zwi-schen Datengenerierung und der aufErkenntnisgewinn fokussierten Datenver-arbeitung wider. Dieses Dilemma der ge-nomskaligen Hochdurchsatzexperimenteist zugleich ein wichtiger Impetus für sys-temorientierte Analysen, die es erlauben,aus dieser ungeheuren Fülle von Datenneue Erkenntnisse im Sinne eines „ReverseEngineering“ zu extrahieren. So darf esnicht verwundern, dass nur relativ kurznach der als Meilenstein der Forschunggefeierten Veröffentlichung des menschli-chen Genoms bereits ein erstes Sonderheft

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ForschungsschwerpunktSystembiologie

an der Univers i tä t S tut tgar t

Die Biologie hat sich in der Vergangenheit vornehmlich damit be-

fasst, die biologischen Systeme in ihre Komponenten zu zerlegen.

Dabei waren qualitative und beschreibende auf die molekularen

Details ausgerichtete Vorgehensweisen charakteristisch. Diese mole-

kularen Ansätze haben zu außerordentlich bedeutsamen Erkenntnis-

gewinnen geführt und sind nach wie vor unverzichtbarer Bestandteil

biologischer Grundlagenforschung.

Ein jeder Teil hat dieTendenz, sich einemGanzen anzuschließen,um dadurch aus seinerUnvollkommenheitherauszukommen.

Leonardo da Vinci

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des Wissenschaftsmagazins „Science“ demThema der Systembiologie gewidmet war.

Die Verwendung des Begriffs der Systembio-logie geht auf den Biologen und Philo-sophen Ludwig von Bertalanffy (1901–1972) zurück, der in den 40er Jahren desvorigen Jahrhunderts erste Konzepte einerganzheitlichen Betrachtung biologischerSysteme zu einer „Allgemeinen System-theorie“ weiterentwickelte und dieseschließlich als generelles Mandat gegen dieFragmentierung von Wissen in den Wis-senschaften ausbaute. Diese allgemeineSystemtheorie wurde sehr bald insbeson-dere von der Kybernetik aufgegriffen undzu der eigentlichen mathematischen Sys-temtheorie weiterentwickelt. In der ak-tuellen Systembiologie, die dank der er-wähnten experimentellen Methoden undden bahnbrechenden Erkenntnisgewinnenauf eine ganz neue Qualität biologischerForschung zurückgreifen kann, liefernnunmehr vor allem im Bereich der mathe-matischen Modellierung und Simulationdiese mathematisch fundierten Methodender Systemtheorie entscheidende Beiträge.

An der Universität Stuttgart wurden dieMöglichkeiten, durch interdisziplinäreZusammenarbeit zentrale Fragestellungender Biologie mit systembiologischen Me-thoden zu adressieren, bereits sehr früh-zeitig erkannt und systematisch weiterent-wickelt. Derzeit hat die Universität in derfach- und fakultätsübergreifenden inter-disziplinären Integration der Bio-, System-und Ingenieurwissenschaften ein bundes-weites Alleinstellungsmerkmal. Der An-satz in Stuttgart entspricht den an führen-den amerikanischen Universitäten ver-folgten Strategien der transdisziplinärenVerbindungen zwischen Bio- und Inge-nieurwissenschaften.

Neben der zentralen Rolle der mathemati-schen Modellierung und Simulation kom-plexer zellulärer Netzwerke kommt derWeiterentwicklung der experimentellenMethoden, um die für die Modellverifizie-rungen notwendigen quantitativen Datenzu ermitteln, große Bedeutung zu. Hierzugibt es im Rahmen des interdisziplinärenForschungsschwerpunkts Systembiologiezusätzlich wichtige Beiträge aus den Fach-richtungen der Biochemie, Biologie undPhysik. Im Zusammenhang mit diesennotwendigen quantitativen Daten gibt essehr enge Kooperationen zwischen denModellierern und experimentellen Ar-beitsgruppen. Diese Vernetzung zielt aufdie Weiterentwicklung der Methoden deroptimalen Versuchsplanung für Fragen derSystemidentifikation und Modelldiskrimi-nierung.

Es ist vorgesehen, die außerordentlich güns-tigen Voraussetzungen bezüglich der inter-disziplinären Vernetzungen zwischen Bio-,System- und Ingenieurwissenschaften wei-ter auszubauen und nachhaltig in den uni-versitären Strukturen zu verankern. AlsInfrastrukturmaßnahme und organisatori-scher Rahmen für die zukünftige Vernet-zung systembiologischer Aktivitäten ander Universität Stuttgart ist daher dieGründung eines Zentrums für Systembio-logie geplant. Für dieses Zentrum wirdderzeit ein Forschungsprogramm initiiert,dessen Schwerpunkte auf neue Ansätzezur Integration von System- und Biowis-senschaften für die Analyse und das Designbiologischer Systeme fokussiert sind. •

Matthias ReußInstitut für Bioverfahrenstechnik

Universität Stuttgart

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Deren zunehmende Komplexität stellt na-türlich neue und erhöhte Anforderungenan die Ingenieur- und Systemwissenschaf-ten. So sind Methoden und Werkzeuge zuentwickeln, die es gestatten, komplexetechnische Prozesse so zu gestalten, dass siebestimmte strukturelle Eigenschaften auf-weisen. Eine besonders wichtige Struktur-eigenschaft ist die Robustheit. Der Entwurfeines komplexen Systems muss sicher-stellen, dass dessen erwünschte Funktio-nalität möglichst auch dann aufrechterhalten wird, wenn sowohl Fehlerquellenim Innern als auch Störungen in der Um-gebung wirksam werden. Bei der Sicher-stellung einer robusten Funktionalitätkommt der Sensortechnik, der Signal-übertragung und vor allem der Regelungeine zentrale Bedeutung zu. Zu den wich-tigsten Konzepten, die zur Anwendungkommen, um die Komplexität technischerProzesse zu beherrschen, gehören:

• Modularisierung,• Hierarchische Strukturierung der Rege-

lungen,• Redundanz und Diversität.

Beispiele für nichttechnische komplexe Sys-teme sind in der Biologie in zahlreichenFormen zu finden. Betrachtet man z.B. dasVerhalten einer prokaryotischen odereukaryotischen Zelle etwas genauer, so ge-winnt man den Eindruck, dass die Forde-

rungen, denen man bei der Gestaltungkomplexer technischer Prozesse zu genü-gen versucht, im Falle biologischer Zellenin vorbildlicher Weise erfüllt sind. Aller-dings sind die Konzepte, die dem ganzheit-lichen Verhalten zellulärer Systeme zu-grunde liegen, heute noch wenig verstan-den. Klar scheint aber zu sein, dass dieseSysteme eine natürliche Modularität besit-zen. Dies bedeutet, dass sie aus interagie-renden Funktionseinheiten des Stoffwech-sels, der Signaltransduktion und der Regu-lation aufgebaut sind, die deutlich vonein-ander abgegrenzt werden können unddurch einen gewissen Grad an Autonomiegekennzeichnet sind. Die Granularität derModule ist durch die Skalengröße der je-weiligen Skalierungsebene bestimmt, aufder man die Modularität eines zellulärenSystems betrachtet. Typisch für diese Sys-teme ist auch, dass ihre Regulationeneinen hierarchischen Aufbau besitzen.Schließlich gibt es auch im Bereich desStoffwechsels redundant angelegte Stoff-wechselwege. Bei der Erfassung sensoriel-ler Informationen kommt weiter ein brei-tes Spektrum an Möglichkeiten zum Ein-satz, Reize in Signale umzusetzen (Diver-sität).

Abgesehen vom deutlichen Unterschied imGrad ihrer Komplexität besteht also zwi-schen biologischen Systemen und komple-xen technischen Prozessen ein gewisses

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Komplexität inTechnik und Biologie

Anmerkungen zu S imulat ion und V isual is ierung

Viele Veränderungen unseres täglichen Lebens sind dadurch

bedingt, dass die Komplexität technischer Prozesse immer weiter

wächst. Ein typisches Beispiel ist das Internet, das mit seinen vielfäl-

tigen Möglichkeiten die traditionellen Lebensgewohnheiten nachhaltig

verändert. Weitere Beispiele sind Verkehrssysteme und hochautoma-

tisierte industrielle Produktions- und Fertigungsprozesse.

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Systembiologie – InterdisziplinärerCharakter

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Maß an Ähnlichkeit und Verwandtschaft.Aus diesem Grunde darf man erwarten,dass die in den System- und Ingenieurwis-senschaften entwickelten Methoden undWerkzeuge für die Analyse und Gestaltungkomplexer technischer Prozesse auch zumbesseren Verständnis biologischer Systemewichtige Beiträge liefern können.

Betrachtet man den gegenwärtigen Standder Forschung in der Molekularbiologie,so muss man zunächst einmal die unge-heuren Fortschritte bewundern, die dieseDisziplin in den letzten Jahren erzielt hat.Die Aufklärung des menschlichen Genomsist sicherlich der spektakulärste einer Viel-zahl von Meilensteinen, die immer tieferenEinblick in die molekularen Prozesse zellu-lärer biologischer Systeme ermöglichen.Man stellt aber auch fest, dass das heuteverfügbare biologische Wissen noch immervorwiegend qualitativer und beschreiben-der Natur ist und dass die Forschung pri-mär auf ein besseres Verständnis des mole-kularbiologischen Details ausgerichtet ist.So kommt z.B. der Aufklärung der indivi-duellen Wechselwirkungen dieser Kompo-nenten bei der zellulären Regulation undSignaltransduktion eine besondere Bedeu-tung zu. Was aber bisher stark vernachläs-sigt wurde ist die Analyse ganzheitlicherVerhaltensmechanismen komplexer Netz-werkstrukturen, die sich aufgrund des Zu-sammenwirkens einer größeren Anzahlmiteinander vernetzter molekularer Kom-ponenten (Gene, Proteine, Metabolite) er-geben. Rein gedanklich sind diese Verhal-tensmechanismen nicht mehr nachvoll-ziehbar. Hier braucht man das Hilfsmittelder mathematischen Modellierung. Nur sogelingt es, das heute verfügbare biologi-sche Wissen mit einer systemwissenschaft-lich orientierten Denkweise zu verbinden.Allerdings bedeutet diese system- und sig-nalorientierte Betrachtung von zellulärenSystemen auch, dass damit der Weg hin zueiner stärker quantitativ orientierten Bio-logie beschritten werden muss. Dieser Wegwird dadurch erleichtert, dass in den letz-ten Jahren gänzlich neue Analysemetho-den entwickelt werden konnten. Mit dersogenannten DNA-Chip-Technologie ist esz.B. möglich, das Expressionsprofil mehre-rer tausend Gene parallel und rasch zubestimmen. Diese Information ist wichtig,um komplexe Regulationsstrukturen imSinne eines reverse engineering aufklären zukönnen.

1. ModulareStrukturierung

Am Beispiel einer bakteriel-len Zelle (01) soll nun einStrukturierungskonzepterläutert werden, das – imSinne einer Nachbildungder natürlichen Modulari-tät – der Modellierung zel-lulärer Systeme zugrundegelegt werden kann. DiesesKonzept ist auch die Basis,um den hohen Stellen-wert, der ganz allgemeinder Regelung in biologi-schen Systemen zukommt,verdeutlichen zu können.

Der bekannteste Vertretereiner prokaryotischenZelle ist das Darmbakteri-um Escherichia coli, das sichin der molekularbiologi-schen und genetischenForschung einer großenBeliebtheit erfreut. Dieses„einfache“ Bakterium be-sitzt über 4800 Gene undverfügt über etwa 50 Stoff-wechseleinheiten, bis zu100 genetisch gesteuerteRegulationsnetzwerke, ca.2500 Proteine und Enzymeund ca. 50–70 Sensoreneinschließlich der zugehö-rigen signalverarbeitendenElemente [1, 2, 3]. Aus einer abstrakt sys-temtheoretischen Sicht lässt sich das ganz-heitliche Verhalten einer solchen bakteri-ellen Zelle durch das Zusammenwirkendreier sehr komplexer Netzwerke, einesStoffwechselnetzwerks, eines Regulations-netzwerks und eines Netzwerks der Signal-transduktion beschreiben (02). In ihremZusammenwirken bilden diese drei Netz-werke eine autonome Einheit, die in derLage ist, sich in sehr effizienter Weise ver-änderten Umgebungsbedingungen anzu-passen [4, 5, 6].

1.1. Stoffwechselnetzwerk

Zunächst sei das Stoffwechselnetzwerk etwasdetaillierter betrachtet. Es umfasst eineVielzahl vorwiegend enzymatischer Reak-tionsschritte, die ausgehend von denSubstraten zur Bildung zellulärer Struktu-ren führen. Im Zuge der Zellteilung wer-

Bakterielle Zelle

Signalorientierte Darstellung einer bakteriellen Zelle

02

01

Zur Beherrschung komplexer technischer Prozessekommen heute in den Systemwissenschaften vorallem die Konzepte der Modularisierung, der hie-rarchischen Strukturierung sowie der Redundanz undDiversität zum Einsatz. Abgesehen vom Grad derKomplexität besteht zwischen biologischen Systemenund komplexen technischen Prozessen ein gewissesMaß an Ähnlichkeit und Verwandtschaft. Aus die-sem Grunde darf man erwarten, dass die in denSystem- und Ingenieurwissenschaften entwickeltenMethoden und Werkzeuge auch zum besseren Ver-ständnis biologischer Systeme wichtige Beiträge lie-fern können. Die system- und signalorientierte Be-trachtung von zellulären Systemen betritt damit denWeg hin zu einer stärker quantitativ orientiertenBiologie. Am Beispiel einer bakteriellen Zelle wirdin diesem Beitrag ein Strukturierungskonzept vorge-stellt, das – im Sinne einer Nachbildung der natür-lichen Modularität – der Modellierung zellulärerSysteme zugrunde gelegt werden kann. Aus system-theoretischer Sicht wird das ganzheitliche Verhaltender Zelle durch das Zusammenwirken dreier sehrkomplexer Netzwerke, eines Stoffwechselnetzwerks,eines Regulationsnetzwerks und eines Netzwerks derSignaltransduktion beschrieben. Die Modularisie-rung des bakteriellen Systems in Funktionseinheitenbegrenzter Autonomie ist die Basis der Modellie-rung ganzheitlicher Verhaltensmechanismen. Dabeikommt der richtigen Abgrenzung einer Funktions-einheit und der Identifikation von Schlüsselgrößen,die das Verhalten der Module charakterisieren, eineentscheidende Bedeutung zu.

ZUSAM M ENFASSUNG

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den diese Strukturen dann zu einer Toch-terzelle zusammengesetzt. Zusätzlich ent-stehen bestimmte Produkte, die in die Um-gebung ausgeschleust werden. Ordnetman die Reaktionen des Stoffwechselnetz-werks entsprechend ihrer Funktion imMetabolismus, so lässt sich dieses Netzwerkwie in (03) gezeigt, in kleinere Stoffwech-seleinheiten zerlegen:

• die Transportreaktionen ermöglichen dieAufnahme und Rückhaltung von Nähr-stoffen sowie das Ausschleusen von Pro-dukten;

• durch die Reaktionen des Katabolismuswerden die Substrate in kleinere Moleküle,die sogenannten Precursor zerlegt. Darü-ber hinaus dienen diese Reaktionen derGewinnung von Energie und Reduktions-kraft;

• durch die Monomersynthese werden diePrecursor transformiert in Zellbausteinewie Nukleotide, Aminosäuren, Zuckerund Fettsäuren;

• durch die Polymerisationsreaktionen wer-den ausgehend von Zellbausteinen Makro-moleküle wie z.B. DNA, RNA und Prote-ine gebildet;

• durch die Assembly-Reaktionen werdenMakromoleküle chemisch modifiziert, zuvorbestimmten Stellen in den Zellentransportiert und dort zu zellulärenStrukturen wie z.B. Membranen, Poly-somen und Nukleoid verknüpft;

• alle Metabolite, die Energie und Reduk-tionskraft repräsentieren, werden ebensowie die Alarmone und Coenzyme einereigenen Stoffwechseleinheit zugeordnet.Damit wird berücksichtigt, dass diese Me-tabolite im Gegensatz zu den übrigenMetaboliten des Stoffwechselnetzwerks aneiner Vielzahl von Reaktionen beteiligtsind. Diese Beteiligung kann entweder alsReaktand oder als Katalysator erfolgen.

Fokussiert man nun auf den Block des Kata-bolismus, so lässt sich dieser Block wie in(04) gezeigt, in noch kleinere Unterein-heiten wie z.B. die Glykolyse, den Pentose-Phosphat-Weg (PPW) und den Zitronen-säurezyklus (TCA) zerlegen. Der letzteSchritt der Zerlegung wird am Beispiel derGlykolyse gezeigt. Er führt auf die Ebeneelementarer struktureller Modellbaustei-ne. Zwei unterschiedliche Klassen dieserBausteine sind für eine Dekomposition derGlykolyse erforderlich:

• Stoffspeicher, als elementare Kompo-nenten,

• Stoffwandler, als elementare Verknüp-fungselemente in Form enzymkatalysier-ter Reaktionsschritte.

1.2. Regulationsnetzwerk

Betrachtet man nun das in (05) dargestellteRegulationsnetzwerk, so verfügt diesesüber eine große Anzahl von Enzymen undRegulatorproteinen, deren Aufgabe darinbesteht, die Stoffflüsse des Stoffwechsel-netzwerks unabhängig von sich änderndenUmgebungsbedingungen auf eine genaueSelbstreproduktion der Zelle auszurichten[7]. Um geeignete Stellsignale z.B. in Formvon Enzymmengen und Enzymaktivitätenzu generieren, stehen dem Regulations-netzwerk Sensorsignale zur Verfügung, die Informationen über den aktuellenZustand des Stoffwechselnetzwerks unddes Netzwerks der Signaltransduktionbeinhalten. Die Darstellung des Regulati-onsnetzwerks als Pyramide in (05) soll dieausgeprägte hierarchische Strukturierungbakterieller Regulationen verdeutlichen.Auf der untersten Ebene, der sogenanntenmetabolischen Ebene, erfolgen die Stellein-griffe durch allosterische oder kovalenteModifikationen der Enzymaktivitäten in-nerhalb von Millisekunden. Die Zelle istdamit in der Lage praktisch ohne Verzöge-rung auf Veränderungen ihrer Substrat-versorgung und auf andere Reize aus der

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03

Stoffwechselnetzwerk

Katabolismus und Glykolyse

03

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TECH N I K U N D B IOLOG I E 13

Umgebung zu reagieren. Die Regulations-vorgänge dieser Ebene haben primär loka-len Charakter und beschränken sich damitjeweils auf sehr begrenzte Bereiche desStoffwechselnetzwerks.

Der metabolischen Regulationsebene über-geordnet ist die Ebene der genetischenRegulation. Hier erfolgt die koordinierteProduktion von Enzymen und Regulator-proteinen durch die im Minutenbereichverhältnismäßig langsam ablaufenden Pro-zesse der Genexpression. Damit ist derZeithorizont der Regulation auf der gene-tischen Ebene deutlich länger als derjenigeder metabolischen Ebene.

Wichtig erscheint, dass die genetische Ebenein sich selbst bereits hierarchisch struktu-riert ist. Die Basiseinheit der Genexpres-sion ist das Operon. Mehrere Operons wer-den durch ein übergeordnetes Regulator-protein, ein sogenanntes Regulon koordi-niert gesteuert. Eine hierarchisch noch hö-here Einheit ist das Modulon. Dieses Regu-latorprotein fasst eine mehr oder wenigergroße Anzahl von Regulons zu einer be-reits sehr komplex strukturierten Regula-tionseinheit zusammen. Einem Modulonlässt sich in der Regel eine bestimmte phy-siologische Aufgabenstellung zuordnen. Esist in der Lage die untergeordneten Expres-sionseinheiten koordiniert zu aktivierenoder zu inhibieren. Der Graph in (05)

zeigt, dass die Informationsübertragung ineiner solchen Regulationseinheit nicht nurvom Modulon ausgehend von oben nachunten erfolgt, sondern dass Rückführun-gen auch eine Signalübertragung in umge-kehrter Richtung bewirken.

Die oberste Ebene des Regulationsnetzwerkskann man als Leitebene interpretieren. Sieist entscheidend durch das Verhalten desZellzyklus bestimmt. Der Zellzyklus hatdie Funktion einer periodisch arbeitendenProgrammablaufsteuerung der zellulärenProzesse. Ziel dieser Ablaufsteuerung istdie Herstellung möglichst exakter Kopieneiner Zelle durch Mitose (Zellteilung). Derbakterielle Zellzyklus besteht aus drei dis-kreten Phasen (05). In der B-Phase erfolgtdas Massenwachstum der Zelle. Ist ein be-stimmter Reifezustand erreicht, so beginntmit dem Umschalten in die C-Phase dieReplikation der DNA. Die Mitose selbst,also die Zellteilung, erfolgt in der D-Phase.Die Übergänge von einer Phase zur näch-sten hängen strikt von der korrekten Be-endigung aller Funktionen der gerade exis-

tierenden Phase ab und sind immer irre-versibel. Charakteristisch ist, dass in Rich-tung höherer Hierarchieebenen der Regu-lation eine Verdichtung der Messinforma-tionen erfolgt und dass in umgekehrterRichtung die Steuersignale immer stärkerdetailliert werden. Während für die Ebenedes Zellzyklus im Wesentlichen diskreteEntscheidungsprozesse bestimmend sind,haben die Steuersignale der unteren Regu-lationsebenen primär zeitkontinuierlichenCharakter.

1.3. Netzwerk der Signaltransduktion

Der Informationsaustausch zwischen derZelle und ihrer Umgebung erfolgt überdas Netzwerk der Signaltransduktion.Reize aus der Umgebung werden übermembrangebundene Rezeptoren aufge-nommen, verarbeitet und an das Regula-tionsnetzwerk weitergegeben, das dannentsprechende Stelleingriffe z.B. in dasStoffwechselnetzwerk vornimmt. DieseStelleingriffe führen auch zu Antwortsig-nalen der Zelle an ihre Umgebung. Auchdas Netzwerk der Signaltransduktion istdurch eine modulare Strukturierung ge-kennzeichnet. Eine wichtige Frage ist, obdieses Netzwerk aus einem begrenzten Satzimmer wiederkehrender Grundbausteineder Signaltransduktion aufgebaut ist, diedurch elementare Formen ihres Übertra-gungsverhaltens gekennzeichnet sind.

Ein schon etwas komplexerer Grundbausteinder Signaltransduktion ist das in (06) dar-gestellte Zweikomponentensystem. Es istaus den beiden Komponenten „Sensor“und „Antwortregulator“ aufgebaut. DemSensor entspricht in der Regel ein mem-brangebundenes Sensorprotein, welchesaus zwei Domänen aufgebaut ist. Die In-putdomäne ragt dabei durch die Zellmem-bran, so dass extrazelluläre Reize aufge-nommen werden können. Die Wahrneh-mung eines Reizes durch den Sensor führtzu einer Konformitätsänderung des Pro-teins, welches die Transmitterdomäne zurAutophosphorylierung befähigt. Die Sig-naltransduktion erfolgt durch Phospho-rylierung des Antwortregulators. Dabeihandelt es sich um ein im Zytoplasma ge-löstes diffusibles Protein, das häufig alsAktivator oder Repressor an die DNA bin-det. Eine Dephosphorylierung desAntwortregulators entspricht einerSignallöschung.

05

06

Schematische Darstellung vom Aufbaueines Zweikomponentensystems

Regulationsnetzwerk

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1.4. Zelluläre Funktionseinheiten

Verschaltet man eine Untereinheit des Stoff-wechselnetzwerks mit der ihr zugeordne-ten Untereinheit des Regulationsnetz-

werks und verfährt man ingleicher Weise mit einer Un-tereinheit des Netzwerks derSignaltransduktion, so erhältman die in (07) dargestelltenbeiden Klassen geregelter zel-lulärer Funktionseinheiten.Bei geeigneter Abgrenzungsind diese Einheiten durchein gewisses Maß an Autono-mie ihres Verhaltens gegen-

über ihrer Umgebung gekennzeichnet.Erst aufgrund dieser begrenzten Autono-mie macht es Sinn ein solches Teilsystemals autarke zelluläre Funktionseinheit zu-nächst weitgehend unabhängig vom Resteiner Zelle zu untersuchen. Der in diesem

Sinne richtigen Abgrenzungeiner Funktionseinheitkommt damit eine entschei-dende Bedeutung zu. Da zurZeit noch keine systemtheo-retischen Methoden undWerkzeuge zur Verfügungstehen, um eine Zelle ingeeigneter Weise in zelluläreFunktionseinheiten zu zer-legen, muss man sich mitden folgenden intuitivenAbgrenzungskriterien begnü-gen:

• Physiologische Funktion: Komponenteneiner Funktionseinheit erfüllen durchZusammenwirken eine physiologischeFunktion (Nahrungsaufnahme, Atmung,Sporulation, Stressbewältigung).

• Genetische Struktur: Gene einer Funk-tionseinheit werden koordiniert exprimiert(Operon, Regulon, Modulon).

• Regulation: Funktionseinheit enthält ge-schlossene Regelkreise, die im Sinne einerVerhaltensreduktion ihr Eigenverhaltenprägen.

• Signaltransduktion: Komponenten einerFunktionseinheit bilden ein Netzwerk vonÜbertragungsgliedern zur Verarbeitungund Integration von Signalen.

Um zelluläre Verhaltensmechanismen ganz-heitlich zu untersuchen, kann man zu-nächst mit der Modellierung verhältnis-mäßig einfacher Funktionseinheiten begin-nen, um diese dann zu höher strukturier-

ten Funktionseinheiten zu vernetzen. Diemit dieser Vernetzung verbundene Zunah-me der strukturellen Komplexität musssich allerdings nicht in einer entsprechen-den Zunahme der Verhaltenskomplexitätäußern. Der Grund dafür sind meist über-geordnete Regulationen, die mit der fort-schreitenden Vernetzung zur Wirkungkommen und auf diese Weise zu einerEingrenzung und Fokussierung der mögli-chen Verhaltensmechanismen führen.Diese Wirkung der Regulation lässt erwar-ten, dass zelluläres Verhalten auch beizunehmender struktureller Komplexitätmit überschaubaren reduzierten Modellenbeschrieben werden kann. Die mit derfortschreitenden Vernetzung wirksam wer-denden Regulationen sind auch die Ur-sache dafür, warum das Verhalten detail-lierter Modellstrukturen oft eine hohe Ro-bustheit gegenüber Veränderungen einerVielzahl ihrer Parameter aufweist. Der Ver-such zelluläres Verhalten ganzheitlich zumodellieren, muss deshalb auch nicht ander Beschaffung einer kaum noch über-schaubaren Anzahl reaktionskinetischerund thermodynamischer Parameter schei-tern, die im Falle molekularbiologisch de-taillierter Strukturen zellulärer Funktions-einheiten benötigt werden. Stattdessenwird es wichtig sein, diejenigen Schlüssel-parameter zu identifizieren, die für dieBeschreibung der ganzheitlichen Verhal-tensmechanismen bestimmend sind.

2. Schlussfolgerungen

Die bisherigen Ausführungen sollten ver-deutlichen, dass zwischen dem Aufbau zel-lulärer biologischer Systeme und demAufbau komplexer technischer Prozessegewisse Ähnlichkeiten bestehen. So zeigtz.B. (08) Analogien, die zwischen einerbakteriellen Zelle und einem technischenProduktionsprozess bestehen. Die Konzep-te, die sich einerseits im Laufe der Evolu-tion zellulärer biologischer Systeme her-ausgebildet haben und die andererseits vonIngenieuren angewendet werden, umkomplexe technische Prozesse so zu gestal-ten, dass diese trotz ihrer Komplexitätbeherrschbar bleiben, sind durchaus mit-einander verwandt. Modularität, hierarchi-sche Strukturierung der Regulationen,Redundanz und Diversität gehören offen-sichtlich zu den unverzichtbaren Gestal-tungsmerkmalen der Systeme und Prozes-se in beiden Bereichen.

TH E M E N H E FT FORSCH U NG SYSTE M B IOLOG I E14

Klassen zellulärer Funktionseinheiten

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TECH N I K U N D B IOLOG I E 15

Zelluläre Funktionseinheiten sind dadurchgekennzeichnet, dass sie eine Vielzahl mo-lekularbiologischer Komponenten enthal-ten, die in komplexer Weise miteinandervernetzt sind. Das Zusammenwirken die-ser Komponenten könnte nicht auf einebestimmte physiologische Funktion ausge-richtet sein und müsste im Chaos enden,wenn nicht auf der Basis sensorieller Infor-mationen hoch effiziente Regulationsvor-gänge eine zielgerichtete Funktionsweisenicht nur ermöglichen, sondern trotzStöreinflüssen auch aufrecht erhaltenwürden. Die komplexen molekularbiologi-schen Strukturen müssen also auch leis-tungsfähige Signaltransduktionen undRegulationen umfassen, um ihre Funktionüberhaupt wahrnehmen zu können. Willman also biologische Systeme in ihremVerhalten verstehen, so reicht eine Erfor-schung aus rein molekularbiologischerSicht nicht aus. Die zentrale Bedeutung,die der Signaltransduktion und Regulationim Hinblick auf die Funktionalität zellulä-rer Funktionseinheiten zukommt, ver-langt auch eine Analyse ihres dynami-schen Verhaltens aus systemtheoretischerSicht. Insbesondere ganzheitliche Verhal-tensmechanismen lassen sich nur dannwirklich verstehen, wenn sie auf derGrundlage molekularbiologisch fundierterModelle einer systemtheoretischen Ana-lyse unterzogen werden. Hier existierenheute noch erhebliche Defizite, die daraufzurückzuführen sind, dass sich die Biologienur zögernd einer quantitativen Betrach-tungsweise öffnet. Unter den Begriffen„Systembiologie“ und „Biosystemtechnik“ist aber in jüngster Zeit ein Prozess desUmdenkens deutlich erkennbar.

Nach diesen Überlegungen versteht es sichvon selbst, dass eine interdisziplinäre Zu-sammenarbeit der Biologie mit den Sys-tem- und Ingenieurwissenschaften im Hin-blick auf ein verbessertes Verständnis zel-lulärer Funktionseinheiten außerordent-lich lohnend sein muss. Vor allem ist es dassystem- und regelungstheoretische Gedan-kengut, das in diesem Sinne wichtige Bei-träge zu leisten vermag, um ganzheitlichesVerhalten biologischer Systeme besser zuverstehen. So führt die Anwendung sys-tem- und regelungstheoretischer Metho-den und Werkzeuge auch in der Biologiezu neuen Einsichten in die Prinzipien, dieder Gestaltung zellulärer Systeme zugrun-de liegen. Besonders nützlich erscheint andieser Stelle die Entwicklung eines virtuel-

len biologischen Labors,dessen interdisziplinärerAufbau aus (09) hervor-geht. Mittels computer-gestützter Modellierungund Simulation kannman in einem solchenLabor in ähnlicher Weiseexperimentieren wie mitbiologischen Systemender realen Welt. Die in(08) dargestellten Analo-gien zwischen einer Zelleund einem chemischenProduktionsprozess legenes nahe, auch darübernachzudenken, ob die zel-lulären Regulationskon-zepte nicht geeignet sind,um die Leittechnik tech-nischer Produktionsanla-gen wesentlich zu verbes-sern. • Ernst Dieter Gilles

Literatur

1 J.W. Lengeler. MetabolicNetworks: a signal orien-ted approach to cellular models.Biol.Chem. 381: 911–920, 2000.

2 F.C. Neidhardt, J.L. Ingraham, M. Schaech-te. Physiology of the bacterial cell: A mole-cular approach. Sinauer Associates, Inc.,1990.

3 J.W. Lengeler, G. Drews,H.G. Schlegel.Biology of the Prokaryotes. Georg ThiemeVerlag, 1999.

4 A. Kremling, K. Jahreis, J.W. Lengeler, andE.D. Gilles. The organization of metabolicreaction networks: A signal orientedapproach to cellular models. MetabolicEngineering, 2(3):190–200, 2000.

5 A. Kremling and E.D. Gilles. The organiza-tion of metabolic reaction networks: IISignal processing in hierarchical structuredfunctional units. Metabolic Engineering,3(2): 138–150, 2001.

6 A. Kremling, K. Bettenbrock, B. Laube, K.Jahreis, J.W. Lengeler, and E.D. Gilles. The organization of metabolic reactionnetworks: III. Application for diauxicgrowth on glucose and lactose. MetabolicEngineering, 2001. 3(4): 362–379, 2001.

7 J. Stelling, A. Kremling, M. Ginkel, K.Bettenbrock, and E.D. Gilles. Towards aVirtual Biological Laboratory. In H. Kitano,editor, Foundations of Systems Biology,chapter 9, pages 189–212, MIT Press. 2001.

For the control of complex technological processesmodern systems sciences use mainly the concepts ofmodularisation and hierarchical structuring of regu-lations. Apart form the level of complexity there aremany similarities and affinities between biologicalsystems and complex technical processes. One mayexpect for this reason that the methods developed inmodern engineering technology can deliver also to abetter understanding of biological systems. The ana-lysis of signal processes in cellular systems todayenters the way to a more quantitative oriented biolo-gy. At the example of a bacterial cell a structuringconcept is introduced for the structuring and modu-larization of the cellular process in general. In asystem oriented view the integral behaviour of thecell can be described as the cooperation of threecomplex networks, metabolism, regulation and signaltransduction. The modularization of the bacterialsystem into functional units of limited autonomy isthe basis of modeling global behavorial characteri-stics. In that process of modularizing the correctdemarcation of functional units and the identificati-on of key variables describing the dynamics of themodules are of decisive importance.

SUM MARY

09

Systembiologie – InterdisziplinärerCharakter

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TH E M E N H E FT FORSCH U NG SYSTE M B IOLOG I E16

DER AUTOR

Prof. Dr.-Ing. Dr. h.c. mult. Ernst Dieter Gilles

Der im Jahr 1935 geborene Ernst Dieter Gilles absolvierte 1954 die Reifeprüfung in St. Goarshausen. Nachdem Studium der Elektrotechnik, Fachrichtung Regelungstechnik, legte er 1960 das Diplomexamen an der THDarmstadt ab und promovierte dort 1963 und habilitierte 1966 an der Fakultät für Elektrotechnik der THDarmstadt. Seit 1968 ist Ernst Dieter Gilles Direktor des Instituts für Systemdynamik und Regelungstechnik derUniversität Stuttgart. Von 1987 bis 1991 war er Sprecher des Zentralen Schwerpunktprojekts Bioverfahrens-technik der Universität Stuttgart und von 1989 bis 1995 fungierte er als Sprecher der DFG-Forschergruppe„Methoden zur Modellierung und Berechnung der Dynamik verfahrenstechnischer Prozesse“. Als Mitglied desSenats der Deutschen Forschungsgemeinschaft wirkte Gilles von 1990 bis 1996 und von 1993 bis 2002 arbeiteteer als Deutscher Herausgeber der Publikationsreihe „Chemical Engineering Science“ des Elsevier Verlages. Ab1996 übernahm er die Sprecherfunktion im Sonderforschungsbereich 412 „Rechnergestützte Modellierung undSimulation zur Analyse, Synthese und Führung verfahrenstechnischer Prozesse“. Seit 1997 leitet er als Direktordas Max-Planck-Institut „Dynamik komplexer technischer Systeme“ in Magdeburg (Gründungsdirektor). Zahlreiche Preise und Ehrungen markieren den wissenschaftlichen Werdegang von Ernst Dieter Gilles. 1967 er-hielt er den DECHEMA-Preis der Max-Buchner-Forschungsstiftung, im Jahr 1992 wurde ihm die Carl-Fried-rich-Gauß-Medaille, der Ernest-Solvay-Preis sowie der Landesforschungspreis Baden-Württemberg verliehen.1995 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Universität Hannover und die Ehrendoktorwürde der TechnischenUniversität Donezk/Ukraine. Im Jahr 1999 folgte die Ehrendoktorwürde der Universität Ploiesti/Rumänien und2004 wurde Ernst Dieter Gilles der 7th Nordic Process Control Award der Nordic Working Group on ProcessControl verliehen. Professor Gilles ist Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, der Braun-schweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft sowie der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissen-schaften.

KontaktUniversität Stuttgart, Institut für Systemdynamik und RegelungstechnikPfaffenwaldring 9, 70569 StuttgartTel.: 0711/685 6302, Fax: 0711/685 6371E-Mail: [email protected], Internet: www.isr.uni-stuttgart.de

ANZE IGE

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1. Einführung

Experimentelle Beobachtungen und mathe-matische Modellierung und Simulationsind zwei zentrale und nicht trennbareAspekte der Systembiologie. Beide Berei-che zeigen in den vergangenen Jahrenstürmische Entwicklungen. Technologi-sche Fortschritte im Bereich der Hoch-durchsatztechnologien für die Sequenzie-rung der Genome, die experimentellenAnalysen der Expression der genetischenInformationen, die Beobachtungen dermannigfaltigen Interaktionen zwischenden Proteinen und die ganzheitliche Erfas-sung der Konzentrationen der Metabolitein verschiedenen biologischen Systemenhaben dabei zu einer noch nie dagewese-nen Fülle von Daten in der experimentel-len Biologie geführt. Der durchaus berech-tigte Begriff der „Datenfluten“ spiegelt ein-drucksvoll das unverkennbare Missver-hältnis zwischen Datengenerierung undDatenverarbeitung wider. Der Begriff derVerarbeitung beschränkt sich in diesemZusammenhang nicht auf das Informati-onsmanagement im Sinne von Datenban-ken, sondern zielt auf den Erkenntnis-

TH E M E N H E FT FORSCH U NG SYSTE M B IOLOG I E18

Integration vonzellulären Stoffwechsel-und Signalnetzwerken

Rien ne va plus – nichts geht mehr ohne sie, die früher schon mal

als Simulanten und Schönfärber der Wissenschaft Geschmähten.

Aus der Simulation, einst eine der Haupttriebfedern für die Ent-

wicklung von Computern überhaupt, ist längst eine allgegenwärtige

Querschnittstechnologie geworden, deren Ergebnisdaten in immer

größerer Zahl immer schneller produziert – nur durch grafische Auf-

bereitung oder Visualisierung interpretierbar bleiben.

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STOFFWECHSE L- U N D S IG NALN ETZWE R KE 19

gewinn, also die Generierung von neuembiologischen Wissen, die zielgerichtete Mo-difikation biologischer Systeme in der Bio-prozesstechnik und die Identifikation mul-tipler Targets bei der Entwicklung neuerpharmazeutischer Wirkstoffe. Die zuneh-mende Erschließung des Wissens um dieGenome der hierbei interessierenden bio-logischen Systeme erfordern neben denbereits weitgehend verfügbaren experi-mentellen Methoden zur Entschlüsselungder Genome neue Werkzeuge und Metho-den zur Quantifizierung der biologischenKomponenten und für die mathematischeModellierung und Simulation.

Eine besondere Herausforderung bei der ge-nomweiten mathematischen Modellierungund Simulation stellt die Kopplung vonSignal- und Stoffwechselnetzwerken dar.Diese Integration ist aber unerlässlich, umdie Verarbeitung von Informationen inund zwischen Zellen mit der Verteilungvon materiellen Stoffflüssen im biologi-schen System zu verknüpfen. In der sys-temorientierten, ganzheitlichen Analysewerden diese Netzwerke häufig getrenntbetrachtet, und es ist sogar eine Tendenzzu beobachten, Signaltransduktionsprozes-se und Stoffwechselnetzwerke in eigenenwissenschaftlichen Communities zu be-handeln.

Im vorliegenden Beitrag wird versucht, Ge-meinsamkeiten aber auch einige Besonder-heiten dieser beiden Formen zellulärerNetzwerke herauszustellen. Diese Frage-stellungen werden zunächst auf den Ebe-nen der Identifikation und Strukturanaly-se der Netzwerke diskutiert. Am ausge-wählten Beispiel der Kopplung von Zell-zyklus und Energiestoffwechsel bei derHefe Saccharomyces cerevisiae soll darüber hin-aus die Kopplung von Modulen aus derSignaltransduktion und dem Stoffwechselgezeigt werden.

2. Rekonstruktion von zellulärenNetzwerken

Selbstverständlich müssen vor jedwederAnalyse zellulärer Netzwerke, sei es die desStoffwechsels oder der Informationsver-arbeitung, in einem ersten Schritt die fürdie Lösung der interessierenden Problemerelevanten Netzwerke identifiziert werden.Vor dem Hintergrund der Abertausendenzellulären Komponenten und ihrer glei-chermaßen vielfältigen wie komplexen In-teraktionen ist dieser Schritt der Rekon-

struktion mit gleichzeiti-ger Fokussierung auf dasWesentliche keineswegstrivial. Insbesondere istbei vielen Fragestellungenunklar, welche Details zuberücksichtigen sind, be-ziehungsweise welcheGranularität in der Mo-dellierung erforderlichist. Prinzipiell stehen fürdie Lösung dieser schwie-rigen Aufgabe zwei in derRegel komplementäreStrategien bereit: derBottom-up und der Top-down Ansatz (01).

Bei der Rekonstruktion derNetzwerke mit Hilfe desBottom-up Ansatzes wirdversucht, biologischesDetailwissen über Einzel-komponenten und derenmolekulare Wechselwir-kungen in geeignetenModulen zu aggregieren,um diese nachfolgend infür ganzheitliche Be-trachtungen geeignetenArchitekturen zu ver-schalten. Der Top-downAnsatz geht vom Gesamt-system aus und verarbei-tet dabei ganzheitlicheInformationen (Genom,Transkriptom, Proteometc.). Über globale Opti-mierungen sind dann diestrukturellen gegebenen-falls aber auch die kineti-schen Eigenschaften derKomponenten im Ge-samtnetzwerk zu rekon-struieren. Die hierfürerforderlichenOperationen werden auchunter dem Begriff des„Reverse Engineering“zusammengefasst. Bei die-ser Analyse ist also derAusgangspunkt für dieNetzwerkrekonstruktionbereits eine ganzheitlicheBetrachtungsweise.

In die Bewertung der beidenAnsätze fließen verschiede-ne Kriterien ein. Zunächsteinmal sind Kenntnisse

Eine besondere Herausforderung in der System-biologie stellt die Kopplung von Signal- und Stoff-wechselnetzwerken dar. Diese Integration ist aberunerlässlich, da das phänotypische Verhalten vonzellulären Systemen sowohl von den Prozessen derSignalübertragung als auch durch Stoffwechsel-prozesse bestimmt wird. In der systemorientierten,ganzheitlichen Analyse werden diese Netzwerkehäufig getrennt betrachtet, und es ist sogar eineTendenz zu beobachten, Signaltransduktionsprozesseund Stoffwechselnetzwerke in eigenen wissenschaft-lichen Communities zu behandeln.Im vorliegenden Beitrag wird versucht, Gemeinsam-keiten aber auch einige Besonderheiten dieser beidenFormen zellulärer Netzwerke herauszustellen. DieseFragestellungen werden zunächst auf den Ebenender Identifikation und Strukturanalyse der Netzwer-ke diskutiert. Am ausgewählten Beispiel der Kopp-lung von Zellzyklus und Energiestoffwechsel bei derHefe Saccharomyces cerevisiae soll darüberhinaus die Kopplung von Modulen aus der Signal-transduktion und dem Stoffwechsel gezeigt werden.

Integrating signalling networks with metabolic net-works poses a major challenge in systems biology.The coupling is essential since phenotypic behaviourof cellular systems results from both (1) signaltransduction and (2) distribution of metabolic flu-xes. In systems biology, however, signalling net-works and metabolic networks are often treatedseparately and, more and more, within specialisedscientific communities.In this contribution, the authors try to work outsimilarities but also to discriminate between the twonetwork classes. At first, the problem is discussedon the basis of structural network analysis. In thefollowing section, the linkage of modules from sig-nal transduction and metabolism is exemplified bythe cell cycle and energy metabolism in the yeastSaccharomyces cerevisiae.

SUM MARY

01

Bottom-up und Top-down Ansätze inder Systembiologie.

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über die notwendigen Details bezüglichder zu berücksichtigenden Komponentendes Netzwerkes a priori nicht vorhanden.Demzufolge gibt es natürlich Risiken,bedeutsame Einflussgrößen bei den experi-mentellen Beobachtungen und derRekonstruktion des Netzwerkes beimBottom-up Ansatz zu übersehen. Häufigreicht auch der Stand des Wissens nichtaus, um die zur Lösung des Problems rele-vanten Komponenten und derenWechselwirkungen bereit zu stellen.Andererseits ist der Rechenaufwand beider holistischen Rekonstruktion vonNetzwerken via Top-down Ansätzen u.U.

außerordentlich groß. In der Tat könnenMethoden der Rekonstruktion der Ver-schaltung in Regulationsnetzwerken wiegenomweite topologische Analysen an derkombinatorischen Explosion scheitern.Neuere Erkenntnisse bei der dynamischenAnalyse großer Netzwerke (Mauch et al.,unveröffentlichte Untersuchungen) liefernindes Hinweise, dass die Zuordnung desVerhaltens der Einzelkomponenten anBedeutung verliert. Dieser Sachverhaltgeht auf die Beobachtung zurück, dass dieSensitivitäten der Kontrolle über das ge-samte Netzwerk verteilt sind. Diese gerin-gere Empfindlichkeit der Verhaltensweisedes Einzelbausteins im Kontext desGesamtsystems entspricht der biologischenPlastizität und erleichtert die dynamischeModellierung großer Netzwerke.

Der Stand des Wissens und vor allem derMangel an Methoden und Werkzeugen imBereich der Top-down Ansätze erlaubtderzeit noch keine zuverlässige bezie-hungsweise endgültige Bewertung der bei-den Strategien. Man darf daher die beidenMethoden als komplementäre Strategienbetrachten.

Die Genome zahlreicher Mikroorganismen,wie z.B. des Bakteriums Escherichia coli undder Hefe Saccharomyces cerevisiae, wurdennicht nur erfolgreich sequenziert, sondernauch bereits funktionell charakterisiert.Die Informationen sind in öffentlich zu-gänglichen Datenbanken (z.B. EcoCyc,SGD) verfügbar. Die Rekonstruktion vonmetabolischen Netzwerken wird darüberhinaus durch entsprechende Links zuProteindatenbanken (z.B. Swiss-Prot)erleichtert. Diese geben darüber Auskunft,welche Gene unter verschiedenartigstenUmweltbedingungen exprimiert werden.Im Falle der Signalnetzwerke stehen ver-gleichbare Informationen nur außer-ordentlich beschränkt zur Verfügung undbiologisches Wissen über die Funktionalitätder einzelnen Bausteine des Netzwerkesmuss in der Regel aus primären Literatur-quellen extrahiert werden. Die erstenDatenbanken über Signalnetzwerke sindaber im Entstehen (z.B. http://www.signaling-gateway.org).

Das wichtigste Werkzeug in der Analyse vonbiologischen Netzwerken ist die Bilanzie-rung der chemischen Spezies im Netzwerk.Diese Bilanzierung erfordert zunächst ein-mal eine Überprüfung der Konsistenz desrekonstruierten Netzwerkes. Hierzu sinddie Bilanzen der chemischen Elementeund der elektrischen Ladungen der Mole-küle zu kontrollieren. Diese Kontrollengeben Hinweise auf Unvollständigkeitenbeziehungsweise auch Fehler in den ange-nommenen Reaktionsgleichungen. Für dieRekonstruktion und das Management die-ser Netzwerke stehen verschiedene Model-lierungs- und Simulationswerkzeuge zurVerfügung (02). Nach der essentiellenKonsistenzüberprüfung können dann ver-schiedene topologische Analysen durchge-führt werden. Diese liefern Hinweise überbeispielsweise nicht genutzteTransformationsschritte (fehlende Verbin-dungen im Netz), sogenannte Dead-endMetabolite (fehlende Anschlussreaktio-nen), parallele Wege und die wichtigenelementaren Moden im System. Diese Ele-mentarmoden, die sich auch für genom-

TH E M E N H E FT FORSCH U NG SYSTE M B IOLOG I E20

In silico-Netzwerkrekonstruktion. (1)Die Netzwerkkomponenten werden ausder Datenbank gezogen. (2) Das com-putergestützte Layout beschleunigt dieRekonstruktion. Die Elemente- undLadungsbilanzen und die damit durch-geführten Konsistenzüberprüfungenlaufen im Hintergrund (INSILICOdiscovery; http://www.insilico-biotech-nology.com). Die roten Kästen symbo-lisieren die Stoffwandler, die blauenKreise die Stoffspeicher.

02

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STOFFWECHSE L- U N D S IG NALN ETZWE R KE 23

weite Netze berechnen lassen (Mauch etal., 2002), liefern Hinweise über die unter-schiedlichsten Stoffwechselwege im biolo-gischen System, die von einem vorgegebe-nen Ausgangsstoff (z.B. Nährsubstrat) zueinem Produkt (z.B. ausgeschiedener Me-tabolit oder Biomasse) führen. Hieraus las-sen sich beispielsweise im Fall von biotech-nischen Prozessen jene Stoffwechselwegein der Zelle identifizieren, die zu maxi-malen Ausbeuten (kgProdukt /kgSubstrat)führen. Die gleiche Analyse führt zurBeantwortung der Frage, welche Gene füreine vorgegebene Funktionalität (z.B.Produktion eines Stoffwechselproduktes)essentiell sind, beziehungsweise wie vieleGene gleichzeitig auszuschalten sind, umeine spezifische Dysfunktion des Netz-werkes herbeizuführen. LetztgenannteAnalyse führt zum Begriff der „strukturel-len Robustheit“ des Systems, ein anschau-liches Maß für die Sensitivität einerFunktionalität gegenüber genetischenDefekten.

Außerordentlich hilfreich für die diversenAnalysen der interessierenden Systemesind automatisierte Visualisierungen (Lay-outs). (03) zeigt als Beispiel das genom-weite metabolische Netzwerk des Bakteri-ums Helicobacter pylori, das aus der Daten-bank MetaCyc (http://biocyc.org/meta)rekonstruiert wurde. Bei der Visualisierungder Rekonstruktion wurden die in derklassischen Biochemie definierten Stoff-wechselwege, wie z.B. „Glykolyse“, „TCA-Zyklus“ und „Pentosephosphat-Shunt“ inGruppen aggregiert. Es ist darauf hinzu-weisen, dass diese „klassischen“ Stoffwech-selwege keineswegs mit den oben erwähn-ten Elementarmoden, die der mathema-tisch strengen Definition eines elementa-ren Stoffwechselweges entsprechen, über-einstimmen.

(04) zeigt die Visualisierung eines Signal-netzwerkes für den transformierendenWachstumsfaktor β (TGF-β). Dieses Netz-werk wurde aus primären Literaturdatenrekonstruiert. Die Zahl der Netzwerk-komponenten (561) ist in vergleichbarerGrössenordnung wie bei dem metaboli-schen Netzwerk in (03) (461). Trotz dieservergleichbaren Grösse der Netze sieht manaber sofort gravierende Unterschiede inden Topologien.

Zunächst einmal lässt sich in keinem der bei-den Netze eine modulare Organisationund klare Abgrenzungen von kleineren,autonomen Netzwerken erkennen. Diese

rein visuelle Beobachtungwird durch Analysen derNetzwerktopologiebestärkt. In der Tat zeigenneuere Untersuchungen(Eeka et al., 2000; Ravasz etal., 2002, Barabasi andOltvai, 2004), dass diemetabolischen Netzwerkedurch die Eigenschaften sogenannter skalenfreierTopologie gekennzeichnetsind. Aus der Darstellungin (05) geht hervor, dassauch das metabolischeNetzwerk des BakteriumsHelicobacter pylori eine ska-lenfreie Topologie zeigt, wobei die Stei-gung einen Exponenten von 2,4 liefert.Eine charakteristische Eigenschaft dieserskalenfreien Netzwerke ist die Existenzeiniger hochvernetzter Knoten (hubs), wiez.B. ATP, NADPH etc., die an einer großenZahl von Verbindungen (Reaktionen) be-teiligt sind. Infolge dieser hochvernetztenKnoten ist eine Dekomposition des Ge-samtnetzes in abgegrenzte, autonome Teil-netze (Module) nicht möglich.

Im Unterschied zum metabolischen Netz-werk liefert das Signalnetz den deutlichniedrigeren Exponenten von 1,5 (05). Diesdarf man als Hinweis werten, dass dieArchitektur des Signalnet-zes durch eine im Vergleichzum metabolischen Netzgeringere Anzahl vonhochvernetzten Knotenzusammengehalten wird.

Weitere interessante Unter-schiede lassen sich beob-achten, wenn man ver-sucht, das oben erwähnteKonzept der Elementar-moden auf die Signalnetzezu übertragen. Dabei lassensich zunächst einmal keineLösungen (Signalwege) fin-den, die den Eingang(Rezeptor für das Ein-gangssignal) mit dem Ausgang (z.B. Akti-vierung eines Transkriptionsfaktors für dieGenexpression) verbindet. Vielmehr zeigendie Lösungen eine Fragmentierung in sehrkleine Regionen, die sich als Signaltrans-duktionseinheiten interpretieren lassen.Beispiele für diese kleinsten Einheiten sindAssoziationen und Dissoziationen vonProteinkomplexen, Aktivierungen und

Signaltransduktionsnetzwerk mit Re-zeptoren für den transformierendenWachstumsfaktor β (TGF-β). DasNetzwerk enthält 553 Reaktionen und561 Komponenten. Die Mehrzahl derKomponenten sind Proteine. Das TGF-β Netzwerk kann als SBML-file vonhttp://sbml.org/models/ heruntergela-den werden.

03

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Genomweites metabolisches Netzwerkdes Bakteriums Helicobacter py-lori. Das Netzwerk besteht aus 450Reaktionen und 461 Metaboliten. (A) Glykolyse (B) Pentosephosphatshunt (C) TCA Zyklus. Datenbank:MetaCyc (http://biocvyc.org/meta).Das H. pylori-Netzwerk kann alsSBML-file von http://sbml.org/models/ heruntergeladen werden (SBML:Systems Biology Markup Language).

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Deaktivie-rungen vonEnzymenoder Trans-portprozes-sen über dieGrenzen vonZellkompar-timenten. Beider Aggrega-

tion dieser Einheiten zu größeren Signal-netzen lassen sich direkte Verbindungender Einheiten zu Signalkaskaden und„Fernwirkungen“ über Kinasen beobach-ten. Während die Regeneration innerhalbder elementaren Einheit durch einenmateriellen Stofffluss gekennzeichnet ist,kommt es nach Aggregation nicht mehrzur Übertragung von Stoffflüssen, sondernvon Informationen im Signalnetz. Ein wei-terer Unterschied zwischen den Signal-netzen und den metabolischen Netzen be-

steht darin,dass im Stoff-wechselnetz-werk eineKomponente(Metabolit)stets nurSubstrat oderProdukteiner Reak-tion darstelltund demzu-folge keineKatalyse

einer anderen Reaktion bewirken kann.Eine Komponente im Signalnetz (z.B. Pro-tein) kann indes sowohl als Reaktand wieauch als Katalysator einer anderen Trans-formation in Erscheinung treten (T.01).

3. Integration von Signal- undStoffwechselnetzwerken

3.1. Biologische Fragestellung

Eine inhärente Eigenschaft von Zellpopula-tionen ist ihre Heterogenität. Diese Hete-rogenität hat ihre Ursachen in den unter-schiedlichen Lebensstadien der individuel-len Zellen. Das dynamische Verhalten derGesamtpopulation ergibt sich demzufolgeaus der Superposition der Dynamik derindividuellen Zellen. Da sich die Dynamikder zellulären Netzwerke in Abhängigkeitdes Zellalters beziehungsweise der jeweili-gen Position im Zellzyklus verändert,führt die Superposition zu einem dynami-schen Verhalten auf der Populationsebene,das zunächst einmal keine Rückschlüsseauf das Verhalten der Einzelzelle zulässt.Diese systeminhärente Problemstellungmanifestiert sich in einer Reihe ebensointeressanter wie auch offener Fragen dersystembiologischen Analysen in derBiomedizin wie auch Biotechnologie. Es istbekannt, dass Subpopulationen unter-schiedliche Wirkungen auf Medikamentezeigen können. Beispielsweise ist die Wir-kung der Cytostatika in der Krebstherapievon der Zellzyklusposition der individuel-len Zellen im Tumor abhängig (Smith etal., 2000; Kitano 2003). Gänzlich andereAuswirkungen kann die Heterogenität derindividuellen Zellen in biotechnologischenAnwendungen haben. So kann der Gehaltder Plasmide, Träger zusätzlicher extra-chromomaler DNA, von Zelle zu Zelle va-riieren. Diese Phänomene sind dann fürquantitative Analysen von Prozessen mitrekombinanten Mikroorganismen vongroßer Bedeutung.

Die zentrale Rolle des sekun-dären Messengers cAMP(cyclisches AMP) bei der Ko-ordinierung des Energiestoff-wechsels und des Zellzyklusbei der Hefe Saccharomyces cere-visiae soll als Beispiel für dieUnterschiede des Verhaltensauf der Ebene der individuel-len Zellen und den Eigen-schaften der Population die-nen. Mit diesem Beispiel sollaber auch zugleich die Be-deutung der Kopplung vonStoffwechsel- und Signal-

netzwerken aufgezeigt werden. In Anwen-dung dieser Kopplung auf die individuelle

TH E M E N H E FT FORSCH U NG SYSTE M B IOLOG I E24

Verteilung des VerknüpfungsgradesP(k). k ist die Zahl der Verknüpfun-gen pro Knoten und P(k) ist die Wahr-scheinlichkeitsdichtefunktion der Kno-ten mit k Verknüpfungen im Netz.Links: Verteilung der Verknüpfungender Metabolite im metabolischen Netzvon H. pylori. Rechts: Verteilung derVerbindungen der Speicher im Signal-netz (TGF-β).

Stoffwechselnetzwerk

Materieller Stofffluss

Der Stationäre Zustand ist für die Funktio-natität des metabolen Netzwerks von gro-ßer Bedeutung

Die Enzyme treten nicht als Reaktanden inErscheinung

Signalnetzwerk

Informationsübertragung

Die Funktion wird durch transientes Ver-halten bestimmt

Komponenten, die transformiert werden,sind häufig Katalysatoren anderer Reak-tionen

T.01

Materieller Stofffluss im Stoffwechsel-netzwerk und Informationsübertragungim Signalnetzwerk.

Charakteristische Eigenschaften derStoffwechsel- und Signalnetzwerke.

05

06

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STOFFWECHSE L- U N D S IG NALN ETZWE R KE 25

Zelle wird schließlich die Frage adressiert,wie der unterschiedliche Energiebedarfwährend der verschiedenen Phasen desZellzyklus abgedeckt werden kann. Fürdie mathematische Modellierung dieserProblemstellung wird ein Konzept vorge-stellt, das auf der Aggregation verschiede-ner Module basiert. Diese Modellierungs-strategie ist dann dem in (01) skizziertenBottom-up Ansatz zuzuordnen.

3.2. Kopplung des Zellzyklus mit demEnergiestoffwechsel

(07) illustriert die wichtigsten Teile descAMP-Signalnetzwerkes in der Hefe Saccha-romyces cerevisiae und dessen Ankopplung anden Energie- und Speicherstoffwechsel.Das Signal des Botenstoffs cAMP wird inFolge einer Aktivierung der Adenylat-cyclase gebildet und durch die Wirkungder Phosphodiesterasen wieder abgebaut.Ausgelöst wird der für die Bildung des Sig-nals entscheidende Teil des Signalwegesentweder durch einen zellexternen Stimu-lus (z.B. Zugabe von Glucose) oder durchzellinterne Signalkaskaden unter Mitwir-kung der RAS-Proteine.

Die allgemeine Aufgabe des cAMPs besteht inder Aktivierung der Proteinkinase A(PKA). Hierbei dissoziiert das Tetramer indie zwei katalytischen und ein Dimer derregulatorischen Untereinheiten (C und R).Die katalytischen Untereinheiten könnendann verschiedene Substratproteine phos-phorylieren. In (07) sind einige der Ziel-proteine (Enzyme) im Energie- und Spei-cherstoffwechsel der Hefe dagestellt. In derGlykolyse ist es zunächst einmal die Phos-phofructokinase 2 (PFK 2), die die Um-wandlung des Metaboliten Fructose-6-phosphat in Fructose-2,6-bisphosphat kata-lysiert. Das Produkt dieser Reaktion ist sei-nerseits ein sehr starker Aktivator des gly-kolytischen Enzyms Phosphofructokinase1 (PFK 1), das die Umwandlung von Fruc-tose-6-phosphat in Fructose-1,6-bisphos-phat katalysiert. Der integrale Effekt dieserPhosphorylierung und Aktivierung isteine Erhöhung der Aktivität des EnzymsPFK 1, so dass eine Verstärkung des Stoff-flusses durch die Glykolyse stattfindenkann, wenn unter den entsprechendenphysiologischen Bedingungen dieses En-zym einen Einfluss auf die Flusskontrolleausübt. Weitere durch die katalytischeUntereinheit der PKA phosphorylierteEnzyme findet man im Speicherstoffwech-

sel. Hier kommt es zu einer Aktivierungder Trehalase, die für den Abbau des Spei-cherstoffes Trehalose verantwortlich ist,sowie einer Aktivierung der Glykogen-phosphorylase und Inhibierung der Glyko-gensynthase, was schließlich zum Abbaudes zweiten wichtigen Speicherstoffs derHefe, des Glykogens, führt. Der integraleEffekt dieser zellinternen Regulation isteine Mobilisierung der Speicherstoffe, dieeine Verstärkung des Stoffflusses durch dieGlykolyse bewirkt. Mit dieser Stofffluss-verstärkung ist eine Zunahme der ATP-Bildung verknüpft.

Neben diesen Zielproteinen im Energiestoff-wechsel übernimmt die aktivierte PKAauch wichtige Funktionen in der Regula-tion des Zellzyklus (08). Hier sind vorallem zwei wichtige Ereignisse herauszu-stellen. Gemeinsam mit anderen Schlüs-selproteinen der Wachstumsregulation(TOR) führt der Anstieg der PKA-Aktivitätzu einer Verstärkung der Proteinbiosynthe-

Schematische Darstellung der cAMP-PKA Signaltransduktionskaskade undausgewählte Verbindungen zum Ener-giestoffwechsel und Zellzyklus. Dieausgezogenen Linien sind Reaktionen,die gestrichelten Linien repräsentieren

(�). Ellipsen sind Proteine, auchzusätzlich markiert, um Phosphorylie-rungen anzuzeigen.Abkürzungen: Ac: Acetat, Acald:Acetaldehyd, AcCoA: Acetyl-CoA,APC: anaphase promoting complex,ATP: Adenosintriphosphat, C: Kata-lytische Untereinheit der PKA,EtOH: Ethanol, F6P: Fuctose-6-Phos-phat, F16BP: Fructose-1,6-Bisphos-phat, F26Bpase: Fructose-2,6-Bis-phosphatase, Glc: Glucose, G1P:Glucose-1-Phosphat, G6P: Glucose-6-Phosphat, Hxk: Hexokinase, PDC:Pyruvatdecarboxylase, PDH: Pyruvat-dehydrogenase, PFK1: Phosphofructo-kinase 1, PFK2: Phosphofructokinase2, Pyr: Pyruvat, R: RegulatorischeUntereinheit der PKA, TCA: Tri-carbonsäurezyklus, UDPG: UDP-Glucose.

Stimulationen (→) und Inhibierungen

08

Die Phasen des Zellzyklus und dessenInteraktion mit der Proteinkinase A.

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se, was über eine Verkürzungder in (08) skizzierten G1-Phase zu einem Anstieg derWachstumsrate der Hefeführt. Für die Verkürzungdiese G1-Phase ist eine weite-re Rückkopplung zwischenPKA und den G1-Cyclinenvon Bedeutung (Baroni et al.,1994), die schließlich für denStartpunkt des Eintritts indie nächste Zellzyklusphase(S) relevant ist. Des weiterenbeeinflusst PKA aber auchden Austritt aus der Mitose,in der die Zellteilung erfolgt.Dieser Einfluss erfolgt ver-

mutlich über eine Inhibierung desProteinkomplexes APC (anaphase promo-ting complex), der für die zeitlicheRegulation der Trennung der Schwester-chromatiden verantwortlich ist. Diese bei-den Schlüsselfunktionen der PKA legen dieVermutung nahe, dass die Konzentrationdes auslösenden Signals für die PKA-Akti-vierung, das cAMP, während des Zellzyk-lus variieren muss.

Diese Vermutung lässt sich durch gezielteMessungen der Dynamik der Konzentra-tion des intrazellulären Botenstoffes insogenannten Synchronkulturen erhärten.Ausgangspunkt dieser Synchronkulturensind zunächst Züchtungen der Hefe beikontinuierlicher Prozessführung, d.h. zeit-

lich konstanter spezifischerWachstumsrate beziehungs-weise Verdopplungszeit. Die-ser Kultur wird eine Probeentnommen und in einerspeziellen Zentrifugation(Elutriationszentrifuge) dieHefezellen in Fraktionen ver-schiedener Zellgrößen auf-getrennt (09). Mit der dabeigewonnenen Fraktion derkleinsten Tochterzellen wirdanschließend ein neuer Pro-zess unter kontrolliertenWachstumsbedingungen ge-startet. Da hierbei alle Zellen

zumindest während eines Zellzyklus dasgleiche Alter haben, spricht man auch voneiner synchronisierten Kultur. In Verbin-dung mit schneller Probenahmetechnik(Theobald et al., 1993; Buziol et al., 2002)lassen sich die zeitlichen Verläufe der intra-extrazellulären Metabolite sowie descAMPs verfolgen. Die in (10) dargestellten

Ergebnisse bestätigen die Vermutungenbezüglich des Zeitverhaltens des cAMPs(Anstieg in der Nähe der S-Phase und rapi-der Abfall in der M-Phase (Mitose)), umdie Trennung der Zellen sicherzustellen.Weitere experimentelle Untersuchungenzeigen, dass der Anstieg des cAMP Signalszu der erwarteten Mobilisierung der Spei-cherstoffe der Zelle führt, so dass zusätz-lich benötigtes ATP bereitgestellt werdenkann. Die durch die Mobilisierung derSpeicherstoffe bewirkte Verstärkung desStoffflusses durch die Glykolyse manife-stiert sich auch in einer entsprechendenErniedrigung des Gelöstsauerstoffs. Offen-bar wird ein Teil des zusätzlichen Stoff-flusses dem TCA-Zyklus zugeführt, wasmit einer Erhöhung des Sauerstoffbedarfsder Kultur einhergeht. Ein weiterer Teildes zusätzlichen Stoffflusses wird aber übereinen sogenannten „Metabolic overflow“zum Ethanol umgeleitet, was sich durchentsprechende Messungen des ausgeschie-denen Ethanols belegen lässt.

Eine nach wie vor noch nicht zufriedenstel-lend beantwortete Frage betrifft das Prob-lem, welcher Stimulus die Aktivität derAdenylat-cyclase beziehungsweise derPhosphodiesterasen in einer zellzyklusab-hängigen Art und Weise beeinflusst. Vordem Hintergrund von Konzepten zur hier-archischen Strukturierung zellulärer Re-gulationsnetzwerke scheinen zwei Strate-gien denkbar. Entweder kommt der Sti-mulus direkt aus dem Zellzyklus oder aberder Energiezustand der Zelle greift direktin die Regulation ein („demand control“).Messungen von Adenin- und Guanin-nukleotiden während des Zellzyklus(Müller et al., unveröffentlichte Unter-suchungen) zeigen Variationen der Kon-zentrationen in den verschiedenen Phasendes Zellzyklus. Auf der Grundlage dieserBeobachtungen wird derzeit ein direkterEingriff des Energiezustandes über die in(07) skizzierte Ras-Kaskade postuliert, dieebenfalls eine Aktivierung der Adenylat-Cyclase bewirken kann.

3.3. Entwurf eines modularen Modellsfür die Kopplung vonEnergiestoffwechsel und Zellzyklus

Die Fragestellung der quantitativen Beschrei-bung des Einflusses des cAMP auf dasWachstum der Zellpopulation erfordert imersten Schritt die mathematischeModellierung und Simulation auf der Ebe-

Von der kontinuierlichen Züchtung derHefe Saccharomyces cerevisiaeim Bioreaktor über die Elutriations-zentrifugation zu der Auftrennung derZellpopulation in verschiedene Fraktio-nen. Die kleinen Tochterzellen werdenals Inokulum für die nachfolgendeZüchtung einer Synchronkultur heran-gezogen.

Dynamik der intrazellulären cAMP-Konzentration, des Gelöstsauerstoffs,des Budding Index (Kennzeichnungder Geburtsnarben; BI) in einer Glu-cose-limitierten Kultur (Müller et al.,2003). Die als Cartoon gekennzeich-neten Hefezellen zeigen die Zell-zyklusposition.

09

10

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STOFFWECHSE L- U N D S IG NALN ETZWE R KE 27

ne der Einzelzelle. Um sicherzustellen,dass das detaillierte biologische Wissenmöglichst umfassend Berücksichtigungfindet, ist es erforderlich, zunächst auf denin (01) dargestellten Bottom-up Ansatzzurückzugreifen. Dieses Modellierungs-konzept basiert auf der modularen Struk-turierung, wozu Funktionsmodule in ge-eigneter Weise zu definieren sind. Die fürdas Einzelzellmodell definierten Funk-tionsmodule sind nebst ihrer Verschaltungin (11) dargestellt.

Der Funktionsmodul für die Signaltransduk-tion umfasst die für die Beschreibung derBildung und Abbau des Botenstoffes cAMPerforderlichen Reaktionen sowie das Teil-modell für die Aktivierung der PKA. Einefür zahlreiche Signaltransduktionsprozessecharakteristische dynamische Eigenschaftdieses Signals ist das über Rückwirkungenim System bewirkte adaptive Verhalten. Imkonkreten Fall sind zwei Rückwirkungenvon Bedeutung und im Modell zu berück-sichtigen. Wie in (07) bereits skizziert,wird eine der für den Abbau des cAMPsverantwortlichen Phosphodiesterasen(Pde1) durch die katalytische UntereinheitC der PKA via Phosphorylierung aktiviert(Ma et al., 1999). Eine Verstärkung erfährtdie Rückführung durch die Einwirkungder PKA auf die Konzentration des mem-brangebundenen Adenylat-Cyclase-Kom-plexes. Die beiden Rückführungen bewir-ken eine Rückstellung des cAMP-Signalsauch unter Bedingungen anhaltenderStimulation des Signalweges durch extra-zelluläre Glucose. Diese Simulationsergeb-nisse finden ihre Bestätigung im Experi-ment. Die Bedeutung des adaptiven Ver-haltens lässt sich besonders anschaulich ander Dynamik des cAMP-Signals im Zell-zyklus erkennen (10). Dem beim Über-gang in die S/G2-Phase erkennbaren Maxi-mum in der Konzentration des cAMPsfolgt ein rascher Abfall, um die für dieRegulation der Trennung der Schwester-chromatiden erforderliche niedrige PKA-Aktivität sicherzustellen.

Im Kern des Funktionsmoduls für das Stoff-wechselnetzwerk stehen die bereits früheram Institut für Bioverfahrenstechnik ent-wickelten und durch Messungen von in-trazellulären Metaboliten validierten dy-namischen Modelle für die Glykolyse undden Pentosephosphat-Shunt (Rizzi et al.,1997; Vaseghi et al., 1999). Diese wurdendurch Teilmodelle für den Speicher-stoffwechsel (Auf- und Abbaureaktionen

der Trehalose und desGlykogens) erweitert. Vonbesonderer Bedeutung fürdie Kopplung derSignaltransduktion mitdem Stoffwechselnetzwerkist die Berücksichtigungder Aktivitätsänderung derEnzyme infolge derPhosphorylierung durchdie katalytischeUntereinheit der PKA. Dieslässt sich in den kineti-schen Ansätzen dadurchberücksichtigen, dass dieMaximalraten beziehungs-weise Kapazitäten derEnzyme als Funktion der Konzentrationder katalytischen Untereinheit angesetztwerden:

mit Vektor der Metaboliten, die dieReaktionsrate beeinflussen und Parameter-vektor. Auch bei den hier ablaufendenPhosphorylierungen der Zielproteine imMetabolismus beobachtet man adaptivesVerhalten. Die im Modell zu berücksich-tigenden Rückführungen betreffen Phos-phatasen, die die Zielproteine wieder de-phosphorylieren. Die nega-tive Rückführung wirddurch die experimentell zubeobachtende Aktivierungder Phosphatasen durchdie katalytische Unterein-heit der PKA sichergestellt.

Die zwei weiteren in (11)

gezeigten Module betreffendas Zellwachstum und denZellzyklus. Das Wachstumwird unter Berücksichti-gung der Stöchiometrieproportional zu den Stoff-flüssen, die das Stoffwech-selmodul verlassen, angesetzt. Das Zell-zyklusmodell basiert auf einem im Schrift-tum für die Hefe vorgeschlagenen Modell(Chen et al., 2000; Cross, 2003), das umeinige die PKA betreffenden Reaktionenerweitert wurde.

(12) zeigt ein exemplarisches Simulations-ergebnis. Bei dieser Simulation wurde alsdynamischer Eingang in das Modell dieexperimentell beobachtete Abhängigkeitdes cAMPs im Zellzyklus (10) in eineranalytischen Funktion abgebildet. Das

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Architektur des durch Aggregation vonverschiedenen Funktionsmodulen resul-tierenden Einzelzellmodells (µ = spe-zifische Wachstumsrate, r = Rate derenzymkatalysierten Reaktion).

Simulierte Antwort der PKA undEnzymaktivitäten für die Produktionund Degradation des SpeicherstoffsGlycogen als Antwort auf das gemes-sene cAMP Signal während des Zell-zyklus. AC: Adenylat-Cyclase, Pde1:Niedrigaffine Phosphodiesterase.Blaue Pfeile illustrieren Stimulationen,rote Pfeile inhibitorische Effekte. rGdeg

ist die Reaktionsrate der Glycogen-phosphorylase, rGlySyn die Rate derGlycogensynthase.

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Modell beschreibt den Anstieg der Kon-zentration der katalytischen Untereinheitder PKA am G1/S-Übergang und die hier-durch bewirkte Aktivierung der Glykogen-phosphorylase und Inhibierung der Glyko-gensynthase. Dies bewirkt einen Abfall derGlykogenkonzentration, Anstieg des gly-kolytischen Flusses und zusätzlichen ATP-Gewinn. In der M-Phase sinkt infolge derfallenden cAMP-Konzentration die PKA-Aktivität wieder ab, während die für dasadaptive Verhalten der Zielproteinphos-phorylierung wichtige Phosphataseaktivi-tät (PP2A) zunimmt. Die simulierte Dyna-mik der Glykogenkonzentration währenddes Zellzyklus stimmt qualitativ mit denexperimentellen Beobachtungen (Sillje etal, 1997; Müller et al., 2003) überein.

Das integrierte Modell erlaubt eine dynami-sche Simulation der cAMP abhängigen Re-gulation des Stoffwechsels und der Pro-gression des Zellzyklus. Die modulareStruktur verbindet die Prozesse der Signal-transduktion, des Stoffwechsels und derZellzyklusdynamik auf der Ebene der Ein-zelzelle. Für die natürlich ebenfalls interes-sierende Simulation der Dynamik der Zell-population muss die Dynamik der Einzel-zellen zu größeren Zellensembles aggre-giert werden. Dieser Ensembleansatz, beidem die Spezies zusätzlich über ausge-schiedene und wieder aufgenommene Me-tabolite oder Signalsubstanzen kommuni-zieren und interagieren können, hat sichfür die quantitative Beschreibung der He-terogenität von Zellpopulationen bewährt(Henson et al., 2002).

Der hier gezeigte modulare Ansatz, bei demdas zelluläre Geschehen durch eine De-komposition in Funktionsmodule struktu-riert wird, ist vielversprechend und fürzahlreiche Problemstellungen eine zielge-richtete Vorgehensweise. Gleichwohl gibtes auch Einschränkungen. Nach wie vorerlaubt die komplexe Verschaltung der zellulären Netzwerke keine eindeutigeDefinition dieser Module, die hier als ab-gegrenzte Teilsysteme für Submodelle her-angezogen werden. Ein besonderes Prob-lem stellen biologische Komponenten dar,die in Abhängigkeit der Zeit, der subzellu-lären Lokalisation oder aber auch von zell-externen Stimuli in unterschiedlichenModulen mit unter Umständen sogar ver-änderten Funktionen auftreten.

Bei der hier diskutierten Fragestellung gibt eseine weitere Einschränkung. Die kürzlicham Institut abgeschlossenen experimentel-

len Beobachtungen über die zeitlichen Va-riationen der Konzentrationen der Ade-nin- und Guaninnukleotide während desZellzyklus zeigen eine ausgeprägte Dyna-mik, die unter Umständen mit der in (07)

gezeigten Ras-Kaskade wechselwirkt undauf diese Weise Einfluss auf die Aktivitätder Adenylat-Cyclase nimmt. Eine solchedirekte Interaktion erlaubt über die obenskizzierte Signaltransduktion in die Aktivi-täten des Stoffwechsels eine zusätzlicheEnergielieferung bei Bedarf, der sich bei-spielsweise im Absinken der ATP-Konzen-tration manifestiert. Während diese „de-mokratische“ Hierarchie zellulärer Regula-tion den Umweg über die übergeordnetehierarchische Ebene des Zellzyklus ein-spart und damit u.U. sehr viel schnellerund effizienter ist, stellt dies für die Model-lierung und Simulation eine erhebliche Er-weiterung der Komplexität dar. Besondersdas ATP ist einer der in Abschnitt 1 vorge-stellten hochvernetzten Knoten (Hubs) imNetzwerk. Eine Bilanzierung dieser Kom-ponente lässt sich nicht mehr über Sub-modelle bewerkstelligen und verlangtdemzufolge ein großskaliges Gesamt-modell. Zur effizienteren Lösung dieserschwierigen Fragestellungen im Grenz-gebiet zwischen den Top-down und Bot-tom-up Ansätzen empfiehlt sich unterUmständen eine Strategie, bei der eindetailliertes und leistungsfähiges Modelleiner Funktionseinheit mit einer wenigerdetaillierten Beschreibung des Gesamt-netzwerkes vernetzt wird, um die Dyna-mik der hochvernetzten Knoten mit hin-reichender Genauigkeit zu erfassen. ImEntwurf dieser großskaligen, deutlich überdie Grenzen von Funktionsmodulen hin-ausreichenden dynamischen Zellmodelle,wird man sich auf die strukturellen Infor-mationen zur Topologie der Stoffwechsel-und Signalnetze stützen. •

Klaus MauchDirk Müller

Matthias Reuss

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DIE AUTOREN

Klaus Mauch

Studierte Chemieingenieurwesen an der TH Karlsruhe. Von1994 bis 2000 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut fürBioverfahrenstechnik der Universität Stuttgart mit demArbeitsschwerpunkt „Analyse und Gestaltung von Stoffwech-selnetzwerken“. Ab 2000 wissenschaftlicher Hochschulassis-tent und Leiter der Arbeitsgruppe „Metabolic Engineering –Angewandte Systembiologie“. Seit 2001 geschäftsführenderGesellschafter der INSILICO biotechnology GmbH mit denVerantwortungsbereichen „Architektur und Design von Model-lierungswerkzeugen“ sowie „Modellierungssystematik“.

Dirk Müller

Geboren 1974 in Braunschweig, studierte von 1993 bis 1999Verfahrens- und Chemietechnik an der TU Hamburg-Harburgund von 1996 bis 1997 Chemical Engineering an der Uni-versity of Waterloo in Ontario, Kanada. Er ist seit 1999 amInstitut für Bioverfahrenstechnik als wissenschaftlicher Mit-arbeiter tätig. Im Rahmen seiner Promotion untersucht er denEinfluss der Signaltransduktion über zyklisches AMP auf dieKoordination von Stoffwechsel- und Zellteilungsprozessen inder Bäckerhefe Saccharomyces cerevisiae. Für diese Arbeitenwurde ihm 2002 von der EFB Section on Biochemical Engin-eering Science der Malcolm D. Lilly Award verliehen.

Prof. Dr.-Ing. Matthias Reuss

Geboren 1941. Nach dem Studium der Verfahrenstechnik ander Technischen Universität Berlin Promotion zum Dr.-Ing. imJahre 1970 an der gleichen Universität. Von 1971 bis 1976wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung für Biotechno-logie der Gesellschaft für Biotechnologische Forschung (GFB)in Braunschweig. Von 1976 bis 1987 Professor für das Fach-gebiet Bioverfahrenstechnik an der Technischen UniversitätBerlin und seit 1988 Professor für Bioverfahrenstechnik undDirektor des gleichnamigen Lehrstuhls und Instituts an derUniversität Stuttgart. Sonstige systembiologische Aktivitäten:Koordinator des Netzwerks „Detoxifikation und Dedifferenzie-rung von Hepatocyten“ in der BMBF-Förderinitiative „Sys-teme des Lebens – Systembiologie“ und designierter Sprecherdes geplanten Zentrums für Systembiologie an der UniversitätStuttgart.

KontaktUniversität Stuttgart, Institut für BioverfahrenstechnikAllmandring 31, 70569 StuttgartTel. 0711/685-4574, Fax 0711/685-5164E-Mail: [email protected]:http://www.ibvt.uni-stuttgart.de/

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1. Überblick

Die mathematische Modellierung von Sig-naltransduktionsprozessen stellt besondereHerausforderungen an die Systembiologie.Das zu Grunde liegende komplexe dyna-mische Verhalten erfordert andere Heran-gehensweisen als sie z.B. bei der Modellie-rung von Stoffwechselvorgängen ange-wendet werden können. Im Rahmen desSonderforschungsbereichs 495 „Topologieund Dynamik von Signalprozessen“ habenes sich die beteiligten Institute zum Zielgesetzt, anhand der vom Zytokin TumorNekrose Faktor (TNF) ausgelösten Signal-wege prinzipielle Funktionsweisen zu ver-stehen, aber auch Antworten auf spezifi-sche Fragen zu finden. TNF ist ein wichti-ges inflammatorisches Signalmolekül, wel-ches in Zellen so verschiedene Prozesse wiederen Aktivierung, Zellteilung oder denprogrammierten Zelltod auslösen kann.Damit vermag TNF über Sein oder Nicht-sein von Zellen zu entscheiden. Obwohlman in Literaturdatenbanken bis zu

100.000 Einträge findet, die sich mit derWirkweise von TNF auseinandersetzen,bestehen noch viele offene Fragen. EinKernproblem beruht in der ungeheurenKomplexität der TNF-Signaltransduktion,wobei hier mathematische Modelle helfenkönnen, die komplexen Wirkweisen besserzu verstehen. Dabei ist die Modellierungaber nur ein Aspekt, denn erst die Analyseder gewonnenen Modelle bringt tiefereEinblicke. Da die zur Analyse eingesetztenMethoden oft ursprünglich für technischeFragestellungen entwickelt wurden, müs-sen sie von uns angepasst und weiter ent-wickelt werden.

1.1. BiologischeSignaltransduktionsprozesse

Selbst einfach aufgebaute Einzeller, wie z.B.Bakterien, benutzen verschiedene chemi-sche Signalwege, um sich ihrer Umweltoptimal anzupassen. Auch bei höher ent-wickelten Organismen stehen chemischeBotenstoffe im Vordergrund, obwohl z.B.

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Sein oder Nichtsein?

01

Mathemat ische Systemtheor ie zur Analyse

Bio logischer S ignalverarbei tung

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MATH E MATISCH E SYSTE MTH EOR I E 33

Sein oder Nichtsein? –Mathematische Systemtheoriezur Analyse BiologischerSignalverarbeitung

Biologische Signaltransduktionswege sind verant-wortlich für die Koordination unterschiedlicherAspekte, die „das Leben“ ausmachen. Sie werdenvon einem komplexen Netzwerk biochemischer Re-aktionen ausgeführt bei denen, im Unterschied zumMetabolismus, der Signalfluss und nicht der Mas-senfluss wichtig ist. Der Signalfluss wird durchnichtlineare dynamische Prozesse bestimmt, zu des-sen effizienter Aufklärung es eines kombiniert expe-rimentell-theoretischen Ansatzes bedarf. Dies stelltbesondere Herausforderungen an die Systembiologie.Im Rahmen des Sonderforschungsbereiches495 wird ein solch kombinierter Ansatz verfolgt,um tiefere Einblicke in die Funktionsweise des Zy-tokins Tumor Nekrose Faktor (TNF) zu erhaltenund um grundlegende Mechanismen der biologischenSignaltransduktion sowie deren mathematischeBeschreibung zu klären. TNF ist ein wichtiger Ver-mittler so diverser biologischer Phänomene wie Ent-zündung, Zellproliferation oder dem programmiertenZelltod (PCD). Obwohl die grundlegenden Signal-wege auf molekularer Ebene enträtselt sind, ist eindetailliertes Verständnis des über Rückkopplungs-Mechanismen regulierten Netzwerks noch nicht vor-handen.In diesem Artikel werden unterschiedliche Aspektevergangener und aktueller Arbeiten unserer Gruppevorgestellt. Arbeiten zum PCD-Signalweg werdendetaillierter beschrieben, um exemplarisch zu zei-gen, wie die Systemtheorie zur Biologie beitragenkann. Unter Verwendung eines reduzierten mathe-matischen Modells sechster Ordnung und durch An-wendung von Bifurkationsanalysen konnte gezeigtwerden, dass es in dem System zusätzlicher Kon-trollmechanismen bedarf. Die Modelluntersuchun-gen konnten genauere Anforderungen beschreiben,die diese Inhibitoren erfüllen müssen, deren Exis-tenz neuerdings auch durch experimentelle Datenunterstützt wird. Das derart erweiterte Modell er-füllt zahlreiche Anforderungen, wie z.B. notwendi-ge Stabilitätseigenschaften. Weiter bringt das Mo-dell widersprüchlich erscheinende experimentelleBefunde in Einklang, welche unterschiedliche Akti-vierungskinetiken von Schlüsselvorgängen des PCDauf Einzelzellebene bzw. Zellpopulationsebene be-schreiben. Mit Hilfe mathematischer Modelle undderen Analyse können wir also tiefer gehende Ein-blicke in komplexe Signalnetzwerke erhalten.

ZUSAM M ENFASSUNGdie hoch spezialisierten Nervenzellen zu-sätzlich über elektrische Signale Informa-tionen übermitteln. Im menschlichenKörper laufen zu jedem Zeitpunkt eineVielzahl von Signalprozessen ab. Diese Sig-nale ermöglichen die Kommunikation un-terschiedlicher Körperbausteine unterein-ander und sind somit für die Koordinationunseres komplexen Verhaltens essentiell.Mit Hilfe von Hormonen oder den so ge-nannten Zytokinen können Signale vomProduzenten zu oft weit entfernten Ziel-zellen transportiert werden. Diese Signalebewirken dann auf der nächsten Ebene,der einzelnen Zelle, eine entsprechendeÄnderung des physiologischen Zustandsund koordinieren somit die Homöostasedes gesamten Organismus.

Auf der Ebene der einzelnen Zelle sind klas-sische Abschnitte der Signaltransduktiondas Binden des Botenstoffes an seinenMembranrezeptor, welcher hierdurchaktiviert wird und das Signal an intrazel-luläre Proteine übergibt. Auf ihrem Wegdurch das Zytoplasma werden die Signaleoft verstärkt und mit Signalen aus ande-ren Quellen verrechnet. Die Folge sindgeänderte Proteinmengen oder geänderteProteinaktivitäten. Neben ihrer Rolle alsSignalträger fungieren Proteine oft alsEnzyme, also Katalysatoren für Reaktio-nen – die Familie der Proteasen zum Bei-spiel hat die Fähigkeit andere Proteine zuspalten. Die Aktivität der Gesamtheit derEnzyme bestimmt somit die zelluläre Phy-siologie. Veränderungen in Enzymaktivitä-ten können dazu führen, dass die Zellesich teilt, stirbt oder differenziert, alsoeinen bestimmten Zelltyp ausprägt. Es gibtviele unterschiedliche Signale innerhalbeiner Zelle, um deren unterschiedlichsteFunktionen zu ermöglichen. Oft sind dieCharakteristika der Signale und derenZusammenspiel unzureichend verstanden;sie bieten somit eine große Herausforde-rung für die Systembiologie.

1.2. Mathematische Betrachtung derSignaltransduktion

Der Prozess der Signaltransduktion in derBiologie ist also sehr komplex und ausmathematischer Sicht nicht-linear. DieDynamik, also das zeitliche Verhalten, istsehr wichtig und wird entscheidend vonpositiven und negativen Rückkopplungen(feedback loops) beeinflusst. Daher sind

bestimmte Vereinfachun-gen, wie sie oft in mathe-matischen Modellen fürStoffwechselwege ange-nommen werden, unge-eignet. Auch wenn z.B. dieAnnahme eines Fließ-gleichgewichtes größere,handhabbare Modelle fürEinblicke in die übergeord-nete Netzwerkstrukturgeben kann, gehen durchdiese Einschränkung oftessentielle Charakteristikavon Signalprozessen verlo-ren. Weiterhin ist die klas-sische Unterteilung vonEnzymen, Substraten undProdukten schwierig, da inSignalkaskaden das Pro-dukt enzymatischer Reak-tionen oft selbst wieder alsEnzym fungiert. Bei einemsolchen Prozess wird nurdie Aktivität als Signalweitergegeben und es fin-det kein Stofffluss statt.Ein großes Problem bei derModellierung von Signal-transduktionsprozessenwird weiterhin durch diebegrenzte Datenlage ge-schaffen, die schnell zuunterdeterminierten Mo-dellen führen kann. Prin-zipiell stellt ein Modellimmer eine Approxima-tion der Wirklichkeit darund die gewählte Model-lierungsart, wie auch dergewählte Detaillierungs-grad (meist ausgedrückt inder Größe der Modelle)hängt von den zur Verfü-gung stehenden Datenund den Fragestellungenab, die man untersuchenmöchte. Eine Konsequenzdieser Umstände ist, dasses bei bestimmten Frage-stellungen sinnvoll er-scheint mit kleinen Mo-dellen zu beginnen, die die essentiellen Verhal-tensweisen des biologi-schen Systems wiederge-ben können.

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1.3. Tumor Nekrose Faktor und Apoptose

Der Tumor Nekrose Faktor gehört zur Klasseder Zytokine, ist also ein hormonähnlichesMolekül. TNF rückte ins Rampenlicht alsman zeigen konnte, dass man durch eineeinzige TNF-Injektion gezielt Tumore inMäusen abtöten konnte. Aufgrund derstarken Nebenwirkungen im Menschen istdie systemische Gabe von TNF zur Tumor-behandlung hier leider nicht möglich.Heute ist klar, dass TNF vor allem für dieAktivierung und Koordination von Ab-wehrleistungen des angeborenen Immun-systems wichtig ist. TNF entfaltet seine zel-luläre Wirkung indem es an spezifischeMembranrezeptoren der Zielzelle bindet.Diese Rezeptoren vermitteln das Signalüber die Plasmamembran, und über zahl-reiche Hilfsproteine werden in der Zelleentsprechende Signalwege ausgelöst (01).Ein wichtiger Signalweg führt zur Aktivie-rung des Transkriptionsfaktors NF-κB(Nuclear Factor kappa B), welcher die Produk-tion diverser Proteine hoch reguliert. Dieseregulierten Proteine können in Entzün-dungsreaktionen helfen die Zellprolifera-tion zu stimulieren und den programmier-ten Zelltod zu hemmen. Der program-mierte Zelltod, auch Apoptose genannt, istein Programm, das jede Zelle beherbergt.

Er kann durch zahlreiche ex-terne und interne Stimuliausgelöst werden. Die Folgeist, dass die Zelle ein Selbst-mordprogramm ausführtund anschließend kontrol-liert, d.h. ohne Entzündun-gen hervorzurufen, beseitigtwird. Apoptose kann also alsein altruistischer Zelltod dereinzelnen Zelle zum Wohldes gesamten Organismusangesehen werden. Eine Stö-rung der Balance zwischenZellteilung und Zelltod zu-gunsten des einen oder ande-ren Prozesses ist mit zahlrei-chen Krankheiten verbun-den, unter denen Krebs oderneurodegenerative Erkran-kungen wie Alzheimer nurprominente Beispiele sind. Inscheinbar paradoxer Weiseinduziert TNF nicht nur, wieoben beschrieben, anti-apop-totische Signale, sondern eskann selbst ebenfalls Apop-

tose auslösen. Das pro-apoptotische Signalwird parallel im Rezeptorkomplex initiiertund zahlreiche, nicht sehr gut verstandeneMechanismen kontrollieren, welcher derbeiden Signalwege am Ende die Oberhandbehält.

2. Frühe Ansätze und neueHerausforderungen

Erste Modelle der TNF-Signaltransduktionoder zur Rezeptor induzierten Apoptosewurden vor etwa fünf Jahren auch vonunserer Arbeitsgruppe erstellt. Diesekonnte einige Aspekte der Wechselwirkungder Signalwege gut beschreiben und prin-zipielle Funktionsweisen veranschauli-chen. Neue experimentelle Ansätze aufEinzelzellebene haben in den letzten Jah-ren aber zur überraschenden Einsicht ge-führt, dass vor allem die apoptotischenSignale auf der Einzelzellebene sehr vielschneller ablaufen als zuvor in Zellpopula-tionen beobachtet. Während man in Zell-populationen ein graduell ansteigendesapoptotisches Signal über Stunden be-obachten kann, werden die relevantenMoleküle auf Einzelzellebene, nach einerunterschiedlichen Wartezeit (lag phase), in-nerhalb weniger Minuten vollständig akti-viert. Diese neuen Daten waren mit dem

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TNF Signaltransduktion. NachBindung an seinen Rezeptor löst TNFunterschiedliche Signalwege aus. EinKomplex aus unterschiedlichen Pro-teinen (C1) regt den Signalweg an,der letztendlich den Transkriptionsfak-tor NF-κB aktiviert. Nach Internali-sierung der TNF-Rezeptor-C1-Kom-plexe bildet sich ein Komplex mit an-derer Proteinzusammensetzung (C2),welcher zur Aktivierung der Caspase 8führt. In dem im Text näher analysier-ten Modell (hier rötlich unterlegt)dient diese Caspase 8-Aktivierung alsModelleingang, während die mit demZelltod verbundene Aktivierung derCaspase 3 als Modellausgang fun-giert. Wie angedeutet, gibt es zahlrei-che Interaktionspunkte zwischen denbeiden Signalwegen.

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etablierten Modell nicht ohne weitereswiederzugeben. Um diese Problematikdetailliert untersuchen zu können, wurdeder eigentliche apoptotische Kern desModells isoliert, in der Hoffnung mit strin-genteren mathematischen Analysen zuweiterreichenden Aussagen zu kommen.

2.1. Biologie des apoptotischen Kerns

Das erstellte Modell bildet den Kern derapoptotischen Reaktionen vereinfacht ab(01, rötlich hinterlegt). Hauptakteure beider Rezeptor induzierten Apoptose sinddie so genannten Caspasen, eine Subfami-lie von Proteasen. Sie werden durch pro-teolytische Spaltung aktiviert und könnendann weitere Caspasen, wie auch andereProteine spalten. Somit existiert eine Cas-pase-Kaskade, von der die rezeptornahenCaspasen, im Folgenden durch Caspase 8symbolisiert, direkt von TNF-Rezeptor-komplexen durch Spaltung aktiviert wer-den können. Die rezeptornahen Caspasenkönnen ihrerseits rezeptorferne Caspasen,im Weiteren durch Caspase 3 symbolisiert,aktivieren. Letztere kann zahlreiche, fürdie Funktion der Zelle wichtige Proteinespalten. Ein prominentes Beispiel ist z.B.ein Inhibitor für eine so genannte DNase,welche nach Verlust des funktionellen In-hibitors die zelluläre DNS degradiert. Einweiteres wichtiges Substrat für die Caspase3 ist wiederum die Caspase 8 – hier liegtalso eine positive Rückkopplung vor. Es istoffensichtlich, dass die Aktivierung derCaspasen streng kontrolliert werden mussund es wurden sowohl Inhibitoren identi-fiziert, die die Aktivierung der initialenCaspase 8 im Rezeptorkomplex verhindern(z.B. ein Molekül mit Namen FLICE inhi-bitory protein, FLIP), als auch solche, welchedie aktivierte „Arbeits“-Caspase 3 hemmen(z.B. die Familie der inhibitor of apoptosis(IAP)-Proteine).

Will man ein möglichst einfaches Apoptose-Modell ohne Berücksichtigung der Rezep-torebene aufbauen, bildet die Initiator-Caspase 8 einen sinnvollen Eingang. DieAktivität der Caspase 3 kann wiederum alsAusgang fungieren, da ihre Aktivierungmit dem Zelltod gut korreliert. Weitermuss die gegenseitige Caspase-Aktivierungberücksichtigt werden und die IAP-vermit-telte Hemmung der aktivierten Caspase 3.Hinzu kommen dann noch Auf- undAbbaureaktionen für sämtliche beteiligteKomponenten, da diese auf den interessie-

renden Zeitskalen nichtvernachlässigbar sind.

2.2. MathematischesApoptose Modell

Eine mögliche Form, diebiologischen Vorgängemathematisch zu be-schreiben, bilden Diffe-rentialgleichungssysteme.Mit Hilfe dieser Gleichun-gen kann beschriebenwerden, wie sich die Kon-zentrationen der beteilig-ten Komponenten in Ab-hängigkeit von der Zeitändern. Den Zeitverlauferhält man in sehr einfa-chen Fällen durch analy-tisches Lösen des Diffe-rentialgleichungssystemsund bei komplexeren Mo-dellen allgemeiner durchderen numerische Lösungmit Hilfe von Compu-tern, was auch als Simu-lation bezeichnet wird.Der Nachteil einer nume-rischen Lösung ist, dasshierfür numerische Zah-lenwerte für Parametereingesetzt werden müs-sen, deren genaue Werteoft nicht bekannt sind. Esist also schwierig, mit Si-mulationen zu allgemei-nen Aussagen zu kom-men oder zu beschreiben,wie sich das prinzipielleVerhalten in Abhängig-keit von Parameterwertenändert – ein Phänomen,das bei nichtlinearen Sys-temen sehr häufig vor-kommt und sogar zuchaotischem Verhaltenführen kann. AlternativeAnsätze erlauben es je-doch, bestimmte System-eigenschaften analytischzu untersuchen, ohne konkrete Werte füralle Parameter einsetzen zu müssen.

Allgemein wird die zeitliche Veränderungeiner Komponente beschrieben, indemman produzierende und konsumierendeReaktionen bilanziert. Mathematisch wer-den für Enzymreaktionen oft so genannte

To Be or Not to Be? –Mathematical Systems Theoryto Analyze Biological SignalProcessing

Biological signal transduction pathways are respon-sible for the coordination of the different aspectsthat define life. These are carried out by a complexnetwork of biochemical reactions where, unlike inmetabolism, signal flow rather than mass flow isimportant. Signal flow is dictated by nonlineardynamic processes that demand a combined experi-mental and theoretical approach in order to be effi-ciently explored which poses special challenges tosystems biology. In the framework of the Sonder-forschungsbereich 495 such a combined ap-proach is taken to further elucidate the function ofthe cytokine Tumor Necrosis Factor (TNF) andclarify principle mechanisms of biological signaltransduction and its mathematical description. TNFis an important mediator of diverse biological ef-fects ranging from inflammation and proliferation toprogrammed cell death (PCD). Although the majorsignaling pathways have been unraveled at themolecular level, a detailed mechanistic understand-ing of the underlying feedback-regulated networkremains elusive.Several aspects of our past and current work aresketched in this article. Work on the signaling path-way responsible for PCD is described in more detailto exemplify how systems theory can contribute tobiology. Using a reduced mathematical model ofsixth order and applying bifurcation analysis to it,it was worked out that the system requires additionalcontrol mechanisms. Model studies suggested theirnature and have now become supported by recentexperimental findings. The respective extended mo-del fulfills desired characteristics, such as appro-priate stability properties. Further, the results fromthe model studies allow the reconciliation of the fastactivation kinetics of key PCD executioners obser-ved at the single cell level opposed to the muchslower kinetics found at the level of a cell popula-tion. With the help of mathematical modeling andanalyses we can therefore gain deeper insight intocomplex signaling networks.

SUM MARY

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Michaelis-Menten-Kinetiken angenom-men. In unserem Fall konnten wir aberzeigen, dass Kinetiken auf Basis des Mas-senwirkungsgesetzes sinnvoll sind, da mandie so genannten Enzym-Substrat-Über-gangskomplexe vernachlässigen kann. Diesführt zu einer vereinfachten Gleichungs-struktur, die mathematisch gesehen maxi-mal quadratische Terme enthält. DieseStruktur ermöglicht Untersuchungen, die

anderenfalls so nicht möglich wären. Un-ser resultierendes Modell beinhaltet sechsKomponenten (Differentialgleichungssys-tem sechster Ordnung) und zehn Reaktio-nen (02).

3. Anforderungen an das Modell

Die Entscheidung, ob eine einzelne ZelleApoptose erleidet oder überlebt, ist letzt-endlich eine „Ja oder Nein“-Entscheidung.Für eine Zellpopulation ist dies nichtzwingend der Fall, da hier oft nur ein ge-wisser prozentualer Anteil der Zellenstirbt. Will man nun das Verhalten einerEinzelzelle beschreiben und den zugrundeliegenden Mechanismus verstehen, mussdiesem Punkt jedoch Rechnung getragenwerden. Neuere Experimentaldaten aufEinzelzellebene unterstreichen diese Über-legungen, da sie zeigen, dass die eigentlicheAktivierung der „Arbeits“-Caspasen (Cas-pase 3) irreversibel und rasch innerhalbeines sehr engen Zeitfensters nach einerunterschiedlich langen Warte- bzw. Ent-scheidungsphase abläuft. Offensichtlichwird also ein kontinuierliches Eingangs-signal (Caspase 8-Aktivierung) in eine „Ja

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02

Mathematisches Modell. A Ausden Reaktionen abgeleitete Raten undB das bilanzierte Differentialglei-chungssystem des Modells. Das ur-sprüngliche Modell besteht hierbei ausden ersten zehn gezeigten Reaktionenund den ersten sechs Differentialglei-chungen. Das erweiterte Modell be-inhaltet alle Reaktionen und Differen-tialgleichungen.

Bifurkationsillustration. A Ineiner Ruhelage verändern sich die Kon-zentrationen der Komponenten des Sys-tems nicht mit der Zeit. Wenn wir nahediesen Konzentrationen starten und dasSystem in die Ruhelage läuft, wird die-se als stabil bezeichnet, sonst als insta-bil. Das gezeigte Beispiel ist bistabil,besitzt also zwei stabile Ruhelagen(und eine trennende instabile Ruhela-ge). B Hier ist das Stabilitätsverhalten

in Abhängigkeit von dem Parameter k1,bei sonst konstanten Parametern, dar-gestellt. Die „Energie-Koordinate“soll der Veranschaulichung dienen.Durchgezogene Linien kennzeichnenstabile, gestrichelte Linien instabileRuhelagen. Für kleine k1-Werte gibt esnur eine Ruhelage, die „Lebensruhe-lage“, die für den ganzen Konzentra-tionsbereich attraktiv ist. Bei etwasgrößeren k1-Werten tauchen plötzlich

zwei weitere Ruhelagen im positivenKonzentrationsbereich auf. Ab diesemBifurkationspunkt ergibt sich die Land-schaft eines bistabilen Systems (wie inA dargestellt) – wir finden eine stabi-le „Lebensruhelage“ (schwarze Linie),eine stabile „Todesruhelage“ (grüneLinie) und eine instabile Ruhelage(rote Linie), die die Einzugsbereichetrennt. Mit weiter zunehmenden k1-Werten verändert sich die Landschaft

und die trennende instabile Ruhelagetrifft auf die „Lebensruhelage“. Andiesem zweiten Bifurkationspunkt wer-den die Stabilitätseigenschaften ausge-tauscht und die zuvor trennende Ruhe-lage verschwindet im biologisch ir-relevanten negativen Konzentrations-bereich. Für große k1-Werte ist also die„Lebensruhelage“ instabil und die „To-desruhelage“ attraktiv für den gesamtenpositiven Konzentrationsbereich.

B

A B

A

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oder Nein“-Entscheidung am Ausgang(Caspase 3) umgesetzt.

Mathematisch gesehen lässt sich diese Forde-rung in ein bistabiles Schalterverhaltenübersetzen. Bistabil bezeichnet hier dieTatsache, dass zwei stabile Ruhelagen vor-liegen. Als Ruhelage wird derjenige Zu-stand bezeichnet, der zeitlich invariant un-ter dem Einfluss der Differentialgleichun-gen ist. Wenn sich die Konzentrationen derKomponenten über die Zeit also nicht än-dern, befindet sich das System in einerRuhelage. Für die Konzentrationen der imModell berücksichtigten Komponentenkann angenommen werden, dass sie sichin einer nicht stimulierten Zelle nicht än-dern, sich das System also in einer„Lebensruhelage“ befindet. Eine Ruhelagewird dann als stabil bezeichnet (03), wennkleine Auslenkungen im Zustand zurRückkehr in die Ruhelage führen (ähnlicheiner Kugel in einer Mulde) und als in-stabil, wenn dies nicht der Fall ist (ähnlicheiner Kugel auf einer Anhöhe). Die Le-bensruhelage muss stabil sein, da kleineStörungen nicht automatisch den Zelltodzur Folge haben dürfen. Nach einem star-ken Stimulus des apoptotischen Signalsys-tems wird die Zelle jedoch unwiderruflichin einen anderen Zustand gebracht, wel-cher als „Todesruhelage“ bezeichnet wer-den kann und ebenfalls stabil sein muss.Somit muss das Differentialgleichungssys-tem zwei stabile Ruhelagen ermöglichenund je nach Anregung muss die eine oderandere angesteuert werden.

3.1. Bistabilitätsanalyse

Wir haben untersucht, für welche Para-meterbereiche das mathematische Modelldes apoptotischen Kerns ein bistabiles Ver-halten zulässt. Die hierbei angewandtenMethoden nutzen die relativ einfache Glei-chungsstruktur aus und ermöglichen es,zu analytischen Aussagen bezüglich derLage und Stabilität der Ruhelagen zu kom-men, was selten für Systeme solch hoherOrdnung möglich ist. Die erhaltenenErgebnisse deuteten stark auf einen Wider-spruch des Modellverhaltens mit den Ex-perimentaldaten hin. Obwohl ein kleinerParameterbereich identifiziert werdenkonnte, der prinzipiell ein bistabiles Ver-halten ermöglicht, zeigte sich jedoch, dassdiese Parameterwerte weit weg von denje-nigen der Experimentaldaten liegen (04).Die aus experimentellen Daten ermittelte

Modellstruktur ließ sich also nicht mit ex-perimentell bestimmten kinetischen Datenin Einklang bringen.

3.2. Modellerweiterung

Mit Hilfe der Modellbildung ist es nun mög-lich zu untersuchen, welche strukturellenVeränderungen diese Diskrepanz eliminie-ren könnten. Das Verhalten des Modells -eine instabile Lebensruhelage bei Parame-terkombinationen, die mit den Literatur-werten in Einklang standen, legte es nahe,nach einer zusätzlichen inhibitorischenKomponente des apoptoti-schen Weges zu suchen.Stabilitätsuntersuchungenund Simulationen zeigen,dass die Einführung einessolchen hypothetischen In-hibitors auf der Ebene derCaspase 8 zu einem Modellführt (02), welches imEinklang mit Parameter-werten der Literatur ein bi-stabiles Verhalten aufweist.Wie in (05) gezeigt, erfülltdieses modifizierte Modellalle gestellten Anforderun-gen: Bei einer schwachenAktivierung der Caspase 8gibt es keine signifikante,dauerhafte Aktivierung der rezeptorfernenCaspase 3. Ab einer bestimmten Anre-gungsschwelle werden jedoch die Effektor-Caspasen maximal aktiviert, das Systemspringt von der stabilen „Lebensruhelage“in die stabile „Todesruhelage“. Eine weitereErhöhung des Eingangsstimulus führt in-teressanterweise nur zu einem früherenSchalten, ändert aber nichts an der Ampli-tude der Caspase-Aktivierung. Dieses Ver-halten des Modellsystems stimmt gut mitpublizierten Experimentalergebnissenüberein. Ebenfalls in Einklang mit aktuel-len Ergebnissen anderer Gruppen, konn-ten wir die positive Rückkopplung in un-serem Modell als notwendige Vorausset-zung für ein bistabiles Verhalten identifi-zieren. Neue Experimentaldaten weisen imÜbrigen eindeutig auf die Existenz von In-hibitoren der Caspase 8 hin – wenn auchnoch keine biochemischen Details bekanntsind, die in das Modell integriert werdenkönnten.

Bistabilitätsanalyse. Die analyti-sche Lösung der Ruhelagengleichungen,in Kombination mit Stabilitätsanalysenermöglicht eine dreidimensionale Bi-furkationsuntersuchung in einem großenParameterbereich. Für die Visualisie-rung wurden folgende, biologisch sinn-volle Parameterverhältnisse gewählt:für die gegenseitige Caspase Aktivie-rung k1 = 2·k2, für die Halbwertzei-ten k7 = 2·k5 = 2·k6 = 4·k8 = 4·k9

= 4·k10, und für die IAP-Spaltung k4;k3 und k-3 wurden auf als genau einzu-schätzende Literaturwerte fixiert. Dergelbe Punkt deutet die Lage weitererLiteraturwerte an. Über der rotenFläche gibt es keine stabile „Lebens-ruhelage“, unter der blauen Fläche gibtes keine zweite stabile Ruhelage impositiven Konzentrationsbereich undunter der grünen Fläche gibt es nurkomplexe Lösungen. Für Bistabilitätwerden also Parameterkombinationenbenötigt, die unter der roten und überder blauen und über der grünenFläche liegen.

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3.3. Einzelzell- und Populationsverhalten

Die eindeutige zeitliche Abhängigkeit des„Schaltvorganges“ von der Stimulusstärkeermöglicht es nun, die beobachtete Diskre-panz zwischen Einzelzell- und Popula-

tionsmessungen zu erklären:Es ist bekannt, dass praktischjedes Molekül innerhalbeiner Population von Zelleneine Streuung bezüglich sei-ner Anzahl aufweist. Bildetman diese Population durcheine entsprechende Anzahlunterschiedlicher Parameter-sätze im Modell nach, würdejetzt diese „virtuelle Zell-population“ auf ein konstan-tes Eingangssignal mit einem

zeitlich gestreuten Spektrum an Caspase 3-Aktivierung antworten. Gibt man nun daszeitliche Populationsverhalten an Handvon Experimentaldaten vor, so kann manzurückrechnen, welche Eingangssignalver-teilung nötig wäre, um das entsprechendePopulationsverhalten zu erreichen (06).Die erhaltene Kurve deckt sich gut mit derexperimentell beobachteten Verteilung derMembranrezeptoren. Alleine diese Streu-ung der auf der Zelloberfläche vorhande-nen Membranrezeptoren würde also beieiner konstanten Stimulation einer Zell-population (z.B. eine gegebene TNF-Kon-

zentration) zu einer zeitlichgestreuten apoptotischenAntwort führen. Diese Un-tersuchungen zeigen, dassauch einfache Modelle mitvereinfachten Annahmenbereits ein tieferes Verständ-nis über die zu Grunde lie-genden prinzipiellen Vorgän-ge liefern können – wie z.B.

grundsätzliche Zusammenhänge zwischenExperimentaldaten aus Einzelzell- undZellpopulationsmessungen.

4. Aktuelle Arbeiten

Aufbauend auf den neu gewonnenen Er-kenntnissen werden zurzeit weitere biolo-gische und theoretische Fragestellungenbearbeitet.

Wie Anfangs erwähnt, werden von TNF zweiwidersprüchlich erscheinende Signalwegegleichzeitig aktiviert. Ein Schwerpunktunserer Arbeiten bildet daher die Beschrei-bung des Zusammenspiels des apoptoti-

schen Signalwegs mit dem anti-apoptoti-schen, NF-κB vermittelten Signalweg.Letzterer wurde isoliert in jüngster Ver-gangenheit von einigen Gruppen nähercharakterisiert und modelliert und dabeiwurde die Bedeutung der Signalform he-rausgearbeitet. Es gibt zahlreiche Inter-aktionspunkte der beiden Wege miteinan-der, deren Bedeutung nun theoretisch undexperimentell hinterfragt werden kann.

Weiter sind die Vorgänge bei der Signal-initiierung im Rezeptorkomplex noch un-zureichend verstanden. Sowohl auf experi-menteller, als auch theoretischer Ebenefinden hier Arbeiten statt, die zu einemtieferen Verständnis dieser Vorgänge beitra-gen sollen. Ein besonderes Interesse richtetsich dabei auf die Klärung der Rolle vonRezeptoraggregaten, die hierbei experi-mentell beobachtet werden.

In diesem Fall war es aufgrund des biologi-schen Wissens möglich, ein Modul (Teil-system) aus den komplexen TNF Signal-wegen zu isolieren und in diesem Modelldurch spezifische Untersuchungen Verein-fachungen in den Reaktionsschemata vor-zunehmen, die das Systemverhalten kaumverändern und damit noch biologischsinnvoll wiedergeben. Weitere Arbeiten inunserer Arbeitsgruppe befassen sich damit,selbst bei begrenztem biologischem Wissensystematisch, zum einen Module isolierenzu können und zum anderen komplexeModule zu vereinfachen. Zum Beispielwürde eine exakte Beschreibung der mole-kularen Vorgänge am TNF-Rezeptor auf-grund der kombinatorischen Vielfalt derzahlreichen interagierenden Proteine vieleMillionen Zustände liefern (welche alle inDifferentialgleichungen bilanziert werdenmüssten), obwohl viele dieser Zustände imInformationsgehalt redundant und/oderexperimentell nicht differenzierbar sind.

Bei den oben genannten Ergebnissen hat unsdie Kombination von theoretischen Unter-suchungen mit experimentellen Datengeholfen, eine geeignete Modellstrukturzu finden. Von theoretischer Seite her ver-suchen wir Verfahren zu entwickeln, mitderen Hilfe man unterschiedliche Modellediskriminieren kann, um zu entscheiden,welches Modell unter verschiedenen vor-geschlagenen Modellen das Bessere ist.Hierbei steht die Methodenentwicklung imVordergrund. Die zwei vorgestellten Mo-delle dienen hier als Testobjekte. Die der-zeitigen Ansätze nutzen die kürzlich her-ausgearbeitete Eigenschaft der Robustheit

Einzelzell- und Populationsver-halten in Einklang gebracht.A Zeitverlauf der Caspase 3 Aktivie-rung einer Zellpopulation. B Vertei-lungsdichte des Eingangsimpulses indas in Abbildung 5 beschriebene Mo-dell, welche nötig ist, um das in A ge-zeigte Populationsverhalten zu erhalten.

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Simulation des bistabilenVerhaltens des erweitertenModells. Es sind zeitliche Verläufeder aktivierten Caspase 3 für verschie-dene Eingänge gezeigt. Oberhalb einerSchwelle (~75 Moleküle aktivierterCaspase 8 pro Zelle) wird das Systemvollständig aktiviert, während unter-halb dieser Schwelle keine signifikanteAktivierung stattfindet. Die „Lebens-ruhelage“ entspricht in etwa dem blau-en Bereich und die „Todesruhelage“dem grünen Bereich, der nach langerZeit erreicht wird.

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von biologischen Signalwegen als Diskri-minierungskriterium. Hiermit ist gemeint,dass das Systemverhalten oder bestimmteSystemeigenschaften relativ tolerantgegenüber Störungen sind. Wir untersu-chen zum einen die Robustheit des bistabi-len Verhaltens bezüglich Parametervaria-tionen und zum anderen die Robustheitder bistabilen Schwelle unter dem Einflussder stochastischen Natur der Reaktionen.Die hier vereinfacht dargestellten Einflüssevon unterschiedlichen Molekülkonzentra-tionen in unterschiedlichen Zellen sind inrealen Systemen nicht die einzigen sto-chastischen Einflüsse auf die Signalüber-tragung. Die biochemischen Reaktionenan sich können nämlich nur näherungs-weise mit dem hier vorgestellten determi-nistischen Ansatz wiedergegeben werden.Diese Untersuchungen sind recheninten-siv, können aber nicht nur ein Kriteriumzur Modelldiskriminierung liefern, son-dern wir erhoffen uns hiervon weitere Ein-blicke in das prinzipielle Systemverhalten.

5. Zusammenfassung undAusblick

Es wurde beispielhaft gezeigt, wie mit Hilfevon mathematischer Modellierung inKombination mit einer anschließendenAnalyse experimentelle biologische Datenund Sichtweisen auf Konsistenz überprüftwerden können. Des Weiteren können dietheoretischen Überlegungen helfen,scheinbar widersprüchliche Daten in Ein-klang zu bringen und somit zum tieferenVerständnis der zugrunde liegenden Vor-gänge beitragen. Diese Arbeiten zeigenexemplarisch einige Vorzüge und Möglich-keiten der systemtheoretischen Analysebiologischer Vorgänge auf. Während dieangewandten Methoden bisher meistensnur für Systeme sehr geringer Ordnung (≤ 3) angewendet wurden, zeigen die hierbeschriebenen Ergebnisse und die damitgewonnen Einsichten, dass auch für größe-re Modelle oft noch sehr allgemeine Aus-sagen über interessierende Systemeigen-schaften möglich und sinnvoll sind.

Zum Abschluss wurden noch einige zusätzli-che Arbeitsgebiete angesprochen, die wei-tere Herausforderungen in diesem neuenArbeitsgebiet aufzeigen. Ein besseres Ver-ständnis des Systemverhaltens ist nichtnur für die Grundlagenwissenschaften vongroßem Interesse, sondern natürlich essen-tiell, um in der Zukunft rationale, sinnvol-

le Angriffspunkte für potentielle Medika-mente zu identifizieren. Hier können ma-thematische Modelle helfen, Medikamentein silico auf Wirksamkeit und Spezifität zuuntersuchen. Modelle mit einer Qualität,die Experimente überflüssig machen, lie-gen aber wohl noch sehr weit in der Zu-kunft. •

Frank AllgöwerThomas EißingPeter Scheurich

Literatur

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DIE AUTOREN

Thomas Eißing

ist zur Zeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Systemtheorie technischer Prozesse der Universität Stuttgart undStudent der Technischen Kybernetik. Er erlangte den Abschluss Diplom-Biologe (technisch orientiert) im Jahr 2002 nachStudien an der Universität Stuttgart und der University of New South Wales. Ein Forschungsaufenthalt brachte ihn 2001zur Fa. Millennium Pharmaceuticals nach Cambridge, Massachusetts. Sein Forschungsschwerpunkt liegt in der Anwen-dung von Systemtheorie auf molekulare Zellbiologie.

KontaktUniversität Stuttgart, Institut für Systemtheorie technischer Prozesse, Pfaffenwaldring 9, 70569 StuttgartTel. 0711/685-7750E-Mail: [email protected]

Peter Scheurich

ist Professor für Molekulare Immunologie am Institut für Zellbiologie und Immunologie der Universität Stuttgart. Er hatin Mainz Chemie studiert und im Fach Biochemie promoviert. Danach war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Institu-tes für Medizin der damaligen Kernforschungsanlage Jülich, am Institut für medizinische Mikrobiologie der UniversitätMainz sowie bei einer Klinischen Arbeitsgruppe der Max-Planck-Gesellschaft in Göttingen. Sein Hauptarbeitsgebiet sindSignal- und Wirkmechanismen immunregulatorischer Zytokine.

KontaktUniversität Stuttgart, Institut für Zellbiologie und Immunologie, Allmandring 31, 70569 StuttgartTel. 0711/685-6987E-Mail: [email protected]

Frank Allgöwer

ist Professor für Systemtheorie technischer Prozesse und Leiter des gleichnamigen Instituts an der Universität Stuttgart. Erhat in Stuttgart Technische Kybernetik und an der University of California at Los Angeles Angewandte Mathematik stu-diert und promovierte in der Fakultät Verfahrenstechnik der Universität Stuttgart. Vor seiner Berufung nach Stuttgart imJahr 1999 hatte er eine Professur für Nichtlineare Systeme im Departement Elektrotechnik der ETH Zürich. LängereForschungsaufenthalte brachten Frank Allgöwer an das NASA Ames Research Center, das California Institute of Tech-nology, die University of California at Santa Barbara und zur Fa. DuPont in Wilmington, Delaware. Sein Hauptarbeits-gebiet ist die Entwicklung und Anwendung systemtheoretischer Methoden zur Analyse und Regelung dynamischer Systeme.

KontaktUniversität Stuttgart, Institut für Systemtheorie technischer Prozesse, Pfaffenwaldring 9, 70569 StuttgartTel. 0711/685-7733E-Mail: [email protected]

Weitere an den Projekten beteiligte PersonenMarkus Branschädel, Eric Bullinger, Carla Cimatoribus, Holger Conzelmann, Ernst D. Gilles, Cedric Gondro, Thomas Sauter,Monica Schliemann, Birgit Schoeberl, Harald Wajant, Gudrun Zimmermann

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1. Einleitung: Nachweis einzelnerMoleküle in der lebenden Zelle

Der Nachweis einzelner Moleküle in leben-den Zellen stellt das ultimative analytischeInstrument in der Zellbiologie dar. Ent-sprechend vielfältig sind die Forschungs-bemühungen in den letzten Jahren, umbestehende Verfahren, wie beispielsweisedie Fluoreszenzmikroskopie oder Massen-spektroskopie, in ihrer Empfindlichkeit zuverbessern. Dabei ist es bisher allein im

Bereich der optischen Mikroskopie gelun-gen, verlässlich einzelne Moleküle inlebenden Zellen nachzuweisen. Diese Ver-fahren ermöglichen teilweise bereits jetzteinen neuen Zugang zu zellbiologischenProzessen, der auch die Systembiologiebefruchten wird. Im Folgenden sollen diewesentlichen Grundlagen der Technik er-läutert und Möglichkeiten sowie Limitie-rungen beschrieben werden.

Die optische Mikroskopie ist die tragendeSäule in der Darstellung zellulärer Pro-

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Das grüne LeuchtenDem Molekül auf der Spur

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zesse. Die am häufigsten benutzten For-men sind dabei die Transmissions-, Phasen-kontrast- und Fluoreszenzmikroskopie.Aufgrund der Möglichkeit spezifisch ein-zelne Proteinsorten mittels Farbstoffenanzufärben hat sich die Fluoreszenzmikro-skopie als besonders leistungsfähiges Werk-zeug erwiesen. In der jüngeren Vergangen-heit ist es zudem gelungen, die räumlicheAuflösung durch die Konfokalmikroskopieoder die Verwendung einer strukturiertenBeleuchtung in der Weitfeldmikroskopiezu verbessern.

In der Tat ist es auch die Fluoreszenzmikro-skopie, die den Nachweis einzelner Mole-küle erlaubt. Entscheidend hierfür ist eszunächst, dass es gelingt, genau ein Mole-kül zur Fluoreszenz anzuregen und dieseFluoreszenz auch nachzuweisen. Ein einfa-ches Rechenbeispiel soll zeigen, dass beides– zumindest unter gewissen Voraussetzun-gen – technisch realisierbar ist. Ein Fluo-reszenzmikroskop besteht aus einer Licht-quelle, in der Regel einem Laser, der ineinem Konfokalmikroskop auf ein mög-lichst kleines Probenvolumen fokussiertwird. Die Abmessung dieses Volumens istdurch die Beugung des Laserstrahls be-grenzt und beträgt ca. 0,025µm3. Nur die indiesem Volumen angeregte Fluoreszenzwird auch nachgewiesen. In diesem Pro-benvolumen befinden sich ca. 108 Molekü-le der Zelle, von denen nur eines fluores-ziert. Erreicht wird diese hohe Selektivitätdurch eine geeignete Wahl der Laserwel-lenlänge und eine spezielle Markierungder nachzuweisenden Moleküle mittelsgeeigneter Farbstoffe. Die meisten in derZelle vorhandenen niedermolekularenVerbindungen zeigen bei Anregungswel-lenlängen oberhalb von 550nm keine Fluo-reszenz mehr (01). Auch Proteine lassensich in diesem Fall nicht mehr effektiv zurFluoreszenz anregen. Nur eigens in dieZelle eingebrachte Farbstoffe oder von derZelle synthetisierte Proteine absorbierenbei dieser oder längeren Wellenlängen. Zu-dem kann eine intensive langwellige An-regung durch die Absorption von zweiPhotonen (anstelle eines einzigen Photonsbei niedrigen Intensitäten) zu einer weite-ren Steigerung der Selektivität in der An-regung führen. Unterstützt wird dies da-durch, dass viele interessante Proteinarten,wie z.B. einige Membranrezeptoren in derZelle in solch geringen Mengen vorkom-men, dass sich in einem Probenvolumenvon 0,025µm3 gerade ein Protein befindet.

Durch den Laser wird deran dem Protein befindli-che Farbstoff zur Fluores-zenz angeregt. In einemoptimal aufgebautenMikroskop wird ca. 1 Pro-zent des Fluoreszenzlich-tes nachgewiesen. Einguter Fluoreszenzfarb-stoff emittiert ca. 106 Pho-tonen pro Sekunde, fallsder optische Übergang ge-sättigt wird. Damit kön-nen bis zu 104 Photonenpro Sekunde zum Detek-tor gelangen. Da heut-zutage die Nachweisemp-findlichkeit der Detekto-ren für Photonen in ei-nem Wellenlängenbereichvon 500nm–900nm bis zu80 Prozent beträgt, beinahezu keinem Eigenrau-schen der Detektoren,werden diese Photonenauch vom Mikroskopnachgewiesen. Ausge-wählte Farbstoffmoleküleemittieren also ausrei-chend Photonen, so dasseinzelne Moleküle leichtdetektiert werden kön-nen. Entscheidend fürden erfolgreichen Nach-weis einzelner Moleküle inZellen ist es vielmehr, wieviele unspezifisch emittier-te Photonen (Autofluores-zenz der Zelle) gleichzeitigmit dem Fluoreszenzsignaldes Moleküls zumDetektor gelangen.

Wie bereits erwähnt, kannmittels geeigneter Auswahlder Zellen und der Wachs-tumsbedingungen dieseAutofluoreszenz minimiert werden.Weiterhin spielt die Wahl der Anregungs-wellenlänge eine entscheidende Rolle. In der Regel gilt dabei: je langwelliger dieAnregungswellenlänge, desto geringer dieAutofluoreszenz der Zelle. Daher ist dieZweiphotonenabsorption, bei der zweilangwellige Photonen statt einem kurz-welligen zur Anregung benutzt werden,eine geeignete Methode zur Unterdrü-ckung der Autofluoreszenz. In der Regelwird unter günstigen Umständen ein

In der Systembiologie sind analytische, experimen-telle Methoden wichtig, um zuverlässige Daten undParameter für die Modellierung der biologischenSysteme zu gewinnen. Neben der Fluoreszenzmikro-skopie erhält in Stuttgart die Einzelmolekülmikro-skopie eine zunehmend wichtige Rolle. Es werdenMethoden entwickelt, die eine möglichst genaueMessung der entscheidenden Schlüsselparameterzellulärer Prozesse leisten können. Entscheidend istdabei, die Fluoreszenz einzelner Moleküle nachzu-weisen, um somit den zellulären Prozessen „zuse-hen“ zu können. Hier macht man sich die Entde-ckung zunutze, dass die Fluoreszenz einer Quallevon einem relativ kleinen Protein stammt, dem GFP(green fluorescent protein). Da man dieZelle veranlassen kann, das fluoreszierende GFP aneinem bestimmten interessierenden Zielprotein an-zuhängen, war der entscheidende Marker gefunden.Mit den Messmethoden der Fluoreszenzkorrelations-Spektroskopie (FCS, Fluorescence Correla-tion Spectroscopy) und der Fluoreszenz-Kreuz-korrelationsspektroskopie (FCCS, FluorescenceCross-correlation Spectroscopy) können dieStuttgarter nun nachweisen, ob ein Protein zu einembestimmten Zeitpunkt an einem anderen Proteinoder in einen Proteinkomplex gebunden ist odernicht; eine wichtige Voraussetzung zur Aufklärungder Signalkaskaden in der Zelle, mit denen dieseauf ihre Umgebung reagiert und ihre Reproduktionoder auch den Zelltod reguliert.

ZUSAM M ENFASSUNG

01

Darstellung der verschiedenen intrazel-lulären Substanzen, die zur Autofluo-reszenz der Zelle beitragen als Funk-tion ihrer Absorptionswellenlänge. Ausder Abbildung wird sichtbar, dass imlangwelligen roten Bereich praktischkeine Autofluoreszenz angeregt wird.Durch gezielten Einsatz von Mehrpho-tonenabsorption kann dies ausgenutztwerden, um die Autofluoreszenz beider Anregung einzelner Moleküle zuunterdrücken.

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Signal-zu-Rausch-Verhältnis von ca. 5:1erreicht. Dieses reicht aus, um einzelneMoleküle in lebenden Zellen nachzuwei-sen und auch ihre Diffusion oder denTransport zu bestimmen.

Eine weitere Herausforderung besteht in derPhotostabilität der verwendeten Farbstoffe.Wie in der klassischen Fluoreszenz-Kon-fokalmikroskopie unterliegen die Farbstof-fe dem Photobleichen, d.h. durch die opti-sche Anregung werden chemische Modifi-kationen induziert, die dazu führen, dassder Farbstoff nicht mehr (oder bei eineranderen Wellenlänge) fluoresziert. Diebesten Farbstoffe emittieren zwischen 107

bis 108 Photonen bevor sie „photoblei-chen“. Dies führt dazu, dass einzelne Farb-stoffe in lebenden Zellen nur einige 10 Se-kunden kontinuierlich verfolgt werdenkönnen, bevor sie einer irreversiblen pho-tochemischen Reaktion unterliegen. Ent-sprechend intensiv werden Bemühungenverfolgt, stabilere Farbstoffe zu verwenden.In diesem Zusammenhang kommen Halb-leiternanopartikeln eine wichtige Rolle zu,da sie sich als besonders photostabil her-ausgestellt haben.

2. Einzelmolekülmikroskopie undSystembiologie

Ein Forschungsgebiet, das von der System-biologie bearbeitet wird, sind so genannteSignalkaskaden. Eine einzelne Zelle nimmtihre Umgebung in der Regel durch chemi-sche Signale wahr. So können etwa Einzel-ler einen Gradienten einer Molekülsorte,die als Nahrung dient, erkennen, diese In-formation verarbeiten und darauf reagie-

ren, indem die Zelle sich auf die Nah-rungsquelle zu bewegt. Eine weitere Grup-pe von chemischen Stoffen signalisiert eineGefahr, z.B. durch Viren und Bakterien,mechanischen Stress oder eine toxischeUmgebung. Bei höheren Organismenkommen die vielfältigen Mechanismenhinzu, die eine Kommunikation zwischenverschiedenen Zellen innerhalb eines Or-gans oder auch zwischen verschiedenenOrganen ermöglichen. Ein Beispiel hierfürist der programmierte Zelltod (Apoptose).In einem höheren Organismus ist es essen-tiell, dass Zellen, die ihre Funktion nichtmehr korrekt erfüllen, durch neue Zellenersetzt werden. Hierbei ist es entscheidend,dass zum einen keine gesunden Zellen ab-gebaut werden und andererseits, dass derProzess wohl definiert abläuft, d.h. keinefür benachbarte Zellen schädlichen Sub-stanzen, wie z.B. eiweißspaltende Enzyme,freigesetzt werden. Es gibt verschiedeneSignale, die eine Zelle zum programmier-ten Zelltod veranlassen können, die aberimmer auf der Ausschüttung einer Mo-lekülsorte durch das Immunsystem beru-hen. Zellen, die mit diesem Signal in Be-rührung kommen, entscheiden quasiselbstständig, wie auf das Signal reagiertwird, also ob der programmierte Zelltodeingeleitet wird oder nicht. Die Beschrei-bung der Signalverarbeitung auf das To-dessignal, aber auch auf jedes andere Sig-nal, das eine Zelle empfangen kann, ist aufmolekularer Ebene komplex und man istheutzutage weit davon entfernt, eine belie-bige Signalkaskade einer Zelle auf moleku-larer Ebene präzise in ihrem raumzeitli-chen Ablauf zu beschreiben.

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ANZE IGE

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Wie kann man sich eine solche molekulareBeschreibung vorstellen? Das Signalmole-kül bindet an einen bestimmten Rezeptor,da dieser eine Bindungsstelle hat, die z.B.genau entgegengesetzt geladen ist, wie dieBindungsstelle des Signalmoleküls, so dasseine starke anziehende Wechselwirkungentsteht. Durch den Bindungsvorgangwird der Rezeptor auf der Innenseite derZelle leicht verformt, da dies energetischetwas günstiger ist. Dadurch werden wie-derum zuvor verborgene Bindungsstellenfreigelegt, an die Enzyme, die hochspezi-fisch andere Proteine zerschneiden kön-nen, aus dem Zellinneren binden können.Diese Enzyme sind eigentlich inaktiv, kön-nen aber nun, da sie sehr dicht beieinandersind, sich gegenseitig modifizieren, so dassaktive Enzyme entstehen. Diese wiederumkönnen dann andere inaktive Proteine ak-tivieren. Allein diese kurze Sequenz zeigt,dass eine molekulare Beschreibung nichtnur sehr lang, sondern auch kompliziertwerden kann, insbesondere, wenn man be-denkt, dass in vielen Signalkaskaden hun-derte von verschieden Proteinen eine Rollespielen.

Der Ansatz der Systembiologie, diese Sisy-phusarbeit der molekularen Beschreibungauf ein System zu reduzieren, das mit sehrwenigen Parametern auskommt und trotz-dem das Ergebnis einer Signalkaskade kor-rekt beschreibt, ist sehr verlockend. Es istleicht einzusehen, dass nicht jeder Schrittin der Signalkaskade genau bekannt seinmuss. Oft ist nur notwendig, dass wichtigeZwischenschritte erfasst werden. Im zuvorgenannten Beispiel ist dies die Aktivierungeines Proteins, das nuklearer Faktor ge-nannt wird und das nach Aktivierung inden Zellkern vordringt, um Gene zu akti-vieren, wodurch dann die Produktion vonanderen Proteinen veranlasst wird. In die-sem Prozess ist der nukleare Faktor das Na-delöhr der Prozessgeschwindigkeit. Wennman von Stuttgart nach München fährtund auf der A8 im Stau steht, ist es für dieGesamtfahrzeit völlig egal, wie man inStuttgart auf die Autobahn gefahren ist,sondern nur wie lang der Stau ist. SolcheSchlüsselstellen der Signalkaskade sindentscheidend für eine erfolgreiche Simu-lation der Kaskade. Hier können kleineAbweichungen in der Parametrisierunggroßen Einfluss auf das Gesamtergebnishaben. Es ist also entscheidend, dass manMethoden zur Verfügung hat, die einemöglichst genaue Messung der Schlüssel-

parameter liefert. Genau an dieser Stellespielt die Einzelmolekülmikroskopie einewichtige Rolle.

Verschiedene zellbiologischeUntersuchungen haben zu-dem in der jüngsten Ver-gangenheit gezeigt, dassFluktuationen selbst denOrt und den Zeitpunkteines bestimmten biochemi-schen Prozesses in einerZelle bzw. einem Organis-mus bestimmen können.Ein Beispiel ist die Zelltei-lung, bei der die Orientie-rung der mitotischen Spin-del durch die (räumlichbegrenzte) Fluktuation inder Konzentration einesbestimmten Proteins induziert wird. Auchhier vermag räumlich hochauflösende undultraempfindliche Fluoreszenzmikroskopieneuartige Einblicke zu liefern, indem näm-lich diese Fluktuationen direkt anhand derFluoreszenzintensität nachvollzogen wer-den können. Im Folgenden soll dargestelltwerden, warum hochsensitive Mikrosko-pietechniken, bis hin zur Einzelmolekül-detektion, das geeignete Werkzeug sind,um Parameter für die Modellierung zu be-stimmen.

3. Fluoreszenzkorrelationsspek-troskopie: Statistische Schwan-kungen unter dem Mikroskop

Obwohl viele verschiedene Proteinsorten anSignalkaskaden beteiligt sind, ist die Kon-zentration der einzelnen Sorten teilweisesehr gering, d.h. in der Zellmembran bzw.im Zellinneren (im Zytoplasma) befindensich lediglich einige Tausend Proteine einerSorte. Für eine typische Säugerzelle bedeu-tet dies z.B., dass der mittlere Abstand zwi-schen zwei Rezeptorproteinen in der Zell-membran im Bereich einiger hundert Na-nometer liegt, also im Bereich der Auflö-sung eines optischen Mikroskops. Wennpro optisch auflösbarem Bereich aber nurein Protein vorhanden ist, müssen einzelneMoleküle detektiert werden können, umüberhaupt noch ein nachweisbares Signalzu erhalten. Dies ist nur möglich mittelshöchstempfindlicher Fluoreszenzmikro-skopie. Das Problem ist nun, dass Proteinein der Regel nicht fluoreszieren. Wieschafft man es, dass Proteine, und zwarnur Proteine der Sorte, die von Interesse

Die Abbildung zeigt einen Membran-rezeptor, an dem ein Grünfluoreszie-rendes Protein (GFP) befestigt ist. Beieiner optischen Anregung mit einerWellenlänge von 500 nm fluoresziertnur das GFP.

02

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ist, fluoreszieren? Hier machtman sich die Entdeckung zu-nutze, dass die Fluoreszenzeiner Qualle von einem rela-tiv kleinen Protein stammt,dem GFP (green fluorescent pro-tein). Es ist möglich, das Erb-gut einer Zelle so zu verän-dern, dass sie anstelle desProteins von Interesse, z.B.dem TNF-Rezeptor, ein sogenanntes Fusionsprotein aus

TNF-Rezeptor und GFP produziert, alsoeinen Rezeptor, an dessen Ende ein GFPangehängt wurde (02). Bestrahlt man dieZelle nun mit blauem Licht, so leuchtendie GFPs grün, und da sie direkt mit denRezeptoren verbunden sind, stammt diesegrüne Fluoreszenz direkt von den Orten,an denen sich der Rezeptor befindet. Manhat also eine Methode, um Gen-spezifischProteine zu markieren.

Es ist leicht einzusehen, dass GFP aus derZellbiologie mittlerweile nicht mehr weg-zudenken ist. Obwohl nicht optimal, sinddie Fluoreszenzeigenschaften des GFPglücklicherweise gut genug, um einzelneGFP-Moleküle detektieren zu können.Dies wird in einer Messmethode ausge-nutzt, die sich Fluoreszenzkorrelations-Spektroskopie nennt (FCS, Fluorescence Cor-relation Spectroscopy). Mit FCS können Diffu-sionskonstanten und mit Einschränkun-gen auch Konzentrationen gemessen wer-den. Diese Methode soll im Folgendenkurz erläutert werden.

(03) zeigt den schematischen FCS-Aufbau.Genau wie in der Konfokal-mikroskopie wird nicht diegesamte Zelle beleuchtet,sondern vielmehr das An-regungslicht stark fokussiert,so dass nur ein „Punkt“ inder Zelle beleuchtet wird.Aufgrund der Wellennaturdes Lichtes kann hier mini-mal eine Größe von bis zu200nm in XY-Richtung undbis zu 600nm in Z-Richtungerreicht werden. Den Fokusplatziert man nun an dieStelle der Zelle, an der diemit GFP markierten Proteine

untersucht werden sollen, also etwa aufdie Zellmembran im Falle der TNF-Rezep-toren. Hat man sehr wenige Rezeptoren inder Membran, so misst man ein stark fluk-tuierendes Signal: Immer wenn ein mar-

kierter Rezeptor in den Fokus diffundiert,steigt das Signal an, diffundiert er wiederhinaus, geht das Signal auf ein Unter-grundniveau zurück. Dies ist in (04) zusehen, wo die Fluoreszenz als Funktion derZeit aufgetragen ist (Fluoreszenzspur). Dieeinzelnen Spitzen (Bursts) im Signal ent-sprechen einzelnen markierten Rezepto-ren, die durch den Fokus diffundieren. DieBreite der Bursts korreliert mit der Diffu-sionsgeschwindigkeit. Je langsamer ein

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Zeitlicher Verlauf der Fluoreszenz-intensität. Immer wenn ein einzelnesMolekül durch das Fokalvolumen(03) diffundiert, ergibt sich eineSpitze (Burst) im Fluoreszenzsignal.

Schematische Darstellung des konfoka-len Strahlenganges. Die Ellipse imunteren Teil der Abbildung symboli-siert das Fokalvolumen der Anordnungund ist rechts in der Abbildung ver-größert dargestellt. Die Linie imFokalvolumen soll den Diffusionspfadeines einzelnen Moleküls andeuten.

Fluoreszenz und fluores-zierende Proteine

Fluoreszenz ist die Eigenschaft von Molekülen,Licht zu absorbieren und mit einer größeren Wellen-länge wieder zu emittieren. Eine intensive Fluores-zenz beobachtet man bei nur verhältnismäßig weni-gen Molekülen. Unabhängig davon gibt es vieleAnwendungen für fluoreszierende Moleküle, z.B. sogenannte Aufheller in Waschmitteln, die im UVabsorbieren und im Blauen fluoreszieren und so derWäsche ein strahlendes Weiß verleihen können.Technische Anwendungen sind z.B. der Farbstoff-laser oder die Fluoreszenzmikroskopie. Wie kommtdie Verschiebung zu größeren Wellenlängen zustan-de? Bei der Anregung eines Moleküls in einenhöheren elektronischen Zustand werden in der Regelzusätzlich noch Schwingungszustände mit angeregt(06). Die Energie dieser Schwingungszuständewird extrem schnell an die Umgebung abgegeben, sodass das Molekül im rein elektronischen Zustandverbleibt. Von hier relaxiert das Elektron unterAussendung eines Photons in den Grundzustandzurück. Die Energie dieses Photons ist nun um dieEnergie vermindert, die zuvor durch die Schwingun-gen abgegeben wurde.In der Fluoreszenzmikroskopie macht man sich dieFluoreszenz zunutze, indem man nicht-fluoreszieren-de Moleküle (z.B. Proteine in einer Zelle) mitfluoreszierenden Molekülen markiert. Durch He-rausfiltern des Anregungslichts sieht man imMikroskop nur die Fluoreszenz der Marker und da-mit die Position des interessierenden Moleküls.In der Zellbiologie benutzt man als Marker häufigfluoreszierende Proteine, z.B. GFP. Diese habenden Vorteil, dass die Zelle sie selbst produziert,noch dazu verbunden mit dem Protein, das von Inte-resse ist. (02) etwa zeigt TRAF2, ein Protein,das in der Signalkaskade des programmierten Zell-tods beteiligt ist, das mit GFP markiert ist. Mansieht, dass GFP verhältnismäßig groß ist, so dassdurchaus die Gefahr besteht, dass die Funktion desmarkierten Proteins gestört wird.

FLUORESZENZ

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Protein diffundiert, desto länger sind dieBursts. Bildet man die Autokorrelation(Korrelationen) der Fluoreszenzspur, solässt sich mit Hilfe eines analytischen Mo-dells sofort die Diffusionskonstante unddie Proteinkonzentration aus der Korrela-tionsfunktion ableiten. Die Daten in (05)

stammen von mit GFP markierten TNF-Rezeptoren. Es zeigt sich, dass die gemes-senen Diffusionskonstanten im für Mem-branproteine typischen Bereich von 10–9

cm2/s liegen. Dies ändert sich drastisch,wenn der Rezeptor aktiviert wird, also einchemisches Signal empfangen wird (Bin-dung von TNF an den TNF-Rezeptor), aufdas die Zelle reagieren muss und das dieEinleitung des programmierten Zelltodesbedeuten kann. (05) zeigt, wie sich dieAutokorrelationsfunktion zu großen Zei-ten hin verschiebt, d.h. die Diffusion wirddeutlich langsamer. Nach einer aktuell dis-kutierten Theorie liegt dieses Verhaltendaran, dass der Rezeptor nach Aktivierungin einen Membranbereich wechselt, dereine höhere Ordnung hat als die übrigeZellmembran. Die gemessene Diffusionentspricht dann der Diffusion des gesam-ten geordneten Bereichs (einige 10nmDurchmesser) in der Zellmembran.

Dieses einfache Beispiel zeigt verschiedenewichtige Aspekte:

1. Man kann Diffusionskonstanten von mo-lekularen Komponenten kleinsterKonzentration in lebenden Zellen leichtmessen.

2. Fluktuationen sind ein wesentlicher Be-stand von zellulären Prozessen, die aber inder Regel in der klassischen Fluoreszenz-mikroskopie nicht berücksichtigt werden.

3. Schon der erste Schritt der Signalkaskade,die den programmierten Zelltod vermit-telt, ist hoch kompliziert und auf mole-kularer Ebene bis jetzt nicht verstanden.

4. Kreuzkorrelation: Nachweis molekularer Bindungdurch korrelierte Fluktuationen

Mit Hilfe von Fluktuationen ist es aber nichtnur möglich, Diffusionskonstanten zu be-stimmen, sondern es können ebenfalls Ko-lokalisationen auf molekularer Ebene be-stimmt werden, d.h. man kann feststellen,ob zwei Proteine aneinander gebundensind oder nicht. Man kann sich leicht vor-stellen, dass gerade diese Fragestellung, obein Protein zu einem bestimmten Zeit-punkt an einem anderen Protein oder

einem Proteinkomplex ge-bunden ist oder nicht, inSignalkaskaden eine zen-trale Rolle einnimmt. Eineelegante Methode, dies di-rekt in lebenden Zellen zumessen, ist die Fluores-zenz-Kreuzkorrelations-spektroskopie (FCCS,Fluorescence Cross-correlationSpectroscopy). Hierbei werdenzwei Proteinsorten, vondenen man wissen möchte,ob sie innerhalb einer Kas-kade aneinander binden,mit unterschiedlichen Markern versehen,d.h. Markern, die bei unterschiedlichenWellenlängen fluoreszieren. Nun muss dieFluoreszenz beider Marker getrennt mit-tels zweier Detektoren gemessen werden.Detektor 1 weist ausschließlich Fluores-zenz von einem Marker, Detektor 2 aus-schließlich vom anderen Marker nach.Bildet man nun die Korrelationsfunktion(Korrelationen) zwischen den Signalenvon Detektor 1 und 2, so erhält man nurdann eine Korrelation mit einem Betraggrößer als eins, wenn die beiden Markerimmer zusammen durch den Fokus desMikroskops diffundieren. In einer Zelle, in der beide Proteine aneinander gebundensind, ist dies immer der Fall und man er-hält eine starke Korrelation. Sind die Pro-teine hingegen nicht aneinander gebun-den, ergibt sich keine Korrelation. Auchein gleichzeitiges zufälliges Passieren desFokus von je einer Proteinsorte ist belang-los. Solche zufälligen Koinzidenzen mit-teln sich in der Korrelationzu eins heraus.

Für Messungen in lebendenZellen benötigt man alsoverschiedenfarbige Markeroder autofluoreszierendeProteine. Durch Mutatio-nen des GFP ist es gelun-gen, GFP-Mutanten zuerzeugen, die bei unter-schiedlichen Farben leuch-ten. Dementsprechend heißen sie Blau-fluoreszierendes Protein (BFP), Cyanfluo-reszierendes Protein (CFP) und Gelbfluo-reszierendes Protein (YFP). Markiert manzwei verschiedene Proteine mit zwei unter-schiedlichen Mutanten sollte FCCS leichtmöglich sein. Allerdings ist zu beachten,dass die Fluoreszenzspektren der verschie-denen fluoreszierenden Proteine spektral

Korrelationsfunktion G(2)(τ) vor a)und nach der Stimulation b) einesMembranrezeptors. Die Kreise stellenMessdaten und die durchgezogene Lineeine numerische Anpassung an dieDaten dar.

Die Abbildung zeigt das vereinfachteNiveauschema eines fluoreszierendenProteins. Die dicken Linien (S0, S1)entsprechen rein elektronischen Zustän-den, die dünnen Linien stellen Schwin-gungsniveaus dar. Da Schwingungensehr schnell abklingen, sind Absorp-tions- und Fluoreszenzspektren gegen-einander verschoben.

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sehr breit sind, so dass es nicht möglich ist,zwei spektrale Bereiche zu finden, in de-nen jeweils nur ein Protein fluoresziert.Man erhält also immer in beiden Detekto-ren Fluoreszenzlicht, obwohl nur eine Pro-teinsorte durch den Fokus diffundiert ist.Dies bedeutet aber, dass man immer einescheinbare Kreuzkorrelation misst.

Wie kann dieses Problem nun umgangenwerden? Die Fluoreszenzspektren überlap-

pen spektral und sind somitunbrauchbar für Korrela-tionsmessungen. Auf die Ab-sorptionsspektren trifft diesjedoch nicht zu. Es ist mög-lich, unterschiedliche fluo-reszierende Proteine getrenntanzuregen. (07) zeigt diesfür CFP und YFP. Bei einerWellenlänge von 425 nm(blau) lässt sich ausschließ-lich CFP anregen, bei 514 nm(grün) ausschließlich YFP. Indem am 3. PhysikalischenInstitut entwickelten Aufbauwird dieser Sachverhalt aus-

genutzt: Mit gepulsten Lasern wird ab-wechselnd CFP, mit einem blauen Laser-puls, und YFP, mit einem grünen Laser-puls, angeregt. Die Fluoreszenz wird dannzeitaufgelöst detektiert. Fluoreszenzphoto-nen, die unmittelbar nach dem blauenAnregungspuls gemessen werden, müssenvom CFP stammen, da mit Blau aus-schließlich CFP angeregt wurde, währendPhotonen, die unmittelbar nach dem grü-nen Puls gemessen werden von YFP stam-men. (07) zeigt diesen Aufbau im Detail:Ein gepulster Titan-Saphir-Laser lieferteine Wellenlänge von 850 nm (nahes Infra-rot) und alle 10 ns einen Puls. Mittels eines

Kristalls, der die Frequenzder Laserstrahlung verdop-pelt, erhält man die benötig-ten 425 nm. Ein so genannterPulspicker sorgt dafür, dassnur jeder zehnte Puls durch-gelassen wird, so dass nunalle 100 ns ein sehr kurzer

blauer Laserpuls zur Verfügung steht.Synchron hierzu, aber mit 50 ns Verzöge-rung, wird aus einem kontinuierlichengrünen Laser ein Puls herausgeschnitten.Man erhält also abwechselnd alle 50 nseinen blauen und einen grünen Laserpuls.Durch das zeitaufgelöste Messen der Pho-tonen lassen sich am Ende die Fluoreszenzvon CFP und YFP getrennt als Funktion

der Zeit aufnehmen. Aus diesen Fluores-zenzspuren bestimmt man die Kreuzkor-relation.

(08) zeigt Beispiele für zwei Proteine, dienicht aneinander gebunden sind (08A)

bzw. zwei Proteine, bei denen das der Fallist (08B). Man erkennt leicht, dass imersten Fall die Kreuzkorrelation flach ver-läuft, während im zweiten Fall, der anein-ander gebundenen Proteine, die Korrela-tionsfunktion deutlich größer Null ist. Beigenauer Kenntnis des Untergrunds (alsogeringe Fluoreszenz von anderen Zellkom-ponenten und Dunkelzählrate des Detek-tors) ist es sogar möglich, mit Hilfe derAutokorrelationen beider Proteinsortensowie deren Kreuzkorrelation genau zubestimmen, wie hoch der Anteil der ge-bundenen und ungebundenen Proteine ist.

Mit Hilfe von Korrelationsfunktionen kann manallgemein Ähnlichkeiten zwischen Funktionen oderSelbstähnlichkeiten innerhalb einer Funktion auf-decken. Hier werden die Intensitäts-Autokorrela-tionsfunktion und die Intensitäts-Kreuzkorrelations-funktion benutzt, um aus Fluktuationen der Fluores-zenz, d.h. aufgrund von Konzentrationsschwankun-gen innerhalb eines Fokalvolumens Informationenüber Proteine innerhalb einer lebenden Zelle zuerlangen.Die Autokorrelationsfunktion ist definiert als:

Hierbei ist F die Fluoreszenzintensität und die spit-zen Klammern bedeuten eine Zeitmittelung. Eswird also die Intensität zur Zeit t mit der Intensitätzu einem späteren Zeitpunkt t + t verglichen. DieZeit, die ein Protein benötigt, um durch den Fokuszu schwimmen, taucht somit direkt in der Korrela-tionsfunktion auf. Aus ihr kann dann die Diffu-sionskonstante des Proteins abgeleitet werden.Die Kreuzkorrelation für zwei verschieden fluores-zierende Spezies, z.B. für CFP und YFP, lautet:

Hier sind FCFP und FYFP die Intensitäten derfluoreszierenden Proteine CFP und YFP. Sind dieseProteine miteinander verbunden, so ergeben sich fürsie identische Fluoreszenzspuren, d.h. die Kreuz-korrelationsfunktion stimmt mit der Autokorrela-tionsfunktion überein. Sind beide Komponenten un-abhängig voneinander, so mitteln sich die Fluores-zenzspuren zu eins.

KORRELATION

A) Die Spektren von CFP und YFPsind in Absorption spektral trennbar(graue Linien), während in Emissionein Übersprechen der Fluoreszenzkanä-le nicht vermeidbar ist (roter Kreis).B) Schematische Darstellung desKreuzkorrelationsspektrometers. Durchabwechselndes Anregen von CFP undYFP mit zwei Lasern sowie zeitaufge-löster Detektion kann jedes gemessenePhoton eindeutig CFP oder YFP zuge-ordnet werden.

Kreuzkorrelationskurven vor und nachder Bindung von Proteinen.

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5. Videomikroskopie an einzelnenMolekülen

Besonders elegant ist die Abbildung bzw. dasVerfolgen einzelner Moleküle mit einemWeitfeld-Fluoreszenzmikroskop. Neuarti-ge, empfindliche CCD-Kameratypen er-lauben den Nachweis einzelner Photonenmit einer Quantenausbeute von bis zu 80Prozent bei gleichzeitigem geringen Eigen-rauschen und hoher Ausleserate. Miteinem solchen Gerät gelingt es, einzelneMoleküle in lebenden Zellen mit einemkonventionellen Epifluoreszenzmikroskopnachzuweisen. Gleichzeitig kann mit einerBildwiederholrate von 10 Hz die Diffusionbzw. der Transport einzelner Moleküleverfolgt werden. Auf diese Weise lässt sichdirekt, d.h. weitgehend modellfrei, dasDiffusionsverhalten der Moleküle erfassen,was Informationen über die Umgebungder Moleküle bzw. über die Assoziation derMoleküle mit Bindungspartnern liefert.

6. Fazit

Eine erfolgreiche systembiologische Beschrei-bung zellulärer Prozesse wird ganz wesent-lich auf der Bereitstellung verlässlicherund detaillierter experimenteller Datenbasieren. Teilweise, etwa bei der Erhebungdes Proteinbestandes einer Zelle, sind diesenur mit erheblichem Aufwand zu beschaf-fen und es bedarf sicherlich jahrelangersystematischer Bemühungen, um entspre-chendes Datenmaterial zur Verfügung zustellen. Die experimentellen Techniken indiesem Bereich sind jedoch gut entwickelt,so dass „lediglich“ entsprechende Bemü-hungen unternommen werden müssen. Inanderen Bereich fehlen die entsprechen-den experimentellen Techniken noch oderbefinden sich im Erprobungsstadium. Diestrifft in diesem Zusammenhang auf dieEinzelmolekülmikroskopie zu. Die großeChance besteht darin, in bisher nicht ge-kanntem Maß detaillierte Einblicke in dieBewegung von Proteinen und Protein-interaktion in Zellen zu erreichen. Gleich-zeitig kann mit Zellen gearbeitet werden,bei denen die entsprechenden Proteinenicht überexprimiert werden, so dass ent-sprechende Artefakte ausgeschlossen wer-den können. Eine Nutzung für die System-biologie setzt voraus, dass die Technik anbestimmten Stellen eingesetzt wird, etwaan einem besonders neuralgischen Punktin einer Signalkette. Eine genaue Quantifi-

zierung von Proteinmen-gen gehört dabei zu denStärken der Methode.Weiterhin kann das Bewe-gungsverhalten von Pro-teinen weitgehend mo-dellfrei bestimmt werden,d.h. es ist möglich zu be-stimmen, ob Proteinetransportiert werden, inbeschränkten Voluminazwei- oder dreidimensio-nal diffundieren oder gareine freie unbeschränkteDiffusion durchführen.Hier stellt die Einzelmole-külmikroskopie oder dasSingle Particle Tracking einesinnvolle Ergänzung zuStandardtechniken wieFluorescence Revovery afterPhotobleaching (FRAP) dar.Eine gänzlich neue Mög-lichkeit besteht im Nach-weis der zeitlichen Fluk-tuationen von Protein-mengen in Zellen. Beiverschiedenen zellulärenProzessen wird vermutet,dass solche Fluktuationen zur Musterbil-dung bzw. Asymmetrie führen. Hier hatdie hochempfindliche Fluoreszenzmikro-skopie sicherlich ein interessantes Einsatz-gebiet. Auch der klassische Nachweis vonProteininteraktion in Zellen wird durchdie Methode neu beleuchtet. Die Kreuz-korrelationsspektroskopie stellt ein neuesVerfahren zum Nachweis der Proteinbin-dung dar, ohne auf die teilweise kritischenEnergietransfermessungen, oder die Ko-lokalisationsmessungen zurückzugreifen.Alles in allem stellt die Einzelmolekül-mikroskopie eine beträchtliche Erweite-rung der klassischen Fluoreszenzmikro-skopie dar, ohne diese zu verdrängen odergar zu ersetzen. Aber ein immer genaueresVerständnis zellulärer Prozesse erfordertschließlich doch gelegentlich das Verfolgeneinzelner Moleküle in Zellen. •

Jörg WrachtrupCarsten Tietz

Margarita GerkenElmar Thews

In systems biology it is important to find reliableinput data for key parameters for the model of abiological system. These data can only be found byanalytically experimental methods. In addition tostandard fluorescence microscopy, single moleculemethods became popular nowadays in Stuttgart.Methods are developed to help determine key para-meters of cellular processes with highest possibleaccuracy. The extreme low concentrations of themolecular components of many important processesrequire methods that allow for the detection of thefluorescence of single molecules. Therefore, thefluorescence of a relatively small protein extractedfrom a jelly fish named green fluorescent pro-tein (GFP) can be used. It is possible to triggerthe cell to fuse the GFP to every target proteinunder investigation. This makes GFP the most usedmarker in cell biology. Using fluorescence correla-tion spectroscopy (FCS), it is possible to measurethe mobility of proteins within living cells.Fluorescence cross-correlation spectroscopy (FCCS)shows whether a protein binds to another protein orprotein complex. These data are important to modela signal cascades describing the response of a cell tothe manifold signals of the environment.

SUM MARY

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TH E M E N H E FT FORSCH U NG SYSTE M B IOLOG I E50

DIE AUTOREN

Prof. Dr. Jörg Wrachtrup (im Bild rechts)

Leiter des 3. Physikalischen Instituts, studierte und promovierte an der Freien UniversitätBerlin und habilitierte an der Technischen Universität Chemnitz. Sein Hauptinteresse giltder Spektroskopie an einzelnen Molekülen und Quantensystemen. Diese methodische Klam-mer umschließt so unterschiedliche Forschungsgebiete wie Untersuchungen zu Quanten-computern mittels einzelner Spins im Festkörper bis zur Erforschung von Signalkaskaden inlebenden Zellen, also von der „harten“ Quantenhysik bis zur „weichen“ Biophysik.

Die Biophysikgruppe

wurde am Dritten Physikalischen Institut mit der Berufung von Prof. Wrachtrup in Jahr 2000 eingerichtet und seit 2002 geleitet vonDr. Carsten Tietz (Mitte, Physikstudium in Düsseldorf, Promotion in Chemnitz und Stuttgart). Das Hauptinteresse liegt in derUntersuchung von einzelnen Proteinen, wobei zu Anfang ein Schwerpunkt auf Proteinen der Photosynthese lag. Schon kurze Zeitspäter mit dem Eintritt des Instituts in den Stuttgarter Sonderforschungsbereich, der sich die Untersuchung von Signalkaskaden zumZiel gesetzt hat, wurden Methoden zur Untersuchung einzelner Proteine in lebenden Zellen entwickelt, wie z.B. Verfahren der Kor-relationsspektroskopie. Diese Verfahren wurden im wesentlichen von den Doktoranden Margarita Gerken (rechts vorne, Physik-studium in Eriwan, Armenien) und Elmar Thews (links, Physikstudium in Aachen und Stuttgart) aufgebaut, die beide zur Zeitihre Promotionen abschließen.

KontaktUniversität Stuttgart, 3.Physikalisches Institut, Pfaffenwaldring 57, 70550 StuttgartTel. 0711/685-5231, Fax 0711/685-5281E-Mail: [email protected]

ANZE IGE

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TH E M E N H E FT FORSCH U NG SYSTE M B IOLOG I E52

Funktionelle Genomikin mikrobie l len und humanen Systemen

In der Systembiologie als Teilgebiet der Biologie steht die Analyse

der Zelle im Vordergrund. Bisher erfolgte die Analyse der Proteine

und Gene mit den Methoden der klassischen Biochemie, die aber

hinsichtlich der Vielzahl von Genen und Proteinen eines Organismus

sehr aufwendig ist. Zudem lässt sie nur wenige Aussagen über Re-

gulationsmuster und das Zusammenspiel der in einem biologischen

System vorhandenen Gene und Proteine zu. Die komplette Sequen-

zierung verschiedenster Genome versetzt die Wissenschaft heutzu-

tage in die Lage, das

Geschehen der Zelle

als Ganzes zu be-

trachten. Hierbei

spielt die funktionelle

Genom-Analyse

(FUNCTIONAL GENOM-

ICS) eine entscheiden-

de Rolle. Die Funktion

der Gene und Pro-

teine, deren Regula-

tion sowie deren Zu-

sammenspiel, können mit Hilfe neuer Technologien auf der Ebene

des gesamten Genoms betrachtet werden. Eine dieser vergleichs-

weise neuen Techniken basiert auf den so genannten DNA-Chips

(DNA-MICROARRAYS), mit deren Hilfe die Aktivität von Tausenden oder

sogar aller Gene einer Zelle gleichzeitig bestimmt werden können.

Die parallele Beobachtung einer Vielzahl von Genen in einem einzi-

gen Experiment liefert schließlich Hinweise zur Analyse der gegen-

seitigen Regulation der Gene, eine Vorgehensweise die häufig als

Reverse Engineering bezeichnet wird. Solche komplexen Netzwerke

können mit klassischen Techniken nur schlecht oder gar nicht ent-

deckt werden.

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FU N KTION E LLE G E NOM I K 53

1. Die Transkriptomanalyse oder:Was passiert eigentlich in derZelle?

Noch Zukunftsmusik ist heute der gezielteEinsatz von Medikamenten unter weitge-hender Vermeidung von Nebenwirkungendurch den Einsatz von DNA-Microarraysin der Arztpraxis. Denn theoretisch wärees möglich, dass der Arzt die DNA einesPatienten, die er über eine Speichelprobegewonnen hat, mit dem diagnostischenHilfsmittel eines DNA-Microarrays ana-lysiert, mit dem die individuellen Varian-ten spezieller, Medikamente abbauenderEnzyme des Patienten bestimmt werdenkönnen.

Um einen umfassenden Überblick über daszu erlangen, was in der Zelle während derverschiedensten experimentellen Bedin-gungen, die ja nicht zuletzt auch die Na-tur widerspiegeln, passiert, bedient mansich seit nun mehr als zehn Jahren derDNA-Microarray-Technologie. Hierbeiwerden DNA-Sequenzen der zu untersu-chenden Gene in vitro oder in vivo syntheti-siert, chemisch modifiziert und an speziellbeschichtete Glas-Objektträger gekoppelt.Hierbei spielt die Lokalisation der DNA-Sequenzen auf dem Array eine wichtigeRolle, um später biologische Aussagentreffen zu können. Mit speziellen Dru-ckern (Spottern) können mehrere tausend

verschiedene Gensequen-zen in Form von kleinenPunkten, den so genann-ten Spots abgesetzt undimmobilisiert werden.Diese repräsentieren Teileoder gar das gesamte Ge-nom des zu untersuchen-den Organismus. Willman nun Aussagen darü-ber gewinnen, was unterverschiedenen experi-mentellen Bedingungenin der Zelle passiert, sokann man nach Durch-führung des Experimentsdie Boten-RNA aus dembiologischen Material iso-lieren, in die stabilerecDNA – eine komple-mentäre Kopie – um-schreiben und während-dessen mit Fluoreszenz-farbstoffen markieren.Wichtig hierbei ist es, im-mer auch die Boten-RNAdes biologischen Materialsvor Durchführung desExperiments als Kontrollezu isolieren und miteinem zweiten Fluores-zenzfarbstoff zu markie-ren. Die Mischung der so

Die Arbeitsgruppe Molekulare Biotechnologie amInstitut für Technische Biochemie der UniversitätStuttgart beschäftigt sich unter anderem mit derganzheitlichen Untersuchung biologischer Systemeauf Gen- und Proteinebene. Im Rahmen diesessystembiologischen Ansatzes werden zwei Themen-stellungen verfolgt: Zur Untersuchung des Fremd-stoff-Metabolismus in Leberzellen, werden dieAktivitäten der verschiedenen Gene, die in diesemZusammenhang eine Rolle spielen und verbundendamit die Variation der entsprechenden Proteinmen-gen mit Hilfe von DNA-Chips untersucht. Ergän-zend werden ausgewählte Enzyme gentechnisch inHefen hergestellt und biochemisch charakterisiert.Da der Fremdstoff-Metabolismus die Wirkung vonMedikamenten von Patient zu Patient verschiedenbeeinflusst, hat das Projekt eine intensive pharma-kologische Bedeutung. Zur Untersuchung derStressantwort des Bakteriums Escherichia coliwerden in einem weiteren Projekt die Genexpres-sionsmuster in Abhängigkeit von verschiedenenStressfaktoren wie etwa Nährstoffmangel mit Hilfevon DNA-Chips ermittelt. Ziel beider Projekte –in Zusammenarbeit mit dem Institut für Bioverfah-renstechnik – ist die Erzeugung von systembiologi-schen Modellen, die die Simulation der bearbeitetenStoffwechselvorgänge am Rechner und damit dieVorhersage biologischer Phänomene erlauben.

ZUSAM M ENFASSUNG

Microarrays bilden die Grund-lage der Expressionsanalyse.Der „hepato-DualChip“ der FirmaEppendorf dient der Analyse der toxi-kologisch relevanten differentiellenGenexpression und beinhaltet Sondenfür 151 Gene in Triplikaten (leereKreise). Die Auswahl repräsentiertalle für diese Fragestellung relevantenBereiche wie z.B. Phase 1 und 2 Me-tabolismus, Apoptose, Transport. DesWeiteren ist der Chip mit zahlreichenKontrollspots versehen (farbig gefüllteKreise), die der Überprüfung der ein-zelnen Arbeitsschritte (Reverse Trans-kription, Hybridisierung) sowie derNormalisierung der gewonnen Roh-daten dienen. Die statistisch ausgewer-teten Fluoreszenzsignale geben Auf-schluss über die differentielle Genex-pression in unterschiedlichen Hepato-zytenproben.

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gewonnenencDNA kanndann auf denMicroarrayaufgetragenwerden. Dasich auf demMicroarraydie zur cDNAkomplemen-täre DNA-Sequenz be-findet, kannes nun imnächstenSchritt zueiner Hybri-

disierung, d.h. zur Wechselwirkung zwi-schen komplementären DNA-Fragmentenkommen, sofern sie in der Mischung vor-handen sind. Dies ist dann der Fall, wennunter den gegebenen experimentellen Be-dingungen diejenige Boten-RNA gebildetwurde. Die so behandelten Glas-Objekt-träger können mit Hilfe spezieller Fluores-zenzscanner eingescannt und mit einerBildverarbeitungssoftware in numerischeDaten übersetzt werden. Diese Datenwerden dann in Statistikprogramme ein-gelesen und ausgewertet. Dabei wird fest-gestellt, welche Gene signifikant höhereFluoreszenzen der einen oder anderen Far-be aufweisen oder aber unverändert blei-ben, also die Mischfarbe der Fluoreszenzenaufweisen.

Die Auswertung dieser Intensitäten erlaubtdie Genotypisierung der in den Probenenthaltenen DNA-Sequenzen, d.h. die De-tektion von Veränderungen der Sequenzen(Mutationen) oder aber die Bestimmungder relativen Expressionslevel der Proteine.1996 kam der erste DNA-Chip mit ver-schiedenen Varianten eines HIV-Gens zurÜberprüfung von Resistenzen gegen be-stimmte Medikamente auf den Markt.

Seither wurde eine Vielzahl von Chips ent-wickelt und die Anzahl der auf einemChip verankerten und testbaren DNA-Fragmente von einigen Tausend auf meh-rere Hunderttausend erhöht. Dies erlaubtdie Bestimmung der veränderten Expres-sionslevel aller Gene einer Zelle als Reak-tion auf einen Stimulus oder aber den Ver-gleich der Expressionslevel zwischen ver-schiedenen Zelltypen. DNA-Chips werdendes weiteren für die Genotypisierung unddie Diagnose von Mutationen oder Poly-morphismen, die zu Erbkrankheiten odereinem erhöhten Krebsrisiko führen kön-nen, genutzt.

2. Transkriptomanalyse vonLeberzellen (Hepatozyten)

Im Rahmen eines vom Bundesministeriumfür Bildung und Forschung (BMBF) geför-derten Verbundprojektes am Institut fürTechnische Biochemie (ITB) innerhalb desForschungsschwerpunkts Systembiologie –Systeme des Lebens, steht die Leberzelle, derOrt der Entgiftung des menschlichen Kör-pers, im Focus. Warum ist die Entgiftungfür den Körper lebensnotwendig? DemKörper werden täglich zahlreiche Fremd-stoffe (Nahrungsmittelzusätze, Medika-mente …) zugeführt, die er nicht verwer-ten kann und die zudem eine schädigendeWirkung haben können. Viele werden, dasie wasserlöslich sind, über die Niere wie-der ausgeschieden, nicht aber solche, diefettlöslich sind. Diese müssen vom Körpererst in wasserlösliche und somit ausscheid-bare Varianten umgewandelt werden.Diesen Vorgang bezeichnet man als Ent-giftung.

Die Entgiftung von Fremdstoffen (Xenobioti-ka) wird in zwei Phasen eingeteilt:

Phase 1 beinhaltet die Umsetzung von Xeno-biotika (meist fettlösliche Substanzen)durch chemische Modifikationen. DieseReaktionen dienen der Funktionalisie-rung. Die dabei in die Moleküle eingebau-ten reaktiven Gruppen stellen Angriffs-punkte für die Enzyme der Phase 2 dar, in der die funktionalisierten Zwischenpro-dukte an verschiedene kleine, häufig nega-tiv geladene Moleküle gebunden werden.Diese auch als Konjugation bezeichnetenReaktionen erhöhen die Wasserlöslichkeitund fördern die Ausscheidung der Xeno-biotika über Niere und Leber: Der konju-gierte Metabolit verlässt die Leber, gelangtüber den Blutkreislauf zu den Nieren oder

TH E M E N H E FT FORSCH U NG SYSTE M B IOLOG I E54

Ablauf eines typischen Micro-arrayexperiments. (1) Zu Beginnjeder Untersuchung muss das Experi-ment geplant werden. Berücksichtigtwerden hierbei unter anderem die er-forderliche Probenanzahl, die für dieStatistik erforderlichen Replikate, dieZeitpunkte der Probennahmen. (2)Nach erfolgter Probennahme wird dieRNA aus den Zellen isoliert, sowiederen Qualität durch Gelelektrophoreseund Konzentrationsbestimmung kon-trolliert (3). Die RNA-Proben wer-den in einer reversen Transkriptions-reaktion mit Fluoreszenzfarbstoffenmarkiert und anschließend auf einemArray hybridisiert (4). Nach derHybridisierung wird der Array einge-scannt. (5) Die gewonnen Signalewerden dann mittels Bildverarbeitungund statistischen Analysewerkzeugen,wie der Software „R“ in Expressions-level der einzelnen Gene übersetzt.

Microarray-Drucker. Dargestelltsind die Nadeln beim Absetzen derDNA auf speziell chemisch modifi-zierte Glasobjektträger. Pro Druckvor-gang werden zwischen 2,5 und 6,4 nLabgesetzt, was einem Spotdurchmesservon 75–215 µm entspricht.

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FU N KTION E LLE G E NOM I K 55

in die Galle und wird dort in Phase 3 überTransporter, die das mit dem Xenobiotikakonjugierte Molekül erkennen, in denUrin bzw. die Galle ausgeschieden.

Ziel des Projektes ist die Generierung holisti-scher Daten, die in Kooperation mit denProjektpartnern zu einem Modell desXenobiotikastoffwechsels der Hepatozytenverarbeitet werden. Neben der Analyse deram Fremdstoff-Metabolismus beteiligtenGene und Genprodukte soll auch das De-differenzierungsverhalten primärer Hepa-tozyten (Leberzellen, die nach einer Ope-ration in Kultur genommen werden) aufTranskriptionsebene verfolgt und analy-siert werden.

Hierfür werden am IBVT primäre Hepato-zyten kultiviert und mit unterschiedlichenMedikamenten behandelt. Zu verschiede-nen Zeitpunkten werden den KulturenProben entnommen und die RNA isoliert.Die RNA wird in die stabilere Form dercDNA umgeschrieben und hierbei jeweilsmit einem Fluoreszenzfarbstoff markiert.Die unterschiedlich markierten cDNAs ausbehandelten und nicht behandelten Zellenwerden vereinigt und auf einem Mikro-array hybridisiert. Dazu werden im Rah-men einer Kooperation mit der FirmaEppendorf die Dual Hepato DNA Arrays ver-wendet, auf denen derzeit 151 für denFremdstoffmetabolismus relevante Geneerfasst werden.

Findet eine Hybridisierung auf dem Arraystatt, sind Fluoreszenzsignale detektierbar.Je nachdem ob nun die cDNA eines Gensder behandelten oder der unbehandeltenProbe überwiegt, fällt das Fluoreszenzsig-nal an der entsprechenden Position desArrays entweder grün oder rot aus. Führtein Stimulus der Zellen zu keiner Verände-rung des Transkriptionslevels eines Gensergibt sich an der entsprechenden Positiondes Arrays ein gelbes Signal (rot:grün =1:1). So kann mithilfe der Transkriptom-analyse die Relevanz einer Vielzahl vonGenen bei der Verstoffwechslung von un-terschiedlichen Fremdstoffen gleichzeitiguntersucht werden.

Des weiteren sollen die zugrunde liegendengenetischen Regulationsnetzwerke identi-fiziert werden. Da bislang nicht alle Genebekannt sind, die eine Rolle spielen, sollenam ITB alternativ zu den Arrays von Ep-pendorf eigene Arrays hergestellt werden,die zusätzliche, auf dem kommerziellenArray noch nicht repräsentierte, Geneenthalten. Hierfür ist geplant, auf Oligo-

basierte Mikroarrays derFa. Agilent Technologiesund/oder eine cDNA-Bank des Deutschen Re-sourcenzentrums fürGenomforschung zurück-zugreifen. Die Identifizie-rung der zusätzlichenGene erfolgte zum Teilbereits anhand von Lite-raturrecherchen sowie inAbsprache mit den Pro-jektpartnern, insbesonde-re dem Institut für Klini-sche Pharmakologie (IKP)an der Robert Bosch Kli-nik. Knapp 300 relevanteGene wurden identifi-ziert. Zukünftig fließenhier die Ergebnisse vonTranskriptionsmessungender Hepatozytenkulturenmit kommerziellenMikroarrays ein, die daskomplette Humangenomrepräsentieren.

Eine besondere Herausfor-derung stellt die statisti-sche Analyse der gewonnenen Daten dar:Hohe Hintergrundsignale, unterschied-liche Einbauraten der verschiedenenFluoreszenzfarbstoffe sowie die hohe Zahlan Variablen (gleichzeitig beobachteteGene) bei nur wenigen Beobachtungen(Wiederholungen) erfordern eine Norma-lisierung der Daten sowie eine statistischeAuswertung der gewonnenen Daten. DieseAnalyse erfolgt in Zusammenarbeit mitdem Institut für Stochastik und Anwen-dungen der Universität Stuttgart.

Die Transkriptomanalyse erlaubt eine zeit-liche Auflösung sowie einen Vergleich derRegulationsvorgänge bei verschiedenenStimuli auf Transkriptionsebene; die örtli-che Auflösung oder gar eine Aussage überfunktionelle Interaktionen zwischen co-regulierten Genprodukten ist mit dieserTechnik jedoch nicht möglich. Hier setztein weiteres Teilprojekt an, das die Bestim-mung von möglichen Protein-Protein-Interaktionen im rekombinanten Systemzum Ziel hat. Neben der Bestimmung derInteraktionen ausgewählter Proteine, istgeplant, ein Interaktionsnetzwerk der He-patozyte mit entsprechend modifiziertenHefe-Zwei-Hybridsystemen zu generieren.Eine besondere Herausforderung stellenmembrangebundenen Proteine dar, die

One of the topics of the working group MolecularBiotechnology at the Institute of Technical Bio-chemistry deals with the holistic analysis of biologi-cal systems mainly on the level of gene and proteinexpression. Two projects are in the focus: In order toinvestigate the xenobiotic metabolism in liver cells,the expression profiles of the genes playing a role inthis context and the respective protein expressionlevels are investigated using the microarray techno-logy. Additionally selected enzymes are expressedrecombinantly and characterized biochemically. Dueto the influence of the xenobiotic metabolism on thefunction of drugs, the project has a strong pharma-ceutical impact. The second project covers the so-called Stringent Response of the bacterium Esche-richia coli. The response of the bacterium onstress factors such as nutrient starvation is investi-gated on the level of gene expression using custom-made DNA-Chips representing the complete geno-me of E. coli. The aim of both projects – in col-laboration with the Institute of Bioengineering – isthe generation of a model, allowing the simulationof the respective metabolism in-silico and thuspredictions of respective phenomena.

SUM MARY

Page 58: THEMENHEFT FORSCHUNG Systembiologie - uni-stuttgart.de

beim Xenobiotikametabolismus eine wich-tige Rolle spielen (CYPs, Transporter, Glu-curonosyltransferasen …). Des weiterenwerden die in der Transkriptomanalyse ge-wonnenen Daten mit Proteomdaten ver-glichen, die bei einem Projektpartner, demMedizinischen Proteomcenter in Bochum,aus denselben Proben gewonnen werden.

Neben diesen umfassenden Ansätzen werdenbiochemische Daten einzelner Proteine desPhase 1 und 2 Stoffwechsels (CYPs, Trans-ferasen) bestimmt. Da die Ausstattung mitden entsprechenden Enzymen aufgrundunterschiedlicher Genotypen und Ex-pressionslevel individuell verschieden ist,gleichzeitig aber für einen Fremdstoff häu-fig mehrere Wege der Metabolisierung be-stehen, werden kinetische Daten anhandrekombinanter Enzyme gemessen. Diesgewährleistet, dass die Kinetik eines einzel-nen Enzyms und nicht die Kinetik einerUmsetzung mit einem in vivo vorkom-menden Satz an Enzymen bestimmt wird.Gleichzeitig ermöglicht dies den Vergleichder katalytischen Eigenschaften verschie-dener Varianten eines Enzyms, die in vivoin Form unterschiedlicher Genotypen vor-kommen. Hierfür wird mit der methylo-trophen Hefe Pichia pastoris ein rekom-binantes Expressionssystem etabliert, dasdie Expression humaner, mikrosomalerCYPs sowie ausgewählter Phase 2 Enzymeerlaubt. Erste Ergebnisse führten zu einerIndustriekooperation im Rahmen derermit den rekombinanten Hefen Verfahrenzur Synthese pharmazeutisch relevanterMetaboliten durch Biotransformation ent-wickelt werden.

Die im Rahmen der beschriebenen Teilpro-jekte gewonnenen Daten dienen schließ-lich zur Erzeugung bzw. Validierung geeig-neter in-silico Modelle des Xenobiotika-stoffwechsels am Institut für Bioverfah-renstechnik (IBVT). Insbesondere die imletzten Teilprojekt beschriebenen kineti-schen Daten rekombinanter Monooxy-genasen dienen der Beurteilung und Vali-dierung der im folgenden Artikel beschrie-benen Strukturmodelle und Datenbank-ansätze hinsichtlich ihrer Fähigkeit bioka-talytische Eigenschaften korrekt vorherzu-sagen.

3. Analyse von Bakterien

Ein vom Land Baden-Württemberg finan-ziertes Projekt befasst sich mit der Analysevon Bakterien und deren Reaktion auf ver-

schiedene Stressfaktoren aus der Umwelt.Beispielsweise löst die Limitierung vonNährstoffen bei Escherichia coli – einemunter anderem auch im menschlichenDarm vorkommenden Bakterium – zahl-reiche physiologische Reaktionen aus, dieauf verschiedenen Ebenen (Genom, Pro-teom sowie Metabolom) analysiert werdenkönnen. Ein als „Stringente Kontrolle“bezeichnetes Phänomen bezeichnet diephysiologischen Reaktionen des Bakteri-ums auf Stickstoff- sowie Kohlenstofflimi-tierung. Stickstoff ist ein elementarer Bau-stein von Aminosäuren, die zur Eiweißsyn-these unentbehrlich sind. Stehen keineAminosäuren zur Verfügung, könnenlebenswichtige Proteine nicht mehr her-gestellt werden – die Zelle muss sterben.Um dies zu verhindern, sind die Bakterienin der Lage, die Proteinsynthese auf diedringend erforderlichen Proteine zu be-schränken. Dazu gehören solche, die dasÜberleben der Zelle im momentanen Zu-stand gewährleisten, nicht aber solche, diefür das Wachstum oder die Vermehrungnötig sind. Dadurch wachsen die Zellendeutlich langsamer und minimieren ihrenEnergieverbrauch. Dieser wirtschaftlicheUmgang mit den zur Verfügung stehendenRessourcen ermöglicht es den Zellen, dieHungerperiode zu überstehen und erlaubtdurch feinste Regulation auf der Tran-skriptionsebene ein Wiederaufnehmen desWachstums, wenn wieder genügend Nähr-stoffe in der Umgebung zur Verfügung ste-hen. Dementsprechend hat die „StringenteKontrolle“ weit reichende Auswirkungenauf zellulärer Ebene. Zahlreiche Gene sindbeteiligt und verschiedenste Proteine inter-agieren miteinander, um die gewünschteReaktion zu ermöglichen. Um dieses Phä-nomen möglichst umfassend zu beschrei-ben, werden mithilfe von Microarrays diedas komplette Genom von E. coli K12 re-präsentieren (> 4000 Gene) Transkriptions-analysen zu unterschiedlichen Zeitpunk-ten vor, während und nach einer induzier-ten Stressantwort durchgeführt. Die sogewonnenen Daten werden dann mit amIBVT bestimmten Metabolitdaten (zellu-läre Konzentrationen verschiedener Alar-mone wie ppGpp, cAMP, etc.) verglichen. •

Lisa GrundmannStefan Lange

Karin LemuthDirk Michel

Thomas ReichartRolf Schmid

TH E M E N H E FT FORSCH U NG SYSTE M B IOLOG I E56

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FU N KTION E LLE G E NOM I K 57

DIE AUTOREN

Die Arbeitsgruppe Molekulare Biotechnologie

Die Arbeitsgruppe Molekulare Biotechnologie (Bild Wintersemester2004/5) wird von Dr. Stefan Lange (vordere Reihe, 4. v. li.) geleitet,der selbst an der Universität Stuttgart Technische Biologie studiert undam Institut für Technische Biochemie nach der Diplomarbeit unterLeitung von Prof. Dr. Rolf Schmid auch promoviert hat. Derzeit werdendie systembiologischen Themen von drei Doktoranden, Lisa Grundmann(v. R., 2. v. li.), Karin Lemuth (h. R., 2. v..li.) und Thomas Reichart(h. R., 4. v. li.) bearbeitet, die ebenfalls aus der Fachrichtung Techni-sche Biologie stammen und bereits am Institut für Technische Biochemieihre Diplomarbeiten angefertigt haben. Tatkräftig unterstützt werden siedabei von Dirk Michel (h. R., 6. v. li.), ein Chemisch Technischer As-sistent, der vor allem für die Betreuung der Analytik verantwortlich ist.Ergänzt wird die Gruppe regelmäßig durch Studenten der TechnischenBiologie oder Chemie, die in Form von Studienarbeiten und/oder Praktika einen Teil ihrer Ausbildung absolvie-ren oder diese mit der Diplomarbeit bei uns abschließen. Des Weiteren wird die Forschung durch unsere interna-tionalen Gäste verschiedenster Nationalitäten bereichert, die uns zudem den einen oder anderen tieferen Einblickin ihre für uns zum Teil fremden Kulturen erlauben.

KontaktUniversität Stuttgart, Institut für Technische Biochemie, Allmandriung 31, 70569 StuttgartTel. 0711/685-3198, Fax 0711/685-4569E.Mail: [email protected]

ANZE IGE

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TH E M E N H E FT FORSCH U NG SYSTE M B IOLOG I E58

Von der Sequenz zurFunktion

Datenbanken und Model l ierung

Enzyme spielen in der Medizin

eine wichtige Rolle, da je nach

der vorhandenen Enzymausstat-

tung die individuelle Reaktion auf

Medikamente äußerst unter-

schiedlich ausfallen kann und von

Mensch zu Mensch variiert. Wird

zuviel eines Enzyms produziert,

das am Abbau eines bestimmten

Medikaments beteiligt ist, kann

dieses Medikament unwirksam

werden. Ist hingegen das Enzym

in zu geringen Mengen vorhan-

den, wird das Medikament zu

langsam abgebaut.

Ein zu langsamer Abbau hat da-

bei den gleichen Effekt wie eine

Überdosierung und kann zu Ne-

benwirkungen führen. Ein Fehlen

des Enzyms kann ebenfalls die Bildung giftiger Nebenprodukte bewir-

ken, da der eigentliche Abbauweg nicht funktioniert. Aus der großen

Enzymklasse der P450 Monooxygenasen sind die drei wichtigsten

am Abbau von 30 Prozent aller in der Leber verarbeiteten Arzneimit-

teln beteiligt. Ein großer Schritt für die Entwicklung maßgeschneider-

ter Medikamente ist daher das Verständnis, wie sich die unterschied-

lichen Variationen in der DNA-Sequenz eines Gens, die entweder zu

einem veränderten Enzym oder zu einer Änderung der Menge an

produziertem Enzym führen können, auf die Eigenschaften von P450

Monooxygenasen auswirken.

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DATE N BAN KE N U N D M ODE LL I E R U NG 59

1. Einleitung

Die Enzymklasse der P450 Monooxygenasenspielt eine wichtige Rolle bei der Entgif-tung und der Biosynthese. Monooxygena-sen kommen in allen Lebewesen vor; sowurden drei P450 Monooxygenasen in derHefe Saccharomyces cerevisiae, 18 in dem Bo-denbakterium Streptomyces coelicolor, 80 indem Fadenwurm Caenorhabditis elegans und257 in der Pflanze Arabidopsis thaliana gefun-den. Erstaunlicherweise enthalten dieBakterien Escherichia coli und Salmonella typhi-murium keine P450 Monooxygenasen. Dasmenschliche Genom kodiert für 60 ver-schiedene P450 Monooxygenasen. 15 dieserEnzyme sind für den Abbau von Fremd-stoffen wie etwa Medikamenten, die nor-malerweise nicht im Körper vorkommen,zuständig; 14 sind am Steroidstoffwechselbeteiligt, vier P450 Monooxygenasen oxi-dieren fettlösliche Vitamine und neun En-zyme sind am Stoffwechsel von Fettsäurenbeteiligt. Die Funktion der restlichen P450Monooxygenasen ist zurzeit noch nichtbekannt. Die Hauptaufgabe dieser Enzymeist es, wasserunlösliche Substanzen in was-serlösliche Produkte umzuwandeln. Diestrifft auch auf Medikamente zu, die da-durch unwirksam und aus dem Körperausgeschieden werden können. Die wich-tigsten an Abbau, Aktivierung oder Um-bau von Medikamenten beteiligten P450Monooxygenasen kommen in der Lebervor, aber auch in anderen Geweben befin-det sich eine Vielzahl dieser Enzyme. Aller-dings hat nicht jeder Mensch die gleicheAusstattung an P450 Monooxygenasen,sondern es existieren erblich bedingte Va-riationen. Diese werden verursacht durchso genannte Single Nucleotide Polymorphisms(SNPs). SNPs sind Variationen in der DNA-Sequenz eines Gens, die entweder zueinem veränderten Enzym oder zu einerÄnderung der Menge an produziertem En-zym führen können.

2. P450 Datenbank

Die Funktion der meisten humanen P450Monooxygenasen ist noch nicht bekannt.Die Vorhersage der Eigenschaften dieserEnzyme und ihrer SNPs bezüglich Mengeund biochemischer Eigenschaften, undsomit die Vorhersage ihrer Aktivität gegen-über neuen Wirkstoffen ist das Ziel derP450 Datenbank. Durch systematischesSammeln und Vergleichen der Daten von

P450 Monooxygenasenmit bekannten und unbe-kannten Eigenschaftenkönnen die Funktionender einzelnen Bereichedes Proteins entschlüsseltwerden. Obwohl die Pro-teinsequenzen von P450Monooxygenasen nur ge-ringe Ähnlichkeit aufwei-sen, haben die Proteineeine ähnliche Strukturund Funktion, wodurchsie direkt verglichen wer-den können. Der syste-matische Vergleich allerbekannten Sequenzen,Strukturen und Eigen-schaften soll daher zumVerständnis dieser Enzy-me führen.

Die P450 Datenbank ist einefamilienspezifische Da-tenbank, sie bündelt undorganisiert große Mengen an Sequenz-,Struktur- und Annotationsinformationenund ist daher ein nützliches Werkzeug, umBeziehungen zwischen Proteinsequenzenund Proteinstrukturen zu untersuchen.Ein Protein ist ein Polymer bestehend auseiner Kette von Aminosäuren, die einedefinierte räumliche Struktur einnehmen.Die räumliche Struktur eines Proteins be-dingt seine Funktion und Wirkungsweise.Verwandte, also aus einem gemeinsamenVorgängerprotein hervorgegangene Pro-teine weisen neben einer ähnlichen Struk-tur auch eine ähnliche Proteinsequenz auf.Je nach dem Verwandtschaftsgrad wurdendie Proteinsequenzen daher in homologeFamilien und übergeordnet in Superfami-lien eingeteilt. Die Benennung von P450erfolgt nach ihrem Verwandtschaftsgradund deckt sich mit der Einteilung der En-zyme in der P450 Datenbank: Der Nameeines P450 beginnt mit CYP (CytochromP450) gefolgt von einer Zahl, die die Super-familie bestimmt, eines Buchstabens, derdie homologe Familie bezeichnet undeiner weiteren Zahl, die das Enzym identi-fiziert (z.B. CYP2C9, CYP3A4). Die P450Datenbank enthält 3538 Proteineinträge,wobei von 128 Einträgen Proteinstrukturenbekannt sind. Sie lassen sich in 934 homo-loge Familien und 462 Superfamilien ein-teilen. Hiervon sind 218 Proteine aufgeteiltin 43 homologe Familien und 20 Super-familien humane P450 Monooxygenasen.

Die Enzymklasse der P450 Monooxygenasen spielteine wichtige Rolle beim Ab- und Umbau vonFremdstoffen wie Giftstoffen oder Medikamenten.Obwohl alle Vertreter dieser Klasse den gleichenReaktionstypus katalysieren, variieren die einzelnenEnzyme erheblich in ihrem Substrat- und Produkt-spektrum. Alleine im menschlichen Genom gibt es60 verschiedene P450 Gene. An unserem Institutwird durch Methoden der Bioinformatik und durchcomputergestützte Proteinmodellierung untersucht,welche Bereiche in den P450 Monooxygenasen fürdie Erkennung der Fremdstoffe verantwortlich sindund welche Produkte dabei jeweils entstehen. Miteinem solchen Modell lässt sich erklären, wie eineunterschiedliche Zusammensetzung von P450Monooxygenasen bei zwei Patienten zu unterschied-lichen Abbauraten desselben Medikaments führenkann. Ziel ist es, die Abbauraten und die Abbau-produkte für jeden beliebigen Fremdstoff individuellvorhersagen zu können.

ZUSAM M ENFASSUNG

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Eine interessante Familie istdie Superfamilie 2. Mitgliederdieser Superfamilie sind be-teiligt am Abbau von Nikotin(CYP2A6, CYP2B6), Morphi-nen (CYP2B1), AT1-Antago-nisten (Cyp2C9), Protonen-pumpenhemmern, Antiepi-leptika und Antidepressiva(CYP2C19), β-Blockern(CYP2D6) sowie Anästhetika,Ethanol und Paracetamol(CYP2E1). Um Protein-sequenzen dieser Superfami-lie zu untersuchen, werden

verschiedene Analysemethoden ange-wandt.

Zur Analyse der gesammelten Sequenzdatenwurden für jede homologe Familie undjede Superfamilie Sequenzvergleiche er-stellt. Bei einem Sequenzvergleich werdenProteinsequenzen nach ihrer Ähnlichkeitangeordnet, wobei die Eigenschaften ihrerAminosäuren (hydrophob, polar, geladen)eine wichtige Rolle spielen. Von besonde-rer Bedeutung ist hierbei die Beobachtung,dass die Eigenschaften von Aminosäurenan bestimmten Positionen im Protein fürdie Faltung und Aktivität essentiell sind.Anhand eines Sequenzvergleichs könnendaher Aminosäuren, die in allen Protein-sequenzen einer Familie gleich sind, identi-fiziert werden. Solche konservierten Ami-nosäuren sind häufig entweder für dieFunktion oder die Struktur eines Proteinsessentiell. Sequenzvergleiche werden alsGrundlage für eine Vielzahl von Analyse-methoden eingesetzt, wie für die Berech-nung von phylogenetischen Bäumen, wel-che die Verwandtschaftsbeziehungen zwi-schen einzelnen Proteinen aufgrund ihrer

Sequenzähnlichkeit darstel-len. In (01) ist ein phyloge-netischer Baum ausgesuchterProteine aus sechs homolo-gen Familien der Superfami-lie 2 dargestellt. Der Baumgliedert sich für die homolo-gen Familien 2A, 2B, 2D und2F deutlich in vier Äste, wo-bei auch Unterteilungen in-nerhalb einer homologenFamilie sichtbar sind (2A, 2Bund 2D). Die homologen Fa-milien 2C und 2E hingegen

zeigen keine deutliche Trennung, da dieFamilie 2C streut. In diesem Fall wäre zuüberlegen, ob die Einordnung der Proteine

2C22, 2C30, 2C117 und 2C33 aus diesemBeispiel in die homologe Familie 2C kor-rekt ist.

Zur Analyse der Auswirkungen von Poly-morphismen werden alle verfügbaren In-formationen über bekannte SNPs in derDatenbank gesammelt und ausgewertet:welche Position wurde mutiert, welcheAminosäure wurde ausgetauscht, und wel-che Auswirkungen auf die Aktivität unddie Substratspezifität des Enzyms sindbekannt. Allerdings führt nicht jeder Aus-tausch notwendigerweise zu einer Ände-rung der Eigenschaften. Gewisse Variatio-nen in der Proteinsequenz werden tole-riert, andere hingegen führen zur Inakti-vierung des Enzyms. Um diese Variationeninnerhalb einer Familie zu untersuchen,wurden Konservierungsanalysen durch-geführt. Hierbei werden die Eigenschaftender Aminosäuren, ihre Position im Proteinund ihre Konservierung berücksichtigt. ImAlignment der Familie CYP2B erkenntman, dass die Aminosäure Glutamin anPosition 21 des humanen CYP2B6 Enzymsnur in einer weiteren Sequenz der Familievorkommt, und damit nicht konserviertist (02). Die Aminosäure Methionin anPosition 46 hingegen ist in fast allen Se-quenzen der Familie 2B erhalten und da-mit hoch konserviert. Experimentelle Da-ten zu Mutationen an diesen Positionen inCYP2B6 zeigen, dass eine Mutation deshoch konservierten Methionins zu einemVerlust der Enzymfunktion führt, wäh-rend das Enzym tolerant gegenüber einerMutation an der nicht konservierten Posi-tion 21 ist. Im Vergleich mit P450/SNPs mitbekannten Eigenschaften lassen sich Rück-schlüsse auf die Eigenschaften neu ent-deckter SNPs ziehen. Das Ziel dieser Un-tersuchungen ist, die Eigenschaften un-bekannter SNPs vorherzusagen und somitdie Grundlage zu schaffen, dass individuellfür jeden Patienten das richtige Medika-ment in der richtigen Dosierung verab-reicht werden kann.

3. Modellierung

Um die Funktionsweise von Enzymen zuverstehen sind Informationen über ihredreidimensionale Proteinstruktur nötig.Zur Zeit sind etwa 28.500 Proteinstruk-turen in der öffentlich zugänglichenDatenbank, der Protein Data Base (PDB)(www.pdb.org) zugänglich. Seit Anfangder neunziger Jahre des letzten Jahrhun-

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Phylogenetischer Baum der homologenFamilien 2A, 2B, 2C, 2D, 2E und2F. Humane P450 wurden in rot her-vorgehoben, homologe Familien wurdedurch Einrahmungen gekennzeichnet.

Ausschnitt aus dem Sequenzalignmentder Familie 2B. Die Positionen 21 und46 sind farbig markiert.

01

02

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DATE N BAN KE N U N D M ODE LL I E R U NG 61

derts, als die erste Kristallstruktur einesbakteriellen P450 Enzyms publiziert wurde,konnten die Strukturen von 13 verschiede-nen P450 Monooxygenasen aufgelöst wer-den. Zunächst wurden vor allem dieStrukturen bakterieller Enzyme, in denletzten Jahren jedoch auch die von höhe-ren Organismen aufgeklärt (03). Trotzunterschiedlicher Sequenzen zeigen diebisher bekannten P450 Monooxygenaseneine große Ähnlichkeit. Da die Kristallisa-tion von Proteinen, die für die Ermittlungvon Proteinstrukturen benötigt wird, sehraufwendig und schwierig ist, gibt es, imVerhältnis zu den bekannten Sequenzen,nur eine relativ geringe Anzahl aufgelösterProteinstrukturen. Allerdings kann dieStruktur eines Proteins auch auf demComputer modelliert werden. Dabei wirdvorausgesetzt, dass Proteine mit ähnlicherSequenz eine ähnliche Struktur besitzen.Die Sequenzidentität zwischen einem Pro-tein mit bekannter Struktur und dem zumodellierenden Protein sollte 50 Prozentoder mehr betragen, um ein vertrauens-würdiges Modell zu erhalten.

Mit Hilfe der Methoden der Bioinformatikund der computergestützten molekularenModellierung soll der Zusammenhangzwischen Sequenz, Struktur und bioche-mischen Eigenschaften der P450 Monooxy-genasen untersucht werden. Auf demComputer wird modelliert, wie ein Enzymsein Substrat in der Bindungsstelle bindet,und welche Aminosäuren für die bioche-mischen Eigenschaften verantwortlichsind. Wechselwirkungen zwischen Substratund Enzym können mit der Methode desDockings untersucht werden. Mit Hilfe die-ser Methode können große Substratbiblio-theken virtuell in Enzymstrukturen ge-dockt werden und deren Wechselwirkun-gen untersucht werden (virtual screening). Dafür die Erkennung von Substraten durchEnzyme sowohl die Struktur als auch dieFlexibilität eine wichtige Rolle spielen,müssen bei der Modellierung die Bewe-gungen des gesamten Systems simuliertwerden. Ein typisches Enzym-Substrat-System besteht zusammen mit dem Lö-sungsmittel aus 50.000 bis 100.000 Atomen.Um solch große Systeme simulieren zukönnen, wurde 2002 am Institut für Tech-nische Biochemie ein Höchstleistungscom-puter aus 256 PC-CPUs mit einer Spitzen-leistung von 785 GFlops aufgebaut (04).

Durch Modellierung vonP450 Enzym-Substrat-Komplexen auf demComputer wird die Selek-tivität verschiedener P450gegenüber Substratenund der Einfluss einzelnerAminosäuren untersucht.Aber nicht nur die Sub-stratspezifität, sondernauch die Selektivität derentstehenden Produktekann modelliert und ver-standen werden. Dies istein wichtiger Gesichts-punkt bei der Entwick-lung von Medikamenten,da unterschiedliche Reak-tionsprodukte verschiede-ne, teils toxische Eigen-schaften haben können. Sokonnte die unterschiedli-che Regioselektivität vonCYP2B6 gegenüber Cyclo-phosphamid und Ifosfamid,Wirkstoffen aus der Krebs-therapie, durch Modellie-rung verstanden werden.Durch den Austausch vonAminosäuren werden dieAuswirkungen von SNPsauf die Selektivität einzel-ner P450 untersucht. Diecomputergestützte Model-lierung ist damit eine Brü-cke zwischen Proteinstruk-turen und ihren Funk-tionen. • Sandra Barth

Stephan TatzelJürgen Pleiss

The enzyme class of P450 monooxygenases plays amajor role in the metabolism of xenobiotics liketoxic agents or drugs. Although all members of thisclass catalyse the same reaction type, their substrateand product spectrum varies considerably. In the hu-man genome 60 different P450 genes have beenidentified. At our institute we investigate by bio-informatics and computer-aided protein modellingmethods which binding sites in the protein mediatethe recognition of xenobiotics and the formation ofproduct. Such a model explains how for the samedrug the different compositions of P450 monooxyge-nases in two patients lead to a different degradationrate. This model will then be applied to predict theindividual degradation rates and degradation pro-ducts for any xenobiotic.

SUM MARY

Struktur des P450 CYP2B4 ausOryctolagus cuniculus (Hase).Im aktiven Zentrum ist das Häm, dieprosthetische Gruppe des Enzyms, rotdargestellt.

BioCORTEX Ein PC-Cluster beste-hend aus 256 AMD MP1800+ Pro-zessoren.

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04

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DIE AUTOREN

Sandra Barth

Geboren 1972, studierte nach einer Aus-bildung zur chemisch-technischen Assis-tentin an der Universität Karlsruhe Che-mieingenieurwesen, anschließend an derUniversität Stuttgart Technische Biologie,wo sie am Institut für Technische Bio-chemie ihre Doktorarbeit über die syste-matische Analyse von Sequenz- undStrukturdaten von Proteinfamilien anfer-tigte. Seit 2005 ist sie in der Forschungs-und Entwicklungsabteilung von PhilipsMedical Systems tätig.

Stephan Tatzel

Geboren 1975, studierte Chemie an derUniversität Stuttgart und schloss sein Stu-dium mit einer Diplomarbeit zur Unter-suchung von Enzym-Substrat-Wechsel-wirkungen von Cytochrom P450 Mono-oxygenasen mittels Dockingsimulationenab. Seit 2003 promoviert er am Institutfür Technische Biochemie auf dem Gebietder molekularen Modellierung von huma-nen P450 Monooxygenasen.

Jürgen Pleiss

Geboren 1959, studierte Physik an denUniversitäten Stuttgart und Tübingen undpromovierte am Max-Planck Institut fürBiologie in Tübingen. Nach einer drei-jährigen Tätigkeit als Product Managerbei Biostructure (Strasbourg) baute er seit1994 am Institut das Gebiet der Bioinfor-matik in Forschung und Lehre auf undhabilitierte sich im Jahr 2001. SeineArbeitsgruppe beschäftigt sich mit dermolekularen Modellierung vonProteineigenschaften und Proteindesign.

KontaktUniversität StuttgartInstitut für Technische BiochemieAllmandring 3170569 StuttgartTel. 0711/685-3191Fax 0711/685-4569E-Mail: [email protected]

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1. Problemlage

Die beeindruckenden Erträge systembiologi-scher Forschung zu den Funktionsmecha-nismen biologischer Systeme, insbesondereder Zelle, erwecken berechtigte Hoffnun-gen, ein besseres Verständnis komplexerbiologischer Prozesse fruchtbar zu machenfür die Beherrschung technischer Prozesse,die immer komplexer werden. Dies betrifftnicht bloß die Herstellungsverfahren imengeren Sinne (Produktions-/Verfahrens-technik etc.), sondern auch unsere techno-logische Kultur insgesamt mit ihren im-mer komplexer werdenden Systemen derWandlung, des Transports und der Spei-cherung von Stoffen, Energie und Infor-mation. Angesichts der Störanfälligkeitdieser Systeme, deren Havarien oftmalsdurch scheinbar „banale“ Faktoren aus-gelöst werden, beeindruckt die Robustheitund Leistungsfähigkeit biologischer Syste-me, die aufgrund ihrer hierarchischen Re-gelungsprozesse, ihrer Modularisierung,ihrer sicherheitsverbürgenden Redundan-zen sowie äquifunktionaler Diversivitätmit den Provokationen ihrer Umwelt fer-tig werden, ja diese Provokationen selbstbeeinflussen und daher für viele die ge-

suchte – überfällige – Konkretisierung desallerorten befürworteten, aber eben krite-riologisch unscharfen Leitbildes „nachhal-tige Entwicklung“ abgeben – soweit mansie in Ruhe lässt. Biologische Systeme alsoals Vorbild für die Architektur und das Ma-nagement technischer Systeme?

Die menschliche Technik – sieht man sie imKontrast zum tierischen Werkzeug-gebrauch und zur „Zufallstechnik“ (JoséOrtega y Gasset) der Jäger und Sammler –war und ist immer Systemtechnik. Seit deragrikulturellen Revolution (ein Pleonas-mus, denn „cultura“ heißt ursprünglichAckerbau, Pflege der äußeren „natürli-chen“ Natur, sogleich dann der innerenNatur unseres Geistes und Handelns) dientihre Technik nicht bloß der Optimierungdes Mitteleinsatzes durch artifizielle Ver-stärkung, Entlastung oder des Ersatzesnatürlicher Mittel (Organe), sondern zu-gleich auch und gerade der Absicherungund Gewährleistung gelingenden Mittel-einsatzes gegenüber den Widerfahrnissender Natur, denen die Jäger und Sammlerausgesetzt waren. Zu diesem Zwecke wur-de die natürliche Umwelt gestaltet (Acker-bau, Siedlung, Bewässerung, Straßen etc.),genauer: ein Ausschnitt der natürlichen

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Paul Klee, Baumkultur, 1927© VG Bild-Kunst, Bonn 2005

Systembiologie alsParadigma der Technik –

Technik als Paradigmader Systembiologie?

(Walther Ch. Zimmerli zum 60. Geburtstag)

01

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Umwelt wurde transformiert und in dasSystem aufgenommen, mithin die Gren-zen des Systems nach außen verschoben.Dies bedeutete zugleich eine Erhöhung derBinnenkomplexität des Systems, dessenLeistungen (Optimierung und Absiche-rung des Mitteleinsatzes) nur zu erbringenwaren über eine Diversifizierung der Wahr-nehmung der Systemfunktionen (Speziali-sierung/Arbeitsteilung) sowie den Aufbauzusätzlicher Systemfunktionen zum Zwe-cke der Relationierung und Koordinierung(Sprache, Schrift/Fernkommunikation, In-formationsaustausch) der speziellen Funk-tionen. Ausgedrückt in der Begrifflichkeitder Systemtheorie finden wir hier bereitsdie beiden Grundoperationen technischenHandelns angelegt: „Steuern“ als Erzielenvon Effekten (Regelgrößen) im Ausgangvon Inputs als Stellgrößen, und „Regeln“als Operation, die den Steuerungsprozessangesichts der Störgrößen der Systemum-welt gelingen lässt, absichert, von ihnenunabhängig macht für die Realisierung derRegelgrößen als Ziele. Auch finden wirbereits in rudimentärer Form die beidengrundlegenden Typen einer solchen Rege-lung, nämlich die einer vorgeschalteten

höherstufigen Steuerung (der Steuerung)im hierarchischen Aufbau der soziotechni-schen Systeme sowie (sozial-institutiona-lisierte) Mechanismen der Rückkopplung,indem durch Abgleich der Regelgröße mitder Sollgröße der „Regler“ eingestellt wird(hierzu später). Das Führungsverhaltendieser Regelungen dient der Stabilität undder Störunterdrückung, wobei erstere beistarken Störungen, instabilen Systemenoder ungenau bekannten Systemen in derRegel versagt, während letztere aufgrundder Feed-back-Effekte bei deterministischchaotischen Systemen an ihre Grenzenkommt.

Gerade Martin Heidegger,an dessen Technikver-ständnis man durchausZweifel anmelden kann,hat dies allerdings völligrichtig gesehen. AlsGrundzug abendländi-schen Denkens (welcheser kritisiert) stellt er he-raus, dass die Widerfahr-nisse beim technischenHandeln dazu führen,dass uns Gegen-stände er-sichtlich werden, sich einvor-stellender Weltbezugetabliert, in dessen Rah-men das „rechnende Den-ken“ darauf aus ist, (nunbewusst) zu „steuern“und zu „sichern“ (d.i. zuregeln). Der symptomati-sche Irrtum jedoch, derdie gesamte abendländi-sche Technikphilosophie– mit Ausnahme der Stoa– bis zur Aufklärung hinbegleitet, tritt bei ihmauch deutlich zu Tage:Erst die „moderne Tech-nik“ sei eine, innerhalbderer jene beiden Opera-tionen im „Gestell“ (seineÜbersetzung für „Sys-tem“) stattfänden. Hierwerde – in spezifischerWeise – die Natur „ge-stellt“, „herausgefordert“,was er insbesondere ander Energiebereitstellung verdeutlicht,und in dem „Versammelnden dieses Stel-lens“ werde auch der Mensch insofern he-rausgefordert, als der somit gegebene „Be-stand“ als Inbegriff der technischen Mitteldem Menschen nicht mehr als (disponib-ler) „Gegen-stand“ gegenüber tritt, son-dern der Mensch „Teil“ dieses Bestandesist, auf ihn angewiesen ist, sofern er dieSorge um sein Dasein nicht aufgeben will.Das ist eine Formulierung der allgemeingeteilten These, dass der Mensch der„Herrschaft“ seiner Mittel unterliege(Jacques Ellul u.v.a.), Teil des Reproduk-tionsmechanismus des technischen Sys-tems ist – womit wir wieder bei der Biolo-gie, hier: einem problematischen „Biologis-mus“, wären. In Gang gesetzt wurde dieserProzess – wie gesagt – durch einen techno-morphen Weltbezug, wie ich ihn bezeich-

Der Beitrag analysiert die philosophischen Implika-tionen der modernen Systembiologie unter der Leit-frage, in welcher Hinsicht biologische Systeme alsVorbild für die Architektur und das Managementtechnischer Systeme gelten können. Zunächst wirddie Problemlage durch eine Skizze der Entwicklungdes Systembegriffs in der philosophischen Traditionim Verhältnis zum jeweiligen Stand der Wissen-schaften und der Technik entfaltet. Es zeigt sich,dass menschliche Technik und Kultur vom Prinzipher immer schon als Systemtechnik zu verstehen ist,und dass die Prozesse des Steuerns und Regelnsnicht nur die basalen Prozesse der Technik, sondernauch der Naturwissenschaft sind. In dieser Hinsichtist die wissenschaftliche und philosophische Hin-wendung zu den Prozessen, Verfahren und Steue-rungsmöglichkeiten in der molekularen, biologi-schen, technischen und kulturellen Welt unverzicht-bar für das Verständnis dieser Systeme. Den Gefah-ren eines kruden Naturalismus und Mechanismushat sowohl die philosophische Tradition als auch dieWissenschaftstheorie mit der Theorie der offenenSysteme entgegengearbeitet. Der Autor zeigt, dassauch die moderne Systembiologie nicht unter dasVerdikt des naturalistischen Fehlschlusses fällt, dasie den biologischen Systemen keine Ziele ablau-schen oder unterstellen will. Ihre Intention zieltvielmehr auf die komplexen Mittel und Kriterien,mit denen die Systeme organisiert sind, um die Pro-zesse effektiv, effizient und stabil zu halten. Damitkomme die Systembiologie sowohl dem modernenParadigma einer nachhaltigen Technik als auch denfrühen Intentionen von „Technik“ nahe.

ZUSAM M ENFASSUNG

„Die menschliche Technik –sieht man sie im Kontrast zumtierischen Werkzeuggebrauch

und zur „Zufallstechnik” (José Ortega y Gasset)

der Jäger und Sammler – warund ist immer Systemtechnik.”

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ne, welcher alle Widerfahrnisse der Naturals technisch lösbare Probleme im Feldedisponibler Gegenstände begreift.

Ein weiteres hat Heidegger – wohl auch un-ter dem Einfluss der Gespräche mit pro-minenten Physikern seiner Zeit – richtigerfasst: Die Prozesse des Steuerns undRegelns sind nicht nur die basalen Prozesseder Technik, sondern auch der Naturwis-senschaft. Das naturwissenschaftliche Ex-periment ist ein Steuerungsprozess, einer„Praxis, die Theorie heißt“ unter „Metho-den als nützlichen Maschinen“ (EdmundHusserl) – gegenständlich gestütztem,algorithmisiertem gedanklichen Vorgehen.

Dieser Steuerungsprozess ist dahingehendreguliert, dass die Versuchsanordnung da-rauf aus ist, eine Unabhängigkeit von Stör-größen (durch Isolierung, Unterdrückung,Kompensation dieser Größen) zu erzielen,eben eine Stabilität der Steuerung und ihreWiederholbarkeit – Definition des gelunge-nen Experiments wie gelingender Technik– zu erreichen. Technik als Wissenschaft istnicht „angewandte Naturwissenschaft“,wie Heidegger hervorhebt, sondern beiderichten sich auf das, was (wiederholbar)„sein kann“ (Ernst Cassirer): Seien es mög-liche Inputs für gesetzte Outputs odermögliche Outputs bei gesetzten Inputs.Ihre gemeinsame Wurzel ist der realtechni-sche Eingriff in die Natur.

Aber trifft dies nicht erst für ein Denken inGalileieschen Paradigma oder einer „Leo-nardo-Welt“ (Jürgen Mittelstraß) zu? Istdies nicht doch ein Spezifikum modernerWissenschaft und moderner (System-)Technik als „Gestell“? Hatte Heideggerdoch recht, und finden wir hier nicht denwahren Kern der (problematischen) kul-turpessimistischen Technikphilosophie? Jaund nein – die Sachlage ist komplizierter.

2. Der Systembegriff im Wandelder Technikphilosophie

Wie bereits erwähnt, findet sich im technik-philosophischen Denken der älteren Tra-dition ein Ansatz, der erstens eine adäqua-te Einschätzung der realen Technik (alsMaterial-, Intellektual- und Sozialtechnik)verhinderte (und von Heidegger u.a. auf-genommen wurde), und der zweitensTechnik neben einer theoretisch ausgerich-teten Wissenschaft verortete, so dass mitLeonardo und Galilei die neue Wissen-schaft erst etwas einholen und integrierenmusste, was in Gestalt realer Technik be-reits durchaus entwickelt war, nur ebennicht in einer adäquaten wissenschaftli-chen Deutung dieser Technik. Man gingvom Handeln aus, präzisierte Handeln alsEinsatz von Werkzeugen zwecks Verferti-gung von Gütern des alltäglichen Ge-brauchs (einschließlich der Kunst) undverfehlte damit von vorneherein denjeni-gen Bereich der Technik, der – s.o. – alscultura ein System der Absicherung dar-stellte, das bereits ganz erheblich auf dieUmwelt wirkte und diese nutzte (Rodung,Züchtung, Bergbau) mit einschlägigenökologischen Folgen (Georg Agricola).Ferner fiel nicht in den Blick, dass seit derAntike Maschinen – wenn auch quantita-tiv nicht repräsentativ – eingesetzt wurden(Nutzung von Wind und Wasserkraft sowieVerbrennungsenergie), so dass die Charak-terisierung erst der modernen Technik alsMaschinentechnik zwar ihre Berechtigungin quantitativen Sinne hat sowie bezüglicheines spezifischen Typs der Bereitstellungund Nutzung von Verbrennungsenergie inArbeits- und Werkzeugmaschinen, nichtjedoch prinzipiell.

Die mythischen Bilder der Entstehung vonTechnik bei Hephaistos, Prometheus, He-rakles, Athene und Odysseus sind da treff-licher und zeigen das breitere Spektrum:Athene steht für die Technik des „Webens“(Zusammenfügen, Wortwurzel τεκ) vonRohstoffen, Zeichen (nach Pindar) und So-zialbeziehungen/Arbeitsteilung (Orestie),wobei zum einen nützliche Produkte undZustände entstehen, sie zum anderen abereben dadurch und darüber hinaus Sorgedafür trägt, Unabhängigkeit von den Ein-flüssen (Gefahren und Verlockungen) derunmittelbaren Natur zu gewährleisten.Dabei finden wir im Kleinen wie im Gro-ßen Steuerungs- und Regelungsprozesse,und wir finden regelmäßig die Klage der-

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„Die Prozesse des Steuernsund Regelns sind nicht nur

die basalen Prozesse der Technik,sondern auch der

Naturwissenschaft.“

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jenigen, die sich in das „Gestell“ mit seinenHerausforderungen nicht fügen wollenund dies in vergangenheits- oder zukunfts-zentrierten Utopien (letztere positiv odernegativ) oder im Hang zur arkadischenIdylle artikulierten. Weitere Pointen soll-ten nicht unerwähnt bleiben: Prometheuswurde nicht von den Göttern gestraft, weiler den Menschen die Kunst der Medizin,der Mathematik, der Navigation und derWeissagung gebracht, sondern auch undgerade die des Bergbaus und der Feuer-kunst sowie die der Bearbeitung von Metall(Aischylos). Und sein Befreier Heraklesletet den Fluss um zwecks Reinigung derStälle der Augias. Was sich hier ausdrückt,ist die Loslösung von einer natürlichenOrdnung, die ihre Ressourcen (Holz, Was-ser, Wind etc.) gemäß den „Launen derGötter“ bereitstellt – Technik als „Kontin-genzmanagement“ (Niklas Luhmann).Ihren Triumph feiert diese Technik aller-dings erst im Zuge der industriellen Revo-lution, dem Abschied von der „Holz- undWasserwirtschaft“ (Lewis Mumford, PhyllisDeane) qua Erschließung neuer Energie-und Rohstoffvorräte, nicht mehr solchen,von deren Regenerationsmodus man ab-hängig war. Bergbau und Artifizialisierungvon Ausgangsstoffen waren die Grundlagefür die Freisetzung eines Potentials „endloserweiterbarer“ Mittel für neue Zweckbin-dungen – diesen „Frevel“ haben die altenGötter erkannt. Nach Norbert Wiener istdies die einzige technische Revolution (diezweite wäre die der Ersetzung menschli-cher Intelligenz).

In der Technikphilosophie – die ja nicht eineDisziplin darstellt, vielmehr das jeweiligephilosophische Weltverständnis für dieAnalyse eines bestimmten Umgangs mitder Welt geltend macht – findet sich derWandel des Technikverständnisses, das seine

Provokationen in der realtechnischen Ent-wicklung findet. Die Einsichten des My-thos waren verdrängt, überboten voneinem spekulativen Philosophieren, das biszum Humanismus und der Aufklärungder Technik nicht gerecht werden konnte.Aber selbst in der Antike mit ihrer Ein-schränkung auf die Technik des Werkzeug-gebrauchs und des Herstellens finden wirzwei Impulse unterschiedlicher Art:Aristoteles (wer sonst?) verweist auf dasmenschliche Spezifikum der Hand alsnicht festgelegtem Steuerungsorgan (kine-sis) spezialisierter komplexer Werkzeuge(als kleinen Systemen, die die entsprechen-den Gegenstände und Zustände realisie-ren), „ablegbaren Teilen“ unseres Körpersals höherstufigem, „anpassungsfähigem“Organ, das zudem diese Teile adäquat be-reithalten und bevorraten (Regelung) undseinerseits nur in höherstufigen Koordina-tionszusammenhängen (als zoon politi-kon) leben kann (de generatione animali-um). Technik bedarf des Wissens um dieGründe ihres Tuns (Episteme/Wissen-schaft), die sie aus der Kenntnis der Naturbezieht sowie der Erfahrung (Emperia),aus der sie die Informationen über die not-wendige situative Anpassung erhält. BloßeWissenschaft oder bloße Erfahrung sindnicht hinreichend für technisches Gelin-gen; systemtheoretisch: bloße Steuerungoder bloßes (regelndes) Feed-back laufen,jeweils für sich, ins Leere.

Ferner wurden –in anderer Hinsicht – dieÜberlegungen der Stoa traditionsbildend:„Technik ist das System von Unterweisun-gen und Fertigkeiten gemäß ihrer Nütz-lichkeit für das Leben insgesamt“ (Zenon,Lukian) – hier erscheint explizit der Ter-minus „System“, der erst später wieder imHumanismus und Rationalismus aufge-nommen wurde – Lukian wurde geradezuparadigmatisch zitiert (von Petrus Ramus,Philipp Melanchthon, Bartholomäus Ke-ckermann, Clemens Timpler, JohannHeinrich Alstedt über Gottfried WilhelmLeibniz bis hin zu Christian Wolff). Freilichverschob sich der Akzent zunächst hin zuden Intellektualtechniken, dann über dieCharakterisierung ihrer Gründe „ex physi-ca“ in eine Auffassung der Technik als„große Maschine“ (Gottfried WilhelmLeibniz). Gemeinsam ist die Betonung desnotwendigen inneren Zusammenhangs,der das System konstituierenden verbin-denden Kräfte (Johann Heinrich Lambert),der ein System von einem bloßen „Aggre-

„Bloße Wissenschaft oderbloße Erfahrung sind nicht hin-

reichend für technischesGelingen; systemtheoretisch:bloße Steuerung oder bloßes

(regelndes) Feed-back laufen,jeweils für sich, ins Leere.“

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gat“, das eines solchen Ordnungsprinzipsermangelt, unterscheidet (Keckermann,Immanuel Kant). Ein im heutigen Sinne„technisches Aggregat“ ist ein System. Die Idee eines technischen Systems alsMegamaschine wurde leitend für LewisMumford.

Es scheint, als seien wir weit von unseremThema abgekommen. Ist doch jetzt ineinem allgemeinen Sinne von Technik dieRede oder von einem mehr oder wenigerproblematischen Technikverständnis,nicht aber von der Technik i.e.S. als Pro-zesstechnik (Verfahrenstechnik, Biosys-temtechnik) mit ihrer Sensor-, Signalüber-tragungs- und Regeltechnik, die etwa vonder Systembiologie lernen kann. Aller-dings sind verfahrenstechnische Prozesse –von denen her sich übrigens der moderneTechnikbegriff als spezifische Benennunghistorisch ableitete (nicht von „ars“ oder„techne“) – ja ihrerseits solche eines Sys-tems, das Subsystem größerer realtechni-scher Systeme ist, die ihrerseits soziotech-nisch eingebettet sind. Auch mussten –und müssen – wir weiter ausholen, um dieeigentümliche Karriere philosophischerSystemkonzepte und ihre Annäherung andie Biologie nachvollziehen zu können.

Für Immanuel Kant, der noch einen „New-ton des Grashalms“ vermisste und glaubte,dass es einen solchen nicht geben könne,schien es nur zirkulär begründbar, der Na-tur entweder die „technica intentionalis“eines organisierenden Wesens beizulegen(einer auf Zweckmäßigkeit ausgerichteten„Weltseele“) oder eine „technica rationa-lis“ als Notwendigkeit der Naturscheinun-gen, deduziert aus einem „hyperphysi-schen“ Grund (wie Baruch de Spinoza).Gleichwohl war die Annahme einer„Technik der Natur“ für ihn ein notwendi-ges heuristisches Prinzip, eine als-ob-Vor-stellung einer ökonomisch rational han-delnden Instanz, welche unverzichtbar ist,wenn wir (in mathematischer Modellie-rung) ihre Mechanismen erforschen wol-len. Denn andernfalls – wenn wir der Na-tur spielerische Ausreißer und Willkürkonzedierten – hätten wir keinerlei Krite-rien, die uns veranlassen, unsere Erkennt-nisse in einem System zusammenzufüh-ren, Theorien unter das Ideal einer Einheitzu stellen, ja nicht einmal eine simple Feh-lerrechnung wäre möglich. Nur unter derIdee eines „Technizismus“ und des Mecha-nismus als dessen „Mittel“ (man ist anAlbert Einsteins „Gott würfelt nicht“ erin-

nert) sei Naturwissenschaft möglich.Ansonsten erhielten wir ein bloßes Aggre-gat von Regelmäßigkeiten auf induktivemWege nach Maßgabe beliebig möglicherAbstraktionen (wie es ja manchen Typ„alternativer Wissenschaft“ auszeichnet).Dieses Konzept einer Einbettung des Me-chanismus in einen Technizismus leitetedie Systembegriffe des Idealismus bis hinzu Hegel, wobei „Notwendigkeit“ und„Vollständigkeit“ aller Elemente und ihrerinternen Relationen letztlich das „absolu-te“, unbedingte System definieren. DieserAnspruch als Idee von Wissenschaft über-haupt bedingt, wie wir die Welt als unsgegebene erschließen, bestimmen und ge-stalten und uns in dieser Gestaltung alsSubjekt/„Geist“ entfalten.

War somit zwar ein „technomorpher“ Welt-bezug radikal zu Ende gedacht, so wardoch diese erkenntnistheoretisch plausiblePointe für die an der Biologie orientiertenPhilosophien unbefriedigend. Ihre Proble-me gründeten gerade im Festhalten amMechanismus, der eben dadurch seine De-fizienzen erwies: Einen Organismus als reinmaterielles System zu begreifen, maschi-nenanalog, könne nicht die „prospektivePotenz“ der Formbildung erklären, wie siein den „komplex äquipotentiellen Syste-men“ angelegt sei (d.h. nach Zerstücke-lung, Umstellung oder Neukombinationder Teile wieder komplette Systeme zu bil-den) und das lernfähige Agieren der Syste-me sei nur über „harmonisch äquipotenti-elles“ Zusammenwirken der Signalflüsseerklärbar. Beides verweise auf eine system-konstitutive „Lebenskraft“ als „organischerKausalität“, eine „ganzmachende Kraft“ –hologen (aus der Ganzheit), nicht mero-gen (aus den Teilen resultierend) – als„Insertion“, wie die Vitalisten (HermannDiersch, Wilhelm Ostwald) postulieren zumüssen glaubten. Diese Kraft ist sozusagendie oberste Regelung (Ostwald), die ober-ste Ausgleichsinstanz für systemgefähr-dende „Intensitätsdifferenzen“ jeder Art.

Die Antworten auf diese philosophische Ver-zweiflungstat kamen aus der Biologie, derKybernetik sowie physikalischen Unter-suchungen zur Entstehung geordneterStrukturen (Synergetik) selbst: Nicht einFesthalten am Mechanismus, sondern amOrganismus als geschlossenem System be-dingt diese Probleme. Eine Theorie offenerSysteme, die mit ihrer Umgebung nichtnur Energie, sondern auch Stoffe austau-schen und von einer Thermodynamik

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nicht modelliert werden können, die nurÜbergänge von einem Gleichgewichtszu-stand in einen anderen thematisiert, ana-lysiert biologische Prozesse (Stoffwechsel,Regeneration) unter dem zeitunabhängi-gen und nur durch Transport- und Pro-duktionsgrößen bestimmten „Fließgleich-gewicht“ mit Entropieänderung 0 (sozunächst Ludwig von Bertalanffy). Fließ-gleichgewichte als „primäre Regulative“werden ihrerseits von sekundären „ho-möostatischen“ Regulationen überlagert,die den stationären Zustand des Organis-mus – qua Rückkopplung – aufrecht er-halten, aber Regenerations- und Adap-tionsfähigkeit zugunsten besserer „System-leistung“ einschränken. Wir finden hier beiBertalanffy bereits den Befund, der spätervon manchen soziologischen Systemtheo-retikern aufgegriffen wurde: die Scherezwischen Optimierung der Systemfunktio-nen und Adaptionsfähigkeit (Beispiel Bü-rokratie!). Doch was heißt „Systemleis-tung“? Jedenfalls war gezeigt – trotz man-cher Irrtümer –, dass Organismen begrif-fen als offene Systeme qua Aufnahme derNegentropie (Erwin Schrödinger) nicht,wie die Vitalisten unterstellten, unter phy-sikalischen Gesetzen nicht verstehbarseien. Zugleich wurde – manche Philoso-phie korrigierend – ersichtlich, dass eineEinteilung nach geschlossenen oder offe-nen Systemen davon abhängt, wieweit eingeeigneter Umweltausschnitt einbezogenwird oder nicht. Systeme existieren alsonicht absolut, sondern qua Festlegung derSystemgrenzen und sind überdies, was dieModellierung unter stationären oder Fließ-gleichgewichtsgesichtspunkten betrifft,von der beobachteten Geschwindigkeit derSystemprozesse relativ zur Beobachtungs-dauer und -geschwindigkeit abhängig(schnelle molekulare Prozesse → stationä-re Zustände, langsame höherstufige Pro-zesse → dynamische Zustände).

Die Analyse von Gleichgewichtszuständenund stabilen, instabilen oder neutralenZustandsfolgen („Zyklen“) wurde zumThema der Kybernetik (W. Ross Ashbyu.a.), die Kopplungs- und Rückkopplungs-prozesse zwischen Systemen und ihrenSubsystemen modelliert und in einer Füllevon Ansätzen ausdifferenziert ist. Generellgeht es um die Abbildungsfunktionen vonVariablen (Größen zur Beschreibung einesSystemzustandes) eines (Sub-)Systems Aauf die Parameter (Größen zur Beschrei-bung des Systemverhaltens) eines (Sub-)

Systems B und umge-kehrt in der Hoffnung,durch die angemesseneAuswahl der Variablenprognosefähige Modellezu erhalten. Philoso-phisch interessant isthierbei die Untersuchungverschiedener Konzeptevon Regelung in ihremVerhältnis zur Steuerung,denn der Sprachgebrauchist keineswegs einheitlich.

Mit Gesetzmäßigkeiten derEntstehung und Erhal-tung geordneter Struktu-ren in physikalischen,chemischen und biologi-schen Systemen, die da-ran gehindert werden,sich auf den Gleichge-wichtszustand hinzube-wegen, befasst sich dieSynergetik (Hermann Ha-ken). Nichtgleichgewich-te können zur Quelle vonOrdnung werden (wasvon einem Boltzmann-schen Standpunkt ausnicht zu verstehen ist, dadort die Wahrscheinlich-keit der Entstehung einerkorrelierten Bewegung einer großen Zahlvon Molekülen als gegen Null tendierenderachtet wird). Je nach Randbedingungenwerden Selektionen nach Maßgabe des op-timalen Energieaustauschs der konkurrie-renden Ordnungsparameter realisiert, und

der daraus hervorgehende dominante Ord-nungsparameter prägt dem anderen einbestimmtes Verhalten auf. Solche Selbst-organisationsprozesse in offenen Systemenunter gleichgewichtsfernen Bedingungenfinden sich im chemischen und biologi-schen Bereich, sofern dort autokatalyti-

The article analyzes the philosophical implicationsof modern system biology: can biological systems bea valid example for the architecture and the ma-nagement of technical systems? At first the authoroutlined the concept of system in the philosophicaltradition in relation to the respective development ofscience and technology. He shows that human tech-nology and culture from the principle is alreadysystems engineering, and that the processes of con-trol and regulation are not only the basic processesof technology but also of natural sciences. Thisscientific and philosophical turn is inalienable inregard to the processes, methods and controls in themolecular, biological, technical and cultural worldfor the understanding of these systems. The philoso-phical tradition and the sciences developed a theoryof open systems against the dangers of a crude natu-ralism and mechanism. The author shows thatmodern system biology doesn’t fall under the verdictof the naturalistic false conclusion because it is notlooking for hidden aims in biology. The intentionaimed rather at the complex means and criteriawhich the systems used to keep the processes effec-tive, efficient and stable. System biology thereforegets close to both the modern paradigm of a sustain-able technology and the early intentions of „techno-logy“ with that.

SUM MARY

„Dabei ist eben nicht mehrerforderlich, die Entstehung

von Ordnungsstrukturen als Folgeexterner unwahrscheinlicher

Anfangsbedingungen anzunehmen…“

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sche Reaktionsschritte existieren. Anbestimmten Punkten der kinetischen Glei-chungen sind mikrophysikalische Schwan-kungen nicht mehr vernachlässigbar; siewerden für das „Wahlverhalten“ des Sys-tems an solchen Verzweigungspunkten(Bifurkationen) maßgeblich und lassen nurnoch eine probabilistische Beschreibungzu, die bedeutsame Abweichungen voneiner probabilistischen Theorie des Gleich-gewichtszustandes aufweist. Die Über-gangswahrscheinlichkeiten werden zunicht-linearen Funktionen der stochasti-schen Variablen und sind nicht mehrdurch deterministische Bewegungsglei-chungen für makroskopische Variablenbeschreibbar. Schwankungen können ver-stärkt werden und das System in einenneuen Zustand treiben. Solche Oszilla-tionsprozesse finden wir in der Popula-tionsdynamik (Raubtier-Beute) und in derEvolution qua Verstärkung oder Abschwä-chung von Mutationen je nach Rand-bedingungen, ja auch in präbiotischenevolutionären Prozessen (Manfred Eigen),wo konkurrierende Hyperzyklen derwechselseitig katalytischen Verbindungvon Protein- und Nukleinsäuremolekülennach Maßgabe der Randbedingungen se-lektiert werden. Der Anspruch dieses An-satzes ist, auch die Herausbildung geogra-phischer, wirtschaftlicher und sozialerStrukturen auf dieser Basis zu verstehen.Dabei ist eben nicht mehr erforderlich, dieEntstehung von Ordnungsstrukturen alsFolge externer unwahrscheinlicher An-fangsbedingungen anzunehmen (JacquesMonod), sondern die Physik der Selbstor-ganisation vermag den Gegensatz „Boltz-mann – Darwin“ aufzuheben und unterNachweis „dissipativer Strukturen“ (IljaPrigogine) die Herausbildung komplexerOrdnungsstrukturen des Lebens unterneuen Gesichtspunkten zu betrachten.Diese Erträge sind nicht nur naturphiloso-phisch, sondern auch technik- und kultur-philosophisch relevant.

3. Naturalismus –Eine Begründungsbasis oder He-rausforderung der Philosophie?

Angesichts der in aller Kürze beschriebenenProblemtradition ist nun derjenige, der inder Systembiologie orientierungsstiftendeAnhaltspunkte für die Technikgestaltungsucht, einem irritierenden Befund ausge-setzt: Zeigte eine Hauptlinie des klassi-

schen philosophischen Nachdenkens überTechnik, dass „System“ Resultat einesmodellierenden Zugriffs auf die Welt intechnischer Absicht ist, der Systemgrenzen„festsetzt“, Parameter „auswählt“ und de-ren Adäquatheit operativ testet an der Va-lidität der Prognostizierbarkeit des System-verhaltens unter pragmatischen Kriterien, soverweist eine philosophierende Biologieund Physik auf objektive Befunde, aus denenTechnik und Handeln überhaupt ein neuesSelbstverständnis und gegebenenfalls dieBasis ihrer normativen Ausrichtung ge-winnen sollten. Das hat ihr seitens derPhilosophie den Vorwurf des „Naturalis-mus“ bzw. eines naturalistischen „Reduk-tionismus“ eingetragen und zu den erbit-terten Abwehrschlachten geführt, wie wirsie gegenwärtig auch auf dem Felde derNeurophysiologie (Gerhard Roth, WolfSinger) und der Evolutionsbiologie (ErnstMayr) beobachten können. Denn die Ver-fechter jenes naturwissenschaftlich orien-tierten Philosophierens fordern ja gerademit Blick auf ihre molekularbiologischenBefunde, die unstrittig sind, dass wir unserVerständnis von bewusstem Handeln,Technik und Kultur auf eine neue Basis zustellen hätten. Auf den ersten – und alsfalsch erweisbaren – Blick scheint der Vor-schlag, die Leittechnik großer technischerSysteme an Regulationskonzepten biologi-scher Systeme zu orientieren, in dieselbeRichtung zu gehen. Dem ist aber mitnich-ten so, und das spricht für den systembio-logischen Vorschlag.

Betrachten wir aber zunächst die erwähnten,öffentlichkeitswirksam ausgetragenenKontroversen und ihre Erträge: Von einemBeobachterstandpunkt aus (Naturalismus)ist gezeigt, dass im molekularbiologischenBereich bestimmte Determinationen nach-weisbar sind, die wirksam werden, bevorein Handeln uns als solches bewusst wird(Neurophysiologie). Oder es wird seitensder Evolutionsbiologie darauf verwiesen,dass die Möglichkeiten des Gelingens/Misslingens individueller oder kollektiverVollzüge in der natürlichen Verfasstheitdes Evolutionsgeschehens vorgeben sind.Unser – kulturkonstitutives – Selbst-bewusstsein und die hiermit verbundeneSelbstzuschreibung von Verantwortungwären dann bloße Ideologie. Freilich wirdhier – aufgrund zweier Denkfehler (denendie Systembiologie nicht unterliegt, s.u.) –das Kind mit dem Bade ausgeschüttet: Dererste besteht in der Verwechslung des Be-

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obachterstandpunktes mit dem subjekti-ven Standpunkt („Ich-Perspektive“), unterdem wir uns zu bestimmten Sachverhaltenin einen Bezug setzen. Dass wir, wie bereits

Georg Wilhelm Friedrich Hegel bemerkte,„eine Handlung erst aus der Tat kennenlernen“, ist ja gerade dadurch bedingt, dasswir „irgendwie anfangen“ und dann sehenmüssen, was unter materiellen Bedingun-gen aus unserem Plan geworden ist. Ent-sprechend nehmen wir unsere Verantwor-tungszuschreibungen vor, ex post, geradeindem wir dem Subjekt zugute halten be-ziehungsweise anlasten, was im Vorfeld derHandlung vorlag und dazu geführt hat,dass in diesem Subjekt sich die entspre-chende Handlungsdisposition etablierenkonnte.

Die Arbeit eines Bewusstseins an ihm selbstals komplexer Prozess der Herausbildungvon Präsentationen und Repräsentationenist gerade die Kulturleistung, die Systemeherausgebildet hat, innerhalb derer Deter-minationsprozesse ihrerseits reguliert wer-den. Sie ist also zunächst einmal Voraus-setzung dafür, dass individuelle Aktionendeterminiert sein können. Zu dieser Kul-turleistung gehört aber auch und gerade,dass wir individuelle Aktionen, deren de-terminierender Hintergrund nicht völligoffen liegt, einer Kausalität „aus Freiheit“(Kant) des handelnden Subjekts zuschrei-ben. Auf diese Weise nämlich wird die Nö-tigung ausgesprochen, diejenigen höher-stufigen Gründe geltend zu machen, dieals Regulative des Handelns (Ideen, Werte,Normen) in der Kultur repräsentiert sindund gegebenenfalls beim handelnden Sub-jekt nur „unzureichend“ repräsentiert

waren, was zur moralischen Kritik führt.Dass wir so tun „müssen, als ob wir freisind“, ist darin begründet, dass „selbst derhartnäckigste Skeptiker oder entschlosseneFatalist, wenn es zum Handeln kömmt“,gestehen müsse, dass er nicht weiter-kommt, wenn er sich auf die These der De-terminiertheit des Handelns beruft, ebenweil er eine (mögliche) Determination derdeterminierenden Gründe seines Handelnsnicht kennen kann (Kant). Er kann sie nuranerkennen (oder nicht), und das ist einAkt subjektiver Freiheit, zu dem wir „vonder Kultur“ verurteilt sind. Weiter ge-dacht: Die „Deterministen“ können nichtaufweisen, was sie dazu determiniert, diekulturell entstandene Komplexität unsererHandlungsmodellierung auf diejenigenunmittelbaren (molekularen) Determina-tionsketten zu reduzieren, die eine Aktionauslösen. Ein graduelles Unabhängigwer-den von der Natur – die technische Sys-temleistung – hat uns in einen Zustandder „Mittelbarkeit“ (Helmuth Plessner)versetzt, die uns zwingt, mittels Repräsen-tationen mit Repräsentationen umzuge-hen. Kein System von Repräsentationenkann sich mit eigenen Mitteln vollständigbeschreiben (Kurt Gödel) – geschweigedenn begründen.

Der zweite Denkfehler liegt in der Hoffnung,aus der Erklärung und Analyse von Syste-men irgendwelche normativen Kriterienfür die Ausrichtung der erwähnten „An-erkennung“ (aus Freiheit) zu gewinnen.Das ist der „naturalistische Fehlschluss“,wie ihn David Hume oder George E.Moore kritisiert haben. Umgekehrt würdeeine Suche nach Normen, die Normen be-gründen sollen, warum wir etwas für guthalten sollen, in einen unendlichen Regressführen. Oder wir landen bei inkonsisten-

ten Forderungen nach einer „Hebammen-kunst“ bzw. -technik (polemisch hierzuKarl Raimund Popper), die nur kunstvollfördert bzw. sich dem anpasst, was sowieso

„Die ‚Deterministen’ könnennicht aufweisen, was sie dazu

determiniert, die kulturell entstandene Komplexität

unserer Handlungsmodellierungauf diejenigen unmittelbaren

(molekularen) Determinations-ketten zu reduzieren,

die eine Aktion auslösen.“

„Angesichts dieser Problemlageist nun der Impetus der

Systembiologie aus zwei Gründenvöllig unverdächtig, ja vielmehrzielführend und aussichtsreich.“

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geschieht. Ausgeprägt findet sich dieseHaltung bei Evolutionsethikern, die übereine humanistisch geprägte Lenkungsstra-tegie von Evolutionsprozessen nachden-ken, die doch ihrerseits als dissipativeStrukturen erhellt sind (Erwin Lazlo).

Angesichts dieser Problemlage ist nun derImpetus der Systembiologie aus zweiGründen völlig unverdächtig, ja vielmehrzielführend und aussichtsreich. Denn dieSystembiologie debattiert nicht über ir-gendwie der Biologie des Verhaltens oderbiologischer Evolution unterstellte undabgelauschte Ziele, sondern über (komple-xe) Mittel bzw. Kriterien, denen die Mittel-gestaltung unterliegt, sofern die Prozesse ef-fektiv, effizient und eben abgesichert (sta-bil, reproduktiv etc.) ablaufen sollen – dieUr-Intentionen von „Technik“.

Dass wir uns, was die Gestaltung von Mittelnbetrifft, an den von uns modellierten Na-turgesetzlichkeiten zu orientieren haben,ist von Aristoteles über Francis Bacon (na-tura non nisi parendo vincitur) bis zu He-gel („wir unterliegen der Macht äußererMittel“) klar. Der Horizont wird freilichdahingehend erweitert, dass nicht moleku-lar determinierte Prozesse per se, sondernihre Einbettung in die regulatorischen Pro-zesse auf den verschiedenen Ebenen derSignalverarbeitung und des Stoffwechselsoffener Systeme untersucht wird. Die Vali-dität von Mitteln kann somit relativ zuFunktionen besser verstanden und bewer-tet werden.

Zugleich entspricht die modernste system-biologische Forschung der Einsicht, dassTechnik nicht systembiologischen For-schungsergebnissen nachgeordnet, son-dern in einem wechselseitigen Konstitu-tionszusammenhang aufgrund ihrer ana-logen Ausrichtung (s.o.) verbunden ist:Wenn in „virtuellen biologischen Labo-ren“ experimentiert wird, wird gerade derHorizont rein molekularbiologischer Sichtüberschritten und die Leistungsfähigkeitderjenigen Regelungsparameter eruiertund getestet, die verhindern, dass das Zu-sammenwirken der Vielzahl kaum zuüberschauender reaktionskinetischer undthermodynamischer Parameter mit ihrenVeränderungen im Chaos endet. Jene hö-herstufigen „Schlüsselparameter“, die fürdie ganzheitlichen Verhaltensmechanis-men der Systeme maßgebend sind, kön-nen in der Tat die technische Gestaltunganderer komplexer Systeme orientierenbis hin zur Diskussion einer „nachhaltigenEntwicklung“, ohne dass hier ein „Natura-lismus“ oder ein „Reduktionismus“ vor-zuwerfen wäre. Genauso wären aus denErträgen der Neurophysiologie und derEvolutionsbiologie – die ihrerseits aus derSystembiologie viel lernen könnten –Orientierungen für die Gestaltung vontechnischen Mitteln, ihrer Leistungsfähig-keit und den Voraussetzungen der Zu-mutbarkeit ihres Einsatzes zu gewinnen.

•Christoph Hubig

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DER AUTOR

Prof. Dr. Christoph Hubig

Geboren 1952, Studium der Philosophie in Saarbrücken und an der TU Berlin, 1976 Promotion (Dialektik undWissenschaftslogik, Berlin 1978), 1983 Habilitation (Handlung – Identität –Verstehen, Weinheim 1985).Professuren für Praktische Philosophie/Technikphilosophie in Berlin, Karlsruhe und Leipzig. Seit 1997 Professorfür Wissenschaftstheorie und Technikphilosophie an der Universität Stuttgart, dort Prorektor von 2000-2003.Vorsitzender des Bereichs “Mensch und Technik” des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI) 1996-2002, Vor-stand der Deutschen Gesellschaft für Philosophie; Kurator und Leiter des Studienzentrums Deutschland der Al-catel SEL-Stiftung und. Honorarprofessor an der University of Technology Dalian/China.Neuere Veröffentlichungen u.a.: Technik- und Wissenschaftsethik (2. Aufl. 1995), Technologische Kultur(1997), Mittel (2000);(Hg. u.a.): Ethik institutionellen Handelns (1983), Funkkolleg Technik: Einschätzen– Beurteilen – Bewerten (1996), Dynamik des Wissens und der Werte (1996), Nachdenken über Technik(2000), Unterwegs in die Wissensgesellschaft (2000), Ethische Ingenieurverantwortung (2002).

KontaktUniversität Stuttgart, Institut für Philosophie, Seidenstr. 36, 70174 StuttgartTel. 0711/121 2491, Fax 0711/121 3657E-Mail: [email protected], Internet: www.uni-stuttgart.de/philo