Theodor W. Adorno - Ethik Als Erste Philosophie

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Manuel Knoll

Theodor W. AdornoEthik als erste Philosophie

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Umschlagabbildung:

Picasso, Guernica, 1937

) Succession Picasso / VG Bild-KunstBonn 2002

Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme

Knoll, Manuel:

Theodor W. Adorno : Ethik als erste Philosophie. - München : Fink, 2002Zugl.: München, Univ., Diss., 2000ISBN 3-7705-3665-7

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabeund der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragungeinzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherungund Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien,soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten.

ISBN 3-7705-3665-7© 2002 Wilhelm Fink Verlag, München

Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH, Paderborn

Inhaltsverzeichnis

EINLEITUNG

1. Die Renaissance moralphilosophischer und ethischerFragestellungen

2. Der Forschungsstand zu Adornos Moralphilosophie3. Der Primat der Ethik und die Unangemessenheit der

vorherrschenden Interpretationsmuster vonAdornos Philosophie

KAPITEL I

ADORNOS ANTISYSTEMATISCHES SELBSTVERSTÄNDNIS

KAPITEL II

PHILOSOPHIE ALS OBJEKTIVATION DES LEIDENS

KAPITEL III

KUNST ALS OBJEKTIVATION DES LEIDENS

1. Kunst als „Bewußtsein von Nöten"2. Das doppelte Ende der Kunst3. Das mimetisch expressive und das rational konstruktive

Moment der Kunst4. Autonome Werke von Kafka, Picasso, Schönberg und Celan

KAPITEL IV

GESCHICHTSPHILOSOPHIE ALS ERKENNTNIS DER GRÜNDE

DES LEIDENS UND DER UNGERECHTIGKEIT

!• Die „Urgeschichte der Subjektivität" als Urgeschichtedes Leidens und der Ungerechtigkeit

2. Der Fortschritt der Rationalität und ihre Verflechtungmit der ungerechten Gesellschaft

3- Die Thesen über den Antisemitismus: Leiden alsFolge des gesellschaftlichen Vernichtungswillensund Zerstörungsdrangs

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KAPITEL V

DIE MATERIALISTISCHE UND UTOPISCH HEDONISTISCHE ETHIK 135

KAPITEL VI

DIE VERSTELLTHEIT GESELLSCHAFTSVERÄNDERNDER

POLITISCHER PRAXIS 16 1

KAPITEL VII

DIE HEDONISTISCHE SOZIALUTOPIE 17 1

1. Das utopische Moment der Begriffe und der Kunst 1722. Die Grobskizze der hedonistischen Sozialutopie 1783. Die Engführung von materialistischen, utopischen

und hedonistischen Motiven mit theologischen 188

KAPITEL VIII

„DIE SELBSTKRITIK DER VERNUNFT IST DEREN

EIGENSTE MORAL" 2 01

1. Die Kritik der identifizierenden Vernunft 2022. Die „Moral des Denkens" 2093. Die Durchführung der „Moral des Denkens": Dekon-

struktion von Kants Willensbegriff und konstellativeErschließung des moralischen Impulses 221

KAPITEL IX

ETHIK ALS ERSTE PHILOSOPHIE 2 3 1

1. Ästhetische Rationalität als Verwirklichung der Moraldes Denkens 231

2. Das Verhältnis von diskursiver Erkenntnis und Kunstals Form von Erkenntnis 237

3. Die materialistische Umwendung von Kants Theoriedes Erhabenen und das Verhältnis der Ethik zur Kunstund zur Ästhetik 242

LITERATURVERZEICHNIS 251

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Einleitung*

1. Die Renaissance moralphilosophischer und ethischerFragestellungen

Die 1997 erschienene Untersuchung zu Theodor W. Adornos Moralphilosophie von Ulrich Kohlmann beginnt mit der Feststellung: „Ethik hatHochkonjunktur." Dem läßt sich hinzufügen: Veröffentlichungen zumThema Moralphilosophie bei Adorno auch. Kohlmanns Buch ist nebeneinigen Aufsätzen und einem Sammelband bereits die dritte Monographieseit 1992, die sich mit diesem - bisher eher vernachlässigten - Aspekt von

Herzlich danken darf ich an dieser Stelle allen, die dazu beigetragen haben, daß diesesBuch erscheinen konnte. Vor allem danke ich meinen Eltern und Friederike Kühn, diemir durch langwierige Debatten über sprachliche und inhaltliche Probleme sehrgeholfen hat. Für Förderung, Anregungen und Kritik sowie kontroverse Diskussionendanke ich Peter Cornelius Mayer-Tasch, Hans-Martin Schönherr-Mann und Elmar

Treptow. Georgios Karageorgoudis danke ich für seine Urteile und Alexander vonPechmann für die Korrektur des Manuskripts.

Ulrich Kohlmann: Dialektik der Moral. Untersuchungen zur Moralphilosophie Adornos,Lüneburg 1997, S.U.

Vor 1992 wurden nur eine Monographie und drei Aufsätze veröffentlicht, die sich mitmoralphilosophischen oder ethischen Aspekten von Adornos Denken auseinandersetzen: Im editorischen Nachwort der wegen Adornos Tod unvollendet gebliebenen

 Ästhetischen Theorie sprechen die Herausgeber davon, daß Adorno noch ein moralphilosophisches Buch geplant hatte, um sein Werk zu vollenden (Adorno: AT, S. 537). Dasveranlaßt Robert Schurz in seiner Monographie zu der höchst fragwürdigen Unternehmung, „das Adornosche Werk um diesen Rechenschaftsbericht ergänzen" zu wollen(Robert Schurz: Ethik nach Adorno, Frankfurt am Main 1985, S. 23). Neben diesemwenig Aufschluß gebenden und von Strukturierungsschwächen gezeichnetem Projekt,Adornos Ethik postum nachzuliefern, erscheint in demselben Jahr der Aufsatz von

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EINLEITUNG

Adornos Denken auseinandersetzt. Wie läßt sich dieses neu erwachteForschungsinteresse erklären? Gerhard Schweppenhäuser liefert in seinerArbeit zu Adornos Moralphilosophie zumindest eine plausible Erklärung,wieso die marxistisch inspirierte Forschung der 60er und 70er Jahremoralphilosophische Fragestellungen für weitgehend überflüssig hielt undverdrängte:

Wer in gesellschaftstheoretischen und philosophischen Diskussionszusammenhängen unter Berufung auf moralische Kategorien argumentierenwollte, machte sich verdächtig, in ,falsches bürgerliches Bewußtsein' zurückgefallen zu sein. Vulgär- (und das heißt: pseudo-) ideologiekritischwurden moralische Fragestellungen, bzw. die Frage nach dem moralischenMaßstab einer kritischen Gesellschaftstheorie, als Epiphänomene abgetan,die mit der praktischen Veränderung der Gesellschaft von selbst ihre vermeintliche Relevanz verlieren und,absterben' würden.

Zu dieser Zeit war im vorherrschenden marxistischen Diskurs noch dieÜberzeugung verbreitet, daß die Aufhebung der Moral in einem zukünftigen sozialistischen Gesellschaftszustand nicht nur möglich sei, sondernunmittelbar bevorstehe. In deutlichem Gegensatz dazu hatten die häufig

als neomarxistisch kategorisierten Denker Max Horkheimer und TheodorW. Adorno spätestens seit den frühen 40er Jahren die Hoffnungen auf erfolgversprechende revolutionäre politische Praxis aufgegeben. DiesesUrteil einer verstellten Praxis setzte sich in weiten Kreisen des Marxismuserst Ende der 70er Jahre durch. Es hatte zur Folge, daß ethische Perspektiven innerhalb der „philosophischen Linken" wieder an Bedeutunggewannen. Denn die enttäuschten Hoffnungen auf verändernde politische

Klaus Günther, der sich ausführlich mit dem Freiheitskapitel der Negativen Dialektik auseinandersetzt (Klaus Günther: Dialektik der Aufklärung in der Idee der Freiheit, in:Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 39, 1985, Heft 2, S. 229-260). Die zweiJahre später erschienene Arbeit von Jean Grondin ist mit dem Mangel behaftet, daß sieausschließlich auf Adornos Minima Moralia beschränkt bleibt (Jean Grondin: L'ethiqued'Adorno, in: Les etudes philosophiques, 1987, S. 505-519). Josef Früchtl zeigt inseinem Aufsatz, daß für Adorno „sowohl Schopenhauers Mitleidsethik als auch dieMitleidsethik generell nur einen marginalen Platz einnimmt" (Josef Früchtl: „Moralbegründen ist schwer". Die Rolle der Mitleidsethik bei Adorno und Habermas, in:Schopenhauer Jahrbuch, 72. Band, 1991, S. 36-44, 36). Sonst wurden die moralphilosophischen und ethischen Aspekte von Adornos Denken vor 1992 nur am Randebehandelt (Hauke Brunkhorst: Theodor W. Adorno - Dialektik der Moderne, München1990, S. 299ff.).

Gerhard Schweppenhäuser: Ethik nach Auschwitz. Adornos negative Moralphilosophie,Hamburg 1993, S. 3.

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EINLEITUNG

Praxis brachten es zwangsläufig mit sich, daß mit ihnen auch die Hoffnung auf die Aufhebung der Moral in einer besseren Gesellschaft verabschiedet werden mußte.

Der wachsende Bedeutungsgewinn ethischer Perspektiven innerhalb der„philosophischen Linken" zeigt sich in Frankreich an der Präsenz vongewichtigen ethischen Gehalten im postmodernen Denken, dessenProtagonisten überwiegend aus der (neo-)marxistisch orientierten Linkenhervorgegangen sind. In Deutschland läßt er sich bei Jürgen Habermasaufweisen. Der oft als kritischer Theoretiker der zweiten Generation

bezeichnete Denker hat sich frühzeitig vom Marxismus abgewandt undauf die Ausarbeitung einer Diskursethik konzentriert. In der Forschungführte die Aufwertung moralphilosophischer und ethischer Fragestellungen dazu, daß seit Mitte der achtziger Jahre auch Adornos Denkenzunehmend auf diese Fragestellungen hin untersucht wurde. Daß diebedeutenden moralphilosophischen Gehalte von Adornos Denken so langeübersehen werden konnten, liegt auch daran, daß das vorherrschendeDenken der 60er und 70er Jahre zutiefst moralisch war und die moralischen Maßstäbe und die moralische Basis, von der aus es argumentierte,für selbstverständlich nahm und nicht eigens als moralische reflektierte.

Im Gegensatz zu der erwähnten weitgehenden Vernachlässigung mora

lischer Fragestellungen innerhalb des marxistischen (Forschungs-)Diskur-ses lassen sich bei anderen philosophischen Strömungen seit Beginn der60er Jahre Bestrebungen zu einer Rehabilitierung der praktischenPhilosophie aufweisen. Zu der darauffolgenden Renaissance der Ethik hatdas 1971 erschienene Werk A Theory of Justice maßgeblich beigetragen.In ihm begründet John Rawls im Rahmen einer Theorie sozialer

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Einen guten Überblick über die ethischen Gehalte postmodernen Denkens präsentiertHans-Martin Schönherr-Mann (Hans-Martin Schönherr-Mann: Postmoderne Perspektiven des Ethischen, München 1997). Diese Arbeit erweist auch Schweppenhäusersklischeehafte Unterstellung „postmoderner Beliebigkeit auf ethischem Gebiet" alshaltlos (Gerhard Schweppenhäuser: Ethik nach Auschwitz, a.a.O., S. 242).Als Zäsur ließe sich bereits Habermas' Aufsatz Arbeit und Interaktion von 1967begreifen, in dem er die Sphäre der Interaktion als eigenständige aus der Sphäre derArbeit ausdifferenziert, der sie für Hegel und Marx ein- und untergeordnet ist. Dasbedeutet zum einen die Abwendung von Marx und zum anderen die Voraussetzung fürdie Ausarbeitung der Diskursethik (Jürgen Habermas: Arbeit und Interaktion. Bemerkungen zu Hegels Jenenser ,Philosophie des Geistes', in: Jürgen Habermas: Wissenschaft und Technik als Ideologie, Frankfurt am Main 1969).Manfred Riedel (Hrsg.): Rehabilitierung der praktischen Philosophie, Bd. 1: Geschichte,Probleme, Aufgaben, Freiburg i. Brsg. 1972, S. 11; Manfred Riedel (Hrsg.): Rehabilitierung der praktischen Philosophie, Bd. 2: Rezeption, Argumentation, Diskussion,Freiburg i. Brsg. 1974.

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EINLEITUNG

Gerechtigkeit zwei Gerechtigkeitsgrundsätze, die zur moralischenBeurteilung sozialer Institutionen herangezogen werden können. Anfangder 70er Jahre war die Hochphase der „Metaethik" und die mit ihr einhergehende Vernachlässigung normativer Fragen bereits vorüber.

Gegenwärtig erleben wir einen Ethikboom. En vogue sind neben denVarianten der Diskursethik (Habermas, Apel) vor allem die sich immerweiter ausdifferenzierenden normativen Bereichsethiken wie etwaBioethik, Wirtschaftsethik und ökologische Ethik. Ulrich Kohlmann

begreift die Renaissance der Ethik ausschließlich als Folge des Zerfallsprozesses und des Schwindens der „großen Theorie". Diese Betrachtungsweise ist zwar nicht falsch, aber zu reduktionistisch. Insbesondereübersieht sie, daß der gegenwärtige Aufschwung ethischer Reflexion auchals Folge der vielfältigen neuen Herausforderungen der zeitgenössischensozioökonomischen und wissenschaftlich-technischen Entwicklungen andas philosophische Denken begriffen werden muß. Den ökologischen undglobalen Krisen, so etwa Hans Jonas in seinem 1979 erschienenen Werk

 Das Prinzip Verantwortung, kann die traditionelle Ethik nicht angemessenentgegentreten. Insofern bedarf es für ihn einer neuen Ethik, in der dieVerantwortung ausgeweitet wird, so daß sie den zwischenmenschlichenBereich überschreitet und sowohl die Natur als auch die Zukunft der

Menschheit mit einbezieht.1'

John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1979.William Frankena schreibt in seiner 1963 erschienenen Einführung in die analytischeEthik: „Die Metaethik schlägt keine moralischen Prinzipien oder Handlungsziele vor, essei denn auf mittelbarem Wege; sie besteht ganz und gar aus begrifflicher Analyse. Dieanalytische Moralphilosophie hat sich in den letzten Jahrzehnten fast ausschließlich auf die Metaethik konzentriert und auf die Behandlung von normativen Fragen, wie wir sieuns gestellt haben, verzichtet. Ihr Interesse galt der Klärung und dem Verständnisethischer Begriffe und nicht einer - selbst sehr allgemeinen - Form praktischer Anleitung" (William K. Frankena: Analytische Ethik. Eine Einführung, München 1972, S.114).

Einen guten Überblick über den gegenwärtigen Ethikboom bieten: Julian Nida-Rümelin(Hrsg.): Angewandte Ethik. Die Bertichsethiken und ihre theoretische Fundierung. EinHandbuch, Stuttgart 1996; Peter Singer: A Companion to Ethics, Oxford/Cambridge1991.

Ulrich Kohlmann, a.a.O., S. 11. Kohlmann bezieht sich wiederum auf: ChristianMatthiessen (Hrsg.): Was macht das Denken nach der großen Theorie?: Ökonomie,Wissenschaft und Kunst im Gespräch, Wien 1991.

Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologischeZivilisation, Frankfurt am Main 1984; vgl. Nida-Rümelin (Hrsg.): Angewandte Ethik,a.a.O., S. VII; Julian Nida-Rümelin macht die zeitgenössische gesellschaftliche Umbruchsituation dafür verantwortlich, daß „rationaler Orientierungsbedarf' herrscht unddeshalb „philosophisch-ethische Expertise" zunehmend nachgefragt wird (Julian Nida-

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EINLEITUNG

Die andauernde Renaissance der Ethik spielt für das Selbstverständnisder aktuellen Forschung zu Adornos Moralphilosophie eine wichtigeRolle. Denn ihr Interesse an Adornos moralisch motivierter Kritik anMoral ist kein rein philosophiegeschichtliches. So geht es Ulrich Kohlmann darum, Adornos Moralkritik gegen aktuelle Ethikmodelle inStellung zu bringen und die Zweifel an deren sachlicher Relevanz zustärken. Diese Zweifel rechtfertigen sich für ihn vor allem durch dieUnbekümmertheit, mit der in der gegenwärtigen Ethikdebatte nicht nur

Adornos, sondern auch Nietzsches stichhaltige Kritik an der Möglichkeitund Wünschbarkeit von Moral überhaupt ignoriert wird. Kohlmannbegnügt sich jedoch mit der erinnernden Rekonstruktion dieser Kritik undführt ihre konkrete Anwendung an keinem der aktuellen Ethikmodelle vor.Die gegenwärtige Ethikdebatte ist auch der Hintergrund, der GerhardSchweppenhäusers Interesse an Adornos Moralphilosophie motiviert. Ihmgeht es jedoch weniger um die Bereichsethiken, sondern um die „kritischeBetrachtung der Diskursethik" aus der Perspektive von Adornos negativerMoralphilosophie. Schweppenhäuser unterzieht die Diskursethik einerimmanenten Kritik und sieht den Beitrag einer „philosophisch angeleiteten Ideologiekritik zur gegenwärtigen moralphilosophischen Diskussion"darin, daß sie das Bewußtsein für die „konstitutive Ambivalenz ethischer

Intuitionen" und die unterdrückenden Seiten moralischer Kategorienschärft und wachhält.13

2. Der Forschungsstand zu Adornos Moralphilosophie

Gerhard Schweppenhäusers Monographie Ethik nach Auschwitz. Adornosnegative Moralphilosophie wertet neben dem veröffentlichten Werk diedamals noch unpublizierten Nachschriften der beiden Vorlesungen Pro

bleme der Moralphilosophie, die Adorno 1956/57 und 1963 in Frankfurthielt, als primäre Quellen aus.14 Er versucht, Adornos „untergründigpräsente Moralphilosophie" aus dessen verstreuten Gedanken zur Moral,

Rümelin: Ende oder Blütezeit? Die Philosophie vor den Aufgaben der Zukunft, in:Forschung & Lehre, 12/97, S. 627f.).Ulrich Kohlmann, a.a.O., S. 1 lf.

^ Gerhard Schweppenhäuser: Ethik nach Auschwitz, a.a.O., S. 5, 242.Die 1963 gehaltene Vorlesung ist mittlerweile publiziert (Adorno: PdM).

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EINLEITUNG

die in seinem Werk nur in einem potentiellen Zusammenhang stehen,systematisierend (re-)konstruierend herauszuarbeiten. Dabei kommt er zudem Ergebnis, daß Adornos Moralphilosophie zwei zentrale Themen hat:„Es sind die Reflexion auf die Möglichkeit eines richtigen Lebens heuteund der ,neue kategorische Imperativ'."

Das erste zentrale Thema stammt aus der Minima Moralia, in der sichder berühmte Satz findet: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen."16

Schweppenhäuser stimmt hier der gängigen Lesart zu, daß „Adorno die

Chancen für eine Verwirklichung des Moralischen in der ,verwaltetenWelt' für blockiert" hält. Er zeigt jedoch, daß Adorno damit moralischeAnsprüche keineswegs verabschiedet oder relativiert und in den engstenBeziehungen der Menschen zueinander zumindest ein weniger falschesLeben als möglich erachtet. Adorno erhoffe sich allerdings keineswegsvon der Moralphilosophie „die Lösung realer Konflikte". Weiterhinbezeichnet Schweppenhäuser die „normativen Prämissen" von AdornosTheorie zutreffend als „das Interesse an der Abschaffung von Leiden undUnrecht, oder: an der Verwirklichung unverkürzter Humanität".

Als zweites zentrales Thema erachtet Schweppenhäuser den „neuenkategorischen Imperativ", der in der Negativen Dialektik  formuliert ist:„Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen

kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln soeinzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts ähnlichesgeschehe. Dieser Imperativ ist so widerspenstig gegen seine Begründungwie einst die Gegebenheit des Kantischen."1 Schweppenhäuser untersuchthierzu die Problematik von Adornos Begriff der Begründung. Es erscheintihm fraglich, daß Adornos Imperativ sich Begründungen überhauptentziehen soll, da schließlich auch Marx seinen „anthropologisch-emanzipationstheoretischen kategorischen Imperativ, alle Verhältnisseumzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, einverlassenes, ein verächtliches Wesen ist', plausibel ökonomiekritischbegründen konnte." Schweppenhäuser betont, daß Adornos Imperativnur negativ formuliert, was nicht sein soll. Er stellt also kein positivesMoralprinzip dar. Letztlich könne Adornos Imperativ „systematisch keineandere Berufungsinstanz in Anspruch nehmen als den moralischen

Gerhard Schweppenhäuser: Ethik nach Auschwitz, a.a.O., S. 9f, 15, 174.16 Adorno: MM, S. 42.17 Gerhard Schweppenhäuser: Ethik nach Auschwitz, a.a.O., S. 180, 82, 179, 176.18 Adorno: ND, S. 358.

Gerhard Schweppenhäuser: Ethik nach Auschwitz, a.a.O., S. 188; Karl Marx: Zur Kritikder Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung, MEW, Bd. 1, Berlin 1981, S. 385.

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EINLEITUNG

Impuls."20 Daß dieser für Adorno aus der „physischen Negation desLeidens" erwächst, wird noch zu zeigen sein.

Gerhard Schweppenhäusers Monographie begnügt sich nicht mit derUntersuchung dieser beiden ihm zentral erscheinenden Themen von Adornos Moralphilosophie. Er vertritt überdies die These, daß der systematische Fluchtpunkt von Adornos moralphilosophischen Reflexionen derVersuch der Artikulation moralphilosophischer Erfahrung"  ist. Als be

deutsam sieht er hierzu an, daß bei Adorno eine „Zusammenführungästhetischer und ethischer Erfahrungsgehalte stattfindet". Die moralischen und ethischen Gehalte von Adornos Philosophie bezeichnetSchweppenhäuser als „negative Moralphilosophie", „weil Adornos ,Re-flexionen aus dem beschädigten Leben' (als übergreifende Charakteristikverstanden) sich kritisch-negierend zu diesem verhalten, und weil Adornosich weigert, affirmativ ein Moralprinzip aufzustellen, um seine Kritik zufundieren."

Mirko Wischke vertritt in seiner Untersuchung Kritik der Ethik des Gehorsams. Zum Moralproblem bei Theodor W. Adorno im Gegensatz zuSchweppenhäuser die problematische, aber für ihn zentrale These, daß esbei Adorno sehr wohl ein normatives Moralprinzip gäbe, das er als„Betroffenheit durch das Leiden anderer" bezeichnet. Wischke stützt

sich bei dieser Interpretation auf Adornos Gedanken zum moralischenImpuls und führt aus, daß dessen Hauptaugenmerk der Moral als einer„Form intuitiver Reaktionen auf Unrecht und Willkür, Leiden und Not"gilt. Moralisches Verhalten gründe sich für Adorno in der „irreduziblenErfahrung des Leidens", das genuin durch die modernen Kunstwerkeerfahrbar werde. Wischke stellt die Moral der Betroffenheit auch in denKontext des „richtigen Lebens": ,„richtig' leben hieße so zu leben, daßeinem anderen Lebewesen kein Leid zugefügt wird."

Der Begriff des Moralprinzips wird von Wischke nicht definiert. Dessen gängige Bedeutung ist die eines Grundsatzes, der den sittlichen Willen

Gerhard Schweppenhäuser: Ethik nach Auschwitz, a.a.O., S. 190.Ebenda, S. 210, 202.Ebenda, S. 9.

Mirko Wischke: Kritik der Ethik des Gehorsams. Zum Moralproblem bei Theodor W.Adorno, Frankfurt am Main, S. 5; Die Untersuchung von Wischke, der wie Schweppenhäuser ausgiebig Adornos Auseinandersetzung mit Kant thematisiert, weist leideretliche Schwächen auf, die teilweise noch angesprochen werden. So verzichtet er etwaauf die Auseinandersetzung mit dem „neuen kategorischen Imperativ".Ebenda, S. 133f, 149, 169.

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EINLEITUNG

der ersten Hälfte seiner Schrift präsentiert Kohlmann die Geschichte derMoralphilosophie seit Kant überzeugend als konsequente Fortentwicklung, die in Adornos Moralphilosophie kulminiere. Kants Kritik an derGültigkeit des ontologischen Gottesbeweises raubt sowohl der rationalistischen Metaphysik als auch der traditionellen Moral ihr Fundament.Kants Ethik, die im Bereich der Moralphilosophie einen entscheidendenWendepunkt darstellt, kann als Antwort auf seine Kritik am ontologischenGottesbeweis begriffen werden. Denn sie unternimmt als autonomeReflexionsmoral bzw. als Selbstgesetzgebung der Vernunft den Versuch,dem moralischen Gesetz in der praktischen Vernunft ein neues Fundamentzu verschaffen. Gegen den von Kant unterstellten bruchlosen Zusammenhang von Vernunft und Sittlichkeit führt Kohlmann Adornos de Sade-Interpretation aus der Dialektik der Aufklärung ins Feld, die die Allgemeingültigkeit des kategorischen Imperativs bestreitet und mit demAufweis der Einheit von Vernunft und Herrschaft schließt. Adorno weistden Autonomieanspruch der Kantschen Ethik zurück und entwickeltvornehmlich an ihr seine Kritik am repressiven Gehalt von Ethik.

Auch Schopenhauer bemüht sich für Kohlmann darum, der Ethik einneues tragfähiges Fundament zu verschaffen. Dieses findet seine Gefühlsmoral im Mitleid, das er als Quietiv des Willens verherrlicht. Adorno

weist aber die Mitleidsethik als Ausweg aus den Aporien der Reflexions-moral zurück, denn das Mitleid läßt sich prinzipiell nur als ethischesAusnahmeprinzip begreifen. Die nachfolgenden Aufhebungsversucheder Moral durch Hegel in der verwirklichten Sittlichkeit und durch Marxim zukünftigen Gesellschaftszustand radikalisieren zwar die Kritik anMoral, bleiben für Kohlmann aber unzureichend. Während Kohlmannseine Sichtweise von Hegels Aufhebungsversuch anhand von einigenZitaten auch als die Adornos belegen kann, wird der Leser in der Passagezu Marx über Adornos Position im unklaren gelassen. Ein Hinweis auf Adornos Kritik an Marx' Revolutionstheorie hätte jedoch ausgereicht, ummit Adorno behaupten zu können, daß Marx' „Moralkritik pragmatistischverkürzt blieb"37.

Kohlmann kann zeigen, daß Adorno auch im Bereich der Moralphilosophie an Nietzsches Reflexionen anknüpft. Das wird bereits von Schwep-penhäuser herausgearbeitet, bei dem sich einige von Kohlmanns Resultaten finden lassen. Nietzsche zieht nicht nur aus dem Scheitern des tradi-

Ulrich Kohlmann, a.a.O., S. 21-51.Ebenda, S. 52-71.Ebenda, S. 92-100, 100.

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EINLEITUNG

tionellen Begründungsdiskurses der Moral die Konsequenzen. Bei ihmfindet sich auch bereits die entscheidende Frage nach der Dialektik derMoral, auf deren Entfaltung negative Moralphilosophie gerichtet ist: IstEthik als System der Moral selbst moralisch, genügt sie ihren eigenenPrinzipien? Die Kritik an Moral, die sich daraus ergibt und die dasUnmoralische an Ethik aufzeigen will, ist bei Nietzsche und Adorno alssolche wiederum moralisch motiviert. Das Unmoralische an Moral ist „ihrlatentes Motiv, zu strafen und zu verfolgen, wie ihre Absicht zu zwingen".38 Bei Adorno werde Nietzsches Ansatz dann zu einer negativenMoralphilosophie ausgebaut, die selbst keine ethischen Handlungsimperative aufrichtet und nichts weiter sei als immanente Kritik an Ethik.Diese entlarvt Ethik - vor allem die von Kant - als Technik zur Herrschaftüber die innere Natur des Menschen und als genuinen Abkömmlinginstrumenteller selbsterhaltender Vernunft. Ein wichtiges Resultat vonKohlmanns Arbeit, mit dem diese Untersuchung übereinstimmt, ist nochzu nennen: Adornos Bezugspunkt, der seine Kritik an der Moral und derHerrschaft ermöglicht, findet sich im leibhaften Moment', das Leiden„als das ,Unmenschliche' indiziert".

3. Der Primat der Ethik und die Unangemessenheit dervorherrschenden Interpretationsmuster von AdornosPhilosophie

Diese Untersuchung wird die von Schweppenhäuser, Wischke und Kohlmann vorgezeichneten Bahnen der Diskussion über die moralischenGehalte von Adornos Philosophie weitgehend verlassen. Sie behandelt dieThemen Ethik und Moral bei Adorno nämlich nicht mehr vorrangig inihrem traditionellen Bereich, dem des menschlichen Handelns. In diesem

Bereich sind für Adorno allenfalls noch Restbestände des Moralischen inForm eines weniger falschen Lebens zu verwirklichen. So heißt es in der

 Negativen Dialektik, „daß für die Sphäre des Individuums keine Willensfreiheit und darum keine Moral sich verkünden läßt."40 Der von dieserUntersuchung angestrebte Ebenenwechsel kann anhand von Adojagfe--..

BIBtiOTHEX

Ebenda, S. 102. ^ » T S ^39

Ebenda, S. 147.

Adorno: ND,S . 271.

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Diese Untersuchung wird die von Schweppenhäuser, Wischke und Kohlmann vorgezeichneten Bahnen der Diskussion über die moralischenGehalte von Adornos Philosophie weitgehend verlassen. Sie behandelt dieThemen Ethik und Moral bei Adorno nämlich nicht mehr vorrangig inihrem traditionellen Bereich, dem des menschlichen Handelns. In diesem

Bereich sind für Adorno allenfalls noch Restbestände des Moralischen inForm eines weniger falschen Lebens zu verwirklichen. So heißt es in der

 Negativen Dialektik, „daß für die Sphäre des Individuums keine Willensfreiheit und darum keine Moral sich verkünden läßt."40 Der von dieserUntersuchung angestrebte Ebenenwechsel kann anhand von Adopieg^

EINLEITUNG

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EINLEITUNG

„neuem kategorischen Imperativ" erläutert werden: „Hitler hat denMenschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativaufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitznicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe." Die Literatur zuAdorno hat die ethischen und moralischen Motive seines Denkens, dieFragen nach dem Gerechten, Guten und Bösen, Richtigen und Falschenbisher fast ausschließlich im Bereich des Handelns untersucht, der nur dieeine Seite seines Imperativs darstellt. Wirklich relevant bleiben sie fürAdorno in der „verwalteten Welt" jedoch nur mehr im Bereich des

Denkens. Pointiert heißt es deshalb an einer Stelle: „Eigentlich gibt eskeine andere Instanz für richtige Praxis und das Gute selbst als denfortgeschrittensten Stand der Theorie." Die Verlagerung von ethischenFragestellungen aus dem Bereich des Handelns in den Bereich desDenkens ist zum einen die Folge von Adornos Urteil, daß die handelndeVerwirklichung des Moralischen in der „verwalteten Welt" blockiert undgesellschaftsverändernde politische Praxis verstellt ist. Zum anderen istsie die Konsequenz von Adornos Kritik des vorherrschenden wissenschaftlichen und philosophischen Denkens, dem er im Anschluß anNietzsche sowohl ein herrschaftlich unterdrückendes als auch eingewalttätiges Verhältnis zu seinen Gegenständen vorwirft. Die Herrschaft

Ebenda, S. 358 (Hervorhebung von mir).

Ein vor kurzem erschienener Aufsatz von Anke Thyen befragt Adornos Denken einStück weit in Richtung einer der in dieser Untersuchung vertretenen Thesen. Die kurzeReflexion geht von dem Aphorismus § 46 der Minima Moralia aus, der den Titel Zur 

 Moral des Denkens trägt. Sie verfolgt jedoch den dort entwickelten Gedanken einerMoral des Denkens nicht weiter und macht ihn auch nicht für eine Interpretation der

 Negativen Dialektik  fruchtbar, wie es in Kapitel VIII versucht wird. Am Ende ihresAufsatzes kommt Anke Thyen zu dem Ergebnis: „Adornos moralphilosophische Reflexionen [...] bieten zur traditionellen Ethik, zumal der Kants, keine wirkliche Alternative" (Anke Thyen: Es gibt darum in der verwalteten Welt auch keine Ethik. Moralund Moraltheorie, in: Dirk Auer; Thorsten Bonacker; Stefan Müller-Doohm (Hrsg.):Die Gesellschaftstheorie Adornos. Themen und Grundbegriffe, Darmstadt 1998, S. 165-

185, 185). Ihre Orientierung an Kant, den sie auch in ihrer Monographie immer wiedergegen Adornos Kritik verteidigt, ist vermutlich dafür verantwortlich, daß sie die vonNietzsche stammenden Elemente - Herrschaft und Gewalt - in Adornos Vernunftkritikweitgehend ausblendet, was ein gravierender Mangel ihrer Monographie ist (AnkeThyen: Negative Dialektik und Erfahrung. Zur Rationalität des Nichtidentischen beiAdorno, Frankfurt am Main 1979). Auch Gerhard Schweppenhäuser bemerkt dieVerlagerung von moralischen Fragestellungen in den Bereich des Denkens, geht ihraber nicht weiter nach: „Die kritische Reflexion der Rationalität auf sich selbst wird -auch - als moralische Notwendigkeit begriffen: ,die Selbstkritik der Vernunft ist dereneigenste Moral'" (Gerhard Schweppenhäuser: Ethik nach Auschwitz, a.a.O., S. 6).

43 Adorno: ND, S. 240.

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EINLEITUNG

des Geistes über sein Anderes - mag es als Welt, Natur oder Nichtidentisches bezeichnet werden - begreift Adorno als „absolut Böses" und alsUnrecht" und demzufolge in genuin moralischen Kategorien. Adornos

Kritik des vorherrschenden Denkens liegt offensichtlich ein ethischerStandpunkt seines eigenen Denkens zugrunde. Ein solcher läßt sich auchfür seine Kritik an politischer und gesellschaftlicher Herrschaft, an derHerrschaft des rationalen Ichs über die Triebe und an verschiedenenweiteren Herrschaftsverhältnissen aufweisen.

Wie bereits erwähnt, bezeichnet Gerhard Schweppenhäuser die„normativen Prämissen" von Adornos Theorie als „das Interesse an der Abschaffung von Leiden und Unrecht, oder: an der Verwirklichung unverkürzter Humanität". Mit Schweppenhäusers treffender Charakterisierungvon Adornos ethischem Standpunkt könnte man sich durchaus zufriedengeben. An diesem Punkt beginnen jedoch erst die Fragen dieser Untersuchung: Was heißt für Adorno in den verschiedenen Herrschaftsverhältnis-sen jeweils Unrecht, und was ist im Gegensatz dazu sein Begriff vonGerechtigkeit? In welchem Verhältnis steht sein Denken zu den verschiedenen traditionellen Gerechtigkeitsbegriffen von Piaton, Aristoteles undMarx? Läßt sich in Adornos Denken nur ein Begriff von Gerechtigkeitund Ungerechtigkeit aufweisen oder mehrere? Und weiter: Wie denkt

Adorno das Leiden, wenn er seine Abschaffung für möglich hält? IstLeiden für ihn demzufolge keine invariante conditio humana? Was wärendann die verschiedenen Ursachen des gesellschaftlich bedingten Leidens?Und vor allem: Wie denkt Adorno den Zusammenhang von Unrecht undLeiden und im Gegensatz dazu den von Gerechtigkeit und Glück? Ist dasLeiden die Folge der Ungerechtigkeit, und würde für ihn gemäß derphilosophischen Tradition aus der Gerechtigkeit das Glück folgen? Washeißt dann aber Glück, und wie ist der Übergang von der Gerechtigkeitzum Glück und diese selbst begründet?

Die grundlegende These dieser Untersuchung lautet, daß Adornos Denken sowohl von einem „moralischen Impuls" angetrieben ist als auch der

moralischen Perspektive den Primat für die Erkenntnis von Wirklichkeit

Ebenda, S. 358; Adorno/Horkheimer: DdA, S. 64; Auch in der Ästhetischen Theorieheißt es etwa: „Erst das starke und entfaltete Subjekt, Produkt aller Naturbeherrschungund ihres Unrechts, hat auch die Kraft, vorm Objekt zurückzutreten und seine Selbstsetzung zu revozieren" (Adorno: AT, S. 397; Hervorhebung von mir).Gerhard Schweppenhäuser: Ethik nach Auschwitz, a.a.O., S. 176; Gerhard Schweppenhäuser bemerkt auch zutreffend: „Adorno stellt sein Denken gewissermaßen a prioriunter einen moralischen Gesichtspunkt. Dem Leiden Wort und Begriff zu geben und anseiner Abschaffung zu arbeiten, ist das Movens kritischer Theorie" (Ebenda, S. 6).

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EINLEITUNG

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zuerkennt und sich im Kern um Ungerechtigkeit und Leiden sowie umGerechtigkeit und Glück dreht. Die Reflexion über den Zusammenhangzwischen der Ungerechtigkeit von Herrschaftsverhältnissen und demLeiden steht im Mittelpunkt von Adornos moralischer Perspektive auf dieWirklichkeit und seiner Analyse des okzidentalen Rationalisierungs- undZivilisationsprozesses. Entsprechend steht die Reflexion über denZusammenhang von Gerechtigkeit, Glück und An-archie im Zentrumseiner utopischen Spekulationen. Das fünfte Kapitel entwickelt die für dasvorherrschende Adornoverständnis wohl am befremdlichsten klingende

These, daß eine materialistische und utopisch hedonistische Ethik denKern von Adornos moralischer Perspektive auf die Wirklichkeit und damitvon Adornos Denken bildet. Der Materialismus ist für Adorno „mit demHedonismus vielfach verflochten" und hat „zu der Dimension derOrganlust wie auch ihres Gegenteils eine entscheidende Beziehung".Tatsächlich waren neben dem Materialisten Epikur auch die französischenMaterialisten Helvetius und Lamettrie zugleich Vertreter des Hedonismus.Materialismus heißt für Adorno vor allem, dem Körper in seiner dialektischen Einheit mit dem Geist den Vorrang zuzuerkennen. Dementsprechend begreift Adorno im Anschluß an Aristippos von Kyrene, denBegründer der hedonistischen Schule, die körperliche Lust als das Guteund das Ziel und die Unlust und das Leiden als das unbedingte Übel.

Seine hedonistische Ethik ist utopisch, weil für ihn in der falschenGesellschaft wahre somatische Lust und damit das Glück nicht verwirklicht werden kann und anstelle der Lust ihr Gegensatz - das Leiden -vorherrscht. Wie das physische Leiden und seine Verneinung der negativeBezugspunkt von Adornos Kritik der ungerechten Wirklichkeit sind, so istdie hedonistische Sozialutopie und die Gerechtigkeit, deren Möglichkeitsbedingung, ihr positiver Bezugspunkt. Gerechtigkeit läßt sich für ihn nurdurch die Lust, die aus ihr hervorgeht, begründen und Ungerechtigkeit nurdurch das Leiden, das sie erzeugt, kritisieren.

Das achte Kapitel setzt sich mit Adornos Negativer Dialektik auseinander und untersucht die Bedeutung der Gerechtigkeit auf erkenntnistheore

tischer Ebene. Es versucht zu zeigen, daß sich moralische Fragestellungenfür Adorno aus der praktischen Philosophie in den Bereich der theoretischen Philosophie verlagern. Damit verliert die klassische moralischeFragestellung „Was sollen wir tun?" an Bedeutung und wandelt sich zuder neuen moralischen Fragestellung „Wie sollen wir denken?" RichtigesDenken verbleibt für Adorno als letzte Möglichkeit und Form richtigen

4 6 A J

Adorno: PhT, Bd. 2, S. 179f.

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EINLEITUNG

Handelns. Daraus ergibt sich als zentrale These d es ac, . __ . , _ „r, 1*. * A J „ • -i J i c t l t e n Kapitels, daß

das positive Resultat von Adornos Kritik des vorherrschenden wissenschaftlichen und philosophischen Denkens die „Moral des Denkens"darstellt. Denken wird moralisch, wenn es ihm gelingt, seinen Gegenständen gerecht zu werden.

Abschließend zeigt die Untersuchung im Rückgriff auf die vorangehenden Kapitel, daß Ethik für Adorno „erste Philosophie"47 ist, weil er nichtnur die Geschichtsphilosophie, die Soziologie, die Psychologie, die

politische Theorie und die Erkenntnistheorie dem Primat der Ethikunterstellt, sondern auch die Kunst und die Ästhetik. Daß Adorno diesewissenschaftlichen Disziplinen dem Primat der Ethik unterstellt, bedeutet,daß er sie selber aus der Perspektive seiner materialistischen und utopischhedonistischen Ethik betreibt und ihre Gegenstände im Hinblick auf Leiden und Ungerechtigkeit und sein Interesse an ihrer Abschaffunganalysiert. Wie bereits Kapitel II und III zeigen, besteht für Adorno nichtnur die wesentliche Aufgabe der Philosophie, sondern auch die der Kunstdarin, menschliches Leiden zu objektivieren und dadurch Wahrheit überdie Wirklichkeit zum Ausdruck zu bringen.48 Als „geschichtlicher

Der Terminus „erste Philosophie" ist die Übersetzung des lateinischen Ausdrucks„prima philosophia", der wiederum auf die „npcörri cpi\oao(pia" von Aristoteles zurückgeht. Für Aristoteles ist die erste Philosophie die höchste Erkenntnis, die dasSeiende als Seiendes betrachtet und die ersten Prinzipien und Ursachen untersucht. Inder zeitgenössischen Philosophie spricht Emmanuel Levinas vom „Primat desEthischen" und davon, daß die „Ebene der Ethik" früher sei als die „Ebene der Ontotogie" (Emmanuel Levinas: Totalität und Unendliches. Versuch über die Exteriorität,Freiburg/München 1987, S. 108, 289). Zumindest an einer Stelle äußert er explizit: „DieErste Philosophie ist eine Ethik" (Emmanuel Levinas: Ethik und Unendliches. Gesprächmit Phillipe Nemo, Wien 1986, S. 59). Obwohl es der Titel Ethik als erste Philosophienahelegen könnte, werden in dieser Untersuchung nicht die bestehenden Gemeinsamkeiten - etwa die Kritik des quantifizierenden und des identifizierenden Denkens - vonAdorno und Levinas herausgearbeitet. Denn die Ethik, die nach der von mir gewähltenFormel „erste Philosophie" bei Adorno ist, gehört einer anderen Gattung an als die,

deren Primat Levinas herausstellen will. Zwar geben beide Denker weder konkreteHandelungsmaximen noch formulieren sie allgemeine Gesetze. Aber während dasEthische für Levinas aus der unmittelbaren Begegnung mit dem anderen Menschenentspringt, dessen Antlitz mich in die Verantwortung ruft, entsteht es für Adorno als einaus der Negation der körperlichen Unlust erwachsender Impuls. Zudem kommt über dieunendliche Andersheit des Anderen bei Levinas eine genuin religiöse Dimension inseine Philosophie, die - wie diese Untersuchung zeigen wird - bei Adorno nicht vorhanden ist. Trotz ihrer jüdischen Herkunft sind beide Philosophen in heterogenenDenktraditionen beheimatet. Während Levinas sich vor allem Edmund Husserls Phänomenologie und dem Offenbarungsdenken Franz Rosenzweigs verpflichtet fühlt,schließt Adornos Denken vor allem an Hegel, Marx und Nietzsche an.Daß der enorme Stellenwert, den das Leiden in Adornos Denken einnimmt, von der

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dersetzung mit diesem Interpretationsmuster im siebten Kapitel erfolgt,entwickelt die gesamte Untersuchung einen Argumentationszusammenhang, der es als unangemessen erweisen wird. Dasselbe gilt für dasInterpretationsparadigma vom Primat der Ästhetik in Adornos Philosophie, das im Schlußkapitel explizit thematisiert wird.

Die ältere Forschung hat Nietzsches Einfluß auf Adorno bereits nachgewiesen. In der 1963 gehaltenen und erst 1996 publizierten Vorlesungüber Probleme der Moralphilosophie bekennt Adorno sogar, daß erNietzsche, „wenn ich aufrichtig sein soll, am meisten von allen sogenann

ten großen Philosophen verdanke - in Wahrheit vielleicht mehr noch alsHegel". Adornos Eingeständnis wirft bereits ein erstes kritisches Lichtauf das vorherrschende Interpretationsmuster, das ihn als primär theologisch inspirierten und motivierten Denker begreift. Diese Untersuchungnimmt Adornos Bekenntnis ernst und bemüht sich darum, den überall inAdornos Denken präsenten Einfluß von Nietzsche - sei es im Text, sei esin den Anmerkungen - en passant explizit zu machen.

Sowohl Schweppenhäuser als auch Kohlmann wählen zur Charakterisierung der ethischen und moralischen Gehalte von Adornos Philosophieden Terminus „negative Moralphilosophie". Als durchaus zutreffendeGründe für diese Wahl führen sie an, daß Adorno das falsche Lebenkritisch negiert und weder ein affirmatives Moralprinzip aufstellt nocheinen ethischen Handlungsimperativ aufrichtet. Hinzu kommt, daß sichAdorno von dem Begriff „Ethik" aus inhaltlichen Gründen ausdrücklichdistanziert. Adorno hat aber auch an den Begriffen „Moral" und„Moralphilosophie" einiges auszusetzen, etwa daß letzterer das„irrationale Moment des moralischen Handelns" nicht erfaßt. Trotzdemäußert er, „daß es besser ist, wie sehr auch kritisch an dem Begriff derMoral festzuhalten". Einen Haupteinwand gegen die Begriffe „Ethik"und „Ethos" formuliert Adorno sowohl in der Vorlesung Probleme der 

Norbert W. Bolz: Nietzsches Spuren in der Ästhetischen Theorie, in: Burkhard Lindner;

W. Martin Lüdke (Hrsg.): Materialien zur ästhetischen Theorie Theodor W. Adornos.Konstruktion der Moderne, Frankfurt am Main 1980, S. 369-396; Bemd Bräutigam:Reflexionen des Schönen - Schöne Reflexion. Überlegungen zur Prosa ästhetischerTheorie - Hamann. Nietzsche. Adorno, Bonn 1975; Peter Pütz: Nietzsche im Lichte derkritischen Theorie, in: Nietzsche Studien 3 (1974), S. 175-192; Norbert Rath: ZurNietzsche-Rezeption Horkheimers und Adornos, in: Willem van Reijen; GunzelinSchmid Noerr (Hrsg.): Vierzig Jahre Flaschenpost: ,Dialektik der Aufklärung' 1947 bis1987, Frankfurt am Main 1987, S. 73-110; Heinz Röttgers: Nietzsche und die Dialektikder Aufklärung, Berlin 1972.Adorno: PdM, S. 255.Ebenda, S. 23, 19f., 20-26.

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EINLEITUNG

 Moralphilosophie von 1956 als auch in der von 1963: „Daraus, wie wirnun einmal beschaffen sind, soll abgeleitet werden, wie wir uns zuverhalten haben. [...] Die moralische Ordnung ist keine natürliche, sondernhängt mit der Vernunft zusammen, damit, wodurch wir über die Naturhinausragen. Ethos steht in scharfem Gegensatz zur Kantischen Moralphilosophie."58 Anzumerken wäre hier, daß Adorno Kants Moralphilosophiewegen ihrer repressiven und damit unmoralischen Gehalte scharf kritisiertund zurückweist. So spricht er etwa von der „Verabsolutierung desTriebverzichts zum kategorischen Imperativ bei Kant". Adornosangeführten Einwand gegen den Begriff „Ethik" interpretiert Schweppenhäuser folgendermaßen: „Im geistigen Klima der fünfziger Jahre hält er inihm die naturalistische Tendenz für wirksam, die Wesensart des Menschen, sein bloßes Sosein, zum Handlungsmaßstab zu verklären."Hinzufügen ließe sich, daß es für Adorno - im Gegensatz zu Aristoteles -keine unveränderliche „Wesensart" oder „Wesensbeschaffenheit" desMenschen gibt, die es zu verwirklichen gilt, da er das „Wesen" bzw. dasAllgemeine des Besonderen als geschichtlich und gesellschaftlichveränderbare Variable begreift. Ein weiterer, mit dem bereits zitiertenEinwand von Adorno zusammenhängender Kritikpunkt gegen den Begriff „Ethik" lautet: Durch „die Nivellierung der Problematik von Moral auf 

Ethik wird von vornherein das entscheidende Problem der Moralphilosophie, nämlich das Verhältnis des einzelnen Individuums zu dem Allgemeinen, eskamontiert, es wird weggeschaffen".61 Das Allgemeine meinthier die Gesellschaft, die für Adorno den Einzelnen durch und durchformt, ein richtiges Leben nicht zuläßt und deren prägender Einfluß voneiner essentialistisch-naturalistischen Ethik - aber auch vom Existentialismus - ausgeblendet wird. Vergegenwärtigt man sich, daß Aristoteles dieDisziplinen Ethik und Politik als Einheit denkt, dann ist Adornos letztererEinwand schwer nachvollziehbar.

Gegen den von Schweppenhäuser und Kohlmann für die ethischen undmoralischen Gehalte von Adornos Denken verwendeten Terminus der

„negativen Moralphilosophie" ist mittlerweile von Saskia Wendel einEinwand erhoben worden:

Zitiert nach: Gerhard Schweppenhäuser: Ethik nach Auschwitz, a.a.O., S. 7; Adorno:

PdM, S. 23, 26.

Adorno: PdM, S. 206.

Gerhard Schweppenhäuser: Ethik nach Auschwitz, a.a.O., S. 7.Adorno: PdM, S. 23, 26; Die These, daß Adorno ein Allgemeines im BesonderenGuniversalia sunt in rebus') annimmt und dieses als geschichtlich und gesellschaftlichveränderbar begreift, wird in Kapitel VIII (1) entfaltet.

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EINLEITUNGEINLEITUNG

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Die Kennzeichnung von Adornos Denken als ,negative Moralphilosophie'durch Schweppenhä user ist jedo ch meines Erachtens zu hinterfragen. Dennder Terminus ,Moralphilosophie' scheint mir für die Reflexion Adornosnicht zutreffend zu sein, geht doch gerade dieser Terminus von der Vorstellung einer Systematik aus, die Adorno negieren will. Adorno will wedereine Ethik noch eine Moralphilosophie schreiben, sondern eine KritischeTheorie der Gesellschaft, in die die ethische Frage nach der Lebensführungeingebettet ist. Adornos philosophisches Denken als ganzes ist ,ethisch' -nicht im Sinne eines Systems oder einer Disziplin, sondern im Sinne derFrage nach dem gelingenden Leben als Reflexion auch und gerade des

geschädigten Lebens'.

62

Zugunsten der Kennzeichnung von Adornos Philosophie als „negativeMoralphilosophie" ließe sich anfuhren, daß ihr nach Schweppenhäuser ein„esprit systematique"  zugrundeliegt. Obwohl das natürlich nicht Adornos Selbstverständnis ist, trifft die These Schweppenhäusers nicht minderzu. Trotzdem evoziert der Terminus „Moralphilosophie" die Vorstellungeiner rigiden Systematik und steht deshalb zu Adornos Denken quer.

Obwohl Adorno größere Einwände gegen den Terminus „Ethik" als gegen die Termini „Moral" und „Moralphilosophie" hat, bin ich der Auffassung, daß insbesondere für die hedonistische Schicht seines Denkens der

Terminus Ethik angemessener ist. Nachdem die verschiedensten Einwände gegen beide Termini hier zumindest kurz angesprochen wurden,gebrauche ich in dieser Untersuchung die Termini Moralphilosophie undEthik weitgehend synonym; je nachdem, wie es mir von der Sache herangemessener erscheint. Hervorzuheben ist aber nochmals, daß imZentrum von Adornos Moralbegriff der Begriff der Gerechtigkeit steht,den es in dieser Untersuchung zu klären gilt. Adornos Denken dreht sich

Saskia Wendel: Jean-Francois Lyotard: Aisthetisches Ethos, München 1997, S. 20;Saskia Wendeis Charakterisierung, daß Adornos Denken als ganzes „ethisch" ist,entspricht genau meiner Auffassung.

Gerhard Schweppenhäuser: Ethik nach Auschwitz, a.a.O., S. 15.

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EINLEITUNG

um einige Kernprobleme und macht - wie bereits häufig festgestellt

wurde64 - keine grundlegenden Wandlungen durch.

Friedemann Grenz: Adornos Philosophie in Grundbegriffen, Frankfurt am Main 1974,S- 12; Helga Gripp: Theodor W. Adorno. Erkenntnisdimensionen negativer Dialektik,Paderborn 1996, S. 20; Fredric Jameson: Spätmarxismus. Adorno oder die Beharrlichkeit der Dialektik, Hamburg 1991, S. 7.

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Kapitel IAdornos antisystematisches Selbstverständnis

In seiner programmatischen Antrittsrede als Privatdozent für Philosophie

von 1931 bezeichnet Adorno gleich zu Beginn eine zentrale Annahmetraditionellen Philosophierens als Illusion: „daß es möglich sei, in Kraftdes Denkens die Totalität des Wirklichen zu ergreifen". Die idealistischePhilosophie, die einen derartigen philosophischen Totalitätsansprucherhoben hatte, verortet Adorno in der Krise. Trotzdem stellt sie für seinDenken zeitlebens eine Herausforderung dar, was sich deutlich daranzeigt, daß er sich mit ihr in seinen Werken immer wieder eingehend undäußerst kritisch auseinandersetzt. Adornos Kritik am deutschen Idealismusrichtet sich selbstverständlich auch gegen dessen Darstellungsform, gegendas System. Er wirft der Systemphilosophie generell vor, sich die Totalitätdes Wirklichen gewalttätig und restlos einverleiben zu wollen unddadurch einen moralisch verwerflichen Machtanspruch gegenüber derWelt zu bekunden. Eine ähnliche Auffassung findet sich bereits beiFriedrich Nietzsche, für den Erkenntnis bekanntlich dem Willen zurMacht untersteht. Obwohl Nietzsche die für ihn unaufhebbare Verknüpfung von Vernunft und Macht im Gegensatz zu Adorno bejaht, kritisiert erden „Willen zum System" insofern als unmoralisch, als er ihm einen„Mangel an Rechtschaffenheit" vorwirft. Adornos Kritik des systematischen Denkens verdankt sich in beträchtlichem Maße Nietzsche, was erkeineswegs verschweigt:

Nietzsche ist ja so weit gegangen, daß er auf Grund der prinzipiellen Un

angemessenheit der Totalität der Welt an unsere Bewußtseinsformen dieKonsequenz gezogen hat, das System sei unredlich, das heißt, es sprichtdem Subjekt eine Macht zu, die ihm eigentlich gar nicht gebührt.

65

Adorno: Die Aktualität der Philosophie, in: Adorno: GS 1, Frankfurt am Main 1973, S.325-344, 325f.Adorno: ND, S. 33ff.; Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung, KSA, Bd. 6, Berlin/New York 1988, S. 63.

>? Adorno: PhT, Bd. 2, S. 265; Adorno: ND, S. 34.

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KAPITEL IADORNOS ANTISYSTEMATISCHES SELBSTVERSTANDNIS

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Im idealistischen Denken, etwa bei Fichte, maßt sich das rationale Ich an,die gesamte Wirklichkeit, das Objekt als Nicht-Ich, aus sich heraus zuentwickeln und damit das System zu stiften. Die Setzung des Objektsdurch das Subjekt, die auch Hegels System zugrundeliegt, wird vonNietzsche und Adorno als hybrider Machtanspruch des Subjekts, das sichvermessen den Primat zuspricht, zurückgewiesen.

Die Folgerungen, die Adorno aus seiner Kritik der großen Systeme desdeutschen Idealismus für seine eigene Philosophie und deren Darstellungzieht, gehen soweit, daß er in der Minima Moralia Nietzsches aphori

stischen Stil adaptiert. Die „volle Konsequenz aus der Kritik am System" vermag der Essay zu ziehen, dessen Form Adorno zum Ideal derphilosophischen Darstellung erhebt. Der antisystematische Essay verfährt„methodisch unmethodisch". Er definiert seine Begriffe nicht, sondernführt sie „unmittelbar" so ein, wie er sie aus der Sprache empfängt, in dersie durch ihr Verhältnis zueinander bestimmt und präzisiert sind: „Weildie lückenlose Ordnung der Begriffe nicht eins ist mit dem Seienden, zielter nicht auf geschlossenen, deduktiven oder induktiven Aufbau." In der

 Negativen Dialektik  begreift Adorno die Philosophie als eine„Verhaltensweise, die nichts Erstes und Sicheres hütet". Philosophiekann und soll folglich nicht more geometrico von Definitionen undAxiomen ausgehen, Lehrsätze aufstellen und beweisen und aus diesen

weitere Sätze und Wahrheiten deduzieren. Adornos Philosophie reklamiertfür sich weder ein sie tragendes Fundament noch den Besitz von unmittelbar einleuchtenden Grundsätzen. Nicht einmal die Dialektik selbst kann„als eine wie immer auch modifizierte, doch tragende Struktur festgehalten werden". Adorno begreift philosophisches Denken als ständigeBewegung, welche die dauernden Veränderungen einer durch und durchgeschichtlich und gesellschaftlich bestimmten Wirklichkeit, der es sicherkennend anmessen will, nachzuvollziehen hat. Dabei verwehrt er sich

 jedoch gegen jeglichen Relativismus und fordert „Verbindlichkeit ohneSystem"."

Das hier kurz skizzierte methodische und theoretische Selbstverständnis

wird von Adornos Philosophie in ihrer Durchführung nicht konsequentdurchgehalten. Vor allem seine Einschätzung, nichts „Erstes und

Adorno: Der Essay als Form, in: Adorno: NL, S. 16.Ebenda, S. 21.

Ebenda, S. 17,20.

Adorno: ND, S. 44.

Ebenda, S. 140.

Ebenda, S. 39.

30

Sicheres" zu hüten, wird sich im folgenden als unhaltbar erweisen.Zweifellos ist Adornos Rede von der „Lossage des Denkens vom Erstenund Festen" ihrer Intention nach gegen jede Form von Ursprungs- undGrundphilosophie gerichtet. Adorno wendet sich kritisch gegen jeglicheprima philosophia und Ontologie sowie gegen Heideggers Fundamental-ontologie. Er weist nicht nur Descartes' Anspruch zurück, im cogito einezweifelsfreie Gewißheit und einen sicheren Ausgangspunkt des Denkensgefunden zu haben, sondern wendet sich auch gegen Kants Erstes, gegendie synthetische Einheit der Apperzeption. Am Idealismus kritisiert

Adorno generell, daß er von der Fiktion eines absoluten Anfangs imDenken ausgeht. Trotz dieser Zurückweisung jeder Form von Ursprungsund Grundphilosophie läßt sich in Adornos Philosophie spätestens seit der

 Dialektik der Außlärung - so eine These des folgenden Kapitels - ein„Erstes und Sicheres" und damit ein Fundament aufweisen, das ihrzugrundeliegt: die Evidenz der subjektiven Leidenserfahrung. Daß dieseEvidenz für Adorno mit der gleichermaßen evidenten körperlichenNegation des Leidens einhergeht, kann erst im fünften Kapitel genaueruntersucht werden.

74 Ebenda, S. 44.

Adorno: Der Essay als Form, in: Adorno: NL, S. 22; Adorno: ND, S. 142.

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Kapitel IIPhilosophie als Objektivation des Leidens

Die Evidenz der subjektiven Leidenserfahrung läßt sich für Adorno

genausowenig bezweifeln, wie die Selbstpräsenz im Denken für Descar-tes. Eine Differenz besteht jedoch darin, daß Descartes sein philosophisches Fundament im Denken findet, während das Leiden dem Denkenvorhergeht. Im Gegensatz zu Descartes bemüht sich Adorno auch nichtabsichtsvoll darum, mit Hilfe des methodischen Zweifels eine unerschütterliche Grundlage zu finden. Die unhintergehbare Präsenz des Leidensdrängt sich Adorno durch die geschichtliche Situation auf, in der er sichbefindet: „Leiden ist Objektivität, die auf dem Subjekt lastet"7 . Als demphilosophischen Denken Vorhergehendes liegt das Leiden diesemzugrunde und motiviert es. Die Hauptaufgabe, die Adorno der Philosophiezuweist, besteht darin, dem Leiden zur Sprache zu verhelfen und damitder Macht des Bestehenden Widerstand zu leisten. Demgegenüber tretenalle traditionellen Themen und Fragestellungen der Philosophie in denHintergrund. Am Anfang des Philosophierens steht für Adorno nicht wiefür Aristoteles das Staunen und das natürliche Streben nach Wissen,sondern das Leiden und das moralische Bedürfnis, es sprachlich auszudrücken. Die Kernthese dieses Kapitels lautet, daß für Adorno dieErfahrung des Leidens die notwendige und die Evidenz der begrifflichenObjektivation dieser Erfahrung die hinreichende Bedingung für wahreErkenntnis über die Wirklichkeit ist. Diese These impliziert selbstverständlich, daß das Leiden für sein Denken von zentraler und fundamentaler Bedeutung ist.

Spätestens seit den frühen 40er Jahren wird die Existenz des Leidens

für Adornos Denken von zentraler Bedeutung. Die von Horkheimer undAdorno gemeinsam verfaßte Dialektik der Aufklärung, die 1944 erstmals

Adorno: ND, S. 29; Rene Descartes: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie,Hamburg 1960, S. 15, 22f.

Adorno: ND, S. 202; Aristoteles: Metaphysik. Erster Halbband: Bücher I (A) - VI (E),Hamburg 1989, S. 3, 13, 980 a 21, 982 b llf.; Bereits Piaton begreift die„Verwunderung" als den „Anfang der Philosophie" (Piaton: Theätet, Hamburg 1988, S.51, 155 d).

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KAPITEL II PHILOSOPHIE ALS OBJEKTIVATION DES LEIDENS

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veröffentlicht wurde, formuliert die objektive Präsenz des Leidens bereitsim zweiten Satz der ersten Abhandlung:

Seit je hat Aufklärung im umfassenden Sinn fortschreitenden Denkens dasZiel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herreneinzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichentriumphalen Unheils.

Aufklärung wird hier nicht als geschichtlicher Epochenbegriff, sondern als

fortschreitender okzidentaler Rationalisierungs- und Intellektualisierungs-prozeß verstanden, der nicht die Freiheit, die Humanität und das Glück derMenschheit bewirkt, sondern das Unheil. Unter diesem Begriff wird allgemein ein schlimmes und verhängnisvolles Geschehen verstanden, daseinem oder vielen Menschen großes Leid und großen Schaden zufügt.Unheil formuliert einen objektiven Tatbestand und zielt weniger auf dassubjektive Erleben ab. Analog zu dieser düsteren Zeitdiagnose heißt es zuBeginn der Vorrede:

Was wir uns vorgesetzt hatten, war tatsächlich nicht weniger als die Erkenntnis, warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen

Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt.

Die hoffnungsfrohen Erwartungen, die noch der Großteil der Aufklärungsphilosophen des 18. Jahrhunderts in das „Projekt der Moderne" gesetzthatten, schlagen nach Horkheimer und Adorno in ihr genaues Gegenteilum: der Fortschritt der Vernunft führt in die Barbarei. Damit attestierensie ihrer Zeit Roheit, Unmenschlichkeit und Grausamkeit. Barbarei

 jeglicher Form geht zweifelsohne mit beträchtlichem menschlichenLeiden einher. Dieses Scheitern der Menschheit, den mißlungenenVersuch, sich mit Hilfe der Vernunft von der bedrohlichen Übermacht derNatur und dem Mythos zu emanzipieren, wollen Horkheimer und Adorno

in der Dialektik der Aufklärung durch eine „philosophische Konstruktionder Weltgeschichte"80 erklären.

Die objektive Präsenz des Leidens wird sowohl implizit zu Beginn derVorrede als auch explizit am Anfang der für das ganze Werk grundle-

Adorno/Horkheimer: DdA, S. 25.Ebenda, S. 16 (Hervorhebung von mir).

80 Ebenda, S. 254.

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senden ersten Abhandlung formuliert. Diese Formulierungen gehennatürlich nicht zufällig der weiteren Darstellung der Dialektik desokzidentalen Rationalisierungs- und Zivilisationsprozesses voran. Sieweisen vielmehr darauf hin, daß die Objektivität des Leidens für Horkheimer und Adorno eine unbezweifelbare Grundannahme darstellt und alssolche spätestens seit den 40er Jahren den Ausgangspunkt ihres philosophischen Denkens bildet. Vergegenwärtigt man sich die damaligeweltgeschichtliche Situation, wird verständlich, daß das Leiden zu dieserZeit in den Mittelpunkt ihres Denkens rückt. Im Westen durchläuft Europa

die Epoche des Faschismus, die ihren Höhepunkt im kriegerischen undantisemitischen Wüten des nationalsozialistischen Deutschlands erreicht.Im Osten führt Japan seit 1937 den Angriffskrieg gegen China, während inder Sowjetunion unter Stalin Massenterror und Schauprozesse stattfinden.Daß die Sowjetunion ihre Rolle als Hoffnungsträger für die Verbreitungeiner wahrhaft gerechten sozialistischen Gesellschaft erfüllen kann, wirddadurch immer unwahrscheinlicher. Dies wiegt um so schwerer, alsHorkheimer und Adorno spätestens seit Beginn der 40er Jahre ausvielerlei Gründen, die im sechsten Kapitel noch untersucht werden, ihreHoffnungen auf revolutionäre politische Praxis in den westlichen Staatenaufgeben. Damit schwindet jede Aussicht auf die weitgehende Abschaf

fung des Leidens, die für Adorno zumindest potentiell durch die Menschheit zu verwirklichen wäre. Nach Auschwitz und Hiroshima verbleibtAdorno nur noch, Philosophie „im Angesicht der Verzweiflung" zubetreiben.

Daß die Objektivität des Leidens Adornos Denken als unbezweifelbaresFundament zugrundeliegt, läßt sich auch daran belegen, daß die Dialektik der Aufklärung die Existenz des Leidens weder eigens philosophischnachzuweisen noch zu beweisen versucht. Die zu Beginn der Vorredeerklärte Zielsetzung des Werkes besteht vielmehr darin, die geschichtlichen Gründe zu erkennen und aufzuzeigen, die das Leiden verschuldethaben, das als solches vorausgesetzt wird. Durch dieses Vorhabenbeabsichtigen Horkheimer und Adorno, dem schwerwiegenden Mangel

abzuhelfen, daß das „der Zivilisation so tief innewohnende Leiden seinRecht in der Erkenntnis"82 bisher nicht erlangt hat. Dementsprechendheißt es in der Negativen Dialektik: „Scham gebietet der Philosophie, dieEinsicht Georg Simmeis nicht zu verdrängen, es sei erstaunlich, wie wenig

Adorno: ND, S. 203; Adorno: MM, S. 333.2 Adorno/Horkheimer: DdA, S. 200.

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O l

man ihrer Geschichte die Leiden der Menschheit anmerkt." Die Existenzdes Leidens fordert die Erkenntnis heraus und stellt an sie den moralischen Anspruch, daß sie dem Leiden gerecht wird. Dazu muß sie sich auf das Leiden einlassen und versuchen, Einsicht in dessen Gründe zugewinnen. Bisher wurde das geschichtliche Leiden vom philosophischenDenken häufig verdrängt oder, wie in Hegels Geschichtsphilosophie, „zurPositivität des sich realisierenden Absoluten" verklärt. Damit kritisiertAdorno, daß Hegel das geschichtliche Leiden dadurch rechtfertigt, daß eres als notwendiges Moment einer durch Gott gelenkten vernünftigen

Weltgeschichte begreift, deren positiver Endzweck in der Verwirklichungder Freiheit besteht. Dagegen erhebt Adorno in einer zentralen Passageder Negativen Dialektik  den Ausdruck des Leidens zur vorrangigenAufgabe der Philosophie, die auf diese Weise der Macht des BestehendenWiderstand zu leisten hat. Aus diesem Abschnitt, in dem Adorno nicht nurseinen Philosophiebegriff, sondern auch sein Verständnis von Wahrheitund Erkenntnis formuliert, wird in der Literatur zu Adorno zwar öfterszitiert. Er wird aber nicht eingehend analysiert und zumeist auch nicht inseiner fundamentalen Bedeutung für Adornos Denken erkannt.86

Die Passage, die mit Spekulatives Moment  überschrieben ist, kritisiertHegels Begriff der Spekulation und die überkommene Idee von philoso

phischer Tiefe und versucht diese zugleich aufzuheben bzw. zu retten. Ingewohnter Abgrenzung von der traditionellen Metaphysik und ihrenHauptthemen fragt Adorno nach dem Gegenstand der Philosophie. Erbetont, daß sich Philosophie nicht darauf verlassen kann, daß ihr die

" Adorno: ND, S. 156.

Ebenda, S. 314; Adornos Kritik der Verklärung des Leidens richtet sich auch gegenLeibniz und Max Scheler (Adorno: PhT, Bd. 1, S. 170f.).

So heißt es etwa bei Hegel: „Unsere Erkenntnis geht darauf, die Einsicht zu gewinnen,daß das von der ewigen Weisheit Bezweckte, wie auf dem Boden der Natur, so auf demBoden des in der Welt wirklichen und tätigen [Geistes] herausgekommen ist. UnsereBetrachtung ist insofern eine Theodizee, eine Rechtfertigung Gottes, welche Leibniz

metaphysisch auf seine Weise in noch abstrakten, unbestimmten Kategorien versuchthat: das Übel in der Welt überhaupt, das Böse mit inbegriffen, sollte begriffen, derdenkende Geist mit dem Negativen versöhnt werden; und es ist in der Weltgeschichte,daß die ganze Masse des konkreten Übels vor die Augen gelegt wird" (Georg WilhelmFriedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Band I: DieVernunft in der Geschichte, Hamburg 1980, S. 48).

Jürgen Förster: Kunst als Statthalter der Utopie. Zum Verhältnis von Versöhnung undUnversöhnlichkeit, in: Dirk Auer, Thorsten Bonacker, Stefan Müller-Doohm (Hrsg.),a.a.O., S. 81-94, 85; Reinhard Kager: Herrschaft und Versöhnung, Frankfurt am Main1988, S. 195; Gerhard Kaiser, a.a.O. S. 304; Ulrich Kohlmann, a.a.O., S. 165, 239;Gerhard Schweppenhäuser: Ethik nach Auschwitz, a.a.O., S. 6.

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Behandlung der großen Gegenstände" der abendländischen Metaphysikentspricht und erklärt, daß „sie die eingeschliffenen Bahnen der philosophischen Reflexion zu fürchten" hat. Zudem hebt er hervor, daß Philosophie ein ihr wesentliches und emphatisches Interesse hat, also keineswegsals wertfreie und rein deskriptive Wirklichkeitsbetrachtung mißverstandenwerden darf. Seine Überzeugung ist, daß sich die Tiefe einer Philosophiedaran messen läßt, inwieweit sie der „Macht des Bestehenden" widersteht.In derartigem Widerstand überlebt für Adorno das „spekulative Moment":

Worin der Gedanke hinaus ist über das, woran er widerstehend sich bindet,ist seine Freiheit. Sie folgt dem Ausdrucksdrang des Subjekts. Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit.Denn Leiden ist Objektivität, die auf dem Subjekt lastet; was es als seinSubjektivstes erfährt, sein Ausdruck, ist objektiv vermittelt.

Adorno begreift das philosophische Denken des erkennenden Subjekts alsintegrales Moment einer übermächtigen und zwanghaft verfaßten gesellschaftlichen Realität, die als „Objekt der geistigen Erfahrung an sich,höchst real, antagonistisches System" ist. Das Denken ist an die Macht

' des Bestehenden, an die „verwaltete Welt", nicht nur zwangsläufig

gebunden, sondern soll diese auch bewußt zum Gegenstand der geistigenErfahrung machen und ihr im Denken Widerstand leisten. Die Voraussetzung dazu ist die Freiheit des erkennenden Subjekts: „Die Freiheit derPhilosophie ist nichts anderes als das Vermögen, ihrer Unfreiheit zumLaut zu verhelfen."89 Über diese geistige Freiheit und die mit ihr einhergehende Fähigkeit zu philosophischer Erfahrung verfügen aber für Adorno„wegen des gegenwärtigen Drucks kollektiver Regression" lediglicheinige Privilegierte, die sich dem enormen gesellschaftlichen Anpassungsdruck widersetzen können. Deren Aufgabe besteht darin, und hiertritt Adornos Selbstverständnis als kritischer Theoretiker deutlich zutage,„mit moralischem Effort, stellvertretend gleichsam, auszusprechen, was

die meisten, für welche sie es sagen, nicht zu sehen vermögen oder sichaus Realitätsgerechtigkeit zu sehen verbieten".90 Der zentrale Gegenstandder Philosophie ist die gesellschaftliche Unfreiheit und das durch sieverursachte Leiden. Adorno ist der Auffassung, daß im sprachlichen

87 . ,

Adorno: ND, S. 27-29 (Hervorhebung von mir).

Ebenda, S. 22.

Ebenda, S. 29.90

ebenda, S. 51 f. (Hervorhebung von mir).

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denen er sich durch Kultmasken und Bilder ähnlich macht. Bild undSache, Mensch und Natur stehen noch in einem Verhältnis verwandtschaftlicher Ähnlichkeit und Nähe. Der weitere Verlauf des okzidenta-len Rationalisierungsprozesses führt für Horkheimer und Adorno bekanntlich durch die sich immer entschiedener durchsetzende rationaleNaturbeherrschung zu einer zunehmenden Distanz von Mensch und Naturbzw. von Subjekt und Objekt. Parallel dazu bewirkt die zur Vorherrschaftgelangende Form von instrumenteller Rationalität eine zunehmendeEntmythologisierung, Tabuisierung und Verdrängung mimetischen

Verhaltens. Die Folge davon ist, daß das vorherrschende wissenschaftlicheund philosophische Denken „mit dem mimetischen Zauber die Erkenntnistabuiert, die den Gegenstand wirklich trifft".

Dagegen ist es das erklärte Ziel von Adornos Philosophie, „mit denMitteln des Begriffs jenes Moment des Ausdrucks, jenes mimetischeMoment zu retten oder wiederherzustellen". Damit das gelingt, ist esfür Adorno unverzichtbar, daß der Erkennende die Fähigkeit hat, geistigeund ursprüngliche Erfahrungen über die Welt zu machen. Denn in derErfahrung des Objekts „findet das mimetische Moment der ErkenntnisZuflucht, das der Wahlverwandtschaft von Erkennendem und Erkann-

103

tem". Das mimetisch expressive Moment steht für Adorno also inengem Zusammenhang mit der individuellen Erfahrung, welche dieVoraussetzung dafür darstellt, Wahrheit über die Welt zum Ausdruckbringen zu können. Plausibel wird dieser Zusammenhang durch dieEinsicht, daß sich in der individuellen Erfahrung Subjekt und Objektdurchdringen: „Zunächst ist in der Erfahrung selber, die die Philosophiezur Sprache bringen möchte, ein Objektives enthalten. Es gibt keineErfahrung, in der nicht ein Erfahrenes wäre." Die objektiven Gehalte inder subjektiven Erfahrung gewährleisten für Adorno die Ähnlichkeit undAffinität von Erkanntem und Erkennenden und damit die generelleMöglichkeit von Erkenntnis und Wahrheit. Philosophie, wie Adorno sieversteht, bemüht sich nicht in traditioneller Weise um Wahrheit über

Ebenda, S. 32f.; Die Verknüpfung von Mimesis und Rationalität auf der magischenStufe wurde zuerst von de la Fontaine herausgearbeitet (Michael de la Fontaine: DerBegriff der künstlerischen Erfahrung bei Adorno, Frankfurt am Main 1977, S. lff).Weiter untersucht wurde sie von Lüdke (W. Martin Lüdke: Anmerkungen zu einer„Logik des Zerfalls": Adorno - Beckett, Frankfurt am Main 1981, S. 56ff.).Horkheimer/Adorno: DdA, S. 36; Adorno: ZME, S. 148; Adorno: AT, S. 489.Adorno: PhT, Bd. 1,S. 81.Adorno: ND, S. 55.Adorno: PhT, Bd. 1,S. 84f.

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Gegenstände und Sachverhalte, indem sie ihre Sätze und Urteile diesenanzumessen versucht. Sie zielt nicht darauf ab, die Realität widerzuspiegeln oder abzubilden. Statt dessen ist sie bestrebt, das auszudrücken, wasihr an der Welt aufgeht, was sie an dieser als etwas Wesentliches erfährt.Diese ursprüngliche Erfahrung will sie durch Sprache objektivieren bzw.durch stringente Darstellung verbindlich machen. Adornos ursprünglicheund für ihn unbezweifelbare, weil evidente Erfahrung von der Welt ist dieErfahrung des Leidens. Insofern kann er in der Vorlesungsstunde, in der erdiesen Philosophiebegriff entfaltet, sagen, daß Philosophie „den Schmerz

in das Medium des Begriffs übersetzen" will. Analog dazu heißt es inder Negativen Dialektik:

Tatsächlich gibt es eine zwar fehlbare, doch unmittelbare, geistige Erfahrung des Wesentlichen und Unwesentlichen, welche das wissenschaftlicheOrdnungsbedürfnis nur gewalttätig den Subjekten ausreden kann. Wo solche Erfahrung nicht gemacht wird, bleibt Erkenntnis unbewegt undfruchtlos. Ihr Maß ist, was den Subjekten als ihr Leiden widerfahrt. Parallelzur theoretischen Nivellierung von Wesen und Erscheinung büßen freilichauch subjektiv die Erkennenden mit der Fähigkeit zu Leiden und Glück dasprimäre Vermögen ein, Wesentliches und Unwesentliches zu sondern, ohnedaß man dabei recht wüßte, was Ursache ist, was Folge. Der obstinateDrang, lieber über die Richtigkeit von Irrelevantem zu wachen, als überRelevantes, mit der Gefahr des Irrtums, nachzudenken, zählt zu den ver-breitetsten Symptomen regressiven Bewußtseins.

Ob Philosophie über die Wirklichkeit fruchtbare und relevante Erkenntnisse gewinnen kann, läßt sich für Adorno daran messen, wieviel sie vondem Leiden zum Ausdruck bringt, das auf der Menschheit lastet. Denn dieAufgabe der Philosophie besteht für ihn wie für Hegel darin, das „was ist zu begreifen". Insofern ist Philosophie auch für Adorno „ihre Zeit inGedanken erfaßt".107  Was er an seiner Zeit als das Wesentliche begreift,ist selbstverständlich nicht wie für Hegel die Vernunft, sondern das

Leiden, das durch die unvernünftige Wirklichkeit hervorgebracht wird. Andiesem Punkt läßt sich schließlich auch verständlich machen, warumAdorno das Bedürfnis, „Leiden beredt werden zu lassen", als Bedingungaller philosophischen Wahrheit begreift. Trotz Nietzsches radikaler

Ebenda, S. 83; vgl. Adorno: ND, S. 18.

Adorno: ND, S. 171f. (Hervorhebungen von mir).Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Hamburg1955, S. 16.

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Vernunftkritik, der Adornos eigene Rationalitätskritik viel verdankt, unddie er als „eine Kehre des abendländischen Denkens" begreift, verabschiedet er nicht die Möglichkeit, wahre Erkenntnisse über die Wirklichkeit zu erlangen, sondern versucht sie zu retten. Verwirklicht werden kanndiese Möglichkeit aber nur von denjenigen Privilegierten, die demAnpassungsdruck in der „verwalten Welt" widerstehen können unddeshalb noch fähig sind, unter dieser zu leiden. Das Leiden erzeugt dasBedürfnis des philosophischen Denkens, die unvernünftige Wirklichkeitund damit die gesellschaftlichen Gründe des Leidens auszudrücken und

auf den Begriff zu bringen. Das Bedürfnis, das Leiden durch sprachlicheDarstellung zu objektivieren, ist für Adorno deshalb Bedingung allerphilosophischer Wahrheit, weil ihm die Evidenz der subjektiven Leidenserfahrung zugrundeliegt. Ohne die unmittelbare Gewißheit dieserErfahrung des Wesentlichen der gesellschaftlichen Wirklichkeit ermangeltes dem Denken der Voraussetzung, zu wesentlichen Erkenntnissen überdiese zu gelangen. In der Evidenz der Leidenserfahrung, die das Denkenanregt und antreibt, drängt sich diesem folglich subjektiv ein „Erstes undSicheres" auf. Trotzdem ist die subjektive und besondere Leidenserfahrung kein absolut Erstes, denn in ihr ist die ihr vorhergehende objektiveund allgemeine Existenz des Leidens und damit die es bewirkendeobjektive Wirklichkeit enthalten. Die objektive Vermittlung der subjekti

ven Leidenserfahrung ermöglicht es für Adorno, von dieser unbezweifel-baren Grundlage ausgehend, die Wahrheit über die gesellschaftlicheWirklichkeit zu erkennen: „Weil sie in sich allgemein ist, und soweit siees ist, reicht individuelle Erfahrung auch ans Allgemeine heran." DieErfahrung des Leidens und das durch sie bewirkte Ausdrucksbedürfnis istfür Adorno aber nur die notwendige und nicht die hinreichende Bedingungaller philosophischen Wahrheit. Denn um ihren Charakter einer persönlichen, besonderen und - was gegen sie eingewendet werden könnte -zufälligen und fehlbaren Erfahrung zu verlieren, muß sie durch Spracheobjektiviert bzw. durch stringente Darstellung verbindlich gemachtwerden. Dementsprechend äußert Adorno über die Wahrheit:

Den Privilegcharakter, welchen die Rancune ihr vorrechnet, verliert sie dadurch, daß sie sich nicht auf die Erfahrungen herausredet, denen sie sichverdankt, sondern in Konfigurationen und Begründungszusammenhängesich einläßt, die ihr zur Evidenz helfen oder sie ihrer Mängel überfuhrt.

Adorno: ND, S. 34.

Ebenda, S. 56.

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Elitärer Hochmut stünde der philosophischen Erfahrung am letzten an.

Diese Passage belegt noch einmal, daß Adorno jeglicher Irrationalismusfernliegt. Die dem Denken vorhergehende Leidenserfahrung und dasdurch sie erzeugte Ausdrucksbedürfnis müssen in stringente Argumentationen münden, welche die unvernünftige Wirklichkeit und damit diegesellschaftlichen Gründe des Leidens aufweisen und es dadurch objektivieren. Adornos gesamtes Philosophieren läßt sich weitgehend als dieAnstrengung begreifen, dies umzusetzen und zu verwirklichen. Diehinreichende Bedingung der Wahrheit besteht für Adorno in der Evidenzder philosophischen Objektivation des Leidens bzw. in der Evidenz derstringenten Darstellung der geschichtlichen und gesellschaftlichen Gründedes Leidens und damit der unvernünftigen Wirklichkeit. Das „Geflecht"von „Konfigurationen und Begründungszusammenhängen" verhilft derWahrheit zur Evidenz, in der sie „Index ihrer selbst" ist. Adornos Kriterium für philosophische Wahrheit ist also nicht nur die Evidenz dersubjektiven Leidenserfahrung und das durch sie bewirkte Ausdrucksbedürfnis, sondern auch die Evidenz der begrifflichen Objektivation bzw.Darstellung dieser Erfahrung.

• Durch die Objektivation des Leidens kann Adorno zum einen dem

naheliegenden Einwand begegnen, daß die für ihn evidente Leidenserfahrung lediglich ein Privaterlebnis ist und keinen wesentlich durch dieunvernünftige Wirklichkeit bewirkten objektiven Tatbestand anzeigt. Zumanderen kann er, indem er seine unmittelbare geistige Erfahrung der Weltauf den Begriff bringt, diese anderen Menschen kommunizieren undevident machen. Dieser Bemühung steht jedoch folgende Schwierigkeitentgegen: „Kriterium des Wahren ist nicht seine unmittelbare Kommuni-zierbarkeit an jedermann."112 Denn das für Adorno vorherrschende, durchdie gesellschaftlichen Zwänge und die Kulturindustrie bewirkte regressiveBewußtsein der Menschen führt zu einem Mangel an Leidensfähigkeit unddamit an Leidenserfahrung. Die Folge davon ist, daß die meisten Menschen nicht mehr fähig sind, wesentliche Wahrheiten über die gesellschaftliche Wirklichkeit zu erkennen oder sich deren Erkenntnis aus„Realitätsgerechtigkeit" verbieten. Zudem stellt die philosophischeObjektivation des Leidens beträchtliche Anforderungen an ihre Rezipien-ten, wovon Adornos eigene Schriften beredt Zeugnis ablegen. Trotzdem

Ebenda, S. 52 (Hervorhebung von mir); vgl. S. 29.

"'Ebenda, S. 52.

"2 Ebenda, S. 51.

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KAPITEL II

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besteht für Adorno die zentrale Aufgabe der kritischen Theoretiker in demVersuch, die verbreitete Verkennung und Verdrängung der gesellschaftlichen Ursachen des Leidens durch ihre Publikationen zu durchbrechenund „mit moralischem Effort, stellvertretend gleichsam, auszusprechen,was die meisten, für welche sie es sagen, nicht zu sehen vermögen odersich aus Realitätsgerechtigkeit zu sehen verbieten" .

Ebenda.

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Kapitel IIIKunst als Objektivation des Leidens

Die Philosophie ist für Adorno nicht die einzige Form von Erkenntnis.

Auch genuine Kunst vermag die Wahrheit über das Leiden und damit überdie unvernünftige Wirklichkeit, die es verursacht, zum Ausdruck zubringen. Während der Kunst seit Piatons Satz, daß die Dichter lügen,immer wieder abgesprochen wurde, zu wahren Erkenntnissen über dieWirklichkeit fähig zu sein, geht es in Adornos Ästhetik zentral um dieFrage nach der Wahrheit: „Alle ästhetischen Fragen terminieren insolchen des Wahrheitsgehalts der Kunstwerke: ist das, was ein Werk inseiner spezifischen Gestalt objektiv an Geist in sich trägt, wahr?" Kunstist für Adorno aber nicht die Erkenntnis von Objekten oder die Widerspiegelung eines Objekts. Als eine „Gestalt von Erkenntnis" ist Kunst„Erkenntnis der Realität, und es ist keine Realität, die nicht gesellschaftlich wäre. [...] Soziale Erkenntnis wird sie, indem sie das Wesen ergreift;nicht es beredet, bebildert, irgend imitiert." Das vorangehende Kapitelhat gezeigt, daß Adorno die objektive Präsenz des Leidens als dasWesentliche der gesellschaftlichen Wirklichkeit begreift und dessenbegriffliche Objektivation bzw. Darstellung als die Aufgabe der Philosophie erachtet. Dementsprechend besteht für ihn die Aufgabe der Kunstdarin, das Leiden darzustellen bzw. zu objektivieren und dadurch Wahrheit über die Wirklichkeit zum Ausdruck zu bringen und diese zukritisieren. Nur wenn sie das vermag, ist sie für Adorno wahre undgenuine Kunst. Durch diese im folgenden zu begründende These kannauch noch einmal die zentrale und fundamentale Bedeutung des Leidensfür Adornos Denken aufgewiesen werden.

" Adorno: AT, S. 498.5 Ebenda, S. 391,419, 383f.

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KAPITEL III

1 K l B ß i N "

KUNST ALS OBJEKTIVATION DES LEIDENS

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1. Kunst als „Bewußtsein von Nöten"

Das erste Buch, das Adorno nach dem Krieg in Deutschland veröffentlicht, ist die in den 40er Jahren im amerikanischen Exil entstandenePhilosophie der neuen Musik. Das Werk analysiert die damals avancierteste Musik und deren Beziehung zur Gesellschaft in ihren ExponentenSchönberg und Strawinsky, die Adorno als Antipoden begreift. In derVorrede schreibt er, daß er seine Schrift als ausgeführten Exkurs zur

 Dialektik der Aufklärung verstanden wissen möchte. Damit bringt Adornozum Ausdruck, daß seiner philosophischen Perspektive auf die radikalmoderne Musik die gemeinsam mit Horkheimer entwickelte Geschichtsphilosophie zugrundeliegt. In dieser wird der damalige Weltzustand auf die rationale Beherrschung der inner- und außermenschlichen Naturzurückgeführt. Vor diesem Hintergrund beurteilt Adorno die zeitgenössische Situation der Kunst folgendermaßen:

Wenn der Kunst die unmittelbare Selbstgewißheit unbefragt hingenommener Stoffe und Formen zergangen ist, dann ist ihr im „Bewußtsein von

 Nöthen", imgrenzenlosen Leid, das über die Menschen hereinbrach, und in

dessen Spuren im Subjekt selber ein Dunkles zugewachsen, das nicht alsEpisode die vollendete Aufklärung unterbricht, sondern ihre jüngste Phaseüberschattet und freilich durch seine reale Gewalt die Darstellung im Bildfast ausschließt.

Unter dem Dunklen versteht Adorno das grenzenlose Leid, mit welchemdie Menschheit und damit auch die Kunst durch die geschichtlicheEntwicklung konfrontiert ist. Dieses Leid begreift er als Folge dermenschlichen Naturbeherrschung, als „ein von Herrschaft erst Produzier-

117

tes" . Die Kausalbeziehung von Herrschaft und Leiden wird im viertenKapitel noch eingehend analysiert. Durch die Präsenz des Leides erwächstder zeitgenössischen Kunst für Adorno die Aufgabe, daß sie, „wofern ihrüberhaupt Substantialität zukommt, ohne Konzession all das reflektiertund zum Bewußtsein bringt, was man vergessen möchte". Damit erhebtAdorno die Reflexion und den Ausdruck des Leides zum Kriterium, ob einKunstwerk überhaupt als wesentlich und relevant beurteilt werden kann.

Adorno: PnM, S. 23 (Hervorhebungen von mir).Ebenda.

118 Ebenda, S. 22.

46

Bereits die Dialektik der Aufklärung erklärt zum Maßstab von großerKunst, daß sie den „Ausdruck von Leiden" in ihre Werke als „negativeWahrheit" und damit als Kritik an der bestehenden Gesellschaft aufnimmt. Dadurch wird avancierte Kunst zum „Widerpart" der system-affirmierenden Kulturindustrie. Die von dieser produzierten Kulturwarenverleugnen das von der Gesellschaft geschaffene Leiden jedoch nichteinfach. Die Strategie der Kulturindustrie besteht für Adorno vielmehrdarin, daß sie die Existenz des Leidens zwar zugibt, aber als einennotwendigen und unabänderlichen Bestandteil des Lebens hinstellt und

dadurch das bestehende Gesellschaftssystem legitimiert. Den Konsumenten der Kulturwaren wird durch die nachzuahmenden Vorbilder nahegelegt, die Welt, so wie sie ist, zu bejahen und dem Leiden gefaßt undmannhaft ins Auge zu sehen.

Um die ihr zugewiesene Aufgabe der Reflexion und des Ausdrucks desLeidens erfüllen zu können, muß Kunst das Leid bewußt erfahren unddamit zum „Bewußtsein von Nöthen" werden. Dieses Motiv, auf das sichauch die Ästhetische Theorie öfters bezieht, glaubt Adorno in HegelsÄsthetik zu finden. Jürgen Trabant hat in einer kurzen „philologischenNotiz" gezeigt, daß es „ein solches Hegelsches Theorem nicht gibt. DiesesTheorem gehört nämlich inhaltlich ganz allein zu Adornos ästhetischer

121

Theorie und den historischen Erfahrungen, die diese reflektiert."Adornos Berufung auf Hegel basiert auf einem Lesefehler. Im Kontext dervon ihm angegebenen Stelle verwendet Hegel „von Nöthen" nämlichlediglich im Sinne von „etwas nötig haben". Adorno kann sich auchdeshalb nicht auf Hegel berufen, weil dieser den objektiven Nöten in derKunst - wie Trabant anhand einiger Stellen belegen kann - inhaltlichkeinen Platz einräumt. Adornos Mißverständnis, das dadurch entstandenist, daß er seine eigene Kunstauffassung auf „eine Formulierung vonHegel projiziert" , hat für seine eigene Ästhetik keine weiteren Konsequenzen. Es verweist aber auf die enorme Bedeutung, die er dem Leidenfür die Kunst beimißt. Dies läßt sich auch schlüssig an Adornos Gedanken

zu Hegels sogenannter These vom Ende der Kunst aufweisen:

Adorno/Horkheimer: DdA, S. 155.120 Ebenda, S. 152, 178.12]

Jürgen Trabant: „Bewußtsein von Nöthen". Philologische Notiz zum Fortleben derKunst in Adornos ästhetischer Theorie, in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Theodor W.Adorno. Sonderband Text und Kritik, München 1977, S. 130-135, 132.Ebenda.

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KAPITEL III

Ist Hegels Theorem von Kunst als dem Bewußtsein von Nöten stichhaltig

KUNST ALS OBJEKTIVATION DES LEIDENS

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Ist Hegels Theorem von Kunst als dem Bewußtsein von Nöten stichhaltig,so ist sie auch nicht veraltet. Tatsächlich trat das von ihm prognostizierteEnde der Kunst in den einhundertfünfzig Jahren seitdem nicht ein. Keineswegs wurde ein bereits Verurteiltes leer bloß weiterbetrieben; [...] Weiles in der Welt noch keinen Fortschritt gibt, gibt es einen in der Kunst; ,il

123

faut continuer'.

Im Gegensatz zu Trabant bin ich der Auffassung, daß dieser Passage zuentnehmen ist, daß Adorno die verbreitete Fehldeutung von Hegels Thesevom Ende der Kunst nicht teilt. Diese Fehldeutung, die als solche vonTrabant zutreffend wiedergegeben und zurückgewiesen wird, unterstellt,daß Hegel das totale „Absterben jeglicher künstlerischen Produktion"voraussagt. Dagegen heißt es bei Hegel, man könne „wohl hoffen, daßdie Kunst immer mehr steigen und sich vollenden werde, aber ihre Formhat aufgehört, das höchste Bedürfnis des Geistes zu sein". Die Kunstbringt für Hegel durch die ihr eigentümliche Form der Anschauung dieWahrheit über das Absolute bzw. Göttliche zur sinnlichen Darstellung.Diese Bestimmung der Kunst wird von der klassischen Kunstform dergriechischen Skulptur verwirklicht, der die vollendete Darstellung desGöttlichen in der Schönheit einer menschlichen Gestalt gelingt. Dagegen„ist und bleibt die Kunst" der durch ihre „Reflexionsbildung" gekenn

zeichneten modernen Welt für Hegel „nach der Seite ihrer höchstenBestimmung für uns ein Vergangenes". Damit bringt Hegel zumAusdruck, daß die Kunst im Zeitalter der Aufklärung insofern unzeitgemäß geworden ist, als sie das Göttliche bzw. Absolute nicht mehr zursinnlichen Darstellung bringen kann. Die Form der Darstellung derWahrheit, die der entzauberten modernen Welt angemessen ist, ist diePhilosophie, die das Absolute begrifflich erfaßt. Die weitere Produktionvon Kunstwerken kommt dadurch aber nicht total zum Erliegen. Was sich

 jedoch für Hegel konstatieren läßt, ist der Vergangenheitscharakter derschönen Kunst im Hinblick auf ihre ehemals „höchste Aufgabe", die darinbestand, „die umfassendsten Wahrheiten des Geistes zum Bewußtsein zubringen und auszusprechen" .

In der oben angeführten Textpassage aus der Ästhetischen Theorie

123 Adorno: AT, S. 309f.124 Trabant, a.a.O., S. 131.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I, Werke, Bd. 13,Frankfurt am Main 1986, S. 142.

126 Ebenda, S. 24f.127 Ebenda, S. 20f.

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spricht Adorno im Hinblick auf Hegels sogenannte These vom Ende derKunst davon, daß die Kunst heute „nicht veraltet" ist und keineswegs alsein bereits Verurteiltes leer bloß weitergetrieben" wurde. Das belegt, daß

Adorno Hegels These zutreffend als These über den Vergangenheitscharakter der Kunst versteht. Denn selbst wenn Kunst bloß leer weitergetrieben worden wäre, hätte die Kunstproduktion nicht vollständig aufgehört,wie die verbreitete Fehldeutung Hegels unterstellt. Allerdings hätte Kunstdann ihre höchste Bestimmung verloren, die für Hegel darin bestand, dasAbsolute als ihren Gehalt auszudrücken. Für Adorno ist Kunst aber

mitnichten veraltet und von ihrem Vergangenheitscharakter kann keineRede sein. Denn durch das Leiden und die Aufgabe, dieses auszudrücken,ist ihr ein neuer Gehalt und eine neue Bestimmung zugewachsen, der ihrFortbestehen als „Kritik von Praxis" und als „Statthalter einer besserenPraxis" notwendig macht. Von Adornos Mißverständnis, daß sich seineAuffassung bereits als „Theorem von Kunst als dem Bewußtsein vonNöten" bei Hegel findet, war schon die Rede. Durch dieses Mißverständnis glaubt sich Adorno jedoch berechtigt, mit Hegel gegen Hegel dieAktualität der Kunst behaupten zu können.

2. Das doppelte Ende der Kunst

Die zentrale Bedeutung, die dem Leiden in Adornos philosophischerPerspektive auf die Kunst zukommt, zeigt sich auch an seinen eigenenSpekulationen über ein mögliches Absterben der Kunst:

Auch die Gestalt von Kunst in einer veränderten Gesellschaft auszumalensteht nicht an. Wahrscheinlich ist sie ein Drittes zur vergangenen und gegenwärtigen, aber mehr zu wünschen wäre, daß eines besseren Tages

Kunst überhaupt verschwände, als daß sie das Leid vergäße, das ihr Ausdruck ist und an dem Form ihre Substanz hat.

Von der Gestalt der Kunst in einer besseren Gesellschaft wie von dieserselbst kann und soll man sich für Adorno kein Bild machen. Das selbstauferlegte Bilderverbot und die ihm gelobte Treue hindern ihn jedoch

Adorno: AT, S. 26.Ebenda, S. 386f.

49

KAPITEL III

nicht daran sich unablässig in Spekulationen über zukünftige Möglichkei

KUNST ALS OBJEKTIVATION DES LEIDENS

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nicht daran, sich unablässig in Spekulationen über zukünftige Möglichkeiten zu ergehen. Die traditionelle Kunst der Vergangenheit begreift Adornoin ihrem Verhältnis zur Gesellschaft als weitgehend positiv und affirmativ: „Die reale Barbarei in der Antike: Sklaverei, Ausmordung, Verachtung des Menschenlebens, hat seit der attischen Klassizität wenig Spurenin der Kunst hinterlassen; wie unberührt diese, auch sonst in ,barbarischenKulturen ', sich erhielt, ist nicht ihr Ehrentitel." Unter gegenwärtigerKunst versteht Adorno selbstverständlich die klassische Moderne. ImGegensatz zur vergangenen setzt sich moderne Kunst der Erfahrung desLeidens bewußt aus und bringt es in eine Form, die es auszudrückenvermag. Eine zukünftige Kunst, die nach Adornos Spekulation weder dervergangenen noch der gegenwärtigen gleichkäme, wäre zwar zu wünschen. Noch mehr zu wünschen wäre es aber, wenn Kunst in einerveränderten Gesellschaft gänzlich verschwände. In diesem Sinne ist dieoben zitierte und etwas unglücklich formulierte Textpassage von Adornozu verstehen, denn daß Kunst das Leid vergäße, ist keinesfalls zu wünschen. So äußert Adorno eindeutig: „Selbst in einer legendären besserenZukunft dürfte Kunst die Erinnerung ans akkumulierte Grauen nichtverleugnen; sonst würde ihre Form nichtig." Auch wenn Kunst in einerrichtigen Gesellschaft fortbestehen sollte, bestünde ihre Aufgabe fürAdorno darin, vergangenes Leiden erfahrbar zu machen und so etwa die

Erinnerung an den zweiten Weltkrieg und an Auschwitz wachzuhalten.Damit bliebe Kunst auch ihrem Charakter „als bewußtloser Geschichtsschreibung, Anamnesis des Unterlegenen, Verdrängten, vielleichtMöglichen" und damit als „Gedächtnis des akkumulierten Leidens"

132

treu. Authentische Gegenwartskunst und wahrhaft große Werke derVergangenheit bringen für Adorno die Nöte ihrer Zeit zur Sprache.Dadurch werden sie für ihn zu Schriften, welche geschichtliche Wahrheitüber ihre Zeit festhalten. Insofern lassen sie sich als Form von Geschichtsschreibung verstehen, wenngleich dies von den Kunstwerken nicht bewußtintendiert wird.

Doch nun noch einmal zu der Frage, wie Adornos Wunsch zu verstehen

ist, daß Kunst gänzlich verschwindet. Der diesem Wunsch zugrundeliegende Gedanke ist bereits in der Philosophie der neuen Musik ausgesprochen: „Erst einer befriedeten Menschheit würde die Kunst absterben: ihr

Ebenda, S. 241 f. (Hervorhebung von mir); Deutlich heißt es an einer anderen Stelle:„Freilich sind darum die positiven und affirmativen Kunstwerke - fast der gesamteVorrat der traditionellen - nicht wegzufegen oder eilends zu verteidigen [...]" (S. 239).

,3i Ebenda, S. 479.132 Ebenda, S. 384, 386.

50

Tod heute, wie er droht, wäre einzig der Triumph des bloßen Daseins überden Blick des Bewußtseins, der ihm standzuhalten sich vermißt." Damitformuliert Adorno die Perspektive eines auf doppelte Weise möglichenAbsterbens der Kunst. Adorno ist grundsätzlich der Auffassung, daß dieKunst wie die Philosophie der Übermacht der unvernünftigen Wirklichkeitdadurch zu widerstehen vermag, daß sie das äußerste Grauen und Leidihrer Zeit zum Ausdruck bringt. In Anbetracht der geschichtlichenSituation ist für ihn keine andere Bestimmung und Aufgabe für wahre undgenuine Kunst denkbar. Kann ihr die Kunst nicht gerecht werden, oder

paßt sie sich widerstandslos dem Bestehenden an, so gibt sie sich fürAdorno als Kunst auf. Dann könnte sie ihrem Begriff nicht mehr genügenund würde zu einem Teil der etablierten affirmativen Kultur, der Ideologieoder der Kulturindustrie herabsinken. Ein derartiges Ende der Kunst wärefür Adorno natürlich die vollendete Katastrophe, da er die Kunst und diePhilosophie als die letzten Bastionen des Widerstandes gegen denTriumph des schlechten Daseins begreift.

Das von Adorno erwünschte Ende der Kunst dagegen würde eine befriedete Menschheit als notwendige Bedingung voraussetzen. So heißt esauch in der Ästhetischen Theorie: „Erfüllte sich die Utopie der Kunst, sowäre das ihr zeitliches Ende." Die erfüllte Utopie der Kunst, die im

siebten Kapitel noch eingehend untersucht wird, kommt für Adorno dergeschichtlichen Verwirklichung einer richtigen Gesellschaft gleich. Diesewürde für Adorno mit einer weitgehenden Abschaffung des Leidenseinhergehen. Da Adorno die Bestimmung und Aufgabe von wahrer undgenuiner Kunst als den Ausdruck von Leiden begreift, wäre sie in einerrichtigen Gesellschaft weitgehend überflüssig. Daran wird zum einendeutlich, daß sich Adorno die Kunst ohne Leiden nicht vorstellen kann,was die zentrale Bedeutung des Leidens für Adornos philosophischePerspektive auf die Kunst belegt. Zum anderen liefert dieser GedankeAdornos ein erstes Indiz dafür, daß er die objektive Präsenz des Leidens inerster Linie als ein Produkt der falschen Gesellschaft und weniger alsinvariante conditio humana begreift. Sollte Kunst in einer richtigen

Gesellschaft trotzdem fortbestehen, so würde ihre Aufgabe - wie bereitserwähnt - allein darin bestehen, als „Gedächtnis des akkumulierten

•33 , ,

Adorno: PnM, S. 24; vgl. auch 124f.134 . , ..

Adorno: AT, S. 55; Analog dazu schreibt Adorno bereits in seinem 1953 publiziertenAufsatz Zeitlose Mode. Zum Jazz: „Jazz ist die falsche Liquidation der Kunst: anstattdaß die Utopie sich verwirklichte, verschwindet sie aus dem Bilde" (Adorno: ZeitloseMode. Zum Jazz, in: Adorno: P, S. 133).

135 Adorno: ND, S. 203.

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KAPITEL III KUNST ALS OBJEKTIVATION DES LEIDENS

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Leidens" und als „bewußtlose Geschichtsschreibung" die Erinnerung anvergangenes Leiden wachzuhalten, denn der „Rückfall droht unabläs-

• «136Sl g

Adorno ist sich bewußt, daß es für die Kunst keineswegs einfach ist, dieihr zugewachsene Bestimmung und Aufgabe, das Leiden auszudrückenund erfahrbar zu machen, umzusetzen. In einer berühmten und viel diskutierten Textpassage geht er sogar soweit, in Frage zu stellen, ob Kunst -für die hier die Dichtung steht - überhaupt noch fortbestehen kann unddarf:

Je totaler die Gesellschaft, um so verdinglichter auch der Geist und um soparadoxer sein Beginnen, der Verdinglichung aus eigenem sich zu entwinden. Noch das äußerste Bewußtsein vom Verhängnis droht zum Geschwätzzu entarten. Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik vonKultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben,ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warumes unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben. Der absoluten Verdinglichung, die den Fortschritt des Geistes als eines ihrer Elemente voraussetzteund die ihn heute gänzlich aufzusaugen sich anschickt, ist der kritische

Geist nicht gewachsen, solange er bei sich bleibt in selbstgenügsamerKontemplation.

Diese Sätze, in denen Adornos Pessimismus seinen Höhepunkt erreicht,beschließen seinen 1949 geschriebenen und 1951 veröffentlichten AufsatzKulturkritik und Gesellschaft. Geschichtlicher Hintergrund diesesäußersten Pessimismus sind natürlich die Greuel von Auschwitz undHiroshima, die in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg in ihrem ganzenAusmaß publik werden. Hinzu kommt die aus Adornos Perspektivevollständige Abwesenheit der Hoffnung auf eine Veränderung zumBesseren. Bereits in der zwischen 1940 und 1948 entstandenen Philoso

 phie der neuen Musik  erachtet Adorno das oben dargestellte schlechteEnde der Kunst und den endgültigen Triumph des schlechten Daseins alsDrohung. Trotz einer bei Adorno aufzuweisenden „methodisch begründeten Übertreibung"138 und obwohl er in den hier zitierten Sätzen immernoch von „droht" und „sich anschickt" spricht, geht aus ihnen wie ausdem gesamten Aufsatz hervor, daß diese Drohung für ihn so brisant

Adorno: AT, S. 386, 384.

Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft, in: Adorno: P, S. 26 (Hervorhebungen von mir).

Reinhard Kager, a.a.O., S. 184.

52

geworden ist, daß sie sich in Kürze bewahrheiten könnte. Damit ziehtAdorno ernsthaft in Erwägung, daß selbst der kritische Geist der Kunstund der philosophischen Kulturkritik der Macht des Bestehenden nichtlänger widerstehen kann. Die gesamte traditionelle und bürgerliche Kulturbegreift er, auch wenn sie sich über die Barbarei entrüstet, ohnehin bereitsals neutralisiert und zugerichtet. Wird auch die avancierte Kultur, die alskritische Kunst und philosophische Kulturkritik der Barbarei standzuhal

ten versucht, durch die totale Gesellschaft gänzlich ihrer Widerstandskraftberaubt, verkommt sie zur Teilhabe an der Barbarei. Damit wäre die letzteGegensätzlichkeit von Kultur und Barbarei in die verabscheuungswürdigeEinheit des Triumphs des schlechten Daseins aufgehoben und der Tod derKunst besiegelt. Auch in der Negativen Dialektik  spricht Adorno nochdavon, daß „Auschwitz das Mißlingen der Kultur unwiderleglich bewiesen" hat: „Daß es geschehen konnte inmitten aller Tradition der Philosophie, der Kunst und der aufklärenden Wissenschaften, sagt mehr als nur,daß diese, der Geist, es nicht vermochte, die Menschen zu ergreifen und

139 r 

zu verändern." Der Begriff von Kultur, der diesen Sätzen zugrundeliegt,ist derjenige des Humanismus und der Aufklärung. Nach diesem Ver

ständnis ist Kultur eine Gegenbewegung zur Barbarei und zielt auf dieHumanisierung des Menschen durch den Geist. Die unmenschlichenGreuel der jüngsten Geschichte beweisen für Adorno nicht nur dasMißlingen der vergangenen Kultur, sondern stellen die gesamte abendländische Kultur ausnahmslos und grundsätzlich radikal in Frage. Sobeginnt auch seine Ästhetische Theorie mit folgendem Satz: „Zur Selbstverständlichkeit wurde, daß nichts, was die Kunst betrifft, mehr selbstverständlich ist, weder in ihr noch in ihrem Verhältnis zum Ganzen, nichteinmal ihr Existenzrecht." In der oben zitierten Passage neigt Adornonoch dazu, der Kunst ihr Existenzrecht gänzlich abzusprechen. Auch wenner dieses Verdikt - wie noch dargestellt wird - später revidiert, steht fürihn zumindest zeitlebens fest, daß die Kunst jegliche Hoffnungen auf eine

Humanisierung des Menschen verabschieden muß und ihr Dasein durchdiese Hoffnungen nicht mehr legitimieren kann. Die Frage ist für Adornoaber nicht nur, ob Kunst und philosophische Kulturkritik fortbestehendarf, sondern auch, ob sie in der sich zunehmend totalisierenden Gesellschaft fortbestehen kann.

In seinem Aufsatz Kulturkritik und Gesellschaft erklärt Adorno, daß diedialektische und kritische Theorie der Gesellschaft die Kulturkritik zwar

Adorno: ND, S. 359.

Adorno: AT, S. 9.

53

KAPITEL III KUNST ALS OBJEKTIVATION DES LEIDENS

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durchweg kritisch reflektieren muß, aber auch verpflichtet ist, sie in sichaufzunehmen, wenn sie wahr ist. Philosophische Kulturkritik beinhaltetfür Adorno sowohl die transzendente Methode, die durch ihr Wissen vomschlechten Ganzen Kultur von außen in Frage stellt. Sie ist als dialektischeaber auch ein immanentes Verfahren, das sich jeweils in ein „geistigesGebilde" versenkt und analysiert, was dieses von der gesellschaftlichenWirklichkeit zum Ausdruck bringt. Gelungen ist ein geistiges Gebilde -und hier meint Adorno die Kunst, mit der es Kulturkritik primär zu tun hat-, wenn es „die Idee von Harmonie negativ ausdrückt, indem es die Widersprüche rein, unnachgiebig, in seiner innersten Struktur prägt".

In der totalen Gesellschaft wird für Adorno der kritische Geist jedochfast vollständig integriert, so daß eine kritische Außenperspektive und diesie voraussetzende Freiheit kaum mehr möglich sind. Das immanenteVerfahren der Kritik wird von der ebenfalls fast vollkommen integriertenKunst und damit „von ihrem Gegenstand in den Abgrund gerissen."Adorno spricht davon, daß „aller Geist bis heute unter einem Bann steht.Er ist nicht von sich aus der Aufhebung der Widersprüche mächtig, andenen er laboriert. Selbst der radikalsten Reflexion aufs eigene Versagenist die Grenze gesetzt, daß sie nur Reflexion bleibt, ohne das Dasein zu

verändern, von dem das Versagen des Geistes zeugt."143

Damit bringtAdorno zum einen zum Ausdruck, daß die kritische Selbstreflexion desDenkens und die philosophische Kulturkritik, seine eigene eingeschlossen,keine gesellschaftlichen und politischen Veränderungen bewirken kann.Zum anderen formuliert er die selbstkritische Einsicht, daß in einerzunehmend sich vereinheitlichenden und unmenschlichen Gesellschaft

 jegliche Möglichkeit zu ihrer Kritik und damit der kritische Geistabhanden zu kommen droht. Die letzte Konsequenz dieser Entwicklungwürde darin bestehen, daß die philosophische Kulturkritik dermaßen in dietotale Gesellschaft integriert wird, daß sie das Absterben von wahrer undgenuiner Kunst nicht mehr erkennen und folglich auch nicht mehrkritisieren kann. Diese fatale Tendenz ist mit dem oben zitierten Satzgemeint: „das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum esunmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben".

In einer Vorlesung von 1965 äußert Adorno rückblickend, daß er dieDiskussion über seine Aussage, nach Auschwitz könne man keineGedichte mehr schreiben, nicht erwartet habe. Er bekennt weiter, daß es

' ' Adorno: Kuturkritik und Gesellschaft, in: Adorno: P, S. 23, 21-24; vgl. auch Adorno:PnM, S. 34.Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft, in: Adorno: P, S. 25.

143 Ebenda, S. 23f.

54

für ihn zur Philosophie dazugehört,

daß nichts ganz wörtlich gemeint ist; Philosophie bezieht sich eigentlichimmer auf Tendenzen und besteht nicht in Statements of fact. [...] Ichwürde gern zugeben, daß man so gut wie ich gesagt habe, daß man nachAuschwitz kein Gedicht mehr schreiben kann - womit ich das Hohle derwiederauferstandenen Kultur habe bezeichnen wollen -, andererseits dochGedichte schreiben muß, im Sinn des Satzes von Hegel aus der ,Ästhetik',daß es solange, wie es ein Bewußtsein von Leiden unter den Menschengibt, eben auch Kunst als die objektive Gestalt dieses Bewußtseins gebenmüsse.

Damit sagt Adorno schlicht, daß er seinen Satz, so wie er verstandenwurde, gar nicht gemeint habe. Nicht die gesamte Lyrik, oder wie er seinDiktum rückblickend auch an anderen Stellen auslegt, Kunst generell,habe er damit gemeint, sondern nur die hohle Nachkriegskultur. DieseReinterpretation, mit der er seinen extremen Nachkriegspessimismusabzumildern bestrebt ist, kann aufgrund des gesamten Kontexts, in dem erden Satz damals äußerte, nicht überzeugen. In der 1966 veröffentlichten

 Negativen Dialektik  heißt es dann auch: „Das perennierende Leiden hatsoviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag

 falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sichschreiben." 5 Mit dieser Revokation gibt Adorno zu, daß er seinen Satzdamals durchaus ernst gemeint hat. Damit gesteht er auch ein, daß erseinerzeit davon überzeugt war, daß das schlechte Ende der Kunstunmittelbar bevorstünde. Die Begründung für die Änderung seinesextremen Urteils wiederholt die Auffassung, die er bereits in den obenzitierten Sätzen seiner Vorlesung von 1965 geäußert hat: Solange diePräsenz des Leidens andauert, hat auch die Kunst, sofern sie sich darumbemüht, dieses auszudrücken, ein unbestreitbares Existenzrecht. Dieserweist ein weiteres Mal, daß für Adorno ein unauflöslicher Zusammenhang zwischen Kunst und Leiden besteht.

Auch in dem Aufsatz Engagement  von 1962 kommt Adorno auf seinDiktum, nach Auschwitz noch Lyrik zu schreiben, sei barbarisch, zurück.In diesem Text wendet er sich kritisch gegen die engagierte Literatur,insbesondere gegen Brecht und Sartre, und plädiert für autonome Kunstwerke. Seinen Satz legt er jetzt so aus, daß er vor allem gegen die

Adorno: M, S. 172.145

Adorno: ND, S. 355 (Hervorhebung von mir).

55

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Begriffliche. Erkenntnis und Wahrheit kommen für Adorno dadurchzustande, daß das Subjekt seine individuelle Erfahrung von der Welt, diees ausdrücken möchte, durch Sprache objektiviert bzw. durch stringenteDarstellung verbindlich macht. Analog dazu konstatiert Adorno für dieKunst die grundlegende Polarität eines mimetisch expressiven und einesrational konstruktiven Moments. Bevor das dialektische Wechselspieldieser beiden Momente analysiert werden kann, ist es erforderlich, jedesfür sich auseinanderzulegen.

Wie bereits erwähnt, ist Mimesis für Adorno eine archaische anthropologische Verhaltensweise. Das ehemals fundamental mimetische Weltverhältnis des Menschen wird im Verlaufe des okzidentalen Zivilisationsund Rationalisierungsprozesses verdrängt und tabuisiert. In der Kunstfindet das mimetische Verhalten Zuflucht und wird dort konserviert. Inder Ästhetischen Theorie bestimmt Adorno Mimesis folgendermaßen:„Ahmt das mimetische Verhalten nicht etwas nach, sondern macht sichselbst gleich, so nehmen die Kunstwerke es auf sich, eben das zu vollziehen." Kunst ist für Adorno nicht Widerspiegelung, Abbildung oderNachahmung von etwas Gegenständlichem an der Wirklichkeit. Dasmimetische Verhalten der Kunst macht sich etwas Ungegenständlichem an

der Realität gleich und überwindet damit die feste Gegenüberstellung vonSubjekt und Objekt: „Fortlebende Mimesis, die nichtbegriffliche Affinitätdes subjektiv Hervorgebrachten zu seinem Anderen, nicht Gesetzten,bestimmt Kunst als eine Gestalt der Erkenntnis, und insofern ihrerseits als,rational '." Wie in der philosophischen Erkenntnis ist es das mimetischeMoment, das in der Kunst die Ähnlichkeit und Affinität von Subjekt undObjekt gewährleistet und die sie trennende Kluft überbrückt. Die Kunstverdankt ihren Erkenntnischarakter ihrem mimetischen Verhalten, durchwelches das subjektiv hervorgebrachte Kunstwerk einen objektiven Gehaltzum Ausdruck bringt, dem es sich gleichmacht.

Das mimetische Moment der Kunst ist für Adorno untrennbar mit ihrem

expressiven Moment verknüpft. In ihrer unauflöslichen Verbindung sindbeide wesentlicher Bestandteil der Kunst: „Ausdruck von Kunst verhältsich mimetisch, so wie Ausdruck von Lebendigen der des Schmerzesist."155 Indem sich Kunst etwas Ungegenständlichem an der Realitätgleichmacht, bringt sie dieses zum Ausdruck. Die Antwort auf die Frage,worum es sich für Adorno bei dem Ungegenständlichen handelt, dem sich

Adorno: AT, S. 169.

Ebenda, S. 86f, 170

Ebenda, S. 169.

58

die Kunst gleichmacht, ist nicht überraschend: „Läßt Ausdruck kaumanders sich vorstellen denn als der von Leiden - Freude hat gegen allenAusdruck spröde sich gezeigt, vielleicht weil noch gar keine ist, undSeligkeit wäre ausdruckslos". Hier zeigt sich ein weiteres Mal dieenorme Bedeutung, die dem Leiden in Adornos Verständnis der Kunstzukommt. Denn in dieser Formulierung verknüpft er das mimetischexpressive Moment der Kunst, eines ihrer beiden wesentlichen Konstituenten, in nahezu ausschließlicher Weise mit dem Leiden. In anderenÄußerungen relativiert er diese Ausschließlichkeit jedoch ein wenig:„Ausdrucksvoll ist Kunst, wo aus ihr, subjektiv vermittelt, ein Objektivesspricht: Trauer, Energie, Sehnsucht. Ausdruck ist das klagende Gesichtder Werke." ' Daß Kunst auch Sehnsucht zum Ausdruck bringt, was auf ihr utopisches Moment verweist, wird im siebten Kapitel noch dargelegt.

Das mimetisch expressive Moment der Kunst macht auch ihren Sprachcharakter aus. Unter dem Sprachcharakter versteht Adorno nicht dieSprache als Medium der Kunst, sondern den Inbegriff ihres Ausdrucks.Die „neue Kunst bemüht sich um die Verwandlung der kommunikativen

Ebenda, S. 168f. (Hervorhebung von mir); Adorno gilt als der Exponent der theoretischen und postulativen ,Entheiterung der Kunst', wie sie in Deutschland nach 1945verstärkt einsetzt. Unverkennbar ist das in der deutschen Nachkriegsliteratur, etwa beiBöll oder Borchert. In seinem 1967 veröffentlichten Essay Ist die Kunst heiter? verneintAdorno die Titelfrage jedoch nicht völlig. So stellt er fest, daß Kunst nicht ihremGehalt, aber ihrem Wesen nach heiter ist, in dem Sinne, daß sie nicht Ernst, nichtRealität ist, sondern „aufgeht über dem, von dessen Gewalt sie zugleich zeugt". Insofernbesteht „das Moment von Heiterkeit in der Freiheit der Kunst vom bloßen Dasein".Aller bewußt erzielten Heiterkeit erteilt Adorno jedoch eine radikale Absage: „WoKunst von sich aus heiter sein will", heißt es ausdrücklich, „wird sie eingeebnet aufsBedürfnis der Menschen und ihr Wahrheitsgehalt verraten". Adorno begründet die vonihm geforderte ,Entheiterung der Kunst': „Dazu nötigt sie vor allem anderen, was jüngstgeschah. Der Satz, nach Auschwitz lasse kein Gedicht mehr sich schreiben, gilt nichtblank, gewiß aber, daß danach, weil es möglich war und bis ins Unabsehbare möglich

bleibt, keine heitere Kunst mehr vorgestellt werden kann" (Adorno: Ist die Kunstheiter?, in: Adorno: NL, S. 600, 605, 602, 603). Adornos Diktum, daß die Kunst vonsich aus auf Heiterkeit verzichten muß, wird in seiner Ausschließlichkeit jedoch nichtvon allen Zeitgenossen geteilt. So ist beispielsweise für Thomas Mann gerade auch derMangel an Humor und Heiterkeit ein großes Übel. In seinem Endzeitroman Doktor Faustus, an dem Adorno entscheidend mitgewirkt hat, empfand Thomas Mann dasdringende Bedürfnis, den düsteren Stoff notdürftig aufzuheitern. Während er seinenProtagonisten, einen modernen Musiker, mit Adornos Hilfe Werke voller Düsterkeitund Verzweiflung schaffen ließ, setzte er den Erzähler - einen schrulligen Humanisten -ganz bewußt als Mittel zur Durchheiterung ein (vgl.: Helmuth Kiesel: Thomas Manns„Doktor Faustus". Reklamation der Heiterkeit, in: Deutsche Vierteljahresschrift fürLiteraturwissenschaft und Geistesgeschichte 64 (1990), Heft 4, S. 731 ff).Adorno: AT, S. 170.

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KAPITEL III KUNST ALS OBJEKTIVATION DES LEIDENS

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1 CO

Sprache in eine mimetische", unbegriffliche Sprache. Konkretisierenläßt sich das durch die herausgehobene Bedeutung, welche die Dissonanzin der Kunst der Moderne gewinnt, die für Adorno mit Baudelaire beginnt.Adorno begreift die Dissonanz als invarianten und wesentlichen Bestandteil nahezu der gesamten modernen Kunst, unabhängig davon, welcherMaterialien sie sich bedient. Durch Dissonanz emanzipiert sich die neueKunst vom traditionellen Ideal der Harmonie und der Schönheit, das für

Adorno angesichts des katastrophalen Zustandes der Wirklichkeit gänzlichaffirmativ und unwahr, folglich auch unhaltbar geworden ist: „Dissonanzist der technische Terminus für die Rezeption dessen durch die Kunst, wasvon der Ästhetik sowohl wie von der Naivetät häßlich genannt wird."Adorno führt auch einige Beispiele für das Häßliche an, das sich die neueKunst bewußt einverleibt: die „Anatomiegreuel bei Rimbaud und Benn,das physisch Widerwärtige und Abstoßende bei Beckett, die skatalogischen Züge mancher zeitgenössischer Dramen".1 Moderne Kunstbringt für Adorno das Verhärtete, Entfremdete und Finstere der Realitätdadurch zur Sprache, daß sie sich ihm gleichmacht: „Radikale Kunst heuteheißt soviel wie finstere, von der Grundfarbe schwarz." Letzt lich drücktmoderne Kunst für Adorno das Leiden dadurch aus, daß sie sich ihm in

ihrer Dissonanz gleichmacht: „Dissonanz ist soviel wie Ausdruck, dasKonsonierende, Harmonische will ihn sänftigend beseitigen." Veranschaulichen läßt sich das an der atonalen Musik des 20. Jahrhunderts, dieden qualitativen Unterschied von Konsonanz und Dissonanz aufzuhebenversucht, indem sie beide gleichwertig behandelt. Adorno äußert über dieGeschichte der neuen Kunst insgesamt, daß sie „das Dissonante unaufhaltsam ins Zentrum rückte, bis zur Abschaffung seines Unterschieds vomKonsonanten. Dadurch hat sie Teil an dem Leiden, das vermöge derEinheit ihres Prozesses zur Sprache tastet, nicht verschwindet." Diemoderne Kunst macht sich durch ihre Dissonanz dem Leiden und der eserzeugenden unvernünftigen Wirklichkeit gleich und bringt es damit zur

Sprache. Um die objektive Präsenz des Leidens darzustellen bzw. zuobjektivieren und damit Wahrheit über die Wirklichkeit zum Ausdruckbringen zu können, muß Kunst das Leiden in eine Form bringen. Dasgeschieht durch ihr zweites wesentliches Konstituens, durch ihr rational

Ebenda, S. 171.159

Ebenda, S. 74.160

Ebenda, S. 75.161

Ebenda, S. 65.162

Ebenda, S. 168,65,39,53.

'"Ebenda, S. 512.

60

konstruktives Moment.Adorno bestimmt das Konstruktionsprinzip in der Kunst als die

Auflösung von Material ien und Momenten in auferlegte Einheit". DerKünstler hat es immer mit einem Material zu tun, das er bearbeitet,synthetisiert und zu einer einheitlichen Form integriert. Unter demMaterial versteht Adorno alles, „womit die Künstler schalten: was anWorten, Farben, Klängen bis hinauf zu Verbindungen jeglicher Art bis zu

 je entwickelten Verfahrungsweisen fürs Ganze ihnen sich darbietet:

insofern können auch Formen Material werden; also alles ihnen Gegenübertretende, worüber sie zu entscheiden haben". Die Entscheidungen,welches Material ein Künstler auswählt und wie er es verwendet, bleibenaber nicht primär seiner Willkür überlassen. Denn das Material verändertund entwickelt sich im Verlauf der Geschichte. Dieser innerästhetischeFortschrittsprozeß bringt sowohl neue künstlerische Verfahrungsweisenund Techniken als auch, etwa in der Musik, neue Ton- und Klangkombinationen hervor und löst alte als verbraucht und überholt ab. Für denKünstler erzeugt der geschichtliche Wandel des Materials Zwänge, die ihnzur Auswahl bestimmter Materialien und zu bestimmten Verfahrungsweisen nötigen. Die Zwänge, die sich aus der Dynamik des Materials ergeben,

darf er nicht ignorieren. Statt dessen muß er versuchen, ihnen gerecht zuwerden. Widersetzt er sich dem Zwang des Neuen, der für Adorno einwesentliches Merkmal der Moderne darstellt, wird sein Werk unwahr undkraftlos. Dies würde etwa einer tonalen, dem klassischen Harmoniebegriff verpflichteten Komposition in der Phase der freien Atonalität oderder Zwölftontechnik widerfahren. Ähnlich ergehen würde es einemGemälde, das in der Phase der abstrakten Kunst noch die naturalistischeAbbildung bzw. Repräsentation der Gegenstände der Natur verwirklichte.

Das Konstruktionsprinzip in der Kunst ist auch ihr rationales Moment:„Rationalität ist im Kunstwerk das einheitsstiftende, organisierendeMoment".167 Indem der Künstler Worte, Farben und Klänge mit künstlerischen Verfahrungsweisen und Techniken durchbildet und organisiert,

integriert er sie zu einem Werk. Dadurch bringt er aus dem zerstreutenMaterial eine einheitliche Form hervor, unter der Adorno den „Inbegriff aller Momente von Logizität oder, weiter, Stimmigkeit an den Kunstwerken" versteht. Das zu Formende und zu Konstruierende sind für Adorno

Ebenda, S. 90.Ebenda, S. 222; vgl. auch: Adorno: PnM, S. 38ff.Adorno: AT, S. 37, 56.

Ebenda, S. 88.Ebenda, S. 211,216.

61

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KAPITEL III KUNST ALS OBJEKTIVATION DES LEIDENS

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4. Autonome Werke von Kafka, Picasso, Schönberg undCelan

Seit der Renaissance erlangt die Kunst eine zunehmende Autonomie vonden gesellschaftlichen Autoritäten, in deren Dienst sie jahrhundertelangstand. In diesem Prozeß, der bis zu den ersten Jahrzehnten des 20.

Jahrhunderts fortdauert, emanzipiert sich die Kunst von den ihr angetragenen außerästhetischen Zwecken und Funktionen. So war traditionellerKunst etwa durch ihre kirchlichen Auftraggeber die sinnliche Darstellungund Vergegenwärtigung religiöser Gehalte und durch ihre fürstlichen undbürgerlichen die Befriedigung ihrer Repräsentations- und Unterhaltungsbedürfnisse vorgegeben. Obwohl Adornos Begriff der Autonomie derKunst auch ihre Verselbständigung gegenüber der Gesellschaft meint,unterscheidet er sich vom Autonomiebegriff des l'art pour l'art. Nachdiesem ästhetischen Prinzip des 19. Jahrhunderts ist Kunst reiner Selbstzweck. Ihre einzige Aufgabe besteht in der Gestaltung des Schönen und inder Vollendung der Form, die sie abgelöst von allen außerästhetischen -etwa moralischen und politischen - Zielen zu verwirklichen hat. Zwar istauch für Adorno die gesellschaftliche „Funktion der Kunst in der gänzlich

1 on 

funktionalen Welt [...] ihre Funktionslosigkeit". Das l'art pour l'art-Prinzip hält er aber für hoffnungslos veraltet, da es im Gegensatz zuradikal moderner Kunst an „der Illusion eines reinen Reichs der Schön-

i Ol

heit, das rasch als Kitsch sich decouvriert", festhält. Dadurch werdendie Gebilde des l'art pour l'art für Adorno zu konsumierbaren Waren,womit die beanspruchte Absonderung von der Gesellschaft untergrabenwird. Zudem erachtet er die Antithese, die l'art pour l'art gegenüber derGesellschaft einnimmt, als zu abstrakt und simpel. Indem sich die diesemPrinzip verpflichtete Kunst durch die Idee der Schönheit der als häßlich

verfemten Gesellschaft entgegensetzt und die Absonderung von derGesellschaft zu „ihrem Ein und Allen macht", leugnet sie ihre1 Kl 

„unauslöschliche Beziehung auf die Realität". " Authentische Kunstdagegen grenzt sich zwar von der Gesellschaft ab, nimmt ihr gegenüberaber durch ihre Autonomie zugleich eine kritische Gegenposition ein. Diewahre Autonomie der Kunst besteht für Adorno vor allem darin, daßWerke nach ihren eigenen und immanenten Gesetzen konsequent durchge-

" Ebenda, S. 47 5, 336f.:l Ebenda, S. 475.

Ebenda, S. 16, 351 f.; Adorno: Engagement, in: Adorno: NL, S. 410.

66

bildet sind. Sowohl durch ihre Funktions- und Nutzlosigkeit als auchdadurch, daß sich autonome Kunst ihre Gesetze selbst gibt, bezieht sieeine Gegenposition zur funktionalen und nutzenorientierten Gesellschaft:Nichts Reines, nach seinem immanenten Gesetz Durchgebildetes, das

nicht wortlos Kritik übte, die Erniedrigung durch einen Zustand denunzierte, der auf die totale Tauschgesellschaft sich hinbewegt: in ihr ist alles

183

nur für anderes." Die Kritik, die autonome Werke üben, besteht also

nicht in manifesten Stellungnahmen gegen die Gesellschaft, in explizitenmoralischen Verurteilungen oder politischen Positionen, die sie beziehen.

Adorno ist sich natürlich bewußt, daß autonome Kunst niemals gänzlichautonom sein kann. Kunst ist durch ihre partielle Abhängigkeit vomKunsthandel und als Produkt gesellschaftlicher Arbeit immer auch eingesellschaftliches Faktum. Insofern spricht er vom Doppelcharakter derKunst als autonom und als fait social und vom „sozial determinierten

A " 1 8 4

Autonomen .Wie autonome Kunst die „verwaltete Welt" kritisiert, erläutert und kon

kretisiert Adorno anhand des Werks von Franz Kafka. Kafka gelingt dieDenunziation der unvernünftigen Wirklichkeit nicht durch den Stoff oder

Inhalt seiner Prosa. Möglich wird sie nur der Gestaltung bzw. der Form,die für Adorno den „Ort des gesellschaftlichen Gehalts" darstellt. BeiKafka ist die Form die sachliche, nüchterne und realistische Sprache.Diese steht im Widerspruch und im Spannungsverhältnis zum Inhaltseiner Werke, die imaginäre und unmögliche Vorgänge schildern. DieserKontrast von Form und Inhalt wird dadurch produktiv, daß er „dasUnmögliche durch quasi realistische Deskription in bedrohliche Näheholt". Entscheidend ist für Adorno, daß Kafkas nüchterne und sachlicheSprache sich der nüchternen und versachlichten Gesellschaft gleichmacht,deren Verblendungszusammenhang und Bann so in seinem Werk inallgegenwärtige Erscheinung treten, aber nicht explizit verurteilt, benanntoder thematisch werden: „Seinem Bericht ist der Aberwitz so selbstver

ständlich, wie er der Gesellschaft geworden ist."186 Was an Kafkas Werkschockiert, sind also nicht die ungeheuerlichen Vorgänge, die er in seinerProsa schildert, sondern die Selbstverständlichkeit, mit der er diesenüchtern darstellt: „Jeder Satz spricht: deute mich, und keiner will esdulden. Jeder erzwingt mit der Reaktion ,So ist es' die Frage: woher kenne

Adorno: AT, S. 335.

Ebenda, S. 312, 16, 334-336, 340, 344, 368.Ebenda, S. 342.

Ebenda.

67

KAPITEL III KUNST ALS OBJEKTIVATION DES LEIDENS

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ich das; das dejä vu wird in Permanenz erklärt. Durch die Gewalt, mit der187

Kafka Deutu ng gebietet, zieht er die ästhetis che Distan z ein. " DurchKafkas „sprachlichen Habitus des So-und-nicht-anders-Seins", der dengesellschaftlichen Gehalt ausdrückt, bewirkt sein Werk beim Rezipientenein dejä vu-Erlebnis, das bei ihm die Furcht hervorruft, das Erzähltekönnte ihm plötzlich selbst widerfahren. Indem Kafkas Texte, welche die„beschwichtigende Fassade vorm Unmaß des Leidens" niederreißen, die

Affekte des Lesers aufrühren, erzeugen sie eine „aggressive physischeNähe" zwischen sich und dem Rezipienten, stören das „kontemplativeVerhältnis von Text und Leser von Grund auf und entfalten so ihre

1 RR

schockierende Wirkung.Wie autonome Kunst das durch die unvernünftige Gesellschaft erzeugte

Leiden für Adorno zum Ausdruck bringt, läßt sich exemplarisch anPicassos Guernica-Bild zeigen. Dieses Kolossalgemälde entstand 1937während des spanischen Bürgerkrieges, kurz nachdem die deutschenFlugzeuge der Legion Condor das spanische Dorf Guernica zerstörthatten, wobei viele Menschen getötet wurden. Adorno äußert von PicassosGemälde, daß es die daseiende empirische Wirklichkeit bestimmt negiert.

Deren destruktiven Charakter bringt das Guernica-Bild dadurch zumAusdruck, daß es die Wirklichkeit, die abgebildeten Tiere, Menschen undHäuser, so stark beschädigt und zerstört, daß von ihr nur noch Trümmerübrig sind. Picassos Gemälde wird durch die Kraft seines Ausdrucksberedt. Dadurch entgeht es wie andere ausdrucksstarke Werke dergrundsätzlichen Tendenz autonomer Kunst, affirmativ und ideologisch zuwerden. Eine solche Gefahr besteht, weil sich autonome Werke aus derempirischen Welt hinaus begeben und zu einer Wirklichkeit sui generiswerden. Das macht ihren grundsätzlichen Scheincharakter aus, gegen denihr Ausdruck rebelliert:

Im Ausdruck enthüllen sie sich als gesellschaftliches Wundmal; Ausdruck

ist das soziale Ferment ihrer autonomen Gestalt. Kronzeuge dafür wäre Picassos Guernica-Bild, das bei strikter Unvereinbarkeit mit dem verordnetenRealismus, gerade durch inhumane Konstruktion, jenen Ausdruck gewinnt,der es zum sozialen Protest schärft jenseits aller kontemplativen Mißver-ständlichkeit. Die gesellschaftlich kritischen Zonen der Kunstwerke sinddie, wo es wehtut; wo an ihrem Ausdruck geschichtlich bestimmt die

Adorno: Aufzeichnungen zu Kafka, in: Adorno: P, S. 251 f., 254.188 Ebenda, S. 258, 252; Adorno: AT, S. 342, Adorno: Engagement, in: Adorno: NL, S.

426; Adorno: Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman, in: Adorno: NL, S.46.

68

Unwahrheit des gesellschaftlichen Zustandes zutage kommt. Darauf eigentlich reagiert die Wut.

Picassos Kolossalgemälde drückt für Adorno das Leiden durch seineinhumane Konstruktion aus. Auch wenn er dies nicht weiter erläutert,dürfte damit das fragmentierte Durcheinander von zerstückelten undzertrümmerten Körperteilen von Menschen und Tieren gemeint sein.

Durch die im Bild dargestellte zerstörte Wirklichkeit macht sich das Werkder destruktiven Wirklichkeit und dem durch sie erzeugtem Leiden gleich.Vermittelt durch die subjektiven Regungen Picassos objektiviert dieKonstruktion die sich dem Leiden gleichmachenden mimetischen Impulseund verhilft ihm so zum Ausdruck. Dadurch wird die Wahrheit über dieunvernünftige Wirklichkeit und das von ihr erzeugte Leiden auf schmerzhafte Weise erfahrbar. Wie aus anderen autonomen Werken spricht ausPicassos Guernica-Bild ein Appell, den Adorno auch als Angriff gegen dieWelt versteht und der für ihn die Wut des Rezipienten hervorrufen, 190

kann.Durch ein Beispiel aus der Musik verdeutlicht Adorno, daß es für die

Kunst keineswegs unproblematisch ist, die ihr zugewachsene Bestimmungund Aufgabe, das Leiden auszudrücken und erfahrbar zu machen,umzusetzen. Die Rede ist von Schönbergs Werk Ein Überlebender ausWarschau für Sprecher, Männerchor und Orchester op. 46, das er imAugust 1947 unter dem unmittelbaren Eindruck der Berichte über dasWarschauer Ghetto komponierte, die erstmals das ganze Ausmaß dernationalsozialistischen Greuel deutlich machten. Adorno beurteilt Schönbergs Komposition als Kunst obersten Ranges und als radikales undkraftvolles Stück, das die Verdrängung von Auschwitz nicht erlaubt. Dochobwohl das Werk die „autonome Gestaltung der zur Hölle gesteigertenHeteronomie" darstellt, ist es für Adorno nicht frei von Peinlichkeit undVerlegenheit.191 Denn indem das „Übermaß an realem Leiden",

trotz aller Härte und Unversöhnlichkeit, zum Bild gemacht wird, ist esdoch, als ob die Scham vor den Opfern verletzt wäre. Aus diesen wird etwas bereitet, Kunstwerke, der Welt zum Fraß vorgeworfen, die sie umbrachte. Die sogenannte künstlerische Gestaltung des nackten körperlichenSchmerzes der mit Gewehrkolben Niedergeknüppelten enthält, sei's noch

189 ,

Adorno: AT, S. 353, 10; Adorno: Engagement, in: Adorno: NL, S. 424.Adorno: Engagement, in: Adorno: NL, 424f.

191

Ebenda, S. 423.

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KAPITEL III KUNST ALS OBJEKTIVATION DES LEIDENS

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so entfernt, das Potential, Genuß herauszupressen. Die Moral, die der Kunst gebietet, es keine Sekunde zu vergessen, schliddert in den Abgrundihres Gegenteils. Durchs ästhetische Stilisationsprinzip, und gar das feierliche Gebet des Chores, erscheint das unausdenkliche Schicksal doch, alshätte es irgend Sinn gehabt; es wird verklärt, etwas von dem Grauen weggenommen; damit allein schon widerfährt den Opfern Unrecht, während doch vor der Gerechtigkeit keine Kunst standhielte, die ihnen ausweicht.Noch der Laut der Verzweiflung entrichtet seinen Zoll an die verruchte

Affirmation.

Diese Passage zeigt, daß es für Adorno einen unauflöslichen Zusammenhang zwischen Kunst, Moral und Leiden gibt, der später noch genaueruntersucht wird. Im Zentrum von Adornos Moralbegriff steht der Begriff der Gerechtigkeit. Die Kunst untersteht der Moral, die ihr gebietet, dasLeiden nicht zu vergessen. Wie bereits dargelegt, hat die Kunst fürAdorno bestehendes Leiden auszudrücken und die Erinnerung an vergangenes Leiden wachzuhalten. Kann sie diese Aufgabe nicht erfüllen,disqualifiziert sie sich für Adorno, weil sie den moralischen Anforderungen, die er an genuine Kunst stellt, nicht genügen kann und zum affirmati

ven Bestandteil der ungerechten Welt herabsinkt. Aber auch wenn Kunstihrer Aufgabe nachkommt, gerät sie für Adorno in die Aporie, daß diemoralisch gebotene künstlerische Gestaltung des Leidens auch unmoralische Folgen zeitigt. Dies begründet er zum einen damit, daß durch dieDarstellung des Leidens gewissermaßen die Scham vor den Opfernverletzt wird. Zum anderen ist er der Überzeugung, daß selbst dieunerbittlichste Kunst ohne ein „Moment des Genusses" ihre Wirkungbeim Rezipienten nicht entfalten könnte: „Wäre sie nicht, wie immer auchvermittelt, für die Menschen eine Quelle von Lust, so hätte sie in dembloßen Dasein, dem sie widerspricht und widersteht, nicht sich erhaltenkönnen." Daß die künstlerische Gestaltung des Leidens dem Rezipienten von Schönbergs Werk, in dem ein Sprecher vom Weg in die Gaskam

mer berichtet, nicht nur Erkenntnis über die Welt ermöglicht, sondernauch Genuß bereitet, erachtet Adorno nicht nur als peinlich. Es dokumentiert für ihn auch die Teilhabe der Kunst an der Ungerechtigkeit.

Diese ersten beiden Einwände Adornos können weitgehend allgemeinauf die Bestimmung der Kunst als Ausdruck des Leidens bezogen werden.Dagegen betrifft der dritte in erster Linie Schönbergs Komposition Ein

Ebenda (Hervorhebungen von mir).Ebenda, S. 428; Adorno: Ist die Kunst heiter?, in: Adorno: NL, S. 600; vgl.: Adorno:AT, S. 27.

70

Überlebender aus Warschau. Im Gegensatz etwa zu Becketts Stückengelingt ihr nämlich nicht die von Kunst in einer sinnlosen Welt geforderteNegation von Sinn. Durch das religiöse Element in Schönbergs Komposition entsteht für Adorno der Anschein, daß der Tod in der Gaskammerirgendeinen positiven Sinn gehabt haben könnte. Indem die Opfer in derTodesstunde unter dem Gebrüll des Feldwebels in das Schema Israeleinstimmen, das hier als letztes Bekenntnis zu Gott und seiner Einzigkeitzu verstehen ist, wird ihr Schicksal religiös verklärt. Dadurch begeht

Schönbergs Komposition für Adorno nicht nur eine Ungerechtigkeit anden Opfern. Die religiöse Verklärung verleiht dem Werk auch einaffirmatives Moment gegenüber der ungerechten Welt.

Adornos oben zitierte Textpassage und die darin entfaltete Aporieverleitet Karol Sauerland zu dem Urteil: „Adorno kommt letztenendesdoch zu der These zurück, die Kunst sei ohnmächtig, das unerhörte durchAuschwitz verkörperte Leid einzufangen."194 Daß dieses Urteil unzutreffend ist, erweist sich nicht nur an den vielen bereits angeführten Äußerungen Adornos zur Kunst als Ausdruck des Leidens. Auch die von Adornothematisierten Kunstwerke lassen eine derartige Deutung nicht zu. Zwarräumt Adorno durchaus ein, daß es für die Kunst keineswegs einfach und

unproblematisch ist, das Leiden einzufangen und zur Sprache zu bringen.Dies stellt er in seiner Interpretation von Schönbergs Kompositiondeutlich heraus. Auch läßt sich kaum bestreiten, daß die Kunst das Leidennie in seinem vollem Ausmaß und seiner ganzen Intensität ausdrücken underfahrbar machen kann. Aber selbst an Schönbergs Komposition kritisiertAdorno nur, daß durch ihre Teilhabe an der Ungerechtigkeit „etwas vondem Grauen weggenommen" wird. Das heißt aber keineswegs, daß es garnicht zum Ausdruck gelangt. Vielmehr erlangt Schönbergs Kompositiondurch den Ausdruck des Grauens und als „Laut der Verzweiflung" ihre„schreckhafte Kraft".195

Karol Sauerland ist der Ansicht, daß Adorno letztlich wieder zu seiner„Lieblingsidee des Schweigens und Verstummens" der Kunst zurückkomme, von der er in der oben zitierten Textpassage ansatzweise abzugehen scheine. Unter dieser Idee versteht Sauerland, daß für Adorno dieZunahme der Leidens im Geschichtsverlauf der Kunst die Spracheverschlägt, so daß sie die Wahrheit nicht anders als durch Verstummenausdrücken kann. Er führt zutreffend an, daß Adorno neben Beckett auchCelan, den für Adorno „bedeutendsten Repräsentanten hermetischer

Karol Sauerland: Einführung in die Ästhetik Adornos, Berlin 1979, S. 72.Adorno: Engagement, in: Adorno: NL, S. 423.

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KAPITEL III KUNST ALS OBJEKTIVATION DES LEIDENS

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Dichtung der zeitgenössischen deutschen Lyrik" als hervorragendesBeispiel für das Verstummen in der Dichtung ansieht. Dabei stützt ersich auf folgende Textpassage aus der Ästhetischen Theorie:

Diese Lyrik ist durchdrungen von der Scham der Kunst angesichts des wieder Erfahrung so der Sublimierung sich entziehenden Leids. Celans Gedichte wollen das äußerste Entsetzen durch Verschweigen sagen. IhrWahrheitsgehalt selbst wird ein Negatives. Sie ahmen eine Sprache unterhalb der hilflosen der Menschen, ja aller organischen nach, die des Totenvon Stein und Stern. Beseitigt werden die letzten Rudimente des Organischen; [...]. Die unendliche Diskretion, mit der Celans Radikalismus verfährt, wächst seiner Kraft zu. Die Sprache des Leblosen wird zum letztenTrost über den jeglichen Sinns verlustigen Tod. Der Übergang ins Anorganische ist nicht nur an Stoffmotiven zu verfolgen, sondern in den geschlossenen Gebilden die Bahn vom Entsetzen zum Verstummen nachzu-

197

konstruieren.

Im Gegensatz zu Schönbergs Ein Überlebender aus Warschau begehtCelans Lyrik durch ihre schamhafte und diskrete Darstellung des Leidens

für Adorno kein Unrecht an den Opfern. Adorno denkt hier weniger anCelans berühmte Todesfuge, als an seine späteren Gedichte. Diese hermetischen Gebilde sind dem Rezipienten in ihrer Dunkelheit schwer zugänglich. Die Bedeutung der von Celan häufig verwendeten Wörter wie Steinund Stern erschließt sich kaum eindeutig. Durch ihre unzugängliche Sprache, die sich der Sprache des Leblosen gleichmacht und sich weigert, dasEntsetzen explizit zu nennen, gelingt es Celans Lyrik für Adorno jedoch,dieses auszudrücken. Auch deshalb kann von der von Sauerland behaupteten Ohnmacht der Kunst, das Leiden einzufangen, nicht die Rede sein.Celans Gedichte bringen für Adorno das Leiden und das Entsetzen geradedurch Verschweigen zur Sprache. Letztlich ist „der Gestus ihres Verstum-mens und Verschwindens" für Adorno „der äußerste Reduktionismus im

Bewußtsein der Nöte von Kunst selber", aber nicht der einzige und198

letztgültige Modus von Kunst, dem Leiden zum Ausdruck zu verhelfen.Die wesentliche Aufgabe und Bestimmung der Kunst besteht für

Adorno zweifellos darin, menschliches Leiden zu objektivieren unddadurch Wahrheit über die Wirklichkeit zum Ausdruck zu bringen. Weil

Karol Sauerland, a.a.O., S. 75, 72, 64-66, Adorno: AT, S. 477.Adorno: AT, S. 477.Ebenda, S. 309f.

72

sie dies vermag, kritisiert sie die unvernünftige Wirklichkeit, die dasLeiden erzeugt. Nur wenn die Kunst dieser Bestimmung nachkommt, istsie für Adorno wahre und genuine Kunst. Daß Adorno nicht nur derPhilosophie, sondern auch der Kunst die Aufgabe zuweist, das Leidenberedt werden zu lassen, ist angesichts der geschichtlichen Erfahrungendes Faschismus, des Stalinismus, der beiden Weltkriege sowie vonAuschwitz und Hiroshima nur zu verständlich. Trotzdem ist dieseZuweisung im Falle der Kunst keineswegs unproblematisch. Die begriff

liche Objektivation des Leidens und dessen gesellschaftlicher Ursachen zuder  Aufgabe der Philosophie zu erklären und dieser Aufgabe durch dieeigene philosophische Arbeit und die eigenen Publikationen nachzukommen, ist ein legitimes Unterfangen. Doch der Kunst wird Adorno durchdie weitgehende Ausschließlichkeit, mit der er an sie die moralischeForderung stellt, das Leiden auszudrücken, nicht gerecht. Das heißtkeineswegs, daß Adornos Interpretationen moderner Kunstwerke diesendurchweg nicht gerecht werden. Gerade die Werke der von ihm hochgeschätzten Künstler der radikalen Moderne lassen sich durchaus alsAusdruck des Leidens und als Kritik an einer widersprüchlichen undsinnlösen Welt verstehen. Aber indem Adorno von der Kunst insgesamtfordert, daß sie diese Aufgabe entweder verwirklichen muß oder sich alsKunst disqualifiziert, tut er dieser Unrecht; und zwar genau in dem Sinne,in dem er den Begriff sonst häufig kritisch gegen die bestehende Wirklichkeit wendet: als Gleichmachen des Ungleichartigen. Denn das vielgestaltige und offene Phänomen, das unter dem Begriff der Kunst subsumiert wird, läßt sich nicht einer einheitlichen Aufgabe und Bestimmungunterordnen. Auch wenn sich über den kritischen Gehalt etwa von MarcelDuchamps „Ready-mades" und von Op-art Werken streiten läßt, kanndiesen Werken nicht rechtmäßig ihr Existenzrecht oder ihr Status alsKunst abgesprochen werden. Das ist aber die Konsequenz, die sich ausAdornos kunstphilosophischem Ansatz ergibt und die er in seinenpolemischen Ausfällen gegen den Jazz, den er zweifellos nicht verstanden

hat, explizit gezogen hat.199

Adornos kunstphilosophischer Ansatz läßtsich zudem auf zeitgenössische Werke wie beispielsweise auf dieLichtinstallationen von Dan Flavin und auf Arbeiten, die mit neuenMedien experimentieren, kaum mehr anwenden. Veranschaulichen läßtsich das etwa an dem Werk 24 Hour Psycho des Videokünstlers Douglas

Adorno: Zeitlose Mode. Zum Jazz, in: Adorno: P, S. 119-133; vgl. zur Kritik vonAdornos Verständnis des Jazz: Susan Buck-Morss: The Origin of Negative Dialectics.Th. W. Adorno, Walter Benjamin and the Frankfurt Institute, New York/London 1979,S. lOOff.; Tibor Kneif: Musiksoziologie, Köln 1971, S. 36ff.

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KAPITEL III KUNST ALS OBJEKTIVATION DES LEIDENS

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Gordon von 1993, der Alfred Hitchcocks Film auf die vorgegebeneErzählzeit von 24 Stunden verlangsamt. Die Inkompatibilität von AdornosKunstphilosophie mit zeitgenössischer Kunst läßt sich teilweise darauf zurückführen, daß in zeitgenössischer Kunst ästhetische Reflexionen, etwaüber Wahrnehmung und Wahrnehmungsveränderungen, über Kunst undNichtkunst sowie über Darstellung und Nichtdarstellbarkeit in denVordergrund treten. Das hat häufig zur Folge, daß das expressiv mimetische Moment der Kunst, das für ihre Bestimmung als Ausdruck desLeidens und als wahre Erkenntnis und Kritik der gesellschaftlichen Wirklichkeit unabdingbar ist, in zeitgenössischen Werken in den Hintergrundtritt oder marginalisiert wird.

Für den unbedingten Wahrheitsanspruch, den Adorno mit seinemkunstphilosophischen Ansatz verbindet, trifft letztlich zu, was er öftersvon der Wahrheit allgemein äußert: „Schwebend ist sie, zerbrechlichvermöge ihres zeitlichen Gehalts; [...]. Auf die Tröstung, Wahrheit seiunverlierbar, hat Philosophie zu verzichten." ' Nach dem zweitenWeltkrieg war es der Kunst insbesondere in Deutschland unmöglich,bruchlos an die Entwicklungen der vorfaschistischen Epoche Europasanzuknüpfen. Nicht nur aus moralischen Gründen war es notwendig, sich

mit den Nazi-Verbrechen und der Frage der deutschen Schuld auseinanderzusetzen. Der gesamte Zivilisationsprozeß und damit alle Hoffnungenauf Fortschritt und eine Humanisierung des Menschen wurden durch dasGeschehene in Frage gestellt. So spricht Jean-Francois Lyotard noch Mitteder 80er Jahre von der „Liquidierung" des „Projekts der Moderne", diedurch den Namen „Auschwitz" symbolisiert wird. Adornos kunstphilosophischer Ansatz kann in seinem Absolutheitsanspruch als eine angemessene Reaktion auf die Greuel des Faschismus und Stalinismus sowie auf Auschwitz und Hiroshima verstanden werden. Vergegenwärtigt man sichdas Leiden, das etwa durch Pol Pot und die Massaker in Ruanda sowiedurch mannigfaltige andere Ursachen wie Kriege, Armut und Hungerfortwährend erzeugt wird, fällt es schwer zu behaupten, Adornos Ver

ständnis der Kunst als Ausdruck des Leidens und als Erkenntnis undKritik einer unvernünftigen Wirklichkeit sei obsolet. Veraltet und damitunhaltbar geworden ist aber zweifellos der Absolutheitsanspruch, denAdorno für seinen kunstphilosophischen Ansatz erhebt. In diesem Sinnekritisiert etwa Lyotard, für den die Bezugnahme auf Auschwitz ebensozentral ist wie für Adorno, daß das Verharren bei Kummer, Nostalgie und

" Adorno: ND, S. 45.Jean-Francois Lyotard: Postmoderne für Kinder, Wien 1987, S. 33, 73.

74

Pessimismus der Kunst und der Philosophie keine^rientierung erlaubt,die positiv eine neue Perspektive eröffnen würde".202 Aus diesem Grund

erachtet er es für notwendig, die Trauerarbeit über die gescheiterten Fortschrittshoffnungen abzuschließen. Obwohl Lyotard mit seiner Ästhetikdes Erhabenen explizit an Adorno anknüpft, grenzt er sich deutlich vonihm ab: „Adorno ist melancholisch."

202Ebenda, S. 103; Für Lyotard ist Adornos Werk „durch die Nostalgie geprägt" (Jean-Francois Lyotard: Intensitäten, Berlin 1978, S. 46).Jean-Francois Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien 1986, S. 121f.;Jean-Francois Lyotard u.a.: Immaterialität und Postmoderne, Berlin 1985, S. 68f.

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Kapitel IVGeschichtsphilosophie als Erkenntnis der Gründedes Leidens und der Ungerechtigkeit

Die vorangehenden Kapitel haben untersucht, welche KonsequenzenAdorno aus der für ihn unbezweifelbaren objektiven Präsenz des Leidensfür die Philosophie und die Kunst zieht und dessen zentrale und fundamentale Bedeutung für sein Denken aufgewiesen. Die Philosophie kannder ihr zugewiesenen Bestimmung, das Leiden zu objektivieren, vor allemdadurch nachkommen, daß sie die unvernünftige und ungerechte Wirklichkeit und damit die geschichtlichen und gesellschaftlichen Gründe desLeidens auf den Begriff bringt. Das ist insbesondere die Aufgabe der inder Dialektik der Aufklärung entfalteten Geschichtsphilosophie, derenerklärtes Ziel darin besteht, die Erkenntnis zu gewinnen, „warum die

Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten,in eine neue Art von Barbarei versinkt". Demgemäß geht es imfolgenden um die Frage, was Adorno als die geschichtlichen und gesellschaftlichen Gründe des Leidens erachtet. Das Leiden ist für Adornoprimär die Folge von ungerechten Herrschaftsverhältnissen, die sich vomUnrecht der rationalen Beherrschung der äußeren Natur zum Zweck derSelbsterhaltung ableiten lassen. Indem dieses Kapitel den für Adornounauflöslichen Zusammenhang von Leiden und Ungerechtigkeit aufzeigt,nähert sich die ganze Untersuchung ihrem ersten Ziel, den ethischen Kernvon Adornos Denken freizulegen.

Adorno/Horkheimer: DdA, S. 16 (Hervorhebung von mir).

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KAPITEL IV GESCHICHTSPHILOSOPHIE ALS ERKENNTNIS DER GRUNDE

M th h it f d fü i i d A d k fü

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1. Die „Urgeschichte der Subjektivität" als Urgeschichtedes Leidens und der Ungerechtigkeit

Um die Gründe des Leidens zu erkennen, gehen Horkheimer und Adornoin der Dialektik der Aufklärung bis zur Urgeschichte und damit bis zu denfrühesten Entwicklungsstufen der Menschheit zurück. Von diesen ausge

hend rekonstruieren sie die Geschichte der okzidentalen Zivilisation imAnschluß an Max Weber als fortschreitenden Rationalisierungs- undIntellektualisierungsprozeß. Das Resultat dieses Prozesses ist, wie es dieVorrede formuliert, die ideelle und praktische Selbstzerstörung der Vernunft. Die rationalitäts- und herrschaftskritische Perspektive, unter derHorkheimer und Adorno den Zivilisationsprozeß analysieren, läßt sich alsKonsequenz ihrer grundlegenden geschichtsphilosophischen Prämisseverstehen: „die mit Herrschaft verknüpfte Rationalität liegt selbst auf demGrunde des Leidens".

Für Horkheimer und Adorno beginnt die Urgeschichte auf den frühesten bekannten Entwicklungsstufen mit dem Präanimismus. In dem fürviele frühe Kulturen zentralen religiösen Glauben an eine den Gegenständen anhaftende übernatürliche Macht oder Kraft, die in der Religionswissenschaft meist mit dem melanesischen Begriff Mana bezeichnet wird,sehen Horkheimer und Adorno den Anfang des Rationalisierungsprozesses. Motiviert wird er durch den Schauder und die Furcht der Urmenschenvor der „realen Übermacht der Natur". Insofern sprechen sie von der„Angst des Menschen, deren Ausdruck Erklärung wird" und bestimmenAufklärung als die „radikal gewordene, mythische Angst".206 DiesesVerständnis der Entstehung der Rationalität konterkariert die gängigephilosophiegeschichtliche Auffassung, daß erst in der griechischenPhilosophie der Übergang vom Mythos zum Logos stattgefunden habe,dieser gegenüber jenem etwas qualitativ Neues darstelle und ihm wesent

lich entgegengesetzt sei. Auch die Verwendung des Begriffs Mythos fürdie ältesten Entwicklungsstufen der Menschheit ist durchaus unüblich.Das läßt sich so erklären, daß Horkheimer und Adorno den Begriff des

Ebenda, S. 200 (Hervorhebung von mir); Max Weber: Wissenschaft als Beruf, in: MaxWeber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1982, S. 593 f; MaxWeber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Max Weber:Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 1988, S. 114, 246, 256,265 f.Adorno/Horkheimer: DdA, S. 37f.

78

Mythos sehr weit fassen und er für sie nur ein anderer Ausdruck fürfalsche Klarheit" ist. Die falsche Klarheit, der Mythos, ist aber immer

schon ein Versuch der Welterklärung durch die Vernunft. Insofern lauteteine der beiden Hauptthesen der Dialektik der Aufklärung: „Schon derMythos ist Aufklärung". 07 Da Horkheimer und Adorno den Beginn desRationalisierungsprozesses bereits mit dem ältesten Mythos des Managegeben sehen, dehnen sie den Begriff der Aufklärung, den sie alsfortschreitendes Denken" bestimmen, bis zu den Anfängen der über

lieferten Geschichte aus. Die Formulierung, daß bereits der MythosAufklärung ist, weist auch darauf hin, daß Horkheimer und Adorno es fürnötig befinden, im Anschluß an Nietzsche und Freud den über lange Zeitim Abendland vorherrschenden Vernunftbegriff einer kritischen Revisionzu unterziehen.

Horkheimer und Adorno teilen die von vielen Klassikern des politischen Denkens vertretene anthropologische Auffassung, daß dieMenschen grundsätzlich nach Selbsterhaltung streben. Selbsterhaltung istfür sie ein „Naturtrieb" des Menschen. Wie bereits erwähnt, verwirklicht sich dieser Naturtrieb bei den Urmenschen durch Mimesis, die auf den allerfrühesten Entwicklungsstufen noch weitgehend identisch ist mit

Mimikry. Obwohl Horkheimer und Adorno von einem „archaischenSchema der Selbsterhaltung" sprechen, handelt es sich genau genommenim frühesten Stadium um einen vor-ichlichen Reflex der „Angleichung andie umgebende unbewegte Natur". Denn ein wesentliches Charakteristikum der Frühphase der Urgeschichte besteht darin, daß sich dasidentische Selbst bzw. Ich noch nicht ausgebildet hat und es demzufolgeauch kein Selbst zu erhalten gibt. Auf dieser frühen Entwicklungsstufe istdas Verhältnis von Mensch und Natur durch das vorherrschende mimetische Verhalten noch nicht das einer radikalen Entgegensetzung. DieTrennung von Subjekt und Objekt ist jedoch bereits potentiell angelegt.

An die früheste Entwicklungsstufe des Präanimismus schließt sich fürHorkheimer und Adorno die magische Phase an. In dieser handhaben die

Urmenschen die Mimesis bereits rational. Indem sie sich durch Kultmasken und Bilder konkreten Individuen - einzelnen Naturkräften undDämonen - ähnlich machen, versuchen sie diese für ihre Zwecke zu

20 7 DU ,

Ebenda, S. 20f.208 cu ,

Ebenda, S. 115; Aristoteles: Politik, Zürich/München 1986, S. 48, 1252 a 30; ThomasHobbes: Vom Menschen. Vom Bürger. Elemente der Philosophie II/III, Hamburg 1994,S- 24, 62; Jean-Jaques Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit, Paderborn u.a. 1997,S. 56f.

209 . ,

Horkheimer/Adorno: DdA, S. 210, 34.

79

KAPITEL IV

beeinflussen Bild und Sache Mensch und Natur stehen noch in einem

GESCHICHTSPHILOSOPHIE ALS ERKENNTNIS DER GRUNDE

t s und an ihre Stelle tritt die rationale Praxis die Arbeit" Dieser

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beeinflussen. Bild und Sache, Mensch und Natur stehen noch in einemVerhältnis verwandtschaftlicher Ähnlichkeit und Nähe, das im weiterenVerlauf des Rationalisierungsprozesses durch die Ausbildung desDenkens in Allgemeinbegriffen verlorengeht, da dieses zu einer zuneh-

210

menden Distanz von Subjekt und Objekt führt. Auf den ersten nomadischen Stufen der magischen Phase, die von Horkheimer und Adorno wiealle frühen Entwicklungsstadien nicht scharf von den anderen abgegrenztwird, verorten sie die erste Form von Arbeitsteilung und zwischenmenschlicher Ordnung: „Das Wild wird von den Männern aufgespürt, dieFrauen besorgen Arbeit, die ohne straffes Kommando geschehen kann." ''In den frühen Formen des Zusammenlebens, die Horkheimer und Adornoals Stämme bezeichnen, bilden sich im weiteren Fortgang der Geschichtezunehmend Unterwerfungs- und Herrschaftsverhältnisse heraus. Damitgeht einher, daß die meisten Mitglieder des Stammes an der magischenBeeinflussung der Natur - im Gegensatz zu früheren Perioden - nicht mehrselbständig teilnehmen. Diese Entwicklung führt dazu, daß sich eineKlasse von wissenden und mächtigen Zauberern herausbildet, die dieNatur durch ihre Magie beeinflussen. Dieser steht die Masse der Unterworfenen gegenüber, die zur Arbeit diszipliniert werden und gehorchen

müssen: „Die wiederkehrenden, ewig gleichen Naturprozesse werden denUnterworfenen, sei es von fremden Stämmen, sei es von den eigenenCliquen, als Rhythmus der Arbeit nach dem Takt von Keule und Prügelstock eingebleut, der in jeder barbarischen Trommel, jedem monotonenRitual widerhallt."212

Auf dieser Stufe des Zivilisationsprozesses tritt ein zentraler Gesichtspunkt der Dialektik der Aufklärung, das Motiv der sich immer entschiedener durchsetzenden Naturbeherrschung in den Blick: „Natur soll nichtmehr durch Angleichung beeinflußt, sondern durch Arbeit beherrschtwerden." Die organisierte Mimesis der Zauberer verliert in dermenschlichen Auseinandersetzung mit der Natur zunehmend an Bedeu-

Ebenda, S. 31-33, 210.2" Ebenda, S. 43.212 Ebenda, S. 43.

Ebenda, S. 41; An dieser Stelle sei auf den sehr informativen Artikel von WolfganßSchirmacher hingewiesen, der sich im Historischen Wörterbuch der Philosophie unterdem Stichwort Naturbeherrschung findet. Von besonderem Interesse ist, daß Schirmacher aufzeigt, daß der Begriff bereits von Hegel, Marx, Engels, Nietzsche und Freudverwendet wird, von denen Horkheimer und Adorno maßgeblich beeinflußt sind(Joachim Ritter; Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie.Bd. 6: M0-O, Basel/Stuttgart 1984, S. 523-526).

80

tu ns und an ihre Stelle tritt die „rationale Praxis, die Arbeit . DieserWandel stellt für Horkheimer und Adorno auch den Übergang von der

magischen zur historischen Phase dar, die für sie in etwa mit dem Zeitalterder Mythen in Griechenland beginnt. Auf dieser Stufe, die dem nomadischen Zeitalter nachfolgt, werden kriegerische Stämme seßhaft undherrschen über die besiegten und geknechteten Ureinwohner. Mit derSeßhaftigkeit bildet sich auch das Eigentum und die Herrschaft überGrund und Boden aus. Odysseus ist bereits „der Grundherr, der andere für

sich arbeiten läßt". Vergleichbar mit Rousseaus Kulturkritik aus dem Diskurs über die Ungleichheit  beurteilen Horkheimer und Adorno dieEinführung einer festen Ordnung des Eigentums als entscheidende undfolgenschwere Zäsur im Prozeß der Vergesellschaftung. In Anlehnung anMarx sprechen sie davon, daß „die feste Ordnung des Eigentums, die mitder Seßhaftigkeit gegeben ist, die Entfremdung der Menschen begrün-det".216

Die Natur setzt den sie bearbeitenden Menschen Widerstand entgegen.Um diesen Widerstand zu brechen und die Natur durch Arbeit beherrschenzu können, muß die frühe Menschheit ihre Trägheit und Disziplinlosigkeitüberwinden, die mit ihrer mimetischen Daseinsweise einhergeht. Diese

Überwindung vollzieht sich für Horkheimer und Adorno von den frühesten Gesellschaftsformen an dadurch, daß sich die Herrschaft und Machtvon Privilegierten verfestigt, welche die Unterworfenen durch Zwang undGewalt zur Arbeit disziplinieren. Horkheimer und Adorno leiten diegesellschaftliche Herrschaft, die sie wie Marx als Klassenherrschaft be-

Horkheimer/Adorno: DdA, S. 210.Ebenda, S. 57.

Ebenda, S. 101; Horkheimer und Adorno begreifen Odysseus als das Urbild des„bürgerlichen Individuums" (Ebenda, S. 67); In Rousseaus Discours sur l'inegaliteheißt es: „Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zusagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, warder wahre Begründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege,Morde, wieviel Not und Elend und wieviele Schrecken hätte derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet undseinen Mitmenschen zugerufen hätte: ,Hütet euch, auf diesen Betrüger zu hören; ihr seidverloren, wenn ihr vergeßt, daß die Früchte allen gehören und die Erde niemandem'"(Jean-Jaques Rousseau, a.a.O., S. 173). Horkheimer und Adorno erläutern an dieserStelle ihren Begriff der Entfremdung nicht weiter. Zu fragen wäre etwa nach Abweichungen und Übereinstimmungen mit dem Entfremdungsbegriff von Marx und nachdem Verhältnis zu den Begriffen der Versachlichung und Verdinglichung (Karl Marx:Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEW, Ergänzungsband, Erster Teil, Berlin1977, S. 51 Off; Elmar Treptow: Die Entfremdungstheorie bei Karl Marx (unter besonderer Berücksichtigung des Spätwerks), München 1978, S. 58).

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KAPITEL IV

sehen Freud der wiederum stark von Nietzsche beeinflußt ist kritisiert

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sehen. Freud, der wiederum stark von Nietzsche beeinflußt ist, kritisiertin Das Unbehagen in der Kultur  ebenso den Fortschritt der Zivilisation,der den Preis von Arbeitszwang und Triebverzicht fordert und denGlücksanspruch des Individuums nicht befriedigt. Die von Freud in seinerfür Adorno „genialen und viel zu wenig bekannten Spätschrift" entwik-kelte Kulturtheorie vertritt bereits die Auffassung, daß die „menschlicheGemeinschaft mit Hilfe der Technik zum Angriff auf die Natur übergehtund sie dem menschlichen Willen unterwirft". Der Subjektbegriff von

Horkheimer und Adorno, der mit ihrem Vernunftbegriff und dem Begriff der Selbsterhaltung aufs engste verknüpft ist, verdankt sich ebenfalls einerSynthese von Nietzsche und Freud. Für Nietzsche sind Vernunft undMacht untrennbar und unaufhebbar miteinander verknüpft; eine Verknüp-

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fung, die es zu bejahen gilt. Auch für Horkheimer und Adorno sindVernunft und Macht in der bisherigen Geschichte miteinander verknüpft;eine Verknüpfung, von der es sich zu emanzipieren gilt. So sprechen sievon „Herrschaft, als deren Mittel Denken erwuchs", vom Geist als dem„Inbegriff der Macht und des Kommandos" und der „Identität vonHerrschaft und Vernunft".22 Nietzsche bezeichnet die ersten Menschenals „Augenblickssklaven des Affekts und der Begierde", die erst durch

grausame Sozialdisziplinierung dazu gebracht wurden, Willen undVernunft auszubilden und damit die Herrschaft über die Affekte zu

Für Nietzsche ist die Ausbildung des „eigenen, unabhängigen langen Willens", derVernunft und des identischen Ichs das Ergebnis eines Jahrtausende dauernden Prozessesder grausamen Sozialdisziplinierung. Am Ende dieses Prozesses steht das „nur sichselbst gleiche" und „so uv er ai ne In di vi du um ": „Dieser Freigewordene, derwirklich versprechen da rf , dieser Herr des fr ei en Willens, dieser Souverain - wiesollte er es nicht wissen, welche Überlegenheit er damit vor Allem voraus hat, was nichtversprechen und für sich selbst gut sagen darf, wie viel Vertrauen, wie viel Furcht, wieviel Ehrfurcht er erweckt - er .verdient' alles Dreies - und wie ihm, mit dieser Herrschaft über sich, auch die Herrschaft über die Umstände, über die Natur und alle

willenskürzeren und unzuverlässigeren Creaturen nothwendig in die Hand gegeben ist?'(Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, KSA, Bd. 5, Berlin/New York 1988, S.293f, vgl. 296f).

Adorno: Wird Spengler recht behalten?, in: Adorno: GS, Bd. 20. 1, S. 144; SigmundFreud: Das Unbehagen in der Kultur, Frankfurt am Main 1990, S. 76.„Die Erkenntniß arbeitet als We r k z e u g der Macht. So liegt es auf der Hand, daß siewächst mit jedem Mehr von Macht [...] das Maß des Erkennenwollens hängt ab vondem Maß des Wachsens des Wi ll e ns zu r Ma ch t der Art: eine Art ergreift so vielRealität, um übe r sie Herr zu wer de n, um sie i n Di en st zu neh men(Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1887 - 1889, KSA, Bd. 13, Berlin/NewYork 1988, S. 302).Adorno/Horkheimer: DdA, S. 60, 264, 142f.

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erlangen. Für Nietzsche ist der Gegensatz von Vernunft und Affektenaber nicht absolut, denn er definiert Denken als ein Verhalten der Triebezueinander. Trotzdem dominieren Wille und Vernunft für ihn die anderen

228

Affekte. Was bei Nietzsche der Gegensatz von Affekten und Vernunftist, wird bei Freud zum Gegensatz von Sexualtrieben und Ichtrieben, dieer den Selbsterhaltungstrieben gleichsetzt. Der zentrale Gegensatz inseiner ersten Triebtheorie von 1910 lautet: „Von ganz besonderer Bedeu

tung [...] ist der unleugbare Gegensatz zwischen den Trieben, welche derSexualität, der Gewinnung sexueller Lust, dienen, und den anderen,welche die Selbsterhaltung des Individuums zum Ziel haben, den Ichtrieben.'' 1

Nietzsches genealogische und anthropologische sowie Freuds psychologische Überlegungen sind das Vorbild der im Odysseus-Exkurs der

 Dialektik der Aufklärung entfalteten „Urgeschichte der Subjektivität", inder sich das schwache Selbst durch seine Behauptung gegen die Mächteder Vorwelt zu einem starken und identischen Ich ausbildet. DerUrmensch ist durch seine Vergangenheit und seine Herkunft aus der Natureins mit den Tieren, deren Welt begrifflos ist und denen auch kein Selbst

Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, a.a.O., S. 296f.

„Das befehlerische Etwas, das vom Volke ,der Geist' genannt wird, will in sich und umsich herum Herr sein und sich als Herrn fühlen: es hat den Willen aus der Vielheit zurEinfachheit, einen zusammenschnürenden, bändigenden, herrschsüchtigen und wirklichherrschaftlichen Willen" (Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, KSA, Bd. 5,Berlin/New York 1988, S. 167, 54); „man muss noch den grössten Theil des bewußtenDenkens unter die Instinkt-Thätigkeiten rechnen" (Ebenda, S. 17).Sigmund Freud: Die psychogene Sehstörung in psychoanalytischer Auffassung,Gesammelte Werke, VIII, London 1955, S. 97f. (Hervorhebungen von mir); DerSelbsterhaltungstrieb hat für Nietzsche nur eine untergeordnete Bedeutung: „DiePhysiologen sollten sich besinnen, den Selbsterhaltungstrieb als kardinalen Trieb einesorganischen Wesens anzusetzen. Vor Allem will etwas Lebendiges seine Kraft au s l as se n - Leben selbst ist Wille zur Macht -: die Selbsterhaltung ist nur eine der

indirekten und häufigsten Fo lge n davon" (Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut undBöse, a.a.O., S. 27).

Adorno/Horkheimer: DdA, S. 78, 101; Jürgen Habermas weist zurecht auf Nietzschesgroßen Einfluß auf Horkheimer und Adorno hin: „Zu jener Konstruktion, die Horkheimer und Adorno ihrer ,Urgeschichte der Subjektivität' zugrundelegen, finden sichPunkt für Punkt Entsprechungen bei Nietzsche" (Jürgen Habermas: Der philosophischeDiskurs der Moderne, Frankfurt am Main 1989, S. 146). Mit Nietzsches Einfluß auf Horkheimer und Adorno beschäftigt sich auch Norbert Rath. Dabei arbeitet er heraus,daß dieser auf Adorno größer ist als auf Horkheimer. Bezüglich des Odysseus-Exkursesbemerkt er: „Die Genealogie der Moral ist das unmittelbare Vorbild der Kritik"(Norbert Rath: Zur Nietzsche-Rezeption Horkheimers und Adornos, in: Willem vanReijen; Gunzelin Schmid Noerr (Hrsg.): Vierzig Jahre Flaschenpost: ,Dialektik der Aufklärung' 1947 bis 1987, Frankfurt am Main 1987, S. 73-110, 88).

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KAPITEL IV

zugesprochen werden kann Für Horkheimer und Adorno ist die spezi

GESCHICHTSPHILOSOPHIE ALS ERKENNTNIS DER GRÜNDE

auch Mut und Herz die sich vor ihrer gewaltsamen Unterwerfung durch

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zugesprochen werden kann. Für Horkheimer und Adorno ist die spezifische Differenz zwischen Mensch und Tier nicht nur die Vernunft und dieSprache, sondern auch die „Unterdrückung des Triebs", welche dieMenschen erst zum „Selbst macht und vom Tier trennt". Die Triebunterdrückung, die als Triebverzicht auch Leiden bedeutet, interpretierenHorkheimer und Adorno als „die Introversion der Unterdrückung im hoff-nungslos geschlossenen Kreislauf der Natur." Den Urmenschen, diesich von der Unterdrückung durch die äußere Natur befreien wollen, bleibt

keine andere Wahl, als diese nach innen, gegen sich selbst, zu wenden.Die Triebrepression stellt die Voraussetzung dafür dar, die bedrohlicheäußere Natur seit der historischen Phase durch geistige und körperlicheArbeit beherrschen zu können: „Das Wesen der Aufklärung ist dieAlternative, deren Unausweichlichkeit die der Herrschaft ist. Die Menschen hatten immer zu wählen zwischen ihrer Unterwerfung unter Naturoder der Natur unter das Selbst."

Damit stellt sich die Frage, wie die Herrschaft über die Triebe unddamit die Herausbildung des identischen Ichs bzw. Selbsts möglich wird.Für Nietzsche, der das identische „Ich" genauso wie Adorno nicht alsSubstanz, sondern nur als die „begriffliche Synthesis" einer Vielheit von

Affekten betrachtet, sind es Willen und Vernunft, für Freud sind es dieSelbsterhaltungstriebe. Für Horkheimer und Adorno konstituiert sichdas Selbst sowohl durch den Selbsterhaltungstrieb als auch durch Willenund Vernunft. Insofern sprechen sie von „selbsterhaltender Vernunft". Dieselbsterhaltende Vernunft ist die Instanz, welche die Beherrschung derAffekte und die „Gleichschaltung" und Integration der verschiedenenSeelenmomente vollbringt. Als solche benennen Horkheimer und Adornoin ihrer Analyse der Selbstwerdung von Odysseus neben den Affekten

231 Adorno/Horkheimer: DdA, S. 94, 280 , 285, 278f.232

Ebenda, S. 94.233 Ebenda, S. 55.234 Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1885 - 1887, KSA, Bd. 12, Berlin/New

York 1988, S. 32; Adorno: PhT, Bd. 1, S. 77; Adorno spricht in seinem AphorismusPlurale tantum etwa davon, daß „wenig fehlt, daß man die Organisation der auseinander weisenden Triebe unter dem Primat des realitätsgerechten Ichs von Anbeginn anals eine verinnerlichte Räuberbande mit Führer, Gefolgschaft, Zeremonial, Treueid,Treubruch, Interessenkonflikten, Intrigen und allem anderen Zubehör aufzufassen hat.Man muß nur einmal Regungen beobachten, in denen das Individuum energisch gegendie Umwelt sich geltend macht, wie etwa die Wut. Der Wütende erscheint stets als derBandenführer seiner selbst, der seinem Unbewußten den Befehl erteilt, dreinzuschlagen,und aus dessen Augen die Genugtuung leuchtet, für die vielen zu sprechen, die er selberist" (Adorno: MM, S. 50).

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auch Mut und Herz, die sich vor ihrer gewaltsamen Unterwerfung durchdie selbsterhaltende Vernunft noch unabhängig von seinem Selbst

235

regen.Auf der magischen Stufe ist für Horkheimer und Adorno weder die

Identität des Selbsts noch die Einheit der Natur vorhanden. Durch dieEntstehung der Sprache und des Denkens in Allgemeinbegriffen wird esder frühen Menschheit möglich, „im Fluß des Erscheinenden das Iden

tische festzuhalten, im Wechsel der Exemplare dieselbe Gattung, in denveränderten Situationen dasselbe Ding". Die Ausbildung von Spracheund Denken in Form fester und allgemeiner Art- und Gattungsbegriffebasiert für Horkheimer und Adorno auf der Fähigkeit, von den fließendenErscheinungen zu abstrahieren und die Vielheit konkreter Exemplaredurch einheitliche Begriffe gleichzumachen: „Anstelle der leiblichenAngleichung an Natur tritt die ,Rekognition im Begriff, die Befassungdes Verschiedenen unter Gleiches." Die Fähigkeit zur Abstraktion, dieBedingung der Möglichkeit von Sprache und Denken, setzt für Horkheimer und Adorno gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse voraus:

Die Distanz des Subjekts zum Objekt, Voraussetzung der Abstraktion,

gründet in der Distanz zur Sache, die der Herr durch den Beherrschtengewinnt. [...] Die Allgemeinheit der Gedanken, wie die diskursive Logiksie entwickelt, die Herrschaft in der Sphäre des Begriffs, erhebt sich auf 

238

dem Fundament der Herrschaft in der Wirklichkeit.

Hier zeigt sich der Einfluß von Hegel und Marx auf Horkheimer undAdorno. Nach Hegels Analyse über Herrschaft und Knechtschaft  führenzwei Selbstbewußtseine einen „Kampf auf Leben und Tod", aus dem Herrund Knecht als zwei „entgegengesetzte Gestalten des Bewußtseins"hervorgehen. Die Folge ist, daß der Herr den Knecht, welcher der „Zucht

Adorno/Horkheimer: DdA, S. 71 f., 115, 77; In dem in enger Zusammenarbeit mitAdorno entstandenen Aufsatz Vernunft und Selbsterhaltung von Horkheimer ist dieRede von der Vernunft, als dem „Prinzip der Selbsterhaltung" (Max Horkheimer:Vernunft und Selbsterhaltung, in: Max Horkheimer: Gesammelte Schriften, Bd. 5,Frankfurt am Main 1987, S. 329). Rolf Wiggershaus, der auf diese Zusammenarbeithingewiesen hat, bezeichnet diesen Aufsatz auch als eine „Art Expose zum Dialektik-Buch der beiden" (Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule, a.a.O., S. 334). Adornospricht auch von der unwiderstehlichen Gewalt der „Ichtriebe", dem Instrument derSelbsterhaltung (Adorno: ND, S. 342).Adorno/Horkheimer: DdA, S. 278, 3lf.Ebenda, S. 211, 35f.Ebenda, S. 36.

87

KAPITEL IV

des Dienstes und Gehorsams" unterworfen wird zwischen sich und die

GESCHICHTSPHILOSOPHIE ALS ERKENNTNIS DER GRUNDE

Sinnliche Wahrnehmung ist für Horkheimer und Adorno ein in der

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des Dienstes und Gehorsams unterworfen wird, zwischen sich und dieDinge „schiebt", die er von ihm bearbeiten läßt. Horkheimer undAdorno, die Hegel materialistisch und historisch lesen, leiten aus derDistanz, die der Herr durch den arbeitenden Knecht zu den einzelnenDingen erlangt, die Fähigkeit ab, von ihnen abstrahieren und allgemeineBegriffe bilden zu können. Mit dieser Ableitung machen sie Marx' Auffassung, daß die Formen des Bewußtseins der Menschen durch ihrökonomisch-gesellschaftliches Sein bestimmt werden, zur Erklärung der

Anfänge des okzidentalen Rationalisierungsprozesse fruchtbar. Dasgesellschaftlich-ökonomische Sein der mythischen Stufe, auf der kriegerische Stämme seßhaft werden und über die besiegten und geknechtetenUreinwohner herrschen, ist die Grundherrschaft. Horkheimer und Adornointerpretieren die Entstehung der Sprache und der Vernunft also nicht nurim Kontext von innerer und äußerer Naturbeherrschung, sondern auch indem von Klassenherrschaft. Sprache und Denken stellen für sie primär„Mittel der Herrschaft" dar, somit auch Mittel zur Herrschaft von Menschen über Menschen, die im „Zuge der Befreiung aus der furchtbarenNatur" entstanden. Da die ökonomisch-gesellschaftliche Basis, auf der siesich ausbilden, Arbeitsteilung und Klassenherrschaft sind, spiegelt sich

deren Hierarchie und Zwang auch in der begrifflichen und logischenOrdnung wieder.Die Sprache setzt der diffusen Vielheit der besonderen Erscheinungen

die Einheit der allgemeinen Begriffe entgegen, die es ermöglichen, dieseVielheit denkend zu ordnen und zu vereinheitlichen. Die Ausbildung desidentischen Ichs findet für Horkheimer und Adorno in Korrelation zurVereinheitlichung der Natur durch Allgemeinbegriffe statt:

Das Subjekt schafft die Welt außer ihm noch einmal aus den Spuren, diesie in seinen Sinnen zurückläßt: die Einheit des Dings in seinen mannigfaltigen Eigenschaften und Zuständen; und es konstituiert damit rückwirkenddas Ich, indem es nicht bloß den äußeren sondern auch den von diesen allmählich sich sondernden inneren Eindrücken synthetische Einheit zuverleihen lernt. Das identische Ich ist das späteste konstante Projektionsprodukt.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, Frankfurt am Main 1975,S. 149f., 154, 151.

240 Karl Marx: Zur Kritik der Politischen Ökonomie, MEW, Bd. 13, Berlin 1985, S. 8f.241 Adomo/Horkheimer: DdA, S. 60, 128, 44f.242 Ebenda, S. 218f.

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S c e Wa e u g st ü o e e u d do o e detierischen Vorzeit" entstandener Mechanismus von automatischer

Projektion, durch die der Mensch sich seine gegenständliche Weltkonstituiert. Die subjektive Zutat im Wahrnehmungsprozeß ist dieÜbertragung von Einheit auf die von außen ankommenden Sinneseindrücke, die dadurch zu einheitlichen Dingen und zur Einheit der Naturwerden. Die Vereinheitlichung der Sinnesdaten erfolgt durch die Allgemeinbegriffe, die wiederum von der diffusen Vielheit der besonderen

Erscheinungen zum Zweck ihrer Beherrschung abstrahiert sind. Über diebegriffliche Konstituierung der Einheit der gegenständlichen Natur kannsich das Subjekt korrelativ als identisches Selbst konstituieren. Dazu mußes einen doppelten Lernprozeß durchlaufen. Zuerst muß es die imBewußtsein erscheinenden Eindrücke nach ihrer Herkunft in innere undäußere scheiden lernen. Sodann muß es Einheit in die vielfältigen innerenEindrücke hineinverlegen und sich so zu einem identischen Ich integrieren. Damit scheidet sich das identische Ich von der vergegenständlichtenNatur; Subjekt und Objekt treten auseinander. Das identische Ich, das sichin der historischen Phase fertig ausbildet, ist für Horkheimer und Adornoim Gegensatz zur gängigen philosophischen Terminologie bereits

identisch mit dem Subjekt, da es für sie schon in radikalem herrschaftlichen Gegensatz zur inneren und äußeren Natur steht. So betont Adornoauch in der Ästhetischen Theorie, daß das „starke und entfaltete Subjekt"das „Produkt aller Naturbeherrschung und ihres Unrechts"  ist. DieInterpretation der Einheit des Ichs als geschichtlich gewordenes Projektionsprodukt und als „lose ephemere Fügung" dokumentiert wieder dieNähe zu Nietzsche und die gemeinsame kritische Abgrenzung gegenüberDescartes, für den das Ich eine unteilbare Substanz, „ein wahres undwahrhaft existierendes" denkendes Ding darstellt.

Ebenda, S. 30-32, 217f., 78; Adorno: AT, S. 397 (Hervorhebung von mir).

Ebenda, S. 72; Rene Descartes: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie,Hamburg 1960, S. 23f., 12; Adorno: PhT, Bd. 1, S. 77; Die These, daß die Einheit desDings und das identische Ich korrelative Projektionsprodukte sind, haben Horkheimerund Adorno zweifellos von Nietzsche übernommen. In der Götzen-Dämmerung heißtes: „Die Sprache gehört ihrer Entstehung nach in die Zeit der rudimentärsten Form vonPsychologie: wir kommen in ein grobes Fetischwesen hinein, wenn wir uns die Grundvoraussetzungen der Sprach-Metaphysik, auf deutsch: der Ve rn un ft , zum Bewusst-sein bringen. Da s sieht überall Thäter und Thun: das glaubt an Willen als Ursacheüberhaupt; das glaubt an's ,Ich', an's Ich als Sein, an's Ich als Substanz und p r o j i -ci er t den Glauben an die Ich-Substanz auf alle Dinge - es sc ha ff t erst damit denBegriff ,Ding'"(Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung, KSA, Bd. 6, Berlin/NewYork 1988, S. 77). In dieser Passage vertritt Nietzsche jedoch die Auffassung, daß derGlaube an die Ich-Substanz dem Begriff „Ding" vorausgeht, während die Dialektik der 

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KAPITEL IV

Die Ausbildung eines immer gefestigteren Selbsts durch die Selbst

GESCHICHTSPHILOSOPHIE ALS ERKENNTNIS DER GRUNDE

Naturzustand bloß als „hypothetische Eventualität".

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g g gerhaltende Vernunft ist aber kein plötzliches Ereignis, sondern das ständigbedrohte Resultat eines in der Geschichte lange andauernden Kampfesgegen die Affekte, der mit Gewalt und Leiden verbunden ist. In diesemKampf, der zugleich ein Überlebenskampf gegen die bedrohliche Übermacht der Natur ist, spielt die Selbstdisziplinierung der Herrschenden unddie Sozial- und Arbeitsdisziplinierung der Unterworfenen eine herausragende Rolle. Wenngleich Horkheimer und Adorno ihre in der Dialektik 

der Aufklärung entfaltete Geschichtsphilosophie als eine „theoretischeKonstruktion der Weltgeschichte" verstehen, versuchen sie ihre Genealogie des starken Selbsts durch Homers Text zu belegen: „Vom ,Selbst' -autos - aber ist an der Stelle erst im Vers 24 die Rede: nachdem dieBändigung des Triebs durch die Vernunft gelungen ist. Mißt man derWahl und Folge der Worte Beweiskraft zu, so wäre das identische Ich vonHomer erst als das Resultat der innermenschlichen Naturbeherrschungangesehen." Obwohl wenige Geschichtsquellen aus den Frühphasen derMenschheit vorhanden sind und die mythischen Quellen nicht ausreichen,um die „Urgeschichte der Subjektivität" hinreichend belegen zu können,stellt sie doch den Versuch dar, sich an die historisch reale Entwicklung

anzunähern. Auch John Locke versteht den Naturzustand, der mit denFrühphasen der „Urgeschichte der Subjektivität" verglichen werdenkönnte, als „historische Realität". Während jedoch Locke und die anderenDenker der naturrechtlichen Schule mit ihrer Annahme eines Naturzustandes politische Herrschaft durch den vertragstheoretischen Übergang zumGesellschaftszustand rational legitimieren wollen, beabsichtigen Horkheimer und Adorno mit ihrer „Urgeschichte der Subjektivität" diegrundsätzliche „Irrationalität und Ungerechtigkeit  der Herrschaft"aufzuzeigen. Im Gegensatz zu Locke und Adorno verstehen die meistenAutoren der naturrechtlichen Schule, etwa Hobbes und Pufendorf, den

 Aufklärung das identische Ich als das „späteste konstante Projektionsprodukt" begreift.In einer Vorlesungsstunde vom November 1962 schließt sich Adorno Nietzsches Auffassung an: „Das Selbst als ein identisch sich Durchhaltendes ist das Urbild allerIdentität, und irgendein damit vergleichbares Urbild findet in dem Seienden sich nicht.Vielmehr sind alle die vereinheitlichenden Momente, durch die wir Identität demaufprägen, was wir nicht selbst sind, eben aufgeprägt von diesem Selbst, sie sind, wiewir ganz schlicht sagen, Begriffe; denn der Begriff ist ja überhaupt das Organon derIdentität dadurch, daß wir im Denken uns der Begriffe bedienen." Davor betont Adornonoch, daß die „begriffliche Gestalt der Naturbeherrschung" das Prinzip ist, „an dem derSubjektbegriffsich gebildet hat" (Adorno: PhT, Bd. 2, S. 82f).Adorno/Horkheimer: DdA, S. 71 f., 254.Ebenda, S. 264 (Hervorhebung von mir).

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In dem zivilisationsgeschichtlichen Kampf gegen die Affekte muß sichdas entwickelnde, selbsterhaltende, vernünftige Ich für Horkheimer undAdorno einerseits der inneren Natur und dem Körper, andererseits deräußeren Natur immer herrschaftlicher entgegensetzen. Das brüchige,schwache Selbst war mit dem Körper, seinen Lüsten und der äußerenNatur auf den frühesten Entwicklungsstufen noch eng verbunden undkonnte sich an sie verlieren. Das gehärtete und gefestigte Selbst, das

Ergebnis des Kampfes gegen die Affekte, hat sich der Natur sowie demKörper und seinen Lüsten entfremdet. Selbsterhaltung heißt also auch,sich in der Form eines repressiven und leidenden Selbsts zu erhalten:

Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, deridentische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt. Die Anstrengung, das Ich zusammenzuhalten, haftet dem Ich auf allen Stufen an,und stets war die Lockung, es zu verlieren, mit der blinden Entschlossenheit zu seiner Erhaltung gepaart.

Der Drang des Selbsts, „sich an die Umgebung zu verlieren anstatt sichtätig in ihr durchzusetzen, den Hang, sich gehen zu lassen, zurückzusinkenin Natur", entspricht für Horkheimer und Adorno auch dem Phänomen,

249

das Caillois le mimetisme und Freud den Todestrieb nannte. Diefurchterregende Lockung das Selbst zu verlieren „und mit dem Selbst dieGrenze zwischen sich und anderem Leben aufzuheben", ist auch miteinem „Glücksversprechen verschwistert, von dem in jedem Augenblickdie Zivilisation bedroht war". 5

Damit verklären Horkheimer und Adorno aber nicht, wie Günther Rohrmoser annimmt, den vor-ichlichen Zustand als Paradies. Rohrmoser unterstellt in seinem zurecht häufig kritisierten Buch, daß für Horkheimer und

Adorno der vor-ichliche Zustand mit der Geborgenheit, „die den menschlichen Embryo mit dem mütterlichen Leib verbindet" zu vergleichen

• 251

sei. Auch Mirko Wischke spricht vom „Glück einer archaischen Sym-247

Peter Cornelius Mayer-Tasch: John Locke - der Weg zur Freiheit, in: John Locke: Überdie Regierung, mit einem Nachwort hrsg. von Peter Cornelius Mayer-Tasch, Stuttgart1983, S. 199-225, 192.Adorno/Horkheimer: DdA, S. 56, 54.

249

Ebenda, S. 258f.250 Ebenda, S. 57.

Günther Rohrmoser: Das Elend der kritischen Theorie. Theodor W. Adorno. Herbert

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KAPITEL IV

biose mit der Natur" und davon, daß für Adorno der „Zustand des Tieres

GESCHICHTSPHILOSOPHIE ALS ERKENNTNIS DER GRUNDE

daß sie die geschichtliche Entwicklung nicht nach dem Ordnungsschema

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als Vorbild steht". Zwar finden sich in der Dialektik der AufklärungÄußerungen, die an Rousseaus Spekulationen über den natürlichenMenschen aus dem Diskurs über die Ungleichheit erinnern. Für Rousseauist der unsoziale und zufriedene natürliche Mensch in einem nicht auf seine Überwindung hin angelegten Gleichgewichtszustand mit sich undder Natur. Damit vergleichbar sprechen Horkheimer und Adorno von

einem „Urzustand ohne Arbeit und Kampf und erwähnen eine„herrschaftslose, zuchtlose Vorzeit". Von der Erinnerung, der Sehnsucht und dem Traum an diese früheste Phase der Urgeschichte wird fürsie auch noch die Vorstellung des Glücks in der Zivilisation geprägt:„Gleichgültig, welche Fülle der Qual den Menschen in ihr widerfuhr, sievermögen doch kein Glück zu denken, das nicht vom Bilde jener Urgeschichte zehrte". Trotz der in der Vorwelt möglichen ungehemmtenTriebbefriedigung läßt sich aber bei den Urmenschen nicht eigentlich vonGlück sprechen. Denn Glück könnte für Horkheimer und Adorno nur alsErgebnis einer erst zu verwirklichenden gesellschaftlichen Emanzipationvon der Herrschaft und dem Leiden hervorgehen: „Glück aber enthältWahrheit in sich. Es ist wesentlich ein Resultat. Es entfaltet sich am

aufgehobenen Leid." Da die Urgeschichte auch mit Qual, mit Schrek-ken und Furcht verbunden ist und sich Glück für Horkheimer und Adornonur durch den zivilisatorischen Prozeß und durch „geschichtliche Arbeit"in einer zukünftigen utopischen Gesellschaft verwirklichen ließe, sprechensie vom „imaginären Glück der Vorwelt", vom „bloßen Schein von Glück,dürftig wie das Dasein der Tiere" und von der „Befreiung aus der furchtbaren Natur". Noch deutlicher äußert sich Adorno an anderer Stelle: „DasBild eines zeitlich oder außerzeitlich ursprünglichen Zustands glücklicherIdentität von Subjekt und Objekt aber ist romantisch; zuzeiten Projektionder Sehnsucht, heute nur noch Lüge. Ungeschiedenheit, ehe das Subjektsich bildete, war der Schrecken des blinden Naturzusammenhangs."256 Die

Tatsache, daß Horkheimer und Adorno den vor-ichlichen Zustand nichtals glücklich, ideal oder paradiesisch begreifen, beinhaltet natürlich auch,

Marcuse. Jürgen Habermas, Freiburg i. Br. 1970, S. 26.Mirko Wischke: Kritik der Ethik des Gehorsams, a.a.O., S. 69, I54f.Adorno/Horkheimer: DdA, S. 86, 128; Jean-Jaques Rousseau, a.a.O., S. 76ff.Adorno/Horkheimer: DdA, S. 87f.Ebenda, S. 86f., 202.

Adorno: Zu Subjekt und Objekt, in: Adorno: St, S. 152; Adorno/Horkheimer: DdA, S.36, 86f, 128; An anderer Stelle heißt es: „Das Wesen der Vorgeschichte ist die Erscheinung des äußersten Grauens im Einzelnen" (Ebenda, S. 142).

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einer rein linearen Verfallsgeschichte begreifen.Horkheimer und Adorno betrachten den vor-ichlichen Zustand des

Menschen ambivalent. Einerseits ist er durch Leid, Schrecken, Furcht undUnterdrückung gekennzeichnet, andererseits durch die Nähe von Menschund Natur. Das in ihm mögliche undisziplinierte mimetische Verhaltenimpliziert zwar die Möglichkeit, alle Begierden und Affekte auszuleben,aber auch, der „Augenblickssklave" dieser Begierden und Affekte sein zu

müssen. Die furchterregende Lockung das Selbst zu verlieren, von deroben die Rede war, stellt für Horkheimer und Adorno die Sehnsucht nachLust, Glück und Erfüllung dar, die das arbeitende, gehorchende undleidende Selbst nicht verwirklichen kann, wenn es zumindest sein Selbstin den repressiven Gesellschaftsformen erhalten will. Horkheimer undAdorno sprechen auch von der unterirdischen Geschichte Europas der„durch die Zivilisation verdrängten und entstellten menschlichen Instinkteund Leidenschaften" und von der „Erniedrigung des Fleisches durch die

258

Macht". Zusammenfassend formulieren Horkheimer und Adorno dieder „Urgeschichte der Subjektivität" und damit dem menschlichenEmanzipationsprozesses von der Natur eigene Widervernünftigkeit

folgendermaßen:

Die Herrschaft des Menschen über sich selbst, die sein Selbst begründet, istvirtuell allemal die Vernichtung des Subjekts, in dessen Dienst sie geschieht, denn die beherrschte, unterdrückte und durch Selbsterhaltung aufgelöste Substanz ist gar nichts anderes als das Lebendige, als dessen Funktion die Leistungen der Selbsterhaltung einzig sich bestimmen, eigentlichgerade das, was erhalten werden soll.

Um ihrer Unterwerfung unter die außermenschliche Natur zu entrinnen,hat die frühe Menschheit für Horkheimer und Adorno keine andere Wahl,als diese zu unterwerfen und zu beherrschen. Dafür hat sie einen hohenPreis zu entrichten. Seit den frühesten Gesellschaftsformen zahlen dieHerrschenden und Beherrschten für ihre Selbstwerdung und Selbsterhal-

So unterstellt etwa Herfried Münkler zu Unrecht, daß Horkheimer und Adorno diehistorische Entwicklung nach dem Ordnungsschema der Linearität und Dekadenz „wegvon" einem idealen Ziel ordnen (Herfried Münkler: Machiavelli. Die Begründung despolitischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, Frankfurt amMain 1995, S. 44).Adorno/Horkheimer: DdA, S. 263f.Ebenda, S. 78.

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KAPITEL IV

tung mit Entsagung, da sie die Natur in sich unterwerfen, verleugnen und

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Horkheimer und Adorno greifen zweifellos in beträchtlichem Maße Ged k Ni h d F d f d l i ih U h d

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opfern. Die Beherrschten leiden stärker, denn sie haben mehr Triebverzicht zu leisten, werden geknechtet und mit Gewalt zur Arbeit gezwungen.In Anlehnung an Hegels Dialektik von Herr und Knecht, die sie materialistisch und historisch auslegen, sind Horkheimer und Adorno davonüberzeugt, daß auch die von Arbeit ausgenommenen Herrschendenregredieren, die sie als verstümmelt und als „ganz zum kommandierendenSelbst" erstarrt begreifen. Der vernünftige Zweck von Selbsterhaltung

würde für Horkheimer und Adorno in Lust, Glück und Erfüllung bestehen.Dagegen ist das Ergebnis der individuellen und gesellschaftlichen Formvon Selbsterhaltung durch rationale Naturbeherrschung für sie weder dasgute Leben noch das bloße Überleben, sondern die Ungerechtigkeit unddas Leiden.

Axel Honneth unterstellt in seiner Untersuchung Kritik der Macht, daßHorkheimer und Adorno von einem „einsamen Bildungsvorgang einesSubjekts an der Naturrealität" ausgehen. Dieses Kapitel hat jedochgezeigt, daß Horkheimer und Adorno die Ausbildung des identischen Ichsund des begrifflichen Denkens auch im Kontext von Klassenherrschaftund Sozialdisziplinierung analysieren. Damit führen sie eine Traditions

linie politischen Denkens fort, die von Aristoteles über Hegel bis zu Marxreicht. Alle diese Philosophen denken nicht vom Individuum her, sondernverstehen den Einzelnen immer bereits als integrierten Teil einer Gemeinschaft. Axel Honneth interpretiert auch „die Unterdrückung des menschlichen Antriebspotentials als die Aufgabe eines einsamen Subjekts".Dabei bezieht er sich auf Horkheimers und Adornos berühmte Interpretation der Vorbeifahrt an der Insel der Sirenen aus dem zwölften Gesangvon Homers Odyssee. Honneths Fehldeutung resultiert daraus, daß er denBlick lediglich auf den an den Schiffsmast gefesselten Odysseus richtetund dessen herrschaftliche Beziehung zu den Ruderern ausblendet, welchedie gesellschaftliche Rolle der Arbeitenden in der Zivilisation verkörpern.Da Honneth die gesellschaftliche Bedeutung dieser Szene verkennt, über

sieht er auch, daß die Gefährten, die nach „Leibeskräften rudern" müssenund denen die Ohren mit Wachs verstopft wurden, mehr Triebverzicht zuleisten haben als ihr Herr Odysseus.

Ebenda, S. 57f; Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes,Frankfurt am Main 1975, S. 152-155.Axel Honneth: Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie,Frankfurt am Main 1986, S. 55.Ebenda, S. 59.Adorno/Horkheimer: DdA, S. 55ff, 82f.

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danken von Nietzsche und Freud auf und legen sie ihrer Untersuchung derUrgeschichte der Subjektivität" zugrunde. Wie Nietzsche und Freud

fuhren sie ihre Analyse des Zivilisations- und Rationalisierungsprozessesals Disziplinierungs- und Herrschaftsprozeß aus einer kritisch wertendenPerspektive durch. Die wesentliche Eigentümlichkeit ihrer Untersuchungbesteht allerdings darin, daß die normative Perspektive, von der aus sieden Zivilisationsprozeß kritisieren, im Gegensatz zu Nietzsche und Freud

eine höchst moralische ist. Im Zentrum ihres Moralbegriffs steht derBegriff der Gerechtigkeit. Horkheimer und Adorno sprechen von dergrundsätzlichen „Irrationalität und Ungerechtigkeit  der Herrschaft" undbezeichnen das „Prinzip der blinden Herrschaft" als das falsche Absolute".2 4 Auf den frühesten Stufen des Zivilisationsprozesses differenzieren sie primär zwischen drei ungerechten Herrschaftsverhältnissen, diewechselseitig aufeinander bezogen sind: Herrschaft über die äußere Naturdurch körperliche und geistige Arbeit, Herrschaft über die Triebe undAffekte durch die selbsterhaltende Vernunft und Herrschaft von einerKlasse über die andere durch Selbstbeherrschung, Wissen und Gewalt derMächtigen. Alle drei Herrschaftsverhältnisse sind mit dem Abschluß der„Urgeschichte der Subjektivität" vorhanden: „Das Erwachen des Subjektswird erkauft durch die Anerkennung der Macht als des Prinzips allerBeziehungen."

Wie bereits dargelegt, leiten Horkheimer und Adorno die rationaleHerrschaft über die innere Natur und die Klassenherrschaft aus derrationalen Beherrschung der äußeren Natur zum Zweck der Selbsterhaltung ab. Die rationale Beherrschung der äußeren Natur beginnt damit, daßdas Denken die diffuse Vielheit der natürlichen Erscheinungen dadurchbeherrschbar macht, daß sie ihr allgemeine Begriff entgegensetzt. DasUnrecht der mit Ausbildung der Wissenschaften weiter zunehmendenbegrifflichen Herrschaft über die Realität sehen Horkheimer und Adornodarin, daß das Denken „bloß durch Distanz Gewalt hat über diese. Solche

Distanz ist aber zugleich Leiden."266 An anderer Stelle heißt es hierzu, daßder Begriff als Wissenschaft die Distanz der Menschen von der Natur unddamit das „Unrecht" verewigt.267 Die Distanzierung und Entfremdung derMenschen von der inneren und äußeren Natur durch ihre rationale Beherr-

Ebenda, S. 264, 65, vgl. 87 (Hervorhebungen von mir).Ebenda, S. 31.Ebenda, S. 92.Ebenda, S. 64.

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KAPITEL IV

theoretische Ansicht der vernichtenden Kritik verfällt, nur ein Glaube zu

sein, bis selbst noch die Begriffe des Geistes, der Wahrheit, ja der Aufklä

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wollen, ist für sie bereits eine weitere geschichtliche Konstante desZivilisationsprozesses gegeben Denn das im Opfer und in der List

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sein, bis selbst noch die Begriffe des Geistes, der Wahrheit, ja der Aufklä

rung zum animistischen Zauber geworden sind.

Wird eine Welterklärung im Fortschrittsprozeß der Vernunft als falscheKlarheit durchschaut, vermag sie auch nicht mehr ihr Ziel zu erreichen,den Menschen die Furcht vor der übermächtigen Natur und dem Unbekannten zu nehmen. Derart unwirksam geworden, erregt sie deren Zorn

und wird als Aberglaube verfemt. Zwar haben Horkheimer und Adornohiermit sicherlich ein wesentliches Moment des Rationalisierungsprozesses erfaßt. Doch ob sich dieses so radikal verallgemeinern läßt, wie sie esin oben stehendem Zitat tun, ist äußert fraglich. Denn diese Sichtweisevernachlässigt vor allem die vielfachen positiven Bezüge und Kontinuitäten, die zwischen den verschiedenen Religionen und Philosophienbestehen.

Die philosophischen Begriffe, mit denen Piaton und Aristoteles dieWelt darstellen, stammen „vom Marktplatz von Athen". Wie bereits die

 jüngere Mythologie spiegeln sie für Horkheimer und Adorno die Hierarchie der gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse und damit die

„Ungerechtigkeit des Bestehenden". Der Hinweis, daß die philosophischen Begriffe vom Marktplatz von Athen stammen, weist auf dieStrukturgleichheit von Tauschrationalität und philosophischer Rationalitäthin, denn der Marktplatz ist der Ort des Tausches. Diesen Rationalitätstypus, den Adorno in seinen späteren Schriften als „identifizierendesDenken, das Gleichmachen eines jeglichen Ungleichen" bezeichnet,sehen Horkheimer und Adorno bereits auf Zivilisationsstufen gegeben, auf denen der rationale Tausch kaum vorhanden war. Den Tausch interpretieren sie als „Säkularisierung des Opfers", dieses wiederum als eine„Veranstaltung des Menschen, die Götter zu beherrschen" und zu betrügen. Im Tausch, im Opfer, in der List des Odysseus und im Gastgeschenksehen Horkheimer und Adorno letztlich den gleichen Rationalitätstypus

verwirklicht. Sie bestimmen ihn in der Dialektik der Aufklärung als das„Prinzip des Äquivalents". Mit dem Moment von Betrug und Ungerechtigkeit, das Horkheimer und Adorno im Opfer und der List erkennen

Ebenda, S. 33, 30.Ebenda, S. 38, 34, 25.Ebenda, S. 44f.Adorno: ND, S. 174.Adorno/Horkheimer: DdA, S. 72f.

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Zivilisationsprozesses gegeben. Denn das im Opfer und in der Listverkörperte Äquivalenzprinzip ermöglicht auch den „universalen,ungleichen und ungerechten Tausch", durch den die „falsche" Gesellschaft seit der Neuzeit mit sich zusammengeschlossen ist. Wie Adornoim einzelnen begründet, daß die gesellschaftliche Ungerechtigkeit durchdas Tauschprinzip vermittelt ist, wird in diesem Kapitel noch untersucht.

Das Äquivalenzprinzip weist für Horkheimer und Adorno die gleiche

Struktur auf wie das Identifikationsprinzip, das Urprinzip der Begriffsbildung. Wie bereits ausgeführt, ist für Horkheimer und Adorno das Urprinzip des begrifflichen Denkens die abstrahierende Gleichsetzung vonverschiedenen, nicht identischen, besonderen Einzelerscheinungen durchallgemeine Begriffe. Die Begriffe sind somit das tertium comparationisder verschiedenen Erscheinungen, welche durch jene vergleichbar undidentifizierbar werden. Die Struktur des Urprinzips des begrifflichenDenkens, das Adorno in seinen späteren Schriften als Identifikationsprinzip bezeichnet, läßt sich auch im Äquivalenzprinzip aufweisen. Gabe undGegengabe werden ebenso wie verschiedene Waren durch die Abstraktionvon ihrer besonderen Qualität und ihrem Gebrauchswert vergleichbar. Dastertium comparationis, das sie vergleichbar macht, ist ihr Wert, dasResultat dieser Abstraktion. Als entscheidende strukturelle Gemeinsamkeit von Äquivalenzprinzip und Urprinzip der Begriffsbildung zeigt sichalso die Fähigkeit zur Abstraktion von Besonderem, gekoppelt mit derFähigkeit zur Subsumtion von Verschiedenem unter Gleiches. DieTatsache, daß dieses Gleiche im Äquivalenzprinzip der Wert ist, zu dessenMessung sich die Zahl vorzüglich eignet, verweist bereits auf die Bedeutung des Quantitativen im Rationalisierungsprozeß.

Diese Grundbestandteile von Horkheimers und Adornos Rationalitätsanalyse verdanken sich zum einen Marx, der den Äquivalententausch unddamit die Struktur der Tauschrationalität bereits zu Beginn des Kapitalseingehend analysiert: „Das Gemeinsame, was sich im Austauschverhältnis

 j 282oder Tauschwert der Ware darstellt, ist also ihr Wert." Das andereVorbild der Rationalitätsanalyse von Horkheimer und Adorno sind Nietzsches erkenntnistheoretische Ansichten über die Bildung der Begriffe, dieer in seiner Frühschrift lieber Wahrheit und Lüge im aussermoralischenSinne entfaltet:

1 Ebenda, S.79.Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Erster Band, MEW, Bd. 23,Berlin 1989, S. 53.

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KAPITEL IV

Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nicht-Gleichen. So gewissnie ein Blatt einem anderen ganz gleich ist so gewiss ist der Begriff Blatt

GESCHICHTSPHILOSOPHIE ALS ERKENNTNIS DER GRUNDE

Horkheimer und Adorno interpretieren nicht nur das begriffliche Denken sondern auch die formale Logik als Mittel zur Vereinheitlichung und

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nie ein Blatt einem anderen ganz gleich ist, so gewiss ist der Begriff Blattdurch beliebiges Fallenlassen dieser individuellen Verschiedenheiten,durch ein Vergessen des Unterscheidenden gebildet [...] Das Uebersehendes Individuellen und Wirklichen giebt uns den Begriff.

Der reifere Nietzsche fügt dem noch hinzu, daß alles Begreifen im Dienstedes Willens zur Macht steht und interpretiert Wissenschaft generell als die

„Umwandlung der Natur in Begriffe zum Zweck der Beherrschung der284

Natur". Die Dialektik der Aufklärung verbindet die Marxsche Analysedes Aquivalententauschs mit Nietzsches Theorie der Begriffsbildung undintegriert beide in ihre umfassende Analyse des okzidentalen Rationali-

285

sierungsprozesses.

Friedrich Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, KSA, Bd.1, Berlin/New York 1988, S. 880; vgl.: Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente1869 - 1874, KSA, Bd. 7, Berlin/New York 1988, S. 493f.

Friedrich Nietzsche: Werke in Drei Bänden, Karl Schlechta (Hrsg.), Band 3, München1956, S. 440.

Auch Fredric Jameson weist auf die Bedeutung des ersten Abschnitts von Marx' Kapitalfür Adornos „Konzeption von Identität und Nicht-Identität" hin (Fredric Jameson,a.a.O., S. 31). Im Hinblick auf die Strukturgleichheit der psychischen, der logischenund der erkenntnistheoretischen Identität sowie der Wertgleichheit im Warentauschäußert Jameson: „In seiner schwachen Form geht das Argument lediglich von einer

 Homologie zwischen diesen Prozessen aus (die ökonomische Abstraktion ist wie diepsychische Abstraktion strukturiert, und diese ihrerseits wie die philosophische Abstraktion oder Einheit), während es in seiner stärkeren Form den Vorrang desökonomischen' behauptet" (Ebenda, S. 31). Obwohl Jameson dies nicht ganz deutlichausspricht, dürfte er Adorno seiner eigenen Position zurechnen, welche die stärkereForm des Arguments vertritt: Der Tauschwert ist „die ursprüngliche Form, in der dieIdentität in der Geschichte auftritt" (Ebenda, S. 32). Dagegen heißt es in Adornos

 Negativer Dialektik: „Das Tauschprinzip, die Reduktion menschlicher Arbeit auf denabstrakten Allgemeinbegriff der durchschnittlichen Arbeitszeit, ist urverwandt mit demIdentifikationsprinzip. Am Tausch hat es sein gesellschaftliches Modell, und er wärenicht ohne es; durch ihn werden nichtidentische Einzelwesen und Leistungen kommensurabel, identisch" (Adorno: ND, S. 149). Da Adorno das Identifikationsprinzip, dasUrprinzip der Begriffsbildung, als Existenzvoraussetzung des Tauschprinzips begreift,fällt es schwer zu behaupten, dieses sei ursprünglicher als jenes. In der Dialektik der 

 Aufklärung läßt sich jedoch im Gegensatz zu Adornos späteren Schriften kein eindeutiges Ableitungsverhältnis des Tauschprinzips aus dem Identifikationsprinzip aufweisen. Das läßt sich so erklären, daß Adornos Analysen des Identifikationsprinzips, die imZentrum seiner Negativen Dialektik  stehen, sich mehr Nietzsche als Marx verdankenund daß Adorno stärker als Horkheimer von Nietzsche beeinflußt ist. Die Nähe vonAdorno und Nietzsche wird von Jameson ausgeblendet. Wie Adorno das Ursprungsund Ableitungsverhältnis der verschiedenen Identitätsformen denkt, läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Die älteste Herrschaft von Privilegierten mit einem schwa-

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ken, sondern auch die formale Logik als Mittel zur Vereinheitlichung undBeherrschung der Natur. Mit ihrer Hilfe wird es dem Menschen möglich,die umfassende Vielheit der Erscheinungen der Natur in den Griff zubekommen: „Die formale Logik war die große Schule der Vereinheitlichung. Sie bot den Aufklärern das Schema der Berechenbarkeit derWelt."2 Ihre Rolle kommt erst in der neuzeitlichen, quantifizierendenNaturwissenschaft, die den Begriff zunehmend durch die Formel ersetzt,

voll zum Tragen. Da in der Neuzeit Wissenschaft und Technik zu denherausragenden Mitteln der Naturbeherrschung werden, gewinnt diegeistige Arbeit gegenüber der körperlichen Arbeit verstärkt an Bedeutung.Vorbild dieser Analysen ist Max Weber, für den die zunehmende„intellektualistische Rationalisierung durch Wissenschaft und wissenschaftlich orientierte Technik praktisch bedeutet", daß man „alle Dinge -im Prinzip - durch Ber ec hn en be he rr sc he n könne. Das aber bedeu-tet: die Entzauberung der Welt." Voraussetzung für die Beherrschungder Welt durch die Wissenschaft ist für Horkheimer und Adorno die„Verselbständigung der Gedanken gegenüber den Objekten, wie sie imrealitätsgerechten Ich vollzogen wird". Der Preis, den die Menschen fürdie Vergrößerung ihrer Macht gegenüber der äußeren Natur zu entrichtenhaben, ist neben einer zunehmenden Entfremdung und Distanzierung vonihr auch Triebverzicht und Klassenherrschaft und damit Leiden. Zugleichwerfen Horkheimer und Adorno den positiven Wissenschaften vor, daß sieihre Gegenstände gar nicht wirklich erkennen oder erklären, sondern bloßmanipulieren und beherrschen können. Wie dieser Vorwurf begründet ist,wird im folgenden zu erläutern sein.

Horkheimer und Adorno sind davon überzeugt, daß es der Rationalität

chen Selbst ermöglicht diesen durch die Distanz zur Sache, die sie durch die arbeitenden Unterworfenen gewinnen, die Abstraktion von nicht identischen einzelnen Erschei

nungen. Dadurch wird die Ausbildung des Identifikationsprinzips und der Allgemeinbegriffe zum Zweck der Naturbeherrschung möglich. Die Vereinheitlichung der Vielheit der Natur durch Allgemeinbegriffe ermöglicht allmählich die Vereinheitlichung derVielheit im Menschen zu einem starken identischen Ich. Das Tauschprinzip ist seit dem„uralten ,Gelegenheitstausch' zwischen geschlossenen Hauswirtschaften" vorhanden(Adorno/Horkheimer: DdA, S. 84). In diesen frühen Gesellschaftsformen hat sich dasältere Identifikationsprinzip bereits ausgebildet, das Voraussetzung der ökonomischenAbstraktion ist (Ebenda, S. 36, 211, 218f.; Adorno: ND, S. 23, 149; Adorno: PhT, Bd.2, S. 82f.).

Adorno/Horkheimer: DdA, S. 29; Adorno: ZME, S. 86f.Max Weber: Wissenschaft als Beruf, a.a.O., S. 593f.Adorno/Horkheimer: DdA, S. 33.

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KAPITEL IV

nur begrenzt gelungen ist, mimetisches Verhalten zu verdrängen. Genaubetrachtet weist die wissenschaftliche Rationalität noch eine ähnliche

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Seiende sich unterwirft, um so blinder bescheidet sie sich bei dessenReproduktion. Damit schlägt Aufklärung in die Mythologie zurück, der

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betrachtet weist die wissenschaftliche Rationalität noch eine ähnlicheStruktur auf wie die magische Praxis. Auch sie läßt sich durch dieVerknüpfung von Mimesis und Rationalität charakterisieren. Die Magiebetreibt die bewußte Anpassung an eine als beseelt interpretierte Natur.Die Wissenschaft als quantifizierende „Entmythologisierung" löst dieseBeseelung und die Qualitäten auf und betreibt die bewußte Anpassung andie tote Natur: „Die Vielheit der Gestalten wird auf Lage und Anordnung,

die Geschichte aufs Faktum, die Dinge auf Materie abgezogen."Wissenschaftliche Rationalität, vor allem die Physik, ahmt den Kreislauf der sich wiederholenden Natur und die in ihr beobachteten Regelmäßigkeiten natürlich nicht mehr, wie die magische Praxis, durch Bilder undKultmasken nach, sondern durch den mathematischen Formalismus, dersich ihnen angleicht bzw. anpaßt und sie als Gesetze festhält. Die Kritikvon Horkheimer und Adorno an dieser Form von vernünftiger, nachahmender Anpassung an Natur zum Zweck der Beherrschung und Selbsterhaltung ist, daß ihr Wissen nur auf technische Verwertbarkeit undzweckrationales Handeln abzielt. Die wissenschaftliche Rationalität, dieDenken mit Mathematik identifiziert, verfehlt jedoch ihre entqualifiziertenGegenstände, von denen sie bloß ihre abstrakten, wiederholbaren Relationen zu anderen Gegenständen fassen kann. Natur ist für die wissenschaftliche Rationalität das „mathematisch zu Erfassende", Wahrheit identifi-

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ziert sie mit der „zu Ende gedachten mathematisierten Welt". DieseKritik, die sich zum Teil Husserls Krisisschrift  verdankt, läßt sich mitdessen eigenen Worten folgendermaßen fortführen: „Das Ideenkleid,Mathematik und mathematische Naturwissenschaft', [...] macht es, daßwir für wahres Sein nehmen, was eine Methode ist." Die Verwechslungvon Wahrheit und Methode durch die wissenschaftliche Rationalität führtdazu, daß sie wie der Mythos im sich wiederholenden Kreislauf der Naturbefangen bleibt, den sie zwar manipulieren, aber weder sinnhaft erklären,

noch in seiner Wahrheit erfassen kann: „Je mehr die Denkmaschinerie das

* Ebenda, S. 29,34, 81,2 11."Ebenda, S. 47,49, 34,21 1.1 Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale

Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, Hamburg1982, S. 55f., 44f.; „Wo immer die intellektuellen Energien absichtsvoll aufs Draußenkonzentriert sind, also überall, wo es ums Verfolgen, Feststellen, Ergreifen zu tun ist,um jene Funktionen, die aus der primitiven Überwältigung des Getiers zu den wissenschaftlichen Methoden der Naturbeherrschung sich vergeistigt haben, wird in derSchematisierung leicht vom subjektiven Vorgang abgesehen und das System als dieSache selbst gesetzt." (Adorno/Horkheimer: DdA, S. 223, 47f.).

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Reproduktion. Damit schlägt Aufklärung in die Mythologie zurück, dersie nie zu entrinnen wußte."292 Mit der These vom Rückschlag der Aufklärung in Mythologie, der zweiten Hauptthese der Dialektik der Aufklärung , beabsichtigen Horkheimer und Adorno, auch die wissenschaftlichen Erklärungen noch als falsche Klarheiten zu entlarven.

Der vorangehende Abschnitt dürfte verdeutlicht haben, daß sich die Dialektik der Aufklärung auch zu einem guten Teil als Wissenschaftskritik

versteht. Für den Typ von Rationalität, der mit der Ausbildung der modernen Naturwissenschaften seine geschichtliche Vorherrschaft erreicht, verwenden Horkheimer und Adorno den umfassenden Begriff der instrumenteilen Vernunft:

Zwar ist Vorstellung nur ein Instrument. Die Menschen distanzieren denkend sich von Natur, um sie so vor sich hinzustellen, wie sie zu beherrschen ist. Gleich dem Ding, dem materiellen Werkzeug, das in verschiedenen Situationen als dasselbe festgehalten wird und so die Welt als dasChaotische, Vielseitige, Disparate vom Bekannten, Einen, Identischen

' scheidet, ist der Begriff das ideelle Werkzeug, das in die Stelle an allenDingen paßt, wo man sie packen kann.

Instrumentelle Vernunft bedeutet, daß das Denken zum „allgemeinenWerkzeug" wird, das „starr zweckgerichtet" als seinen obersten Zweck dieNaturbeherrschung und die Klassenherrschaft im Dienste der Selbsterhaltung verfolgt. Als Mittel zu diesem Zweck hat sie die Funktion, wiederumandere Mittel zu vorgegebenen, abgeleiteten Zwecken rational bereitzustellen. Insofern läßt sie sich auch als „Zweckrationalität"295 bestimmen.

Adorno/Horkheimer: DdA, S. 49, 34.

Ebenda, S. 21.

Ebenda, S. 63 (Hervorhebungen von mir).

Ebenda, S. 53; Der Begriff der Zweckrationalität geht auf Max Weber zurück:„Zweckrational handelt, wer sein Handeln nach Zweck, Mitteln und Nebenfolgenorientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen dieNebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinanderrational ab w ä g t" (Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 1980, S. 13). Für Weber besteht eine der Leistungen derSozialwissenschaft darin, daß sie für eindeutige und feststehende Zwecke empirischeFeststellungen über die richtige Wahl der geeigneten Mittel treffen kann. Indem sie dempolitischen Handeln auf diese Weise ermöglichen kann, daß es „technisch richtig"orientiert ist, wird sie auch zur Politikberatung. Unter Technik versteht Weber hier„rationales Sichverhalten überhaupt, auf allen Gebieten: auch denen der politischen,

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KAPITEL IV

Die instrumentelle Vernunft verfolgt ihre Zwecke vor allem mit Hilfe desmathematischen Formalismus und der formalen Logik. Ihr Ziel ist es, ein

GESCHICHTSPHILOSOPHIE ALS ERKENNTNIS DER GRUNDE

besteht, hätte dem Scheitern des Zivilisationsprozesses entgegenwirkenkönnen.

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mathematischen Formalismus und der formalen Logik. Ihr Ziel ist es, einwiderspruchsfreies, einheitliches System herzustellen, aus dem sich allesund jedes folgern läßt. Insofern ist sie auch eine formale Rationalität. Dievorherrschende Rationalitätsform moderner Industriegesellschaften läßtsich also für Horkheimer und Adorno als instrumentelle, zweckrationaleund formale Vernunft charakterisieren. Durch diese Verengung derVernunft, die „in der Form der Wissenschaft an die blinde ökonomische

Tendenz gefesselt bleibt", verwirklicht sich für Horkheimer und Adornoderen ideelle Tendenz zur Selbstzerstörung.296 Denn mit der ganz und garfunktionalisierten Vernunft lassen sich alle beliebigen Zwecke verwirklichen, was zur Folge hat, daß sie gleichermaßen Mittel für moralische wiefür unmoralische Zwecke und damit letztlich unvernünftig wird. Siebegründen die These der Selbstzerstörung der Vernunft auch damit, daßdie instrumentalisierte Wissenschaft die Fähigkeit zur Selbstreflexion undzur Reflexion auf ihre eigenen Ziele verloren hat: „Denken verdinglichtsich zu einem selbsttätig ablaufenden, automatischen Prozeß, der Maschine nacheifernd, die er selber hervorbringt, damit sie ihn schließlich

297

ersetzen kann." Damit radikalisieren sie Husserls Kritik an der

„positivistischen Einschränkung der Wissenschaftsidee", die ein„gleichgültiges Sichabkehren von den Fragen, die für ein echtes Menschentum die entscheidenden sind" bedeutet.298 Das vorherrschendepositivistische Credo, daß die Wissenschaft sich wertender Stellungnahmen, Fragen nach Sinn oder Sinnlosigkeit des menschlichen Daseins undeiner vernünftigen Beurteilung von Zwecken zu enthalten habe, ist fürHorkheimer und Adorno maßgeblich an der Verengung der Vernunft zurvorherrschenden instrumentellen Rationalität und am Scheitern desZivilisationsprozesses beteiligt. Denn gerade die konsequente Selbstbesinnung auf das Hauptziel der Aufklärung, welches in der Verwirklichungvon Freiheit, Autonomie, Glück und Humanität durch die Vernunft

sozialen, erzieherischen, propagandir*;sehen Menschenbehandlung und -beherrschung"(Max Weber: Der Sinn der „Wertfreiheit" der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, in: Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen1982, S. 526f). Bekanntlich kann und soll die Wissenschaft für Weber die vorgegebenen Zwecke als solche nicht wissenschaftlich als billigenswert oder verwerflich beurteilen. Wie oben im Text in Kürze dargestellt wird, trägt diese von Horkheimer undAdorno entschieden abgelehnte Position für sie maßgeblich zur Verengung der Vernunft und zum Scheitern des Zivilisationsprozesses bei.Adorno/Horkheimer: DdA, S. 64, 53, 22, 18.Ebenda, S. 47f., 107f, 112, 141.Edmund Husserl, a.a.O., S. 6, 4.

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Die Vernunftkritik von Horkheimer und Adorno ist kein isoliertes Phänomen der philosophischen Linken. Auch für Heidegger ist die vorherrschende Vernunft eine rechnende Vernunft, welche die Natur alsberechenbaren Kräftezusammenhang vor sich hin und auf sich zu alsGegenstand stellt. Zu dem vergegenständlichenden Vorstellen der Naturist die vorherrschende Vernunft und die Menschheit selbst wiederum vom

„Walten des Ge-stells" gestellt und herausgefordert. Heidegger begreiftdas Ge-stell, das „selber nichts Technisches ist", als geschichtsmächtigenund „herausfordernden Anspruch" an den Menschen, die Natur alsberechenbaren Kräftezusammenhang auszulegen, durch die moderneTechnik herauszufordern und als Energielieferant zu stellen. Letztlichversteht er unter dem Ge-stell ein „seinsgeschichtliches Geschick", das inder Geschichte der seinsvergessenen Metaphysik gründet. Das Ge-stellbestimmt für Heidegger als Wesen der modernen Technik maßgeblich das

299

Denken und das Weltverständnis des neuzeitlichen Menschen. ImGegensatz dazu haben Horkheimer und Adorno ein instrumentellesVerständnis der Technik, da sie Technik als Werkzeug verstehen, das

denjenigen zur Verfügung steht, die es beherrschen.Die vorherrschende Form von Rationalität ist für Horkheimer und

Adorno untrennbar mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit verflochten.Diese Verflechtung „dem Verständnis näherzubringen", ist eines derHauptziele, das sie mit der Dialektik der Aufklärung erreichen wollen. DerGedanke, daß sich die Vernunft im Prozeß ihres Fortschritts in der Wirklichkeit, in gesellschaftlichen und politischen Institutionen, verkörpertoder vergegenständlicht, steht bereits im Zentrum von Hegels Geschichtsund Rechtsphilosophie. Horkheimer und Adorno wenden diesen Gedankenmaterialistisch. Denn sie begreifen die sich verwirklichende Vernunftnicht wie Hegel als letztlich göttliche Vernunft, sondern primär alsinstrumentelle Rationalität und als Denken in Äquivalenten. BeideVernunftformen sind für Horkheimer und Adorno als Mittel für menschliche Herrschaftszwecke entstanden.In der sozialen Wirklichkeit, dem kapitalistischen Wirtschafts- und Ge

Martin Heidegger: Die Technik und die Kehre, Pfullingen 1988, S. 13-16, S. 19-22;Martin Heidegger: Brief über den Humanismus, in: Martin Heidegger: Wegmarken,Frankfurt am Main 1978, S. 337; Martin Heidegger: Die Zeit des Weltbildes, in: MartinHeidegger: Holzwege, Frankfurt 1950, S. 80.Hans-Martin Schönherr-Mann: Leviathans Labyrinth. Politische Philosophie der modernen Technik. Eine Einführung, München 1994, S. 133-136.

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KAPITEL IV

sellschaftssystem, ist die Rationalität für Horkheimer und Adorno primärein Instrument zur Herrschaft, Organisation und Planung, vor allem in den

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heimer und Adorno neben Klassenherrschaft, äußerer und innerer Naturbeherrschung ein viertes grundlegendes Herrschaftsverhältnis heraus: Die

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g gBereichen Ökonomie und Verwaltung. Die zentrale Voraussetzung dafür,daß sich der „bewußtlose Koloß des Wirklichen, der subjektlose Kapitalismus" ausbilden kann, ist die neuzeitliche „Verkleidung der Herrschaft inProdukt ion". Damit ist gemeint, daß seit der absolutistischen und mer-kantilistischen Epoche die Herrschenden ihre Macht weniger unmittelbarausüben, sondern zunehmend vermittelt durch zwischengeschaltete und

von den Individuen losgelöste ökonomische Instanzen. Im Merkantilismuswird der absolute Monarch zum größten Manufakturherrn. Die industrielleRevolution führt zur Entstehung großer Industriebetriebe und Fabrikenund zum Aufstieg des Bürgertums zur herrschenden Klasse. Horkheimerund Adorno sprechen vom „völligen Übergang der Herrschaft in die durchHandel und Verkehr vermittelte bürgerliche Form".302 Mit dieser Entwicklung geht einher, daß die Arbeit im Verlauf der Neuzeit deutlichaufgewertet wird und daß sich die Herrschenden zunehmend selbst amgesellschaftlichen Produktionsprozeß beteiligen. Das Motiv für dieseEntwicklung, die das „ökonomische Unrecht" der bürgerlichen Klassenherrschaft hervorbringt, sehen Horkheimer und Adorno darin, daß sichdie Herrschenden auf diese Weise der Arbeit der Unterworfenen rationaler

bemächtigen können. ' Parallel dazu kommt es zu einer stetigenZunahme der bürokratischen Verwaltung, deren Entstehung Max Weberals die „Keimzelle des modernen okzidentalen Staates" interpretiert.30'Die zunehmende Verlagerung von vormals unmittelbar ausgeübter Machtauf den gesellschaftlichen Produktions- und Verwaltungsapparat, dasProdukt der ihm immanenten Rationalität, ermöglicht es, daß sich diesersukzessive gegenüber den Individuen verselbständigt und eine Eigendynamik entwickelt. Deshalb trägt die Unterdrückung des Individuumsdurch das bewußtlose kapitalistische Gesellschaftssystem für Horkheimerund Adorno neben der direkten Klassenherrschaft auch zunehmend „dieZüge der Unterdrückung durch ein Kollektiv". Die Folgen sind, daß die„Gewalt des Systems über die Menschen mit jedem Schritt wächst, der sieaus der Gewalt der Natur herausführt" und daß die Vernunft zum „bloßenHilfsmittel der allumfassenden Wirtschaftsapparatur" wird.305 Auf dieserspäten Stufe des Zivilisationsprozesses bildet sich demzufolge für Hork-

11 Adorno/Horkheimer: DdA, S. 21, 137, 202.12 Ebenda, S. 265.13 Ebenda, S. 202f, 60.14 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1980, S. 128.15 Adorno/Horkheimer: DdA, S. 44, 62, 53, 59f.

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Herrschaft des kapitalistischen Wirtschafts- und GesellschaftssystemsÜber alle von ihm abhängigen Menschen, von denen es sich durch seineEigendynamik und Eigengesetzlichkeit zunehmend verselbständigt. Horkheimer und Adorno sind aber trotz der Verselbständigung des kapitalistischen Systems der Ansicht, daß die herrschende Klasse dieses Systeminnerhalb der Grenzen des Systemzwangs auch manipulieren und be

herrschen kann.Obwohl Horkheimer und Adorno, wie noch zu zeigen sein wird, dierevolutionären Erwartungen, die Marx mit dem Fortschritt der Produktivkräfte und dem Proletariat verknüpft, als geschichtlich überholt ansehen,halten sie an den wesentlichen Einsichten von Marx' Kapitalismusanalysefest. In Horkheimers Aufsatz Zum Problem der Wahrheit  von 1935 heißtes schlicht: „Die gegenwärtige Gesellschaftsform ist in der Kritik derpolitischen Ökonomie erfaßt."307 Insbesondere die Einsicht in die „Selbständigkeit, welche die ökonomischen Mächte den Menschen gegenübergewonnen haben, die Abhängigkeit aller gesellschaftlichen Gruppen vonder Eigengesetzlichkeit des wirtschaftlichen Apparats", hat die polit-ökonomischen Analysen von Marx zur Voraussetzung. Auch in der

306 Ebenda, S. 51, 61 f.107 Max Horkheimer: Zum Problem der Wahrheit, in: Max Horkheimer: Kritische Theorie,

hrsg. von Alfred Schmidt, Bd. 1, Frankfurt am Main 1968, S. 263. Die Auffassung, daßHorkheimer und Adorno an den wesentlichen Einsichten von Marx' Analyse deskapitalistischen Systems festhalten, wird in der Literatur häufig vertreten. So äußertNorbert Rath: „für Adorno gehört Marx' Ökonomiekritik bis zuletzt zu den bestimmenden Modellen" (Norbert Rath: Adornos kritische Theorie. Vermittlungen undVermittlungsschwierigkeiten, Paderborn 1982, S. 177). Die Bedeutung der MarxschenTheorie für Adorno, insbesondere des ersten Bandes des Kapitals, zeigt auch FredricJameson auf, der Adorno „als einen der größten marxistischen Philosophen des zwanzigsten Jahrhunderts" begreift (Fredric Jameson, a.a.O., S. 8). Diese Auffassung vertritt

auch Reinhard Kager: „Die geschichtliche Entwicklung hat zweifelsohne die MarxscheRevolutionstheorie ad absurdum geführt; das diese kein grundsätzlicher Einwand gegendie ökonomischen Analysen von Marx ist, wurde [...] bereits demonstriert" (ReinhardKager, a.a.O., S. 93). Auch für Alfred Schmidt ist Adorno einer „der wenigen authentischen Interpreten des Marxismus in unserer Zeit" (Alfred Schmidt: Kritische Theorie.

^ Humanismus. Aufklärung, Stuttgart 1981, S. 30).' Max Horkheimer: Zum Problem der Wahrheit, in: Max Horkheimer: Kritische Theorie,hrsg. von Alfred Schmidt, Bd. 1, Frankfurt am Main 1968, S. 263. Für Marx ist „derBegriff und das Wesen des Kapitals der sich selbst verwertende Wert" (Elmar Treptow:Das Kapital, in: Franco Volpi; Julian Nida-Rümelin (Hrsg.): Lexikon der philosophischen Werke, Stuttgart 1988, S. 371). Der Wert ist die in allen Waren, auch derWare Arbeitskraft, vergegenständlichte oder gespeicherte Arbeit. Er verwertet sich,

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KAPITEL IV

 Dialektik der Aufklärung finden sich eindeutige Bezugnahmen auf Marx'Kapitalismusanalyse: „Vermittelt durchs Prinzip des Selbst ist die gesell

GESCHICHTSPHILOSOPHIE ALS ERKENNTNIS DER GRUNDE

Jas wesentliche Merkmal des Kapitalismus heißt aber nicht, daß er dessenspezifischere Bestimmungen, die Marx aus dem Warentausch ableitet, wied Z P d kti ität t i d d Z it t

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schaftliche Arbeit jedes Einzelnen in der bürgerlichen Wirtschaft; sie sollden einen das vermehrte Kapital, den anderen die Kraft zur Mehrarbeitzurückgeben."

Wie bereits erwähnt, ist auch der Begriff des Äquivalenz- bzw.Tauschprinzips im Zusammenhang mit Horkheimers und Adornos Marxrezeption zu verstehen. In Horkheimers programmatischem Aufsatz

Traditionelle und Kritische Theorie von 1937 heißt es: „Die kritischeTheorie der Gesellschaft beginnt f...] mit der Kennzeichnung einer auf Tausch begründeten Ökonomie." Horkheimers erläuternde Anmerkungzu dieser Aussage über seine Methode verweist auf seinen Aufsatz ZumProblem der Wahrheit, in dem er die logische Struktur von Marx' Kritikder politischen Ökonomie darstellt. Adornos positive Bezugnahme auf Marx' politökonomische Analysen des Kapitalismus, etwa durch denBegriff des Tauschprinzips, hält sich bis in sein Spätwerk durch. 312

Adornos Interpretation wird Marx aber nicht gerecht, da er annimmt, daßMarx „das Wesen der kapitalistischen Gesellschaft in der Objektivität desTauschvorgangs" sucht.3 3 Wie bereits erwähnt, ist das Wesen des kapitalistischen Systems für Marx jedoch nicht der Tauschvorgang, sondernder sich selbst verwertende Wert. Adornos Bewertung des Tausches als

wenn der Kapitalist durch die Anwendung der Lohnarbeiter in der WarenproduktionNeuwert bzw. Mehrwert schafft. Marx begreift den sich verwertenden Wert als automatisches und übergreifendes Subjekt einer sich ständig erneuernden objektiven Bewegung, deren Selbstzweck die fortwährende Produktion von Mehrwert ist. Der Zwangzur Mehrwertproduktion und damit zur Kapitalakkumulation entspringt der Eigendynamik und Eigengesetzlichkeit dieses Prozesses, der das Wesen des kapitalistischenWirtschaftssystems ist. Die Abhängigkeit des Kapitalisten vom System besteht darin,daß er gezwungen ist, die Mehrwertproduktion und die Anwendung des Lohnarbeiterszu seinem subjektiven Zweck zu machen, um Kapitalist bleiben zu können. Die Abhängigkeit des Lohnarbeiters vom System besteht darin, daß er sich anwenden und

ausbeuten lassen muß, wenn er über ausreichend Existenzmittel verfügen will (KarlMarx: Das Kapital, a.a.O., S. 53, 165-169, 184f, 328f).Adorno/Horkheimer: DdA, S. 52. Neben dieser und den anderen oben im Text zitiertenPassagen lassen sich in der Dialektik der Aufklärung noch einige Stellen finden, die auf die produktive Integration der Marxschen Analysen verweisen. So beziehen sichHorkheimer und Adorno etwa auf das „Wertgesetz" des Kapitalismus und sprechendavon, daß das instrumenteile Wissen auf „Ausnutzung der Arbeit anderer, Kapital"zielt (Ebenda, S. 61 f., 26; vgl.: 51, 20 2-204).Max Horkheimer: Traditionelle und kritische Theorie, Frankfurt am Main 1970, S. 42.

311 Max Horkheimer: Zum Problem der Wahrheit, a.a.O., S. 263, 268.312 Adorno: PhT, Bd. 2, S. 199, 215, 259.3, 3 Ebenda, S. 199.

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den Zwang zur Produktivitätssteigerung und den „Zwang zur erweitertenInvestition", nicht auch als bedeutend ansieht. Die „absolute Vorherrschaft der Ökonomie" in der Gesellschaft steht für beide Denker außer

314

Frage.Das Tauschprinzip ist für Adorno deshalb so wesentlich, da er wie

Marx durch den Tausch die Klassenherrschaft und damit die gesellschaft

liche Ungerechtigkeit im kapitalistischen System vermittelt sieht: DasKlassenverhältnis reproduziert sich „durch den Äquivalententauschhindurch".31 Deutlich wird dies am Kauf und Verkauf der Ware Arbeitskraft. Für Marx treten sich der Kapitalist als Käufer und der Arbeiter alsVerkäufer gegenüber, die als freie und rechtlich gleichgestellte Warenbesitzer einen Arbeitsvertrag schließen. Dieser Äquivalententausch isteinerseits wirklich gerecht, da der Arbeiter vom Kapitalisten den Wertseiner Arbeitskraft bekommt, der dem Wert der zu seiner Erhaltungnotwendigen Existenzmittel entspricht. Der Begriff von Gerechtigkeit, derdiesem Urteil zugrundeliegt, ist der bereits von Aristoteles analysierteBegriff der Tauschgerechtigkeit, der Gerechtigkeit als Gleichheit bestimmt. Aristoteles findet die Gleichheit und damit das Gemeinsame derverschiedenen getauschten Dinge im subjektiven Kriterium des Bedürfnisses der Tauschenden. Die verschiedenen wechselseitigen Bedürfnisse derEinzelnen stellen für Aristoteles ein wesentliches Moment einer arbeitsteiligen Gesellschaft dar, da sie deren Einheit und Zusammenhalt gewährleisten. Marx erachtet die von Aristoteles vorgenommene Gleichsetzung der getauschten Dinge durch das Bedürfnis als „etwas der wahrenNatur der Dinge Fremdes" und kritisiert, daß Aristoteles' Analyse „am

Adorno: MM, S. 68; Adorno: Über Statik und Dynamik als soziologische Kategorie, in:Adorno: SS I, S. 235, 184; Adorno: ND, S. 387, 259; Adorno: PhT, Bd. 2, 111, 187f,

206, 259, 262f, 272ff.; Adorno: Engagement, in: Adorno: NL, S. 416.Adorno: ND, S. 168, vgl. 180; „In der Reduktion der Menschen auf Agenten und Trägerdes Warentauschs versteckt sich die Herrschaft von Menschen über Menschen"(Adorno: Gesellschaft, in: Adorno: SS I, S. 14, vgl. 294); „Weiter wird Herrschaft überMenschen ausgeübt durch den ökonomischen Prozeß hindurch" (Ebenda, S. 360).

"6 Aristoteles: Die Nikomachische Ethik, München 1991, S. 214ff.; 1132 b 32ff.;Aristoteles: Politik, München 1973, S. 50; 1253 a 25ff.; Die Arbeitsteilung und das„System der Bedürfnisse" stellen auch die Voraussetzungen für die ökonomischeAutarkie der Polis dar. Für Piaton steht das Bedürfnis sogar am Beginn der Polisgrün-dung: „So laß uns denn in Gedanken von Anfang an eine Stadt gründen. Was nun aberden Grund zu ihr legt, ist eben, wie dargetan, unser Bedürfnis" (Piaton: Der Staat,Hamburg 1988, S. 6 4; 369 b ff.)

111

KAPITEL IV

•5 i n 

Mangel des Wertbegriffs" scheitert. Das Gleiche und damit dasGemeinsame aller verschiedenen Waren, also auch der Ware Arbeitskraft

GESCHICHTSPHILOSOPHIE ALS ERKENNTNIS DER GRUNDE

Aneignung der Mehrarbeit im Produktionsprozeß, der für Marx dieWechselbeziehungen aller Warenbesitzer übergreift, wäre von eineml t tli h l i h d ht T h h i ht i ll

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und der dagegen getauschten Existenzmittel, findet Marx in dem objektiven Kriterium des Wertes. Die Größe des Wertes hängt allein von dem in

 jeder Ware gespeicherten oder vergegenständlichten Quantum an„gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit"318 ab. Da Arbeiter undKapitalist im Arbeitsvertrag vereinbaren, gleiche Wertgrößen auszutauschen, wird der Äquivalententausch und damit die Gleichheit und

Gerechtigkeit zwar nicht durchbrochen. Für Marx und Adorno ist derÄquivalententausch aber letztlich doch ein ungleicher und ungerechterTausch, da der Arbeiter dem Kapitalisten den Wert von mehr Arbeitsstunden zur Verfügung stellt, als er von ihm an Wert zurückbekommt.Möglich wird das dadurch, daß der Gebrauchswert der Ware Arbeitskraftihren Wert übersteigt. Denn während ihr Wert in den zu ihrer Erhaltungnotwendigen Existenzmittel besteht, weist ihr Gebrauchswert die Eigentümlichkeit auf, Quelle von Wert zu sein. Mit diesen Arbeitsstunden kannsich der Kapitalist in der Folge den Mehrwert im Produktionsprozeß ohneÄquivalent aneignen. Während Marx, der im Gegensatz zu Adorno seineAnalysen nicht unter einer explizit moralischen Perspektive durchführt,die Ungerechtigkeit erst im Produktionsprozeß verorten würde, scheint sie

für Adorno bereits mit dem Tausch gegeben zu sein: „Von je, gar nichterst bei der kapitalistischen Aneignung des Mehrwerts im Tausch derWare Arbeitskraft gegen deren Reproduktionskosten, empfängt der eine,gesellschaftlich mächtigere Kontrahent mehr als der andere. Durch diesUnrecht geschieht im Tausch ein Neues, wird der Prozeß, der die eigeneStatik proklamiert, dynamisch." ' Obwohl Adorno die Ungerechtigkeitausschließlich im Tauschprozeß zu lokalisieren scheint, ist er sichdurchaus bewußt, daß dieser die Voraussetzung für die Mehrarbeit ist, dieder Arbeiter im „Produktionsapparat verausgabt". Dies geht aus denüberlieferten Vorlesungsstunden, in denen er die Thematik bei Marxbehandelt, eindeutig hervor. Ohne die unaufhörliche und unbezahlte

17 Karl Marx: Das Kapital, a.a.O., S. 74.18 „Gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ist Arbeitszeit, erheischt, um irgendeinen

Gebrauchswert mit den vorhandenen gesellschaftlich-normalen Produktionsbedingungen und dem gesellschaftlichen Durchschnittsgrad von Geschick und Intensität derArbeit darzustellen" (Ebenda, S. 53).

19 Adorno: Fortschritt, in: Adorno: St, S. 48 (Hervorhebung von mir); Adorno: ND, s-149f; Adorno: PhT, Bd. 2, S. 262; Adorno: Reflexionen zur Klassentheorie, i" :

Adorno: SS I, S. 373; vgl.: Karl Marx: Das Kapital, a.a.O., S. 181, 181-191, 609f.20 Adorno spricht auch explizit davon, daß der Tausch einerseits ein „wirklich gleicher

und gerechter Tausch" ist (Adorno: PhT, Bd. 2, S. 262). An anderer Stelle bezeichnet

112

letztlich ungleichen und ungerechten Tausch auch gar nicht sinnvoll zu

reden.Adornos Bewertung des Tauschverhältnisses als wesentliches Merkmal

des Kapitalismus ist nicht nur dadurch begründet, daß er durch denÄquivalententausch die Klassenherrschaft und damit die gesellschaftlicheUngerechtigkeit vermittelt sieht. Sie verweist auch auf sein analytisches

Interesse, den Rationalitätstypus abzuleiten und zu kritisieren, der dergesellschaftlichen Wirklichkeit innewohnt und sie beherrscht. Dieser istneben der instrumentellen, zweckrationalen und formalen Vernunft vorallem das Äquivalenzprinzip, das Adorno in der Negativen Dialektik  ausdem Identifikationsprinzip ableitet:

Er [Marx] führt alles auf den Tauschvorgang oder vielmehr auf die Gestaltder Abstraktion, die in dem Tauschvorgang selber liegt zurück, da imTausch das qualitativ Verschiedene auf einen gemeinsamen Nenner, auf die Äquivalenzform, wie es bei Marx heißt, gebracht wird. In Gestalt dieses Abstraktionsvorganges, daß Verschiedenes auf einen gemeinsamen Nenner gebracht wird, ist in der gesellschaftlichen Realität das subjektive

 Moment von Reflexion enthalten; selbst in dem objektiven, wenn sie wollen, materiellen Gesetz des Tausches, das Marx zufolge die Realität beherrscht. Durch dieses implizite Moment von Reflexion im Tauschvorganghat die Annahme einer Dialektik einen guten Sinn, den sie sofort verliert,wenn sie als ein metaphysisches Prinzip zur Absolutheit hypostasiertwird.

Adorno begreift die Tauschgesetzlichkeit als die abstrakte „Gesetzmäßigkeit" der gesamten gesellschaftlichen Wirklichkeit des Kapital-

Adorno das .jüngste Unrecht" als „das im gerechten Tausch selber gelegene" (Adorno:Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?, in: Adorno: SS I, S. 373). In der Negativen Dialektik  heißt es: „Denn der Äquivalententausch bestand von alters her geradedarin, daß in seinem Namen Ungleiches getauscht, der Mehrwert der Arbeit appropriiertwurde" (Adorno: ND, S. 150). Adorno spricht auch deutlich von „der Appropriation desMehrwerts in der Produktionssphäre" (Adorno: Engagement, in: Adorno: NL, S. 417).Adorno: PhT, Bd. 2, S. 215 (Hervorhebung von mir); „Das Tauschprinzip, dieReduktion menschlicher Arbeit auf den abstrakten Allgemeinbegriff der durchschnittlichen Arbeitszeit, ist urverwandt mit dem Identifikationsprinzip. Am Tausch hat es seingesellschaftliches Modell, und er wäre nicht ohne es; durch ihn werden nichtidentischeEinzelwesen und Leistungen kommensurabel, identisch" (Adorno: ND, S. 149, Hervorhebung von mir).

113

KAPITEL IV

ismus. Der im Warentausch verwirklichte Rationalitätstypus ist dasÄquivalenzprinzip und insbesondere der ihn ermöglichende Denkakt derAbstraktion Als Geset mäßigkeit des kapitalistischen S stems ist der

GESCHICHTSPHILOSOPHIE ALS ERKENNTNIS DER GRUNDE

 \Varentausch, sondern auch in der bürgerlichen und politischen Gerechtigkeit, dem positiven Recht, aufweisen. Das Recht ist für sie wie für Nietz

h d R h t t d E k i t d S h k di

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Abstraktion. Als Gesetzmäßigkeit des kapitalistischen Systems ist derTausch und damit auch das Äquivalenzprinzip in der gesellschaftlichenWirklichkeit verkörpert. Wie bereits dargestellt, weist das Äquivalenzprinzip dieselbe Struktur auf wie das Urprinzip der Begriffsbildung: dieAbstraktion von Besonderem, gekoppelt mit der Subsumtion von Verschiedenem unter Gleiches, und damit die Herrschaft des Allgemeinen

und Identischen über das Besondere und Vielfältige, das auf diese Weisevereinheitlicht wird. Im Denken ist die Gleichheit, unter die sich dieVielheit der Erscheinungen subsumieren läßt, der allgemeine Begriff.Beim Äquivalententausch ist sie der Wert der verschiedenen Waren. FürAdorno sieht die objektive Abstraktion, die im Tausch stattfindet, nichtnur von den verschiedenen Gebrauchswerten der Waren ab, sondern auch„von der qualitativen Beschaffenheit der Produzierenden und Konsumierenden, vom Modus der Produktion, sogar vom Bedürfnis, das dergesellschaftliche Mechanismus beiher, als Sekundäres befriedigt. Primär

" I T T

ist der Profit." Die in der Gesellschaft verkörperte Tauschgesetzlichkeitbewirkt durch den Abstraktionsvorgang, daß das qualitativ Verschiedene,das Besondere und Individuelle nicht zur Geltung kommt. Die gesellschaftliche Herrschaft des Allgemeinen und Einheitlichen, die demBesonderen und Individuellen nicht gerecht wird, führt für Adorno dazu,daß sowohl der Einzelne als auch seine Bedürfnisse von der Gesellschaftpräformiert und nivelliert werden.

Zum einen ist die arbeitsteilige Gesellschaft über den ökonomischenWarentausch mit sich zusammengeschlossen und integriert. Zum anderenüberträgt sich die Struktur des Tausches, das Gleichmachen des Ungleichen, auf die ganze Gesellschaft und wird zu ihrem wesentlichen Strukturprinzip: „Die bürgerliche Gesellschaft ist beherrscht vom Äquivalent.Sie macht Ungleichnamiges komparabel, indem sie es auf abstrakteGrößen reduziert."324 An anderer Stelle heißt es: „Die Abstraktheit des

Tauschwerts geht vor aller besonderen Schichtung mit der Herrschaft desAllgemeinen über das Besondere, der Gesellschaft über ihre Zwangsmit-v J "325

gheder zusammen.Das Äquivalenzprinzip läßt sich für Horkheimer und Adorno nicht nur im

Adorno: ND, S. 57.Adorno: Gesellschaft, in: Adorno: SS I, S. 13.Adorno/Horkheimer: DdA, S. 30.Adorno: Gesellschaft, in: Adorno: SS I, S. 13f, vgl. 294.

114

sche aus der Rache entstanden. Es konserviert den Schrecken, dieUnfreiheit und den Zwang der mythischen Vorzeit: „Recht ist dieentsagende Rache." Auch in den Strafmythen der Unterwelt - Tantalos,gisyphos, die Danaiden - erkennen Horkheimer und Adorno bereits dieÄquivalenz von begangener Untat und Strafe, welche die Schuld sühnt. Inden zusammenhängenden kurzen Abschnitten Die juridische Sphäre und

 Recht und Billigkeit  der Negativen Dialektik führt Adorno seine Kritik despositiven Rechts weiter aus. Die Naturrechtstradition wird dabei enpassant mit der knappen Bemerkung zurückgewiesen, daß ,jede inhaltlichausgeführte, positive Lehre vom Naturrecht" auf „Antinomien" führt.Adorno bringt zwei grundlegende Einwände gegen das positive Recht vor,mit denen er das Unrecht der bürgerlichen und politischen Gerechtigkeit

Adorno/Horkheimer: DdA, S. 79, 39, 29, 82; „Die Unterwerfung unter das Re ch t : - ohmit was für Gewissens-Widerstände haben die vornehmen Geschlechter überall auf Erden ihrerseits Verzicht auf Vendetta geleistet und dem Recht über sich Gewalteingeräumt! Das ,Recht' war lange ein vetitum, ein Frevel, eine Neuerung, es trat mitGewalt auf, a ls Gewalt, der man sich nur mit Scham vor sich selber fügte (Friedrich

Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, a.a.O., S. 358); In Nietzsches Zur Genealogie der  Moral finden sich auch einige Überlegungen über den Zusammenhang des Äquivalenzprinzips mit Strafe, Recht und Gerechtigkeit in den Frühphasen der Menschheit,deren Einfluß auf Adornos Analysen nicht zu übersehen ist. So spricht Nietzsche etwadavon, daß „die längste Zeit der menschlichen Geschichte hindurch" so gestraft wurde,„wie jetzt noch Eltern ihre Kinder strafen, aus Zorn über den erlittenen Schaden, dersich am Schädiger auslässt, - dieser Zorn aber in Schranken gehalten und modifizirtdurch die Idee, dass jeder Schaden irgend worin sein Äq u i v a l en t habe und wirklichabgezahlt werden könne, sei es selbst durch den Schmerz des Schädigers". DieMacht der Idee einer „Äquivalenz von Schaden und Schmerz" entstammt für Nietzschedem Vertragsverhältnis zwischen Schuldiger und Gläubiger, das „auf die Grundformenvon Kauf, Verkauf, Tausch, Handel und Wandel zurückweist" (Ebenda, S. 298). EinigeSeiten weiter heißt es: „Überall, wo Gerechtigkeit geübt, Gerechtigkeit aufrecht erhaltenwird, sieht man eine stärkere Macht in Bezug auf ihr unterstehende Schwächere (seien

es Gruppen, seien es Einzelne) nach Mitteln suchen, unter diesen dem unsinnigenWüthen des Ressentiment ein Ende zu machen, indem sie theils das Objekt des Ressentiment aus den Händen der Rache herauszieht, theils an Stelle der Rache ihrerseits denKampf gegen die Feinde des Friedens und der Ordnung setzt, theils Ausgleiche erfindet,vorschlägt, unter Umständen aufnöthigt, theils gewisse Äquivalente von Schädigungenzur Norm erhebt, an welche von nun an das Ressentiment ein für alle Mal gewiesen ist.Das Entscheidendste aber, was die oberste Gewalt gegen die Übermacht der Gegen- undNachgefühle thut und durchsetzt - sie thut es immer, sobald sie irgendwie stark genugdazu ist - ist die Aufrichtung des G e s e t z e s " (Ebenda, S. 311 f.).

Adorno/Horkheimer: DdA, S. 82; Alle im folgenden ohne Quellenangabe zitiertenTextstellen von Adorno finden sich in den beiden Abschnitten Die juridische Sphäreund Recht und Billigkeit (Adorno: ND, S. 303-305).

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KAPITEL IV

entlarven will. Zum einen ist das positive Recht Unrecht, da es alsgesellschaftliche Kontrollinstanz in der „verwalteten Welt" durch seineSanktionen reale Gewalt" ausübt den Schrecken konserviert und

GESCHICHTSPHILOSOPHIE ALS ERKENNTNIS DER GRUNDE

Adorno begreift das positive Recht wie die Kunst als eigenen Wirklich-keitsbereich, der sich von der daseienden empirischen Wirklichkeit einerseits unterscheidet andererseits natürlich auch einen Teil von ihr bildet

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Sanktionen „reale Gewalt ausübt, den Schrecken konserviert und jederzeit bereit ist, „auf ihn zu rekurrieren mit Hilfe der anführbarenSatzung". Adornos zweiter Einwand gegen das positive Recht ist komplexer: „Schon der bloßen Form nach, vor Klasseninhalt und Klassenjustiz,drückt es Herrschaft, die klaffende Differenz der Einzelinteressen vondem Ganzen aus, in dem sie abstrakt sich zusammenfassen." Adornonimmt den klassischen Einwand der marxistischen Rechtskritik, daß dasRecht als Überbauphänomen die sozioökonomische Struktur widerspiegeltund insofern das Recht der herrschenden Klasse ist, als gegeben hin undsetzt sich mit ihm nicht weiter auseinander. Das positive Recht drückt fürihn bereits seiner Form nach Herrschaft aus, da diese Form das klassifika-torische System allgemeiner Rechtsnormen und Kategorien ist, das durchdie Abstraktion von besonderen Einzelfällen entstanden ist. Der im Rechtverkörperte Rationalitätstypus weist die Struktur des Identifikationsprin-zips und des Äquivalenzprinzips auf: die Abstraktion von Besonderem,gekoppelt mit der Subsumtion von Verschiedenem unter Gleiches, unddamit die Herrschaft des Allgemeinen und Identischen über das Besondereund Vielfältige. Damit entscheidet sich das positive Recht für Adorno

„vorweg für die Ordnung, der das klassifikatorische System nachgeahmtist". Mit dieser Ordnung meint Adorno selbstverständlich das kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das „die Einzelinteressenauf den Generalnenner einer Totalität kürzt, die negativ bleibt, weil sievermöge ihrer konstitutiven Abstraktion von den Einzelinteressen sichentfernt, aus denen sie zugleich doch sich zusammensetzt". Die vomÄquivalent beherrschte gesellschaftliche Allgemeinheit herrscht wie dieAllgemeinheit des positiven Rechts über das Besondere und Individuelle,dem sie für Adorno Gewalt antut und dem sie nicht gerecht wird. Abstrahiert die allgemeine Gesellschaft von den Einzelinteressen, so abstrahiertdas Recht von den einzelnen Fällen:

Recht ist das Urphänomen irrationaler Rationalität. In ihm wird das formale Äquivalenzprinzip zur Norm, alle schlägt es über denselben Leisten.Solche Gleichheit, in der die Differenzen untergehen, leistet geheim derUngleichheit Vorschub; nachlebender Mythos inmitten einer nur zumSchein entmythologisierten Menschheit. Die Rechtsnormen schneiden dasnicht Gedeckte, jede nicht präformierte Erfahrung des Spezifischen umbruchloser Systematik willen ab und erheben dann die instrumentale Ra"tionalität zu einer zweiten Wirklichkeit sui generis. Das juridische Gesamtbereich ist eines von Definitionen.

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seits unterscheidet, andererseits natürlich auch einen Teil von ihr bildet.Der in den Rechtsnormen vergegenständlichte und verkörperte Rationalitätstypus ist für ihn nicht nur das Äquivalenzprinzip, sondern auch dieinstrumentale Rationalität. Das verweist auf die Verwandtschaft dieserRationalitätstypen, die Adorno beide als Mittel der Herrschaft begreift.Damit das positive Recht die Systematik allgemeiner Rechtsnormenaufrichten kann, muß es von der Vielzahl der besonderen Fälle abstrahieren. Subsumiert das Recht bei seiner Anwendung konkrete einzelne Fälleunter die allgemeinen Rechtskategorien, macht es Ungleiches gleich undwird deshalb dem Einzelnen mit seinen vielfältigen Unterschieden nichtgerecht. Da die Rechtsanwendung Ungleiches gleichmacht, ist ihr Resultatdie Verstärkung der bereits bestehenden gesellschaftlichen Ungleichheitund insofern auch der Ungerechtigkeit. Die Ungerechtigkeit des positivenRechts gegenüber dem Einzelnen kann als Adornos zweiter grundlegenderEinwand gegen die bürgerliche und politische Gerechtigkeit angesehenwerden.

Adornos durchgängige Parteinahme für das Einzelne und Besondereund seine Kritik an der Ungerechtigkeit, die mit den rationalen Herr

schaftsbeziehungen des Allgemeinen und Identischen über das Individuelle und Vielfältige einhergeht, läßt sich im Kontext des Rechts auch anseinem Lob der emeiKeia, der Billigkeit, aufweisen. Aristoteles entfaltetdiesen Begriff im 14. Kapitel des fünften Buches der NikomachischenEthik, in dem er die verschiedenen Arten der Gerechtigkeit thematisiert.Die Billigkeit ist für Aristoteles eine „Art von Gerechtigkeit", die „eineKorrektur des Gesetzes, soweit es auf Grund seiner Allgemeinheitmangelhaft ist", ermöglicht.328 Der wesentliche Mangel der Gesetzes-Gerechtigkeit besteht für Aristoteles darin, daß das Gesetz wegen seinerAllgemeinheit nicht alle Einzelfälle berücksichtigen kann. Das ist fürAristoteles aber im Gegensatz zu Adorno kein grundsätzlicher Einwand

gegen das positive Recht. Denn das Recht geht für Aristoteles trotzdem»richtig vor". Der Fehler liegt für ihn weder beim Gesetz noch beimGesetzgeber, sondern in der „Natur der Sache". Indem die Billigkeit denbesonderen Fall und damit das Einzelne berücksichtigt, verbessert sie dasbesetz. Der Mensch, der nach der Billigkeit handelt, ist dementsprechendderjenige, der „es nicht zum Schaden anderer mit dem Recht übermäßiggenau nimmt, sondern zum Nachgeben bereit ist, auch wo er das Gesetz

3 2 8 A •

Aristoteles: Die Nikomachische Ethik, München 1991, S. 228; 1137 b 26ff.

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KAPITEL IV

auf seiner Seite hätte ". Die Passa ge, in der sich Adorno auf Aristotelesbezieht, sei hier zur Gänze angeführt:

GESCHICHTSPHILOSOPHIE ALS ERKENNTNIS DER GRUNDE

Hern zugleich in Ansehung der Person und der besonderen Umstände handeln soll."333 Damit verwirklicht die Billigkeit genau die Auffassung vonGerechtigkeit die im Mittelpunkt von Adornos Denken steht Adorno

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Das System selbstgemachter Begriffe, das die ausgereifte Jurisprudenz vorden Lebensprozeß der Gesellschaft schiebt, entscheidet sich durch Subsumtion alles Einzelnen unter die Kategorie vorweg für die Ordnung, derdas klassifikatorische System nachgeahmt ist. Zu seiner unvergänglichenEhre hat Aristoteles in der Lehre von der eraeiKsia, der Billigkeit, das ge

gen die abstrakte Rechtsnorm angemeldet. Je konsequenter aber dieRechtssysteme durchgebildet sind, desto unfähiger werden sie zu absorbieren, was sein Wesen daran hat, der Absorption sich zu verweigern. Das rationale Rechtssystem vermag den Anspruch der Billigkeit, in dem das Korrektiv des Unrechts im Recht gemeint war, regelmäßig als Protektionswesen, unbilliges Privileg niederzuschlagen.

Obwohl Adornos Auslegung der Billigkeit grundsätzlich zuzustimmen ist,ergeben sich doch zwei Einwände gegen seine Interpretation, die miteinander zusammenhängen. Zum einen unterstellt Adorno mit seinem Bezug,daß er das gegen die abstrakte Rechtsnorm angemeldet  habe, Aristoteleseine herrschaftskritische Perspektive, die bei ihm im Zusammenhang mit

der Billigkeit nicht vorhanden ist. Zum anderen ist die Billigkeit fürAristoteles weniger ein Korrektiv des Unrechts im Recht, sondern „eineKorrektur des gesetzlich Gerechten" und insofern ein „besseres Recht".331

Das beiden Einwänden Gemeinsame ist, daß Adorno seine eigene radikalrechts- und herrschaftskritische Perspektive auf Aristoteles projiziert, derdie Gesetzes-Gerechtigkeit als die „vollkommene Tugend" und als die„vornehmste der Tugenden" begreift.332 Im Gegensatz zu Aristoteles wirdfür Adorno die Umsetzung der Billigkeit im rationalen Rechtssystemregelmäßig mit dem Argument, das dies eine Begünstigung oder einunzulässiges Vorrecht des Einzelnen gegenüber der allgemeinen Normbedeuten würde, vereitelt. „Unvergängliche Ehre", diese ansonsten von

Adorno kaum zu vernehmende Würdigung eines traditionellen Denkers,verdient Aristoteles vor allem dafür, daß die Billigkeit dem Einzelnendadurch gerecht wird, daß sie ihm das Seine zukommen läßt: „DieAristotelische Billigkeit besagt, daß man nicht nur nach dem Gesetz son-

•v Ebenda, S. 227f., 1137b 18ff.Adorno: ND, S. 305 (Hervorhebungen von mir).

11 Aristoteles: Die Nikomachische Ethik, München 1991, S. 227; 1137 b 8ff.2 Ebenda, S. 205; 1129 b 26ff.

118

Gerechtigkeit, die im Mittelpunkt von Adornos Denken steht. Adornosetzt seinen Gerechtigkeitsbegriff den vorherrschenden rationalen und ungerechten Herrschaftsverhältnissen entgegen, die das Einzelne und Individuelle gewalttätig dem Allgemeinen und Einheitlichen unterwerfen undes so nivellieren. Adornos Begriff der Ungerechtigkeit läßt sich demzufolge als Gleichmachen des Ungleichen bestimmen. Diesen Vorgang sieht

Adorno bereits im Identifikationsprinzip und auch in dem von ihm abgeleiteten Äquivalenzprinzip verwirklicht.Trotz seiner radikalen Kritik am positiven Recht und an der „ver

walteten Welt" räumt Adorno ein, daß das Recht zumindest ein partiellesMoment von Gerechtigkeit verwirklicht. So äußert er über das Verhältnisdes Einzelnen zur Behörde:

Aber das Schema F, nach dem er behandelt wird, also die abstrakte Verfah-rungsweise, die es den Bürokraten erlaubt, einen jeden Fall automatischund ,ohne Ansehung der Person' zu erledigen, ist zugleich, wie im formalen Recht, auch ein Element von Gerechtigkeit, ein Stück Garantie dafür,daß dank solcher Beziehung aufs Allgemeine nicht Willkür, Zufall, Nepo-

334

tismus das Schicksal eines Menschen beherrschen.

In einer Willkürherrschaft ist der Einzelne für Adorno gänzlich demZufall und der Vetternwirtschaft ausgeliefert. So wurde „die Gesellschaft

- I T C

ohne Recht, wie im Dritten Reich, Beute purer Willkür ". Adornoerachtet ein derartiges Herrschaftssystem als das Höchstmaß an Ungerechtigkeit. Dagegen ist für ihn in einem Rechtsstaat zumindest einpartielles Moment von Gerechtigkeit verwirklicht, da der Einzelnewenigstens Rechtssicherheit hat. Insofern kann sich der Bürger für Adornowenigstens auf das geltende positive Recht verlassen. Da es aber mitGewaltanwendung verbunden ist und durch seine Allgemeinheit demEinzelnen nicht das seine zukommen läßt, erachtet Adorno es trotzdem alsungerecht.

Die Struktur des Identifikationsprinzips und des Äquivalententauschs,das Gleichmachen des Ungleichen, ist auch in der abstrakten Verfahrungs-

Adorno: PdM, S. 184.Adorno: Individuum und Organisation, in: Adorno: SS I, S. 447 (Hervorhebungen vonmir).

Adorno: ND, S. 303.

119

KAPITEL IV

weise der Behörde mit dem Individuum verwirklicht. Adornos Kritik amVerwaltungsapparat und seiner abstrakten Verfahrungsweise ist deshalbdieselbe wie am positiven Recht und seiner Anwendung: Die Behörde läßt

GESCHICHTSPHILOSOPHIE ALS ERKENNTNIS DER GRUNDE

ganisationen von irrationalen, verderblichen und partikularen Zweckenabhängen und daß die Individuen zu „Anhängseln" der „entmenschlichtenApparatur" werden, nach der sie sich „bis in ihre innersten Reaktionswei

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dieselbe wie am positiven Recht und seiner Anwendung: Die Behörde läßtdem Einzelnen nicht das Seine zukommen und wird ihm insofern nichtgerecht. Das ist für Adorno um so verhängnisvoller, als die moderneOrganisation, im Gegensatz etwa zur römischen Verwaltung, eine „neueund bestürzende Qualität" angenommen hat. Diese Qualität hat sie „einzigdurch den Grad ihrer Ausdehnung und Verfügungsgewalt gewonnen: die

des Allumfassenden, die Gesellschaft durch und durch Strukturierenden". Unter der modernen Organisation, deren vollständige Ausbildungdie moderne Technik voraussetzt, versteht Adorno nicht ausschließlich dieBürokratie. Eine Organisation ist für ihn, wie er in seinem Vortrag Individuum und Organisation von 1953 ausführt, ein „bewußt geschaffener undgesteuerter Zweckverband". Wesentlich ist für Adorno die Zweckrationalität, die sich in der Organisation verwirklicht. Dementsprechendumfaßt sein häufig verwendeter Terminus der „verwalteten Welt" nebenden anwachsenden staatlichen Bürokratien insbesondere auch die privatenund staatlichen kapitalistischen Betriebe, die politischen Verbände und dieInteressengruppen. Vorbild dieser soziologischen Analysen ist zweifellosMax Weber und sein Idealtypus der legalen bzw. bürokratischen

Herrschaftsform, die Weber bereits zu seiner Zeit als stetig zunehmendbegreift.338

Adorno kritisiert an der „verwalteten Welt", daß die bestehenden Or-

Adorno: Individuum und Organisation, in: Adorno: SS I, S. 443.Ebenda, S. 441,443.

Ebenda, S. 446; Die bürokratische Herrschaft ist für Max Weber „reinster Typus" derlegalen Herrschaft, einer der drei von ihm konstruierten Idealtypen der legitimenHerrschaft: „Unter den Typus der .legalen Herrschaft' fällt natürlich nicht etwa nur diemoderne Struktur von Staat und Gemeinde, sondern ebenso das Herrschaftsverhältnisim privaten kapitalistischen Betrieb, in einem Zweckverband oder Verein gleichviel

welcher Art, der über einen ausgiebigen hierarchisch gegliederten Verwaltungsstabverfügt" (Max Weber: Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft, in: Max Weber:Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1982, S. 475f.). Weber sprichtbereits von „stetiger Zunahme der bu re au kr a ti sc he n Verwaltung" und von der„universellen Bürokratisierung"; „Der Anteil der bürokratischen Herrschaftsformensteigt überall" (Ebenda, S. 477; Max Weber: Parlament und Regierung imneugeordneten Deutschland (Mai 1918), in: Max Weber: Gesammelte PolitischeSchriften, Tübingen 1988, S. 329f; Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen1980, S. 128). Adorno bezieht sich ausdrücklich auf Weber. Im Zusammenhang mit der„Ausweitung der Organisation" heißt es: „schon Max Weber hat dargetan, daß derDrang dazu jeglicher Organisation innewohnt" (Adorno: Individuum und Organisation,in: Adorno: SS I, S. 442).

120

Apparatur werden, nach der sie sich „bis in ihre innersten Reaktionsweisen" richten müssen, wenn sie fortexistieren wollen: „Die Menschenwerden nicht nur objektiv mehr stets zu Bestandstücken der Maschineriegeprägt, sondern sie werden auch für sich selber, ihrem eigenen Bewußtsein nach zu Werkzeugen, zu Mitteln anstatt zu Zwecken." Derbürokratische und ökonomische Apparat, der das Zentrum der organisier

ten Gesellschaft bildet, ist für Adorno die Verkörperung der instrumentel-len und zweckrationalen Vernunft sowie des Äquivalenzprinzips. DerPrimat der verselbständigten Gesellschaft gegenüber den Einzelnenbewirkt, daß diese zwanghaft an jene angeglichen werden und sich ihrähnlich machen müssen, um ihre Selbsterhaltung sicherzustellen. DieKonsequenz ist, daß auch die zwischenmenschlichen Beziehungen in deraußerökonomischen Sphäre vom Tauschprinzip geprägt werden. Adornountersucht die Folgen der gesellschaftlichen Prägung der Menschen in derSchrift Minima Moralia, in der er die gemeinsam mit Horkheimerentwickelte Philosophie „von subjektiver Erfahrung her darzustellen"versucht: „Zeitgemäß ist der Geizige, dem nichts für sich und alles für dieandern zu teuer ist. Er denkt in Äquivalenten, und sein ganzes Privatleben

steht unter dem Gesetz, weniger zu geben, als man zurückbekommt, aberdoch stets genug, daß man etwas zurückbekomme." Derartige Phäno-

Adorno: Individuum und Organisation, in: Adorno: SS I, S. 451, 447, 440.Adorno: MM, S. 12, 35, vgl. 260; Adorno spricht auch von „Unterwerfung allermenschlichen Verhältnisse unter das Tauschprinzip, das Abschätzen der einen Handlung gegen die andere" (Adorno: ND, S. 291). In der Minima Moralia erläutert Adorno:„Die Menschen verlernen das Schenken. Der Verletzung des Tauschprinzips haftetetwas Widersinniges an; da und dort mustern selbst Kinder mißtrauisch den Geber, alswäre das Geschenk nur ein Trick, um ihnen Bürsten oder Seifen zu verkaufen." Daßauch die privaten zwischenmenschlichen Beziehungen vom Tauschprinzip geprägt sind,hat für Adorno fatale Auswirkungen: „Alle nicht entstellte Beziehung, ja vielleicht das

Versöhnende am organischen Leben selber, ist ein Schenken. Wer dazu durch die Logikder Konsequenz unfähig wird, macht sich zum Ding und erfriert" (Adorno: MM, S.46f); Adorno geht es natürlich wie Max Weber nicht primär darum, das generelleWesen und die gattungsmäßigen Merkmale des Tausches, sondern die „Kulturbedeutung der historischen Tatsache, daß der Tausch heute Massenerscheinungist, zu analysieren" (Max Weber: Die „Objektivität" sozialwissenschaftlicher undsozialpolitischer Erkenntnis, in: Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1982, S. 176). Diese Zielsetzung gibt jedoch Anlaß zu derFrage, ob das Tauschprinzip nicht schon seit Jahrtausenden die zwischenmenschlichenBeziehungen prägt und ob sich die von Adorno behauptete neue Qualität in deraußerökonomischen Sphäre der „verwalteten Welt" wirklich aufweisen läßt.Vergegenwärtigt man sich Aristoteles' Analyse der Tauschgerechtigkeit und die

121

KAPITEL IV

mene, die Adorno auf die Übermacht der Gesellschaft gegenüber demIndividuum zurückführt, veranschaulichen auch sein berühmtes Diktum

 JA] '

d ß k i i hti L b i f l h " ibt D di M h

GESCHICHTSPHILOSOPHIE ALS ERKENNTNIS DER GRUNDE

Organisation nicht explizit vornimmt, läßt sie erkennen, daß seinensoziologischen Untersuchungen eine moralische Perspektive zugrundeliegt

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daß es kein „richtiges Leben im falschen" gibt. Denn die Menschensind für ihn so stark von der Ungerechtigkeit der „verwalteten Welt"geprägt, daß sie zu wahrhaft moralischem und solidarischem Verhaltenkaum mehr fähig sind.

Die zwischenmenschlichen Beziehungen und das wechselseitige Verhältnis von Einzelnem und Organisation sind für Adorno nicht nur vom

Tauschprinzip, sondern auch von der instrumentellen und zweckrationalenVernunft geprägt:

Solche Mittelbarkeit, der Werkzeugcharakter des Einzelnen für die Organisation und der Organisation für den Einzelnen, setzt Momente von Starrheit, Kälte, Äußerlichkeit, Gewaltsamkeit. In der Sprache der deutschenphilosophischen Tradition wird das von den Worten Entfremdung undVerdinglichung umrissen.

In den bestehenden Organisationen sind die menschlichen Beziehungennicht unmittelbar, sondern durch den Zweck vermittelt. Die Konsequenzen

sind für Adorno Entmenschlichung, Anonymität, Entpersönlichung undGewalt gegenüber dem Einzelnen. Als besonders verhängnisvoll erachteter, daß der verselbständigte ökonomische und bürokratischen Apparat denEinzelnen bloß als Mittel für ihm fremde und äußerliche Zwecke behandelt und seine Interessen kaum zur Geltung kommen läßt. Wie bereitserwähnt, führt das in letzter Konsequenz für Adorno dazu, daß sich dieangepaßten Menschen zunehmend selbst als Werkzeuge für die Organisation begreifen. Überträgt man Kants frühe Fassung des kategorischenImperativs auf das Verhältnis des ökonomischen und bürokratischenApparats zum Einzelnen, so ließe sich dieser als unmoralisch beurteilen,da er den Einzelnen bloß als Mittel und nicht zugleich als Zweckbehandelt. Obwohl Adorno diese Übertragung in Individuum und 

altrömische Rechtsformel für gegenseitige Verträge und Austauschgeschäfte „do utdes", die wörtlich „ich gebe, damit du gibst" bedeutet, sind hier Zweifel angebracht.Denn beides belegt die Bedeutung, die der Tausch schon damals in der ökonomischenund rechtlichen Sphäre hatte. Das legt nahe, daß das Tauschprinzip bereits zu dieserZeit Rück- und Auswirkungen auf die zwischenmenschlichen Beziehungen in anderenSphären hatte.

1 Adorno: MM, S. 42.Adorno: Individuum und Organisation, in: Adorno: SS I, S. 441 f.„Der praktische Imperativ wird also folgender sein: Han dl e so , da ß d u die

122

liegt.In der Dialektik der Aufklärung finden sich weitere Analysen, in denen

Horkheimer und Adorno spezifizieren, wie die übermächtige und ungerechte Gesellschaft die Menschen gleichmacht und ihrer Individualitätberaubt:

Durch die ungezählten Agenturen der Massenproduktion und ihrer Kulturwerden die genormten Verhaltensweisen dem Einzelnen als die allein natürlichen, anständigen, vernünftigen aufgeprägt. Er bestimmt sich nur nochals Sache, als statistisches Element, als success or failure. Sein Maßstab istdie Selbsterhaltung, die gelungene oder mißlungene Angleichung an dieObjektivität seiner Funktion und die Muster, die ihr gesetzt sind.

Im Rückgriff auf Lukacs' Begriff der Verdinglichung, der wiederum auf Marx' Analyse des Fetischcharakters der Ware zurückgreift, beurteilenHorkheimer und Adorno das Bewußtsein der Menschen und ihre Beziehungen untereinander als versachlicht und dinghaft. Verwaltung undIndustrie behandeln die Individuen als Sachen, „die sich an Leib und Seelenach der technischen Apparatur zu formen haben." Der Einzelne kannseine Selbsterhaltung nur sicherstellen, wenn er sich an die Erfordernisseder Selbsterhaltung des arbeitsteiligen Gesellschaftssystems anpaßt. Horkheimer und Adorno sprechen von der „Anpassung ans Unrecht  um jedenPreis". Neben der bewußten Anpassung der Individuen an das einheitliche Gesellschaftssystem und damit aneinander wird die Angleichung fürHorkheimer und Adorno auch durch die konkreten Arbeitsbedingungender industriellen Massenproduktion erzwungen: „Der technische Arbeitsprozeß hat sich von dem entscheidenden Sektor, dem industriellen, ineiner Weise, deren Vermittlungsglieder längst noch nicht von derForschung hinlänglich aufgedeckt sind, über das gesamte Leben ausge

dehnt. Er formt die Subjekte, die ihm dienen, und zuweilen ist man

Mens chh eit , sowohl in deiner Person, als in der Person eine s jed enandern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittelbrauchest" (Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, WerkausgabeBand VII, Frankfurt am Main 1989, BA 67, S. 61).Adorno/Horkheimer: DdA, S. 51.

345

Ebenda, S. 52; Georg Lukacs: Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien übermarxistische Dialektik, Neuwied/Berlin 1970; Karl Marx: Das Kapital, a.a.O., S. 85ff.

346

Adorno/Horkheimer: DdA, S. 114 (Hervorhebung von mir).

123

KAPITEL IV

versucht zu sagen, er bringe sie geradezu hervor." Durch das vonAdorno beklagte Forschungsdefizit läßt sich wohl auch der Mangelerklären, daß seine These von der Prägung der Menschen durch den

GESCHICHTSPHILOSOPHIE ALS ERKENNTNIS DER GRUNDE

yjjd Macht. Auch das Leiden nimmt er als notwendigen und unabänderlichen Bestandteil des Lebens hin und legt damit dem Konsumentender Kulturwaren nahe, es ihm gleich zu tun und die Welt, so wie sie ist, zu

351

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, g gtechnischen Arbeitsprozeß weitgehend unbegründet bleibt. Die Dialektik der Aufklärung untersucht jedoch in dem Kapitel über Kulturindustriediese auch als eines der Vermittlungsglieder zwischen dem technischenArbeitsprozeß und der Freizeit der Menschen. In den automatischen undbewußten Manipulationen der Kulturindustrie sehen Horkheimer undAdorno wiederum das Identifikationsprinzip und das Äquivalenzprinzipam Werk. Die Kulturindustrie leistet für Horkheimer und Adorno einenwesentlichen Beitrag zur „Nivellierung und Standardisierung der Menschen" und zum „Zerfall der Individualität heute" und damit auch zum„Unrecht, das dem Individuum widerfährt".348

Horkheimers und Adornos Theorie der Massenkultur, die sich auf dieVerhältnisse der 20er bis 40er Jahre bezieht, zählt zusammen mit Kracau-ers Filmtheorie und Benjamins Kunstwerkaufsatz zu den einflußreichstendieses Jahrhunderts.349 Horkheimer und Adorno interpretieren dieKulturindustrie, die technisch und ökonomisch mit der Werbung verschmolzen ist, als rein affirmatives, einstimmiges System. Alle Kulturwaren begreifen sie als von zentralen Kulturmonopolen - z.B. Hollywood

oder der Ufa - produziert, deren Manager automatisch oder planvoll diePeripherie durch ihre standardisierten Produkte manipulieren. DieGleichheit der Inhalte der von ihr massenhaft industriell gefertigten undstandardisierten Waren besteht für Horkheimer und Adorno darin, daßsich in ihnen die genormten menschlichen Verhaltensweisen wiederholen,die für die Erhaltung, Stabilisierung und Legitimierung des Gesellschaftssystems erforderlich sind. Diese werden den Konsumenten durch diefortlaufende Präsentation der Kulturwaren als die „allein natürlichen,anständigen, vernünftigen aufgeprägt".350 So ahmt beispielsweise derFilmstar die Versagungen nach, die den Menschen von der Zivilisationauferlegt werden, und fügt sich jovial seinem Schicksal. Ähnlich ahmt erdas Leistungs- und Karriereprinzip nach und erfährt die Folgen vonGehorsam und Ungehorsam gegenüber der gesellschaftlichen Hierarchie

Adorno: Individuum und Organisation, in: Adomo: SS I, S. 450; Adorno/Horkheimer:DdA, S. 60.

Adorno/Horkheimer: DdA, S. 268, 273 (Hervorhebung von mir).

Siegfried Kracauer: Von Caligari bis Hitler. Eine psychologische Geschichte desdeutschen Films, Frankfurt am Main 1984; Walter Benjamin: Das Kunstwerk imZeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt am Main 1963.Adorno/Horkheimer: DdA, S. 51, 158f., 192, 144f, 147.

12 4

bejahen.351 Die Gleichheit der Form der von der Kulturindustrie massenhaft industriell gefertigten Waren besteht für Horkheimer und Adornodarin, daß sie alle Nachbilder des technischen Arbeitsprozesses sind:

Amüsement ist die Verlängerung der Arbeit unterm Spätkapitalismus. Es

wird von dem gesucht, der dem mechanisierten Arbeitsprozeß ausweichenwill, um ihm von neuem gewachsen zu sein. Zugleich aber hat die Mechanisierung solche Macht über den Freizeitler und sein Glück, sie bestimmtso gründlich die Fabrikation der Amüsierwaren, daß er nichts anderes mehrerfahren kann als die Nachbilder des Arbeitsvorgangs selbst. Der vorgebliche Inhalt ist bloß verblaßter Vordergrund; was sich einprägt, ist dieautomatisierte Abfolge genormter Verrichtungen. Dem Arbeitsvorgang inFabrik und Büro ist auszuweichen nur in der Angleichung an ihn in derMuße. Daran krankt unheilbar alles Amüsement.

Horkheimer und Adorno begreifen die industrielle und mechanisierteMassenproduktion als den entscheidenden Sektor einer Volkswirtschaft.

Die Form der Arbeitsvorgänge in der Industrieproduktion charakterisierensie als „automatisierte Abfolge genormter Verrichtungen". Als Abstraktion und Vereinheitlichung von besonderen vorindustriellen Arbeitsvorgängen macht die mechanische Industrieproduktion diese gleich,schematisiert und automatisiert sie. In die industriell gefertigten Kulturwaren überträgt sich die Form der Arbeitsvorgänge, durch die sie produziert werden und deren Nachbilder sie sind. Denn auch der Filmstar führtnach einem einheitlichen Schema festgelegte genormte menschlicheVerrichtungen und Verhaltensweisen aus, die dadurch vorhersehbarwerden. Voraussetzung für die planvoll und profitorientiert gefertigtenProdukte ist, daß die Kulturindustrie von der Vielfalt individuellen undbesonderen Verhaltens abstrahiert und es vereinheitlicht zu fertigen

„Cliches, beliebig hier und dort zu verwenden, und allemal völlig definiertdurch den Zweck, der ihnen im Schema zufällt".353 Inhaltlich sind diefertigen Cliches die Nachahmung von besonderen systemstabilisierendenVerhaltensweisen.

Ebenda, S. 165-167, 158, 178.

Ebenda, S. 162.

Ebenda, S. 149.

125

KAPITEL IV

Durch die fortlaufende Präsentation der einander gleichenden Kulturwaren werden den Konsumenten die standardisierten Züge aufgeprägtwas die „zwanghafte Mimesis der Konsumenten an die zugleich durch

GESCHICHTSPHILOSOPHIE ALS ERKENNTNIS DER GRUNDE

sichtigt. Die Wirkung der Werbung und der Kulturwaren auf dieIndividuen, die sich in den gesellschaftlichen Subkulturen zusammenfinden, ist nur sehr begrenzt, da sie sich den etablierten Produkten weitgeh d i h Di Th i d K l i d i ll i i h

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g gschauten Kulturwaren" bedeutet. Dadurch gleicht die Kulturindustriedie Individuen auch aneinander und an das Gesellschaftssystem an,integriert sie und beraubt sie auf diesem Wege ihrer Individualität.Weitere Folgen sind, daß bei den Konsumenten die kritische Reflexionund der Widerstand gegen das System unterdrückt werden. Außerdem

sehen Horkheimer und Adorno die Phantasie, Spontaneität und Erlebnisfähigkeit der durch die Kulturindustrie und die entfremdete ArbeitVerdummten und Verstümmelten verkümmern: „Der Fluch des unaufhalt-samen Fortschritts ist die unaufhaltsame Regression."

Obwohl Horkheimer und Adorno in ihrer Theorie der Kulturindustriewie bei manchen anderen ihrer Analysen zu sehr verallgemeinern, habensie doch einige wesentliche Einsichten über die Produktion und Wirkungvon Kulturwaren ausgesprochen. Die massenhaft produzierten, system-affirmierenden Filme und Serien aus Hollywood fördern gewiß nicht denkritisch-oppositionellen Geist ihrer Konsumenten. Trotzdem unterschätzen sie die Kritikfähigkeit und Resistenzkraft des durchschnittlichenKulturkonsumenten gegenüber den Kulturwaren und dem vorherrschen

den Gesellschaftssystem. Die Kulturkonsumenten sind nicht alle geboreneOpfer für Manipulations- und Verblendungsprozesse. Sie erhalten sicheine mehr oder weniger kritische Distanz und durchschauen die Produkteder Kulturindustrie und der Werbung auch als Fiktionen und Manipulationen. Obwohl das von Horkheimer und Adorno nicht bestritten wird,verkennen sie, daß damit auch die Wirksamkeit der Kulturwaren und derWerbung beeinträchtigt wird. Auch die Existenz von vielfältigen gesellschaftlichen Subkulturen wird von Horkheimer und Adorno nicht berück-

Ebenda, S. 196, 152; Der Kerngedanke dieser Theorie findet sich bereits in Piatons

Politeia, die für alle Kunstformen eine strenge Zensur vorsieht. Die Kunst produziertfür Piaton Nachahmungen bzw. Darstellungen der sinnlich wahrnehmbaren Dinge,welche wiederum nur Nachahmungen bzw. Darstellungen der ewigen Ideen sind. In diegute Polis darf für Piaton letztlich nichts anderes Aufnahme finden als „Gesänge an dieGötter und Loblieder an die Tugendhaften" (Piaton: Der Staat, Hamburg 1988, S. 407,607 a ff). Leisten die Werke die Nachahmung der Frömmigkeit und der anderenTugenden, verhelfen sie zur Ausbildung der Tugenden bei den Rezipienten, da diesedas in den Werken Dargestellte nachahmen. Wenn im Gegensatz dazu Unfreies,Schlechtes oder Häßliches nachgeahmt würde, führt das dementsprechend dazu, daßdurch die Nachahmung „das wirkliche Sein als Frucht" hervorgeht (Ebenda, S. 100, 395c ff.).Adorno/Horkheimer: DdA, S. 59f., 151, 181.

12 6

hend entziehen. Die Theorie der Kulturindustrie verallgemeinert nicht nurauf der Rezeptionsseite zu radikal, sondern auch auf der Produktionsseite.Wie bereits dargestellt, begreifen Horkheimer und Adorno alle Kulturwaren als von einem zentralen Kulturmonopol produziert, dessen Managerautomatisch oder planvoll die Peripherie durch ihre standardisiertenProdukte manipulieren. Der Name Hollywood scheint zwar die Existenzeines solchen Zentrums zu bestätigen. Aber dieses Zentrum ist zum einenselbst nicht so homogen, wie Horkheimer und Adorno annehmen. Zumanderen gibt es weltweit eine Vielzahl von anderen Produktionsstätten, dieauch nicht standardisierte Kulturprodukte herstellen.

KAPITEL IV

3. Die Thesen über den Antisemitismus: Leiden als Folgedes gesellschaftlichen Vernichtungswillens und Zerstörungsdrangs

GESCHICHTSPHILOSOPHIE ALS ERKENNTNIS DER GRUNDE

mimetische Daseinsweisen abschnitten, angefangen vom religiösen Bilderverbot über die soziale Ächtung von Schauspielern und Zigeunern bis zurPädagogik, die den Kindern abgewöhnt, kindisch zu sein, ist die Bedingung der Zivilisation. Gesellschaftliche und individuelle Erziehung be

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rungsdrangs

Die vorangehenden Kapitel haben untersucht, warum Horkheimer undAdorno den menschlichen Emanzipationsprozeß von der bedrohlichenÜbermacht der Natur als gescheitert erachten. Zu nennen sind die

Entfremdung der Menschen von der äußeren Natur und ihrem Körper,Tnebverzicht, Gewalt, Klassenherrschaft und das dadurch entstehendeLeiden. Im entfalteten Kapitalismus kommt dazu noch die Verselbständigung des Gesellschaftssystems gegenüber den Menschen, ihre Nivellierung und Standardisierung und die Ungerechtigkeit der politischenInstitutionen. Verwirklicht sich für Horkheimer und Adorno in derVerengung der Vernunft zur instrumentellen, zweckrationalen undformalen Rationalität deren „ideelle" Tendenz zur „Selbstzerstörung", soverwirklicht sich in dem von der ungerechten Gesellschaft erzeugtenVernichtungswillen und Zerstörungsdrang ihre „praktische Tendenz zurSelbstvernichtung". Neben der Klassenherrschaft und der Triebunter

drückung stellt die im Geschichtsverlauf zunehmende Unterdrückung undTabuisierung mimetischer Verhaltensweisen eine entscheidende Voraussetzung für den „Vernichtungswillen" dar, „den die falsche gesellschaftliche Ordnung aus sich heraus produziert". 357

Durch die Ausbildung der Sprache, des begrifflichen Denkens und desSubjekts in der historischen Phase hat zwar einerseits die Macht derMenschheit gegenüber der Natur zugenommen, andererseits hat sie sichihr gegenüber auch zunehmend distanziert und entfremdet. MimetischesVerhalten, der Drang, sich ans andere zu verlieren und sich ihm gleichzumachen, wie dies etwa in der Magie durch Bilder geschieht, stellt stets diegewaltsame Errungenschaft des identischen Ichs und die Arbeitsdisziplinwieder in Frage und wird deshalb im Zivilisationsprozeß zunehmendtabuiert. Das Bilderverbot des Alten Testaments stellt für Horkheimer undAdorno einen frühen Beleg dafür dar:

Die Strenge, mit welcher im Laufe der Jahrtausende die Herrschenden ihrem eigenen Nachwuchs wie den beherrschten Massen den Rückfall in

Ebenda, S. 18, 22.

Ebenda, S. 197, 222 (Hervorhebung von mir).

128

gung der Zivilisation. Gesellschaftliche und individuelle Erziehung bestärkt die Menschen in der objektivierenden Verhaltensweise von Arbeitenden und bewahrt sie davor, sich wieder aufgehen zu lassen im Auf undNieder der umgebenden Natur. Alles Abgelenktwerden, ja, alle Hingabehat einen Zug von Mimikry. In der Verhärtung dagegen ist das Ich geschmiedet worden.

Die zunehmende Unterdrückung mimetischen Verhaltens im Zivilisationsprozeß, die auch mit einem zunehmenden Triebverzicht einhergeht, ist fürHorkheimer und Adorno eine verhängnisvolle Fehlentwicklung. Das begründen sie nicht nur mit dem durch die Entsagung bedingten Leiden,sondern auch in ihrem Antisemitismuskapitel, das innerhalb der Dialektik der Aufklärung sowohl die Funktion einer Bestätigung der gesamtenTheorie hat als auch deren Anwendung auf einen konkreten Gegenstanddarstellt.

Die, Nationalsozialisten können sich nach Horkheimer und Adorno fürihre Herrschaft und ihre antisemitischen Exzesse die Rebellion der innerenNatur, der unterdrückten, deformierten und tabuierten mimetischenRegungen und Triebe gegen die Herrschaft zunutze mache n. Neben denbekannten Gründen eignen sich die Juden besonders als Opfer, weil sieseit Jahrtausenden nicht geherrscht haben und sich deshalb überdurchschnittlich viele der tabuierten mimetischen Züge erhalten haben: „Wasals Fremdes abstößt, ist nur allzu vertraut. Es ist die ansteckende Gestikder von der Zivilisation unterdrückten Unmittelbarkeit: Berühren,Anschmiegen, Beschwichtigen, Zureden. Anstößig heute ist das Unzeitgemäße jener Regungen." Die mimetischen Züge, deren Unmittelbarkeit Nähe erzeugt, dokumentieren für Horkheimer und Adorno die größereAffinität der Juden zur Natur. Sie stellen auch anachronistische undtabuierte Mechanismen zur Angst- und zur Leidensbewältigung dar. Die

gewaltsam „Zivilisierten" werden durch ihren Kontakt mit den unange-Paßten Juden gezwungen, sich an ihre eigene Angst, ihr eigenes Leidenund ihre eigene Schwäche zu erinnern, die sie im Zivilisationsprozeßzunehmend verdrängen und sich verbieten mußten. Die mimetischen Zügeder Juden erinnern sie somit auch an das Scheitern von Zivilisation und

3S8DL ,

3s Ebenda, S. 210.

36 Ebenda, S. 215."Ebenda, S. 135, 211 f.

129

KAPITEL IV

Emanzipation überhaupt, stellen sie selbst in Frage und fordern daher ihreWut und die Gewalt heraus.361

Das Bild des Juden, abstrahiert vom jüdischen Bankier und Intellektuellen steht für Geld nd Geist nd stellt damit a ch das erle gnete

GESCHICHTSPHILOSOPHIE ALS ERKENNTNIS DER GRÜNDE

Horkheimer und Adorno leiten das durch den Antisemitismus und denHolocaust erzeugte Leiden, das als zentrale Erfahrung ihres Lebens auchim Mittelpunkt ihres Denkens steht, letztlich aus den mit Herrschaftverknüpften und in der Wirklichkeit verkörperten Rationalitätsformen ab

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len, steht für Geld und Geist und stellt damit auch das verleugneteWunschbild der Beherrschten dar. Zudem stehen die mimetischen Zügeder Juden auch für die Lockung, in Natur zurückzufallen, und damit fürdie erfüllte Sehnsucht nach Glück, Lust und Disziplinlosigkeit. Da dieentsagenden und geknechteten Zivilisierten in der Arbeitsgesellschaftdiese Sehnsucht nicht verwirklichen können, machen sie das Ersehnte zumVerhaßten und verwandeln damit auch die Juden zu Objekten ihres Hasses. Dies geschieht durch einen Mechanismus, den Horkheimer undAdorno im Anschluß an Freud als „pathische Projektion" bezeichnen. Diegesellschaftlich tabuierten Regungen und Triebe des Es der Zivilisiertenverwandeln sich unter dem Druck des Über-Ichs, das Horkheimer undAdorno als die gesellschaftliche Kontrollinstanz im Individuum interpretieren, in Aggressionen. Diese projiziert das Ich unreflektiert auf dieJuden, entledigt sich ihrer auf diesem Wege und verwandelt jene in Feindeund Weltverschwörer mit bösen Intentionen. Zusätzlich gelingt es derherrschenden Klasse auch, die Juden zum Sündenbock für das Leiden, dasaus ihrer Herrschaft und der Triebunterdrückung resultiert, zu machen.

Durch ihre Vernichtung, die in der Folge der pathischen Projektion alsNotwehr erscheint, erfahren die Nationalsozialisten durch die „Lust an derQual" eine partielle Befreiung von ihrem eigenen Leiden und erlebensogar wieder eine gewisse Vereinigung mit den ersehnten Triebregungenund der Natur.363

361Ebenda, S. 212, 135f.

362Ebenda, S. 135,202,229.

363 Ebenda, S. 222, 217, 203, 229, 136, 214; „Die verhaßte übermächtige Lockung, in dieNatur zurückzufallen, ganz ausrotten, das ist die Grausamkeit, die der mißlungenenZivilisation entspringt, Barbarei, die andere Seite der Kultur. [...] Die Zeichen der

Ohnmacht, die hastigen unkoordinierten Bewegungen, Angst der Kreatur, Gewimmel,fordern die Mordgier heraus. Die Erklärung des Hasses gegen das Weib als die schwächere an geistiger und körperlicher Macht, die an ihrer Stirn das Siegel der Herrschaitträgt, ist zugleich die des Judenhasses. Weibern und Juden sieht man an, daß sie seitTausenden von Jahren nicht geherrscht haben. Sie leben, obgleich man sie beseitigenkönnte, und ihre Angst und Schwäche, ihre größere Affinität zur Natur durch perennierenden Druck, ist ihr Lebenselement. Das reizt den Starken, der die Stärke mit derangespannten Distanzierung zur Natur bezahlt und ewig sich die Angst verbieten muu,zu blinder Wut. Er identifiziert sich mit Natur, indem er den Schrei, den er selbst nichtausstoßen darf, in seinen Opfern tausendfach erzeugt" (Ebenda, S. 135f.); „Gleichgültigwie die Juden an sich selber beschaffen sein mögen, ihr Bild, als das desÜberwundenen, trägt die Züge, denen die totalitär gewordene Herrschaft todfeind sein

130

verknüpften und in der Wirklichkeit verkörperten Rationalitätsformen ab.So heißt es bereits in der Vorrede der Dialektik der Aufklärung über denAntisemitismus: „Sein ,Irrationalismus' wird aus dem Wesen der herrschenden Vernunft selber und der ihrem Bild entsprechenden Weltabgeleitet." Vergegenwärtigt man sich diese Tatsache, wird die Radikalität ihrer Zivilisations- und Rationalitätskritik wesentlich verständlicher. Verdeutlichen läßt sich das durch eine Passage aus dem letztenAbschnitt des Kapitels Elemente des Antisemitismus, der erst in der Ausgabe von 1947 enthalten ist:

Wenn selbst innerhalb der Logik der Begriff dem Besonderen nur als einbloß Äußerliches widerfährt, muß erst recht in der Gesellschaft erzittern,was den Unterschied repräsentiert. Die Spielmarke wird aufgeklebt: jederzu Freund oder Feind. Der Mangel an Rücksicht aufs Subjekt macht es derVerwaltung leicht. Man versetzt Volksgruppen in andere Breiten, schicktIndividuen mit dem Stempel Jude in die Gaskammer.

Der allgemeine Begriff, der durch die Abstraktionsleistung von verschiedenen individuellen Gegenständen entstanden ist, geht mit der Nivellierung der Unterschiede von besonderen Gegenständen einher. Damitenthält „identifizierendes Denken, das Gleichmachen eines jeglichenUngleichen"  , von Anbeginn an die Grundstruktur der Ungerechtigkeit,die in den verschiedenen rationalen und ungerechten Herrschaftsverhältnissen verwirklicht ist. Dort bewirkt das Gleichmachen des Ungleichen,daß das Einzelne und Individuelle gewalttätig dem Allgemeinen undEinheitlichen unterworfen wird und daß ihm demzufolge nicht das ihmAngemessene zukommt. Macht die ungerechte Gesellschaft die Individuen durch die konkreten Arbeitsbedingungen und die Kulturindustrie

muß: des Glückes ohne Macht, des Lohnes ohne Arbeit, der Heimat ohne Grenzstein,der Religion ohne Mythos. Verpönt sind diese Züge von der Herrschaft, weil die Beherrschten sie insgeheim ersehnen. Nur solange kann jene bestehen, wie die Beherrschten selber das Ersehnte zum Verhaßten machen. Das gelingt ihnen mittels derpathischen Projektion, denn auch der Haß führt zur Vereinigung mit dem Objekt"(Ebenda, S. 229).Ebenda, S. 22.Ebenda, S. 233.Adorno: ND, S. 174 (Hervorhebung von mir).

131

KAPITEL IV

gleich, so setzt die politische Praxis des Antisemitismus die ungerechtebegriffliche „Gleichmacherei" verschiedener Individuen durch den Begriff Ju de ' und die „Gleichgültigkeit gegens Individuum" voraus. Dietheoretische Nivellierung der Unterschiede durch den allgemeinen

GESCHICHTSPHILOSOPHIE ALS ERKENNTNIS DER GRUNDE

rungs- und Vernichtungsdrang verstehen sie in ihrer Analyse als notwendige Folgen von Triebunterdrückung und Klassenherrschaft, diesewiederum als notwendige Folgen aus der bisherigen Form von rationalerinnerer und äußerer Naturbeherrschung Die psychoanalytische Erkennt

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theoretische Nivellierung der Unterschiede durch den allgemeinenGattungsbegriff ist Bedingung der Möglichkeit der praktischen Verfolgung und Vernichtung der ihm subsumierten „Exemplare". Auch Adornos

 Negative Dialektik  formuliert diese für sein Denken höchst bedeutsameEinsicht:

Daß in den Lagern nicht mehr das Individuum starb, sondern das Exem

plar, muß das Sterben auch derer affizieren, die der Maßnahme entgingen.

Der Völkermord ist die absolute Integration, die überall sich vorbereitet,

wo Menschen gleichgemacht  werden, geschliffen, wie man beim Militär es

nannte, bis man sie, Abweichungen vom Begriff ihrer vollkommenen

Nichtigkeit, buchstäblich austilgt. Auschwitz bestätigt das Philosophem

von der reinen Identität als dem Tod.

Horkheimer und Adorno sehen ihre Thesen über den Antisemitismusals Ergänzung zu den traditionellen ökonomischen und politischenErklärungen an, deren Richtigkeit sie nicht bestreiten. Mit ihren Thesen

wollen sie aber nicht nur den Antisemitismus erklären, sondern beanspruchen vielmehr, die bisher unerkannten Gründe aufzuzeigen, wieso derabendländischen Zivilisation ein so gewaltiger Zerstörungs- und Vernichtungsdrang innewohnt, wie er sich über die Jahrhunderte in Kriegen,Pogromen, Gewaltverbrechen und ähnlichem immer wieder manifestierthat. Dazu sehen sie es als notwendig an, bis zu den vorgeschichtlichenFehlentwicklungen des zivilisatorischen Befreiungs- und Ausbruchsversuchs aus der Natur zurückzugehen, denn „die mit Herrschaft verknüpfteRationalität liegt selbst auf dem Grunde des Leidens." 369 Wut, Zerstö-

367

Adorno/Horkheimer: DdA, S. 199, 233.368 Adorno: ND, S. 355 (Hervorhebung von mir).369 Die gesamte Passage, der dieses Zitat entnommen ist, lautet: „Die Gestalt des Geistes

aber, des gesellschaftlichen wie des individuellen, die im Antisemitismus erscheint, dieurgeschichtlich-geschichtliche Verstrickung, in die er als verzweifelter Versuch desAusbruchs gebannt bleibt, ist ganz im Dunkel. Wenn einem der Zivilisation so tief innewohnenden Leiden sein Recht in der Erkenntnis nicht wird, vermag es auch derEinzelne in der Erkenntnis nicht beschwichtigen, wäre er auch so gutwillig wie nur dasOpfer selbst. Die bündig rationalen, ökonomischen und politischen Erklärungen undGegenargumente - so Richtiges sie immer bezeichnen - vermögen es nicht, denn die rfflHerrschaft verknüpfte Rationalität liegt selbst auf dem Grunde des Leidens. Als blindZuschlagende und blind Abwehrende gehören Verfolger und Opfer noch dem gleichen

132

innerer und äußerer Naturbeherrschung. Die psychoanalytische Erkenntnis, daß sich Libidorepression und Frustration in Aggression verwandeln,ist für diese Analyse zentral. Die destruktiven Ergebnisse dieser Ver

Kreis des Unheils an. [...] Die Wut entlädt sich auf den, der auffällt ohne Schutz. Und

wie die Opfer untereinander auswechselbar sind, je nach der Konstellation:Vagabunden, Juden, Protestanten, Katholiken, kann jedes von ihnen anstelle der Mördertreten, in derselben blinden Lust des Totschlags, sobald es der Norm sich mächtig fühlt.Es gibt keinen genuinen Antisemitismus, gewiß keine geborenen Antisemiten"(Adorno/Horkheimer: DdA, S. 200).

70 Adorno/Horkheimer: DdA, S. 197, 201 f., 222, 229; Theodor W. Adorno, MaxHorkheimer, Hans-Georg Gadamer: Über Nietzsche und uns. Zum 50. Todestag desPhilosophen (1950), in: Max Horkheimer: Gesammelte Schriften, Bd. 13, Nachgelassene Schriften 1949 - 1972, Frankfurt am Main 1989, S. 111-120, 114f., 118f.; Adorno:ND, S. 330, 281; Horkheimers und Adornos Thesen über den Antisemitismusverdanken sich neben Freud vor allem den psychologischen Analysen aus Nietzsches

 Zur Genealogie der Moral, von denen wiederum Freud stark beeinflußt ist. Auch wenndie Wirkungsgeschichte Nietzsches auf Freud, Horkheimer und Adorno hier nichtdetailliert nachvollzogen werden kann, sollen doch zumindest einige Hinweise gegeben

werden, die Nietzsches Vorbildfunktion für die Dialektik der Aufklärung weitererhellen: Die frühesten Staaten in der Geschichte sind für Nietzsche von einer Kriegerkaste gewaltsam gebildete Zwangsgesellschaften, die die Unterdrückung der Triebeund Instinkte der Unterworfenen erzwingen. Eine zentrale Konsequenz dieser„gewaltsamen Abtrennung der thierischen Vergangenheit" der Unterworfenen ist dasLeiden, das Nietzsche auch auf andere physiologische Ursachen zurückführt (FriedrichNietzsche: Zur Genealogie der Moral, a.a.O., S. 323, 321-325, 376, 378). Bei denUnterworfenen bildet sich das Ressentiment aus, worunter Nietzsche alle reaktivenGefühle wie Rache, Haß, Neid und Mißgunst versteht, die aus der Schwäche, derOhnmacht und vor allem aus dem Leiden erwachsen (Ebenda, S. 374). Analog dazukonstatieren Horkheimer und Adorno das Ressentiment bei der Gefolgschaft der Antisemiten aus den unteren Klassen: „Diese aber, die weder ökonomisch noch sexuell auf ihre Kosten kommt, haßt ohne Ende; sie will keine Entspannung dulden, weil sie keineErfüllung kennt" (Adorno/Horkheimer: DdA, S. 201). Nietzsche geht es in seinenweiteren Untersuchungen darum zu zeigen, wie die Priesterkaste es vermag, das Res

sentiment der Leidenden gegen sich selbst zu wenden, indem sie ihnen nahelegt, ihrLeiden als einen durch ihre Schuld gerechtfertigten Strafzustand zu verstehen. Er merktaber auch an, daß sich das Ressentiment bei seinen antisemitischen Zeitgenossenstudieren lasse (Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, a.a.O., S. 309). Horkheimer und Adorno analysieren weiter, wie oben dargestellt, daß die aus der Triebunterdrückung und dem Leiden entstehende Aggression mittels der „pathischen Projektion"auf die Juden projiziert wird, was dann die „Lust an der Qual" durch ihre Verfolgungund Vernichtung ermöglicht. Bei Nietzsche heißt es: „Jeder Leidende nämlich suchtinstinktiv zu seinem Leid eine Ursache; genauer noch, einen Thäter, noch bestimmter,einen für das Leid empfänglichen sc hu ld ig en Thäter, - kurz, irgend etwasLebendiges, an dem er seinen Affekt thätlich oder in effigie auf irgend einen Vorwand

133

KAPITEL IV

Wandlung stellen die Verwirklichung dessen dar, was Horkheimer undAdorno unter der „praktischen Tendenz zur Selbstvernichtung" der abendländischen Rationalität verstehen. Ebenso erläutern sie den Sinn ihres To-

371i l V

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371

pos der „Rebellion der unterdrückten Natur gegen die Herrschaft".

hin entladen kann: denn die Affekt-Entladung ist der grösste Erleichterungs- nämlichBetäubungs-Versuch des Leidenden, sein unwillkürlich begehrtes Narcoticumgegen Qual irgend welcher Art. Hierin allein ist, meiner Vermuthung nach, diewirkliche physiologische Ursächlichkeit des Ressentiment, der Rache und ihrerVerwandten, zu finden, in einem Verlangen also nach Be t ä ub u ng vo n Sc hm er zdu rc h Af fe kt " (Ebenda, S. 373f.).

Adorno/Horkheimer: DdA, S. 215; vgl: Max Horkheimer: Zur Kritik der instrumentel-len Vernunft, Frankfurt am Main 1990, S. 94f.

134

apitel VDie materialistische und utopisch hedonistischeEthik 

Die vorangehenden Kapitel haben den Zusammenhang aufgezeigt, der fürAdorno zwischen dem Leiden und der Ungerechtigkeit besteht. Darauf aufbauend zieht dieses Kapitel ein erstes Fazit: Adorno erkennt der moralischen Perspektive den Primat für die Erkenntnis von Wirklichkeit zu.Den Kern dieser Perspektive und damit von Adornos Denken bildet einematerialistische und utopisch hedonistische Ethik. Im Verlauf derDurchführung dieser These können auch die für Adornos Denkenzentralen Begriffe Leiden und Ungerechtigkeit sowie ihre jeweiligenGegensätze weiter geklärt werden. Zudem wird es möglich, die Ergebnisse der vorangehenden Kapitel in einen systematischeren Zusammenhang zu bringen.

Adornos Denken findet in der Evidenz der subjektiven Leidenserfahrung eine unbezweifelbare Grundlage. Diese Erfahrung ist vermitteltdurch die objektive Wirklichkeit, die das Leiden erzeugt. Dieses begreiftAdorno primär als gesellschaftlich bedingt, da es durch die verschiedenenungerechten Herrschaftsverhältnisse erzeugt wird und sich letztlich vondem Unrecht der rationalen Beherrschung der äußeren Natur zum Zweckder Selbsterhaltung ableiten läßt. Leiden begreift er vor allem als Folgevon Mangel, Triebverzicht, Klassenherrschaft, Ausbeutung, Gewalt unddes Vernichtungswillens und Zerstörungsdrangs der ungerechten Gesellschaft. Für Adorno ist Leiden also - im Gegensatz etwa zum Buddhismusund zu Schopenhauer - weniger eine invariante conditio humana,

sondern in erster Linie das Produkt der falschen Gesellschaft und desgescheiterten Emanzipationsprozesses von der Übermacht der Natur durchihre rationale Beherrschung. Damit zeichnet sich bereits die Antwort auf eine wichtige Frage ab, die Josef Früchtl formuliert: „Die Rede Adornosvon überflüssigem' und ,abschaffbarem' Leiden legt die Frage nahe, ob

Edward Conze: Der Buddhismus, Stuttgart/Berlin/Köln 1990, S. 39ff.; ArthurSchopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung I, Sämtliche Werke, Band I, Frankfurt am Main 1993, S. 372, 3 91, 425f , 431 ff.

135

KAPITEL V

es auch ein nicht abschaffbares Leiden gebe, das durch die „Beschränktheit und Endlichkeit der Menschen" (PT1,S.171), die „Hinfälligkeit desMenschenwesens" (GS17,S.153), den Tod als der „obersten Kategorie desnatürlichen Daseins" (GS11 S 575) gesetzt sei Adorno vermeidet eine

DIE MATERIALISTISCHE UND UTOPISCH HEDONISTISCHE ETHIK

Würde Adorno das Leiden als invariante conditio humana begreifen, wäre

es höchst widersinnig, seine weitgehende Abschaffung durch den gesellschaftlichen und geschichtlichen Fortschritt der Menschheit zumindesttheoretisch für möglich zu halten. Die eben zitierte Passage belegt nicht

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natürlichen Daseins (GS11,S.575) gesetzt sei. Adorno vermeidet eineAntwort darauf." Das nicht abschaffbare Leiden des Menschen, das ausder invarianten conditio humana resultiert, hat in Adornos Denken imVerhältnis zum gesellschaftlich bedingten Leiden einen geringen Stellenwert. Eine Begründung dafür ist, daß Adorno viele Komponenten derconditio humana gar nicht als unveränderbar begreift. Selbst der Tod istfür ihn keine „Invariante", denn er versteht ihn wie die gesamte Wirklichkeit als durch und durch geschichtlich und gesellschaftlich bestimmt unddamit als etwas zu verschiedenen Zeiten Verschiedenes. In der richtigenGesellschaft könnte für Adorno das Leben selbst mit dem Tod versöhntwerden, wenn dieser nach einem „runden und geschlossenen" Leben erfolgte und der Einzelne „müde, alt und lebenssatt" sterben würde. 374

Obwohl sich Adorno zu dem Problem nicht ausdrücklich äußert, dürfte erdie unveränderliche Existenz eines gewissen Quantums an menschlichemLeiden, etwa als Folge von unheilbaren Krankheiten und Naturkatastrophen, wohl kaum bestreiten. Ebensowenig würde er leugnen, daß das„Fressen und Gefressenwerden" der bewußtlosen und blinden Natur mit

perpetuierendem Leiden und Schmerz einhergeht.375

Trotzdem mißt erdem nicht abschaffbaren Leiden nur eine marginale Bedeutung bei. Daszeigt sich auch daran, daß für ihn die Kunst in einer richtigen Gesellschaftweitgehend überflüssig würde. Denn deren Verwirklichung würde für ihnmit der weitgehenden Abschaffung des Leidens einhergehen. So heißt esauch in der Negativen Dialektik:

Die Abschaffung des Leidens, oder dessen Milderung hin bis zu einemGrad, der theoretisch nicht vorwegzunehmen, dem keine Grenze anzubefehlen ist, steht nicht bei dem Einzelnen, der das Leid empfindet, sondernallein bei der Gattung, der er dort noch zugehört, wo er subjektiv von ihr

sich lossagt und objektiv in die absolute Einsamkeit des hilflosen Objektsgedrängt wird.

Josef Früchtl: Mimesis. Konstellation eines Zentralbegriffs bei Adorno, Würzburg1986, S. 106; vgl. Adorno: PhT, Bd. 1, S. 171.

374 Adorno: M, S. 166f; Adorno: PhT, Bd. 2, S. 185, Adorno: ND, S. 361 ff.175 Adorno: ND, S. 348f; Adorno/Horkheimer: DdA, S. 279, Adorno: Soziologie und

empirische Forschung, in: Adorno: SS I, S. 202.Adorno: ND, S. 203 (Hervorhebung von mir); Nicht nur dieses Zitat, sondern auch die

13 6

theoretisch für möglich zu halten. Die eben zitierte Passage belegt nicht

nur, daß er dies tut, sondern auch, daß er Fortschritt nicht mit „Erlösungals dem transzendenten Eingriff schlechthin" gleichsetzt.

Die Stellung von Adornos Denken zum Leiden läßt sich noch genauerfassen, wenn man sich Nietzsches Charakterisierung der gesamten modernen Welt als sokratische oder alexandrinische Kultur aus der Geburt der Tragödie vergegenwärtigt. Im Zentrum der modernen Welt und insbesondere der Epoche der Aufklärung stehen für Nietzsche die „im Dienste derWissenschaft arbeitenden theoretischen Menschen" und der Optimismus ihres wahnhaften Glaubens, daß „das Denken das Sein nicht nur zu

378

erkennen, sondern sogar zu co r r ig ir en im Stande sei". Die theoretischen Menschen der abendländischen Kultur, die für Nietzsche auf denStammvater Sokrates zurückgeht, fesselt die „sokratische Lust des Erken-nens und der Wahn, durch dasselbe die ewige Wunde des Daseins heilen

379

zu können" sowie der „Glaube an das Erdenglück Aller". Ob es sichdabei wirklich um einen Wahn handelt, wie Nietzsche unterstellt, kann

hier nicht entschieden werden. Aber Nietzsches Charakterisierung dermodernen Welt vermag zu verdeutlichen, in welcher kulturellen TraditionAdorno steht. Obwohl Adorno, wie die Wissenschaftskritik der Dialektik der Aufklärung zeigt, den theoretischen Optimismus der sokratischenKultur nicht ungebrochen teilt, ist er doch der Überzeugung, daß unterveränderten Eigentumsverhältnissen das Leiden durch den Stand von Wis-

anderen oben vorgebrachten Argumente belegen, daß das Leiden nach Adorno nicht als„unverrückbarer Bestandteil des Lebensganzen zu verstehen" ist, wie Mirko Wischkebehauptet. Wischke versucht seine Meinung lediglich anhand einiger Beispiele zubelegen, die zeigen, daß Schmerz und Leiden der Tribut des Einzelnen für die„Integration in das Gefüge der gesellschaftlichen Sozialordnung" sind. Die Beispiele,die von Adorno stammen, sind etwa die „eigenen ersten Erfahrungen in der Schule" unddie „Volkssitten". In einer richtigen Sozialordnung, die dem Einzelnen gerecht würde,ließe sich dieses Leiden für Adorno allerdings weitgehend abschaffen, da sie denEinzelnen, ähnlich wie die Kunst die Vielfalt des Materials zu einer einheitlichen Form,in weitgehend gewaltfreier Weise integrieren würde (Mirko Wischke: Die Geburt derEthik, a.a.O., S. 108; Adorno: EzM, S. 95f; Adorno: AT, S. 199f, 358f).„Wird Fortschritt gleichgesetzt der Erlösung als dem transzendenten Eingriff schlechthin, so büßt er, mit der Zeitdimension, jede faßliche Bedeutung ein und verflüchtigt sichin geschichtslose Theologie" (Adorno: Fortschritt, in: Adorno: St, S. 33).Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, KSA, Bd. 1, Berlin/New York 1988, S.116,99.Ebenda, S. 115, 117.

13 7

KAPITEL V

senschaft und Technik weitgehend abgeschafft werden könnte. FürAdorno verlangt der Zweck,

der allein Gesellschaft zur Gesellschaft macht daß sie so eingerichtet

DIE MATERIALISTISCHE UND UTOPISCH HEDONISTISCHE ETHIK

Adorno begreift den Geist und das Bewußtsein als Differenzierungen undModifikationen der „Triebenergie" der inneren Natur und damit des Körpers. Alle Empfindungen, die das Bewußtsein hat, sind zugleich Körpergefühle, verwei sen also auf ein „somat isches Moment". In den Berei

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der allein Gesellschaft zur Gesellschaft macht, daß sie so eingerichtetwerde, wie die Produktionsverhältnisse hüben und drüben unerbittlich esverhindern, und wie es den Produktivkräften nach hier und heute unmittelbar möglich wäre. Eine solche Einrichtung hätte ihr Telos an der Negationdes physischen Leidens noch des letzten ihrer Mitglieder, und der inwendigen Reflexionsformen jenes Leidens. Sie ist das Interesse aller, nachgerade

einzig durch eine sich selbst und jedem Lebenden durchsichtige Solidarität380

zu verwirklichen.

Das oberste Ziel einer richtigen Gesellschaft hätte für Adorno in derweitgehenden Abschaffung des Leidens aller in ihr lebenden Menschen zubestehen. Da er dieses Ziel als das objektive und allgemeine Interesse derMenschen unterstellt, käme seine Verwirklichung der Verwirklichung desGemeinwohls gleich.

Wie Adorno die „Negation des physischen Leidens" denkt und was erunter den „inwendigen Reflexionsformen jenes Leidens" genauer versteht,erschließt sich aus dem Abschnitt Leid physisch der Negativen Dialektik.

Adorno weist jeglichen Dualismus von Geist und Körper, beides„Abstraktionen von ihrer Erfahrung", zurück und kritisiert alle Versuche,undialektisch dem einen Priorität vor dem anderen zuzusprechen.Trotzdem ist für Adorno der Körper in seiner dialektischen Einheit mitdem Geist das überwiegende Moment:

Alles Geistige ist modifiziert leibhafter Impuls, und solche Modifikationder qualitative Umschlag in das, was nicht bloß ist. Drang ist, nach Schel-lings Einsicht, die Vorform von Geist. Die vermeintlichen Grundtatsachendes Bewußtseins sind ein anderes als bloß solche. In der Dimension vonLust und Unlust ragt Körperliches in sie hinein. Aller Schmerz und alle

Negativität, Motor des dialektischen Gedankens, sind die vielfach vermittelte, manchmal unkenntlich gewordene Gestalt von Physischem, so wiealles Glück auf sinnliche Erfüllung abzielt und an ihr seine Objektivitätgewinnt. Ist dem Glück jeglicher Aspekt darauf verstellt, so ist es keines.

380

381Adorno: ND, S. 203f. (Hervorhebung von mir).Ebenda, S. 202.

138

gefühle, verwei sen also auf ein „somat isches Moment . In den Bereichen der Körpergefühle und der Empfindungen gehören Unlust undSchmerz für Adorno ebenso zusammen wie ihr Gegensatz Lust und Glück.Da Adorno das Glück zudem als sinnliche Erfüllung versteht, zeichnetsich bereits hier sein materialistischer und hedonistischer Glücksbegriff ab. Das Leiden entspricht für Adorno der Unlust und dem Schmerz. Es istsowohl Empfindung als auch Körpergefühl, wobei letzteres das überwiegende Moment in ihrer dialektischen Einheit ist: „Die somatische,sinnferne Schicht des Lebendig en ist Schaupla tz des Leide ns". Adornowendet gegen die Tradition der kritischen Philosophie ein, die auf dasSubjekt und seine Bewußtseinsinhalte rekurriert, daß sie ihrer eigenenForderung nicht konsequent gerecht wird, da sie die Inhalte des Bewußtseins nicht vollständig wiedergibt: „Am Eindruck wird all das unterschlagen, was nach den Qualitäten von Lust und Unlust oder vielleicht sagtman richtiger, von Lust und Schmerz sich bestimmt; es kann von derBeziehung auf den Leib gar nicht losgelöst werden und hat daher in sich

384

selbst einen gewissen Charakter von Stofflichkeit." Dagegen hat derMaterialismus „eine sehr tiefe Beziehung zu der in der Philosophie sonsterstaunlich vernachlässigten Dimension Lust - Unlust, vor allem auchUnlust. Von Georg Simmel stammt der schöne und tief ironische Satz, essei erstaunlich, wie wenig man der Geschichte der Philosophie die Leidender Mensch heit anmerk t." Gegen die traditio nelle Philosop hie und ihrenkognitiven Ansatz, der das Bewußtsein auf das erkennende Bewußtseinreduziert, betont Adorno, daß der Mensch „als ein empfindendes, erlebendes, erfahrendes Wesen selber auch wesentlich Leib ist. Alle seineErfahrungen, auch die spirituellsten, tragen diesen Charakter des Leibhaften, der Leibnähe im Sinn von Lust- und Unlustprinzip in sich."386

Das philosophische Denken und das moralische Bedürfnis, das Leiden

auszudrücken, sind für Adorno sowohl durch den körperlichen Schmerz,also durch Unlust und Leiden, motiviert als auch durch die nicht seinsollende unvernünftige Wirklichkeit, die das Leiden erzeugt. Hierreflektiert Adorno offensichtlich auch seine eigene Motivation zur

Ebenda, S. 193f., 229, 262, 285.Ebenda, S. 358.Adorno: PhT, Bd. 2, S. 176f.Ebenda, S. 178.Ebenda, S. 177.

139

KAPITEL V

Philosophie, die in ihrer Gesamtheit als Ausdruck des Leidens verstandenwerden kann. Besonders deutlich wird das an den rhetorischen Elementenin seinen Texten, die seiner Philosophie ihre spezifische Atmosphäreverleihen. Verdeutlichen läßt sich das an Formulierungen wie die „finstere

DIE MATERIALISTISCHE UND UTOPISCH HEDONISTISCHE ETHIK

tion dieser Erfahrung auch die motivierende Grundlage des Ausdrucksdrangs: „Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingungaller Wahrheit."

Bevor der Materialismusbegriff der oben zitierten Passage und die

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g „Einheitsgesellschaft", das „Freiluftgefängnis, zu dem die Welt wird", das„Zeitalter unbegreifbaren Grauens" und die „Verdunklung der Welt".387

Doch selbstverständlich ist Adornos Philosophie keineswegs bloßRhetorik. Als rationale Analyse und Argumentation ist sie vor allemKritik der bestehenden unvernünftigen Wirklichkeit, die das Leiden

erzeugt. Das körperliche Leiden ist der negative Bezugspunkt dieserKritik, was er in einer für sein Denken und sein Selbstverständniszentralen Passage deutlich macht:

Das leibhafte Moment meldet der Erkenntnis an, daß Leiden nicht sein, daßes anders werden solle. ,Weh spricht: vergeh.' Damm konvergiert das spezifisch Materialistische mit dem Kritischen, mit gesellschaftlich verändernder Praxis.

Die verschiedenen ungerechten Herrschaftsverhältnisse führen für Adornoetwa zu Hunger, Triebverzicht und Gewalt, die das Körpergefühl Leiden -Unlust und Schmerz - verursachen, das als Empfindung in das Bewußtseintritt. Die physische Negation des Leidens, die über die bewußte Empfindung mit dem Denken vermittelt ist, motiviert dieses, über die Abschaffung des Leidens und damit über die Veränderung der bestehendenGesellschaft und der mit ihr verknüpften ungerechten Herrschaftsverhältnisse nachzudenken. Damit erklärt Adorno die physische Negation desLeidens zur motivierenden Grundlage und zum Bezugspunkt der theoretischen Negation und Kritik der unvernünftigen Wirklichkeit, die dieses

389

erzeugt. Dementsprechend ist die evidente körperliche Erfahrung vonLeiden, Schmerz und Unlust sowie die dadurch bewirkte physische Nega-

Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft, in: Adorno: P, S. 25; Adorno: AT, S. 35;Adorno formuliert sein Verhältnis zur Rhetorik folgendermaßen: „Dialektik, demWortsinn nach Sprache als Organon des Denkens, wäre der Versuch, das rhetorischeMoment kritisch zu erretten: Sache und Ausdruck bis zur Indifferenz einander zunähern" (Adorno: ND, S. 66). Unter Sache ist hier die unvernünftige und ungerechteWirklichkeit und - vor allem - das von ihr erzeugte Leiden zu verstehen.Adorno: ND, S. 203.Im Hinblick auf die oben zitierte Stelle vertritt Ulrich Kohlmann dieselbe Auffassung:„Moralische Negation, Kritik ist möglich, insofern das .leibhafte Moment' Leiden alsdas ,Unmenschliche' indiziert" (Ulrich Kohlmann, a.a.O., S. 147).

140

argumentative Begründung von Adornos Grundprämisse einer physischenNegation des Leidens genauer untersucht wird, kann auch an diesemzentralen Punkt Nietzsches Einfluß auf Adornos Denken aufgewiesenwerden. Obwohl sich Adorno zu Beginn des Abschnitts Leid physisch auf Schelling bezieht, führt diese Angabe eher auf die falsche Spur. Vorbild

des Gedankens, daß alles Geistige modifizierter leibhafter Impuls ist unddaß der Schmerz die Erkenntnis anregt und antreibt, ist Nietzsches Aphorismus Von den Verächtern des Leibes aus dem Zarathustra. Gemäßseiner physiologischen Methode390, die etwa religiöse und moralischePhänomene auf physiologische Vorgänge und ihre Interpretation zurückfuhrt, begreift Nietzsche Geist und Vernunft als Werkzeug des Leibes:

Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein Bruder, steht ein mächtigerGebieter, ein unbekannter Weiser - der heisst Selbst. In deinem Leib wohnter, dein Leib ist er. [...] Das Selbst sagt zum Ich: „hier fühle Schmerz!"Und da leidet es und denkt nach, wie es nicht mehr leide - und dazu eben

soll es denken. Das Selbst sagt zum Ich: „hier fühle Lust!" Da freut essich und denkt nach, wie es noch oft sich freue - und dazu eben sol l es

Eine frühe programmatische Formulierung der physiologischen Methode findet sichbereits in Menschliches, Allzumenschliches: „Sobald die Religion, Kunst und Moral inihrer Entstehung so beschrieben sind, dass man sie vollständig sich erklären kann, ohnezur Annahme me t ap hy si sc h er Ei ng ri ff e am Beginn und im Verlaufe der Bahnseine Zuflucht zu nehmen, hört das stärkste Interesse an dem rein theoretischen Problemvom ,Ding an sich' und der .Erscheinung' auf. Denn wie es hier auch stehe: mit Religion, Kunst und Moral rühren wir nicht an das ,Wesen der Welt an sich'; wir sind im

Bereiche der Vorstellung, keine .Ahnung' kann uns weitertragen. Mit voller Ruhe wirdman die Frage, wie unser Weltbild so stark sich von dem erschlossenen Wesen der Weltunterscheiden könne, der Physiologie und der Entwicklungsgeschichte der Organismenund Begriffe überlassen" (Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches I undII, KSA, Bd. 2, Berlin/New York 1988, S. 30). Nietzsche wendet seine physiologischeMethode vor allem in Zur Genealogie der Moral an, in der er sich um eine physiologische Beleuchtung und Deutung der Geschichte der Moral und der moralischen Wertebemüht. So äußert Nietzsche etwa, „dass .Sündhaftigkeit' am Menschen kein That-bestand ist, vielmehr nur die Interpretation eines Thatbestandes, nämlich einer physiologischen Verstimmung, - letztere aus einer moralisch-religiösen Perspektive gesehn,welche für uns nichts Verbindliches mehr hat" (Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie derMoral, a.a.O., S. 376, vgl. 378).

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KAPITEL V

maximal erreichbare Formel der Bejahung verstanden wissen will, hier zudiskutieren, zeigt diese Passage, daß Nietzsche Lust und Unlust als unauflösliche dialektische Einheit denkt. Da das Leben aus der untrennbarenEinheit der Gegensätze besteht, muß für Nietzsche die Bejahung der Lustmit der Bejahung des Leidens einhergehen Denn auch wenn sich die Lust

DIE MATERIALISTISCHE UND UTOPISCH HEDONISTISCHE ETHIK

der Ort des Nichtidentischen und der Vielheit, denen der Vorrang gebührt:Durch den Übergang zum Vorrang des Objekts wird Dialektik materia

listisch. Objekt, der positive Ausdruck des Nichtidentischen, ist eineterminologische Maske." Adornos Materialismus begreift den Geist alsaus der inneren Natur des Menschen erwachsen Wesentlich ist für ihn

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mit der Bejahung des Leidens einhergehen. Denn auch wenn sich die Lustgegen ihre Vergänglichkeit sträubt, kann sie für Nietzsche letztlich nichtdie Abschaffung des Leidens wollen, weil sie sich damit selbst abschaffenwürde. Ihre Ewigkeit, die sie will, ist an die Ewigkeit des Leidensgekettet, die sie gleichermaßen wollen muß, um ihre eigene Ewigkeit zu

ermöglichen. Folglich ist der Wille der Lust zu ihrer Ewigkeit dieBegründung für ihren Willen, daß das Leiden vergeht und wiederkommt.Das auf ,Weh spricht: Vergeh!' folgende ,Doch' in ,Doch alle Lust willEwigkeit' ist im Sinne von ,dennoch' oder ,trotzdem' zu verstehen. Dasbedeutet, daß das Leiden zwar vergehen, aber dennoch wiederkommenmuß, um der Lust ihre Ewigkeit zu ermöglichen. Nietzsche plädiert füreine tragische und dionysische Kultur, in der Leiden und Lust untrennbarverbunden sind und gleichermaßen bejaht werden können. Im Gegensatzdazu setzt Adorno der durch das Leiden geprägten bestehenden Wirklichkeit seine Sozialutopie entgegen, deren Ziel die weitgehende Abschaffungdes Leidens und seine Ersetzung durch die Lust darstellt. Die weitgehendeAbschaffung des Leidens ermöglicht für Adorno erst die Wirklichkeit derLust. Adornos Abgrenzung von Nietzsche zeigt sich auch an seiner Kritikvon Nietzsches amor fati, der Liebe zum Schicksal und zur Notwendigkeit: „Und es wäre wohl die Frage zu stellen, ob irgend mehr Grund ist,das zu lieben, was einem widerfährt, das Daseiende zu bejahen, weil es ist,als für wahr zu halten, was man sich erhofft."

Nach diesem kurzen Vergleich von Nietzsche und Adorno, der dieEigentümlichkeit von Adornos Auffassung des Verhältnisses von Leidenund Lust verdeutlicht haben dürfte, gilt es nun, seinen Materialismusbegriff genauer in den Blick zu bekommen. Adorno begreift sich selbst alsmaterialistischer Denker. Sein Materialismus richtet sich selbstverständlich vor allem gegen die verschiedenen Ausprägungen der idealistischen

Philosophie. Im Mittelpunkt dieses Materialismus steht, daß Adorno Geistund Körper als dialektische Einheit begreift und in dieser Einheit demleiblichen und damit dem stofflichen Moment den Vorrang zuerkennt. DerGeist und damit das Denken des Subjekts ist für Adorno der Ort desIdentischen und Einheitlichen. Der Körper und die innere Natur ist für ihn

Adorno: MM, S. 123; Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, KSA, Bd.Berlin/New York 1988, S. 521; Friedrich Nietzsche: Ecce homo. Wie man wird, vman ist, KSA, Bd. 6, Berlin/New York 1988, S. 297.

144

aus der inneren Natur des Menschen erwachsen. Wesentlich ist für ihn,daß der Materialismus „zu der Dimension sowohl der Organlust wie auchihres Gegenteils eine entscheidende Beziehung" hat und deshalb „mit demHedonismus vielfach verflochten ist":

Die meisten materialistischen Philosophien sind also der Lust, in den verschiedensten Nuancen, gut gesinnt gewesen. Aristipp hat einfach verkündet, daß es auf die unmittelbare Befriedigung der Sinnenlust jetzt, hier,sogleich, ohne Vertagung ankomme. In den differenziertesten und mächtigsten Lehrgebäuden des dialektischen Materialismus wird die Konzeptioneiner Welt entwickelt, in der es eigentlich den Hunger und auch die Angst,in der es schließlich die Versagung nicht mehr geben kann. Der Materialismus legt sozusagen den Schnitt durch die gesamte Welt unter demBlickpunkt dieser an sich bereits stoffhaften Organlust, und sein Materiebegriff ist deren objektives Korrelat.

Aristippos von Kyrene, der Begründer der hedonistischen Schule, begreiftdie Lust als das Gute und die Unlust als das Schlechte. Das Ziel ist für ihndie einzelne Lust, die um ihrer selbst willen begehrenswert ist. Glückseligkeit bestimmt er als die Summe der einzelnen Lustempfindungen.Noch genauer gefaßt, ist das Ziel für Aristippos die einzelne körperlicheLust, da sie an Annehmlichkeit weit über der geistigen Lust stehe. Damitverleiht Aristipp dem Körperlichen wie Adorno ethische Dignität. DerKörper und die körperliche Lust und Unlust sind für Aristipp und Adornonicht nur bedeutende Gegenstände, sondern zentrale Orientierungspunkteder Ethik. Adornos radikale Aufwertung des Körperlichen gegenüber derüberwiegend auf die Seele und das Jenseits bezogenen abendländischenTradition hat als unmittelbare Vorläufer Feuerbach und Nietzsche. Sein

Plädoyer für die „stoffhafte Organlust" legt jedoch nahe, daß der Sokra-tesschüler Aristipp die wesentliche philosophiegeschichtliche Quelle fürseinen materialistischen und hedonistischen Glücksbegriff darstellt.Adorno begreift die Lust als den „bedeutungsfernen, vernunftlosen

Adorno: ND, S. 193.

Adorno: PhT, Bd. 2, S. 179f., 174; Die Befreiung von der Furcht ist ein zentrales Motivund Ziel von Epikurs Philosophie, das sich Adorno zu eigen macht.

145

KAPITEL V

Zweck, [...] an dem allein das Mittel Vernunft als vernünftig sich erweisenkönnte" und spricht davon, daß „alles Glück auf sinnliche Erfüllungabzielt und an ihr seine Objektivität gewinnt. Ist dem Glück jeglicherAspekt darauf verstellt, so ist es keines." Urbild des Glücks ist dieGeborgenheit und das Umfangensein im Mutterleib da es für die ganze

DIE MATERIALISTISCHE UND UTOPISCH HEDONISTISCHE ETHIK

mit dem Glück eine ziemlich bescheidene Sache ist. Der einzige Denker in

neuerer Zeit, der diese Dinge nun wirklich durchbrochen und uneinge

schränkt darüber die Wahrheit gesagt hat, ist wieder Nietzsche.

Also in dem eigentlichen, dem radikalen Hedonismus ist es ausgesprochen

worden etwa in der Theorie des Aristipp die gedrungen hat auf die unmit

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Geborgenheit und das Umfangensein im Mutterleib, da es für die ganzeErfüllung steht. Die Idee des Glücks, „die geschlechtliche Vereinigung,ist das Gegenteil des Gelösten, selige Anspannung, so wie alle unterjochteArbeit die unselige".403 „Jedes Glück entflammt" für Adorno an derSpannung von genitaler und partialer Libido. Unter Partialtrieben

versteht Freud etwa den oralen und den analen Trieb. Das belegt, daßAdorno das Glück vor allem als die Lust begreift, und diese wiederumprimär als die körperliche und sexuelle Lust, die sich im Wechselspiel vonGenitalität und Partialtrieben entfaltet. Das zeigt auch, daß Adorno mitseinem Glücksbegriff weniger an Epikur anknüpft, sondern an Aristippos.Denn während für Epikur die Lust primär aus der Vermeidung von Unlustund aus der Seelenruhe hervorgeht, gewichtet Aristippos die positive undkörperliche Lust wesentlich stärker. Adorno äußert über Epikur:

Es ist eine der betrüblichsten und trostlosesten Beobachtungen in der Geschichte der Philosophie, daß in dieser Glücksfeindschaft und damit in der

Bejahung des Leidens die verschiedenartigsten Philosophen miteinandereinig waren; und selbst wenn man sogenannte Hedonisten wie den altenEpikur sich ansieht - das heißt, ihn kann man sich ja nicht ansehen, sonderndas Lehrgedicht des Lukrez -, dann wird man finden, daß es selbst darin

401

402

Adorno: MM, S. 72; Adorno: ND, S. 202; Diogenes Laertius, a.a.O., S. 116f.; KlausDöring: Der Sokratesschüler Aristipp und die Kyrenaiker, Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse,Mainz/Stuttgart, Jg. 1988, Nr. 1, S. 40-42.Adorno: MM, S. 143; Adorno: Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie, in:Adorno: SS I, S. 61; „Ein Stück sexueller Utopie ist es, nicht man selber zu sein, auchin der Geliebten nicht bloß sie selber zu lieben: Negation des Ichprinzips" (Adorno:

Sexualtabus und Recht heute, in: Adorno: E, S. 104).403 Adorno: MM, S. 291.404 „Vielmehr überlebt in der Genitalität die partiale Libido, die in jener sich zusammen

faßt. Jedes Glück entflammt an der Spannung beider. So wie die Partialtriebe, sofern sienicht genital sich erfüllten, etwas Vergebliches behalten, als gehörten sie einem Stadiuman, das Lust noch nicht kennt, so ist die von den als pervers geächteten Partialtriebenganz gereinigte Genitalität arm, stumpf, gleichsam zum Punkt zusammengeschrumpft-Desexualisierung der Sexualität wäre wohl psychodynamisch zu verstehen als die Formdes genitalen Sexus, in der dieser selber zur tabuierenden Macht wird und die Partialtriebe verscheucht oder ausrottet" (Adorno: Sexualtabus und Recht heute, inAdorno: E, S. 104).

14 6

worden etwa in der Theorie des Aristipp, die gedrungen hat auf die unmit

telbare, nicht vertagte Befriedigung der Begierde, auf das Glück jetzt und

hier. Gemäßigter Hedonismus ist eigentlich bereits schon keiner mehr,

sondern in dem Augenblick, wo man, wie es dann etwa bei Epikur ge

schieht, zwar im Prinzip das Glück oder die Lust anerkennt, aber dann die

unmittelbare zugunsten etwa der Lust der Erkenntnis oder solcher Mo

mente vertagt und sublimiert, in dem Augenblick ist die Moralphilosophie

schon bereits in jenen großen, und fast hätte ich gesagt, trüben Hauptstrom

der offiziellen Philosophie hereingeraten, dem jene verketzerten Richtun

gen immerhin, wenn auch schwach, weil sie die zivilisatorisch ohnmächti-.  j U , 406

geren waren, opponiert haben.

Die hedonistischen Elemente in Adornos Denken sind von der Forschungsliteratur bereits vereinzelt wahrgenommen, aber noch nichteingehend untersucht worden. So bemerkt Gerhard Schweppenhäuserzutreffend: „Die idealistische Lehre von der Glückseligkeit als demhöchsten Ziel eines humanen Lebens wird durch eine reflektierte Auf

nahme materialistisch-hedonistischer Theoreme korrigiert."407 Rolf Wiggershaus spricht von „Horkheimers und Adornos Selbstverständnis alshedonistische, auf Rettung, auf Aufhebung der Triebe bedachte Denker". Diese Charakterisierung bedarf einer weiteren Differenzierung.Adornos Begriff des Glücks ist zwar der des Hedonismus, da er die Lustals das positive und die Abschaffung ihres Gegensatzes - Leiden, Unlustund Schmerz - als das negative Ziel begreift. Andererseits ist es problematisch, Adorno als Hedonisten zu bezeichnen, da die Lust für ihn nichtvom Individuum in den Nischen des Privaten verwirklicht werden kann.Der Rückzug aus dem politischen und geschäftlichen Bereich ins Private -vorzugsweise zusammen mit Freunden in einen Garten - ist der Sinn vonEpikurs berühmtem ethischen Grundsatz „Lebe im Verborgenen!". DieserGrundsatz wird nicht nur von Adorno, sondern auch von Herbert Marcusem seinem Aufsatz Zur Kritik des Hedonismus zurückgewiesen.409 Adorno

405 . ,

Adorno: PhT, Bd. LS. 172.406 , ,

Adorno: PdM, S. 207f.Oerhard Schweppenhäuser: Ethik nach Auschwitz, a.a.O., S. 197.

408 _

Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule, a.a.O., S. 381.409 c

Epikur: Von der Überwindung der Furcht. Katechismus. Lehrbriefe. Spruchsammlung.Fragmente, übers, von Olof Gigon, München 1991, S. 167, 111; Herbert Marcuse: Zur

147

KAPITEL V

kritisiert an Epikur, daß dieser das Individuum unreflektiert von derGesellschaft ablöst und daß der „konsequent individualistische Hedonismus" und sein ethischer Grundsatz nicht zu verwirklichen sind:

M k i h hl k i ß K ll l d i h

DIE MATERIALISTISCHE UND UTOPISCH HEDONISTISCHE ETHIK

icht verwirklicht werden kann und das Leiden, als das summum malum,cht abgeschafft werden kann.Herbert Schnädelbach sieht in der von Adorno angestrebtenedonistischen Utopie vollständiger Triebbefriedigung" den materiali

ti chen Gehalt der Ideen der Ver öhn ng nd der Erlö ng" nd

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Man kann sich wohl keinen größeren Kontrast vorstellen als den zwischendiesem Satz und dem Hegeischen, daß die Norm eines richtigen Lebenssei, Bürger eines guten Staates zu werden. Jeder Gedanke daran ist in derMaxime des Epikur vollkommen getilgt. Es bleibt dabei das übrig, wasabermals in der Hegeischen Sprache, abstraktes Individuum genannt wird;

abstrakt in dem Sinn, daß das Individuum von dem philosophischen Gedanken so behandelt wird, als ob es ein rein Für-sich-Seiendes, ohne jedeBeziehung auf gesellschaftliche, ökonomische, auch psychologische Ob

 jektivität sei, in der sich dieses Individuum befindet.

Adorno denkt das Individuum wie Aristoteles, Hegel und Marx nichtlosgelöst von der Gesellschaft, sondern faßt es prinzipiell als in sieintegrierten Bestandteil auf. Die Scheidung von privater und öffentlicherSphäre hält Adorno grundsätzlich für problematisch. Insbesondere in der„verwalteten Welt" bleiben für ihn keine Nischen des Privaten erhalten, dader Einzelne von der totalen Gesellschaft durch und durch geprägt,

gleichgemacht und integriert ist. Richtiges und wahrhaft lustvolles Lebenist demzufolge in der falschen Gesellschaft auch im Verborgenen nichtmöglich. In der „verwalteten Welt" verwickelt sich der individualistischeHedonismus zudem in einen weiteren Widerspruch: „Wenn aber derGedanke an das verborgene Leben, also des prinzipiellen Verzichts auf 

 jeden praktischen Eingriff in gegebene Verhältnisse konsequent durchgeführt wird, dann bleibt die Welt, die diesem Lustprinzip die Erfüllungversagt, weit über das zur Aufrechterhaltung der Zivilisation notwendigeMinimum hinaus ihrer eigenen Zusammensetzung nach unverändert."Ein zentraler Widerspruch der bestehenden Gesellschaft ist für Adorno,daß sie von den in ihr lebenden Menschen weit mehr Triebverzichtfordert, als es beim Stand von Wissenschaft und Technik erforderlich

wäre. Verzichtet der individualistische Hedonismus auf Kritik undgesellschaftlich verändernde Praxis, trägt er zum Fortbestand der gesellschaftlichen Eigentumsverhältnisse bei. Damit stabilisiert er genau denZustand, der die Ursache dafür ist, daß die Lust, als das summum bonum,

Kritik des Hedonismus, Schriften, Bd. 3, 1934-1941, Frankfurt am Main 1979.4.0 Adorno: PhT, Bd. 2, S. 231, 234.4.1 Ebenda, S. 234.

148

stischen „Gehalt der Ideen der Versöhnung und der Erlösung" undbezeichnet Adornos Auffassung als „utopischen Hedonismus". ! Schnä-delbachs Charakterisierung von Adornos Position ist grundsätzlichzuzustimmen. Denn die bestehende Gesellschaft ist für Adorno nicht derOrt, an dem sich sein materialistischer und hedonistischer Glücksbegriff 

verwirklichen läßt. Problematisch an dieser Charakterisierung scheint nurzu sein, daß sie die von Adorno kritisierte individualistische Komponentedes Hedonismus beinhaltet. Wie noch zu zeigen sein wird, ist jedoch inder utopischen Gesellschaft kein verborgenes Leben mehr nötig, da dieseden Einzelnen das ihnen angemessene zukommen lassen würde. Da in ihrzudem jeder am gesellschaftlichen und politischen Leben sowie an derwechselseitigen Bedürfnisbefriedigung teilnehmen würde, heißt utopischer Hedonismus für Adorno immer auch gemeinschaftsorientierterHedonismus. Schnädelbach führt als Beleg für seine Charakterisierungeinen Satz aus der Minima Moralia an, der hier zusammen mit den ihmvorangehenden Sätzen wiedergeben wird. Im Kontext einer Kritik an

Freud, dem er unaufgeklärte Aufklärung vorwirft, äußert Adorno:

Die Vernunft ist ihm ein bloßer Überbau, nicht sowohl, wie die offiziellePhilosophie es ihm vorwirft, wegen seines Psychologismus, der tief genugins geschichtliche Moment an der Wahrheit eindringt, als vielmehr, weil erden bedeutungsfernen, vernunftlosen Zweck verwirft, an dem allein dasMittel Vernunft als vernünftig sich erweisen könnte, die Lust. Sobald diesegeringschätzig unter die Tricks der Arterhaltung eingereiht, selber gleichsam in schlaue Vernunft aufgelöst wird, ohne daß das Moment daran benannt wäre, das über den Kreis der Naturverfallenheit hinausgeht, kommtdie ratio auf die Rationalisierung herunter. Wahrheit wird der Relativitätüberantwortet und die Menschen der Macht. Nur wer es vermöchte, in der 

blinden somatischen Lust, die keine Intention hat und die letzte stillt, dieUtopie zu bestimmen, wäre einer Idee von Wahrheit fähig, die standhielte." 

Herbert Schnädelbach: Dialektik als Vernunftkritik. Zur Konstruktion des Rationalenbei Adorno, in: Ludwig von Fiiedeburg; Jürgen Habermas (Hrsg.): Adorno-Konferenz1983, Frankfurt am Main 1983, S. 66-93, 91.

413

Adorno: MM, S. 72 (Hervorhebung von mir); „Der Freudschen Theorie zufolge ist die

14 9

KAPITEL V

Diese Passage zeigt, daß Adorno kein relativistisches Verständnis vomGlück und damit von der Lust hat. Das Ziel ist für ihn nicht jede beliebigeLust und auch nicht die Befriedigung jedes beliebigen lustgewährendenBedürfnisses. Bereits in der Dialektik der Aufklärung heißt es: „Alle Lustist gesellschaftlich in den unsublimierten Affekten nicht weniger als in

DIE MATERIALISTISCHE UND UTOPISCH HEDONISTISCHE ETHIK

Intentionen unterworfen und von ihnen kanalisiert und geprägt sind,bleiben für Adorno dem Bannkreis des schlechten Bestehenden verhaftetund sind insofern falsch: „Wahres erotisches Triebleben, die Beziehungen,in denen Lust sich realisiert, ist keineswegs jenes healthy sex life, das inden fortgeschrittensten industriellen Ländern heute alle Branchen der

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ist gesellschaftlich in den unsublimierten Affekten nicht weniger als inden sublimierten." Die falsche Gesellschaft erzeugt bei den MenschenBedürfnisse - etwa nach den Produkten der Kulturindustrie - mit derIntention, durch sie ihre Macht über die in ihr lebenden Menschen zuverfestigen. Ebenso gibt sie die sexuelle Lust partiell frei - etwa durch die

Revision der strengen Sexualmoral und Sexualtheorie - und verfolgt mitdieser Freigabe die Intention von Profitinteressen, von gesellschaftlicherSelbsterhaltung und der Stabilisierung von Herrschaft. Dieses Phänomenerfaßt Herbert Marcuse mit seinem Begriff der „repressiven Entsublimie-rung". Die Lust und die Bedürfnisse, die derartigen gesellschaftlichen

zivilisatorisch approbierte und herrschende Form der Sexualität, die genitale, nicht, alswas sie so gern sich verkennt, ursprünglich, sondern Resultat einer Integration. In ihrschließen unterm Zwang gesellschaftlicher Anpassung die Partialtriebe des Kindes, überdie Agentur der Familie, zu einem Einheitlichen und dem gesellschaftlichen Zweck derFortpflanzung Günstigen sich zusammen" (Adorno: Sexualtabus und Recht heute, in:Adorno: E, S. 104).

414 Adorno/Horkheimer: DdA, S. 128; „Zur Befriedigung des konkreten Hungers derZivilisierten gehört, daß sie etwas zu essen bekommen, wovor sie sich nicht ekeln, undim Ekel und in seinem Gegenteil wird die ganze Geschichte reflektiert. So verhält essich mit jedem Bedürfnis. Jeder Trieb ist so gesellschaftlich vermittelt, daß sein Natürliches nie unmittelbar, sondern stets nur als durch die Gesellschaft produziertes zumVorschein kommt" (Adorno: Thesen über Bedürfnis, in: Adorno: SS I, S. 392).

415 Adorno: Thesen über Bedürfnis, in: Adorno: SS I, S. 395; Bei Marcuse heißt es etwa:„Aber es ist eine Entsublimierung, die von einer ,Position der Stärke' seitens derGesellschaft ausgeübt wird, die es sich leisten kann, mehr als früher zu gewähren, weilihre Interessen zu den innersten Trieben ihrer Bürger geworden sind und weil die vonihr gewährten Freuden sozialen Zusammenhalt und Zufriedenheit befördern. [...]; dieSexualität wird in gesellschaftlich aufbauenden Formen befreit (oder vielmehr libera-lisiert). Dieser Gedanke schließt ein, daß es repressive Weisen von Entsublimierunggibt, im Vergleich zu denen die sublimierten Triebe und Ziele mehr Abweichung, mehrFreiheit und mehr Weigerung enthalten, die gesellschaftlichen Tabus zu beachten. Esscheint, daß eine solche repressive Entsublimierung in der sexuellen Sphäre tatsächlichvor sich geht, und hier erscheint sie, wie bei der Entsublimierung der höheren Kultur,als das Nebenprodukt der gesellschaftlichen Kontrollen über die technologische Wirklichkeit, welche die Freiheit erweitern und dabei die Herrschaft intensivieren" (HerbertMarcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenenIndustriegesellschaft, Darmstadt 1988, S. 91 f.); In der Negativen Dialektik  sprichtAdorno davon, daß, „am Ende der geschichtlichen Sublimierung, das abgespaltenesinnliche Glück etwas ähnlich Regressives annimmt, wie das Verhältnis von Kindernzum Essen den Erwachsenen abstößt. Jenen darin nicht zu gleichen, ist ein StückFreiheit" (Adorno: ND, S. 243).

150

den fortgeschrittensten industriellen Ländern heute alle Branchen derWirtschaft, von der kosmetischen Industrie bis zur Psychotherapie,ermuntern." An anderer Stelle heißt es schlicht: „In der falschen Weltist alle r)5ovfj falsch." Die Verwirklichung von wahrer körperlicherLust und damit von wahrem Glück hätte für Adorno die Verwirklichung

der wahren Gesellschaft und damit der Utopie zur Voraussetzung, die derpositive Bezugspunkt seiner Kritik der bestehenden Gesellschaft ist.Folglich läßt sich Adornos Position angemessen als „utopischer Hedonismus" charakterisieren. Dagegen wäre es verkürzt, seine ethische Positionnur als negativen Hedonismus zu kennzeichnen. Denn dieser Begriff vernachlässigt Adornos Bewertung der Lust als das zu verwirklichendeZiel. So bemerkt er einmal, daß Marx „wenigstens einen negativenHedonismus, also die Befreiung von der Unlust, als ein Motiv gerettet"habe.

Ausgehend von seinem „utopischem Hedonismus" läßt sich nun dieFrage wieder aufnehmen, wie Adorno seine Grundprämisse einer phy

sischen Negation des Leidens begründet: „Das leibhafte Moment meldetder Erkenntnis an, daß Leiden nicht sein, daß es anders werden soll. ,Wehspricht: vergeh.'" Ulrich Kohlmann setzt sich mit dieser Textstelleausgiebig und differenziert auseinander und bemerkt, daß AdornosVerallgemeinerung, „daß Leiden nicht sein, daß es anders werden soll",„universelle Gültigkeit" beansprucht. Zudem bemüht er sich auch mitHilfe empirischer Theorien darum, die „intuitive Zustimmung zu derNegativitätsbehauptung der ,Weh-Formel' auch rational" - etwa gegen den

Adorno: Sexualtabus und Recht heute, in: Adorno: E, S. 104.7 Adorno: AT, S. 26.

Die vollständige Passage lautet: „Sie finden etwas von dem Anti-Hedonismus desHobbes sogar noch bei Marx, der gerade in der erotischen Sphäre, die für alle dieseFragen Schlüsselcharakter hat, eigentlich immer einen puritanischen Standpunktvertreten hat, ebenso in seinem Privatleben wie auch in gewissen Stellen deskommunistischen Manifests', die man geradezu als moralistisch bezeichnen kann. Daßin dem modernen DIAMAT das Arbeitsethos und das Gemeinschaftsethos absolutgesetzt werden auf Kosten einer jeglichen Erfüllung des Anspruchs des realen einzelmenschlichen Subjekts, ist, meine ich, in dieser Tradition des Materialismus zumindestangelegt, obwohl ich wirklich nicht den Marx mit diesen Vorwürfen verketzern möchte,denn gerade er hat wenigstens einen negativen Hedonismus, also die Befreiung von derUnlust, als ein Motiv gerettet" (Adorno: PhT, Bd. 2, S. 254).

151

KAPITEL V

Einwand der Leidenslust des Masochisten - zu verteidigen. Daß Adornofür seine Grundprämisse einer physischen Negation des Leidens universelle Gültigkeit beansprucht, ist zweifellos richtig. Diesen Anspruchbelegt die schlichte Tatsache, daß Adorno, wie erwähnt, die „Negation desphysischen Leidens" als das allgemeine Interesse der Menschheit unter

DIE MATERIALISTISCHE UND UTOPISCH HEDONISTISCHE ETHIK

Die Plausibilität dieser Begründung kann hier nicht untersucht werden,paß Adorno sie sich zu eigen macht, kann zwar nicht bewiesen werden,ist aber doch sehr wahrscheinlich. Dafür spricht, daß er sich auch denmaterialistischen und hedonistischen Glücksbegriff zu eigen macht. In deroben zitierten Passage bemerkt Adorno, daß der Hedonismus die Lust als

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physischen Leidens als das allgemeine Interesse der Menschheit unterstellt. Eine Begründung für diesen Anspruch stellt die Evidenz dersubjektiven Erfahrung der physischen Negation des Leidens dar, die etwamit dem Zurückzucken der Hand einhergeht, die eine heiße Herdplatteberührt. Eine weitere Begründung läßt sich in der Tradition finden, aus

der Adorno seinen materialistischen und hedonistischen Glücksbegriff entnimmt. Es ist die Begründung, die bereits von Aristippos und vonEpikur gegeben wird. Adorno formuliert sie in einer Vorlesung überEpikur, in der er auch den Begriff „hedonistische Ethik" definiert:

Die Ethik des Epikur ist eine hedonistische Ethik, das heißt, das höchsteGut, das summum bonum, nach dem die gesamtgriechische Philosophiefragt, ist ihm die Lust, und das unbedingte Übel ist ihm der Schmerz. SeineBegründung ist wiederum spätantikes Gesamtgut; er teilt sie mit der Stoa,und sie deutet schließlich auf den Kynismus zurück. Er begründet die Lustals das höchste Gut mit der Natur, und zwar - wieder etwas von einer

merkwürdigen Modernität - mit der frühkindlichen Beobachtung, daß dieKinder nach Lust streben und die Unlust vermeiden. Das zeugt ihm dafür,daß dieses Bedürfnis nach Lust und die Abwehr von Unlust das Ursprüngliche, das Primäre seien, das dann nur von allen möglichen Komplikationen, vor allem psychologischer, aber auch objektiver Art, durchkreuztwird.

419 Ulrich Kohlmann, a.a.O., S. 142, 135.420 Adorno: ND, S. 229.421 Adorno: PhT, Bd. 2, S. 224f. (Hervorhebungen von mir); Epikur: Von der Überwin

dung der Furcht, a.a.O., S. 114, 21; Diogenes Laertius überliefert diese Begründungauch von Aristippos: „Der Beweis dafür, daß die Lust das Ziel ist, liegt in der Tatsache,daß wir ohne alle vorausgegangene Überlegung von Kind auf uns mit ihr verwandtfühlen und daß wir, in ihren Besitz gelangt, nichts weiter begehren, während wir nichtsso sehr meiden wie die ihr entgegengesetzte Schmerzempfindung (Diogenes Laertius,a.a.O., S. 116). In dieser Untersuchung verstehe ich den Begriff „hedonistische Ethikim Wesentlichen so, wie er hier von Adorno definiert wird. Eine solche Verwendungsweise des Begriffs Ethik mag den Einwand hervorrufen, daß es sich hier um ein etwasverkürztes oder reduktionistisches Verständnis von Ethik handelt und daß die gegebeneDefinition nur eine ethische Haltung, Einstellung oder Wertung zum Ausdruck bringt-Deshalb sei hier nochmals daran erinnert, daß sich für Adorno vor allem wegen derblockierten und verstellten Praxis ethische Fragestellungen aus dem Bereich des Han-

15 2

oben zitierten Passage bemerkt Adorno, daß der Hedonismus die Lust alsdas Ziel mit der Natur des Menschen, und zwar auf ihrem frühestenbeobachtbaren Entwicklungsstadium, begründet. Argumente gegen einederartige Begründung wären, daß sich aus dem Sein kein Sollen ableitenläßt und daß sich die Natur des Menschen im Verlauf seiner Entwicklung

verändert und insofern die Beobachtung der frühkindlichen Natur keineAussagekraft besitzt. Gegen letzteres Argument würde Adorno einwenden, daß sich die innere Natur des Menschen im Zuge der Sozialisierungzwar verändert, aber nur zum Schlechteren, da sie durch die gesellschaftliche Disziplinierung unterdrückt und deformiert wird. Wie in demKapitel über Vernichtungswillen und Zerstörungsdrang dargelegt, leitetAdorno diese Phänomene in Anlehnung an Nietzsche und Freud aus derUnterdrückung der inneren Natur ab. Das Kapitel über den moralischen

 Impuls wird noch genauer zeigen, daß Adorno im Kontext seiner Kantkritik einen somatischen und naturhaften vor-ichlichen Impuls imMenschen geltend macht, den er auch als das Hinzutretende bezeichnet.Entscheidend ist hier, daß Adorno der Auffassung ist, daß dieser körperliche Impuls, der dem rationalen Ich als der Instanz der Repressionvorangeht, dem moralischen Verhalten immanent ist und demzufolge dasHumane am Menschen verkörpert: „Human sind die Menschen nur dort,wo sie nicht als Person agieren und gar als solche sich setzen; das Diffuseder Natur, darin sie nicht Person sind, ähnelt der Lineatur eines intelligi-blen Wesens, jenes Selbst, das vom Ich erlöst wäre". All das zeigt, daßfür Adorno die Regungen der somatischen, vor-ichlichen inneren Natursehr wohl aussagekräftig sind und sogar das Humane am Menschenverkörpern. Insofern läßt sich begründet vermuten, daß Adorno dasfrühkindliche und ursprüngliche Vermeiden von Unlust und Streben nachLust als Begründung sowohl des Allgemeinheitsanspruchs seiner Grund

prämisse einer physischen Negation des Leidens als auch seines utopischen Hedonismus ansieht. Dagegen lehnt es Adorno ab, Moral rationaldurch ein abstraktes Moralprinzip und durch „stringente Konsequenzlogik" zu begründen:

delns in den Bereich des Denkens verlagern.Adorno: ND, S. 274.

153

KAPITEL V

Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten,daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe. DieserImperativ ist so widerspenstig gegen seine Begründung wie einst die Gegebenheit des Kantischen. Ihn diskursiv zu behandeln, wäre Frevel: an ihm

DIE MATERIALISTISCHE UND UTOPISCH HEDONISTISCHE ETHIK

Wie die davor zitierte, zeigt diese Passage, daß Adorno moralische Forderungen und seinen „neuen kategorischen Imperativ" letztlich doch begründet, und zwar mit seiner naturalistischen, materialistischen und hedonistischen Grundprämisse einer physischen Negation von Leiden, Unlustund Schmerz. Das erklärt auch, warum für Adorno der somatische und

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läßt leibhaft das Moment des Hinzutretenden am Sittlichen sich fühlen.Leibhaft, weil es der praktisch gewordene Abscheu vor dem unerträglichenphysischen Schmerz ist, dem die Individuen ausgesetzt sind, auch nachdemIndividualität, als geistige Reflexionsform, zu verschwinden sich anschickt.

 Nur im ungeschminkt materialistischen Motiv überlebt Moral.

Da Adorno in der „verwalteten Welt" das richtige Leben und damit diehandelnde Verwirklichung des Moralischen als verstellt begreift, wird sein„neuer kategorischer Imperativ" vor allem im Bereich des Denkensrelevant, wie im achten Kapitel noch gezeigt wird. Hier interessiert vorallem die Frage nach Adornos Begründung von Moral. Ihre Begründungdurch ein rationales Moralprinzip lehnt er vor allem deshalb ab, weil erdie traditionelle Moralphilosophie - vor allem Kants autonome Reflexionsmoral - wegen ihrer repressiven und damit unmoralischen Gehaltegegenüber der inneren Natur kritisiert und verwirft. Indem Adorno dieseGehalte detailliert aufzuweisen versucht, beabsichtigt er die traditionelle

Moralphilosophie als genuinen „Sprößling instrumenteller Vernunft" unddamit auch als Abkömmling der ungerechten Herrschaftsverhältnisse zuentlarven . Dagege n sind morali sche Sätze wie „Es soll nicht gefoltertwerden" für Adorno nur wahr

als Impuls, wenn gemeldet wird, irgendwo sei gefoltert worden. Sie dürfensich nicht rationalisieren; als abstraktes Prinzip gerieten sie sogleich in dieschlechte Unendlichkeit ihrer Ableitung und Gültigkeit. Kritik an der Moral gilt der Übertragung von Konsequenzlogik aufs Verhalten der Menschen; die stringente Konsequenzlogik wird dort Organ von Unfreiheit.Der Impuls, die nackte physische Angst und das Gefühl der Solidarität mit

den, nach Brechts Wort, quälbaren Körpern, der dem moralischen Verhalten immanent ist, würde durchs Bestreben rücksichtsloser Rationalisierungverleugnet; das Dringlichste würde abermals kontemplativ, Spott auf dieeigene Dringlichkeit.

Ebenda, S. 358 (Hervorhebungen von mir).424 Ulrich Kohlmann, a.a.O., S. 102, 46, 107f.; Gerhard Schweppenhäuser: Ethik nach

Auschwitz, a.a.O., S. 62ff.425 Adorno: ND, S. 281.

15 4

,naturhafte vor-ichliche Impuls dem moralischen Verhalten immanent istund demzufolge das Humane am Menschen verkörpert. Denn der moralische Impuls erwächst der physischen Negation des Leidens und ist nurdeshalb moralisch, weil er das Leiden und die ungerechten Herrschafts

verhältnisse sowie die Gewalt negiert, die das Leiden verursachen.Voraussetzung der aus der physischen Negation des Leidens erwachsenden bewußten Negation der Ursachen des Leidens ist selbstverständlichderen theoretische Erkenntnis. Der allein noch verbleibende Ort und dieallein noch haltbare Begründung von Moral in der „verwalteten Welt" istfür Adorno das „ungeschminkt materialistische Motiv" einer aus derphysischen Negation des Leidens erwachsenden zugleich impulsiven undbewußten Negation der ungerechten Herrschaftsverhältnisse, die dasLeiden verursachen. Damit erweist sich auch nochmals der Körper alszentraler Orientierungspunkt von Adornos Ethik.

An diesem Punkt der Untersuchung wird es möglich, den ethischen

Kern von Adornos gesamtem Denken offenzulegen. Adornos Denken wirdvon der eigenen körperlichen und unbezweifelbaren Erfahrung desLeidens angeregt und angetrieben. Aus dieser Erfahrung und ihrerNegation erwächst sein moralisches Bedürfnis bzw. sein moralischerImpuls, die objektiven Gründe des Leidens zu erkennen, zum Ausdruck zubringen und zu kritisieren. Die objektiven Gründe des Leidens sind dieverschiedenen auseinander ableitbaren Formen ungerechter Herrschaft.Pointiert heißt es bereits in der Dialektik der Aufklärung:

Nicht das Gute sondern das Schlechte ist der Gegenstand der Theorie. [...]Ihr Element ist die Freiheit, ihr Thema die Unterdrückung. [...] Es gibt nureinen Ausdruck für die Wahrheit: den Gedanken, der das Unrecht  ver-

426nemt.

Damit wird der Primat der moralischen Perspektive für die Erkenntnis vonWirklichkeit festgeschrieben, der sich unverändert bis in AdornosSpätwerk durchhält. Durch die Negation der Ungerechtigkeit wird diekritische Theorie, die die Negation leistet, ihrem Selbstverständnis nach

Adorno/Horkheimer: DdA, S. 249 (Hervorhebungen von mir).

155

KAPITEL V

eo ipso gerecht. Neben der physischen Negation des Leidens als demnegativen Bezugspunkt der Kritik des Bestehenden ist demzufolge dieGerechtigkeit ihr positiver Bezugspunkt. Inmitten der universellengesellschaftlichen Unfreiheit und Ungerechtigkeit, die die handelndeVerwirklichung des Moralischen blockieren, verbleibt als letzter Ort der

DIE MATERIALISTISCHE UND UTOPISCH HEDONISTISCHE ETHIK

Besonders deutlich wird das an dem Allgemeinbegriff Jude', durch dendie Gewalt der praktischen Verfolgung und Vernichtung der ihm subsumierten Individuen und ihr Leiden vermittelt ist. Das Denken ist auch dieInstanz, die die Selbstbeherrschung durch die Unterdrückung der verschiedenen Triebe und Leidenschaften vollbringt. Die Herrschaft des

i l I h b di i N i f Ad d h lb h d

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g ,Freiheit und der Gerechtigkeit nur noch die kritische Theorie als Praxisdes Widerstandes: „Eigentlich gibt es keine andere Instanz für richtigePraxis und das Gute selbst als den fortgeschrittensten Stand der Theo-

427

rie. " Der moralische Impuls bzw. das moralische Bedürfnis, dieUngerechtigkeit zu kritisieren und zum Ausdruck zu bringen, ist fürAdorno wie das Bedürfnis, „Leiden beredt werden zu lassen", „Bedingungaller Wahrheit". Denn Adorno begreift das Leiden als die unbezweifelbareFolge der verschiedenen ungerechten Herrschaftsverhältnisse, die erletztlich von „aller Naturbeherrschung und ihres Unrechts" ableitet. 428

Wie bereits deutlich geworden sein dürfte, wird der Begriff der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit von Adorno keineswegs ausschließlich alsGrundlage der Beurteilung von zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Beziehungen verstanden. Adorno hat ein äußert umfassendesVerständnis von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, das auch dasVerhältnis von Denken und Wirklichkeit, von Mensch und äußerer sowie

innerer Natur umfaßt. Bevor Adornos moralische Perspektive auf dieWirklichkeit weiter geklärt werden kann, gilt es, die verschiedenenBeziehungen von Ungerechtigkeit und Leiden nochmals zu vergegenwärtigen.

Im Zivilisationsprozeß erachtet Adorno das formale und begrifflicheDenken als das vorherrschende Instrument der äußeren und inneren Naturbeherrschung zum Zweck der Selbsterhaltung und der Klassenherrschaft.Bereits das Identifikationsprinzip, das Urprinzip der Begriffsbildung,enthält die Grundstruktur der Ungerechtigkeit: das „Gleichmachen

 jeglichen Ungleichen". Denn indem die Allgemeinbegriffe nicht identische Erscheinungen gleichmachen, widerfährt dem Einzelnen undIndividuellen ein Unrecht, da die Allgemeinbegriffe den verschiedenenQualitäten ihrer besonderen Gegenstände nicht gerecht werden: „Dasvergegenständlichende Denken enthält wie das kranke die Willkür des derSache fremden subjektiven Zwecks, es vergißt die Sache und tut ihr ebendamit schon die Gewalt an, die ihr später in der Praxis geschieht."

Adorno: ND, S. 240.Adorno: AT, S. 397.Adorno/Horkheimer: DdA, S. 223.

15 6

rationalen Ichs über die innere Natur ist für Adorno deshalb ungerecht, daden Trieben und Leidenschaften in der zwanghaften Integration desSubjekts nicht das ihre zukommt. Während er die tätige Verwirklichungder Spannung von Genitalität und Partialtrieben als das dem Körper und

der inneren Natur angemessene begreift, führt die von der Arbeitsgesellschaft erzwungene Triebrepression zu Unlust und Leiden statt zu Glück.Das durch die Triebunterdrückung erzeugte Leiden wird für Adornozudem durch die mit Ausbeutung und Gewalt einhergehende Ungerechtigkeit der Klassenherrschaft vermittelt und verstärkt. Des weiterenerzeugt und verstärkt auch die Eigendynamik und Herrschaft der verselbständigten ungerechten Gesellschaft über die in ihr lebenden Menschendas Leiden, da sie die Menschen als Sachen behandelt, gleichmacht undstandardisiert und ihnen damit Gewalt antut. Als letzter Punkt dieseskeineswegs vollständigen Resümees der Kausalbeziehung von Ungerechtigkeit und Leiden ist noch der Vernichtungswille und Zerstörungsdrangzu nennen, den die ,falsche gesellschaftliche Ordnung aus sich heraus

produziert".Die Reflexion über den kausalen Zusammenhang zwischen der Unge

rechtigkeit von Herrschaftsverhältnissen und dem Leiden steht im Mittelpunkt von Adornos moralischer Perspektive auf die Wirklichkeit undseiner Analyse des Zivilisationsprozesses. Seine übergreifende These ist,daß die verschiedenen voneinander ableitbaren Formen ungerechterHerrschaft der Grund für das gesellschaftlich bedingte Leiden sind.Adornos These über den Zusammenhang von Ungerechtigkeit und Leidenist keineswegs neu. Sie stellt im wesentlichen die negative Wendung derKernthese der traditionellen politischen Ethik von Piaton und Aristotelesdar. Für Piaton und Aristoteles erzeugt die politische, habituelle und

handelnde Verwirklichung der Tugenden - vor allem der PrimärtugendGerechtigkeit - die Glückseligkeit. In der Politeia bemüht sich Piatonimmer wieder, den Zusammenhang von Gerechtigkeit und Glückseligkeitsowie von Ungerechtigkeit und Unglückseligkeit zu belegen. Bereits imersten Buch argumentiert er, daß selbst eine Bande von Räubern undDieben keine erfolgreichen Handlungen durchführen kann, wenn sie alsFolge der Ungerechtigkeit uneinig und in sich zerstritten ist. Dementsprechend begreift Piaton die Glückseligkeit als Folge von der Teilhabe derPolis und der Seele an der Gerechtigkeit, die darin besteht, daß jeder Stand

15 7

KAPITEL V

und jeder Seelenteil das seine tut bzw. seine Aufgabe erfüllt. Die Gerechtigkeit ist für Piaton die Primärtugend, da ihre Verwirklichung auch denanderen Kardinaltugenden die Kraft verleiht, sich in der Polis und derSeele auszubilden. Ex negativo versucht Piaton den Zusammenhang vonGerechtigkeit und Glückseligkeit am Beispiel des Tyrannen zu erweisen.

DIE MATERIALISTISCHE UND UTOPISCH HEDONISTISCHE ETHIK

Gegensatz - Leiden, Unlust und Schmerz - als das abzuschaffende höchsteÜbel begreift. Auch mit seinem Begriff der Gerechtigkeit knüpft Adornonur partiell an Piaton und Aristoteles an. Gerechtigkeit ist für ihn primärder Gegensatz zu der in der Wirklichkeit vorherrschenden Ungerechtigkeit. Machen die verschiedenen rationalen und ungerechten Herrschafts

hält i d Ei l d I di id ll l i h d t f

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Der Tyrann ist für ihn der ungerechteste und folglich auch der unglücklichste Mensch, da in ihm die Vernunft von den Begierden unterjochtist.430 Trotz der analogen Beurteilung der Kausalbeziehung von Gerechtigkeit und Glück und ihrer Gegensätze zeigt sich hier bereits ein zentraler

Unterschied von Piaton und Adorno. Denn während ein entscheidenderBestandteil einer gerechten Ordnung der Seele für Piaton darin besteht,daß die Vernunft die Begierden beherrscht, erblickt Adorno die Gerechtigkeit in der von der Vernunft weitgehend ungegängelten Triebbefriedigung, die der inneren Natur das ihr angemessene zukommen ließe. InAdornos gegensätzlichem Verständnis des gerechten Verhältnisses vonVernunft und Begierde ließe sich auch ein Stück umgewendeter Platonis-mus im Anschluß an Nietzsche erkennen. Hervorzuheben gilt es hier noch,daß bereits Piaton die Gerechtigkeit wie Adorno als Tugend begreift, derihre Bedeutung nicht ausschließlich im zwischenmenschlichen Verhaltenzukommt, da er sie für das Verhältnis zwischen den einzelnen Seelenteilenals äußerst relevant ansieht.

Auch für Aristoteles, der die Glückseligkeit als das höchste Gut begreift, führt die tätige Verwirklichung der Tugend zur Glückseligkeit. ImBereich der ethischen Tüchtigkeit begreift er die Gesetzes-Gerechtigkeitals die „vollkommene Tugend" und als die „vornehmste der Tugenden",da das Gesetz vorschreibt, auch die Werke des Tapferen und Besonnenenzu verrichten.431 Von Adornos Kritik an der Gesetzes-Gerechtigkeit, die erwegen ihrer Ungerechtigkeit gegenüber dem Einzelnen und wegen derGewalt ihrer Sanktionen zurückweist, war bereits die Rede. Trotzdembleibt festzuhalten, daß Aristoteles die Kausalbeziehung von Gerechtigkeit und Glück analog zu Piaton und Adorno denkt.

Adorno teilt zwar die Kernthese der traditionellen politischen Ethik

über den Zusammenhang von Gerechtigkeit und Glück sowie ihrerGegensätze, unterscheidet sich aber doch in wesentlichen Punkten von ihr.An Stelle des Eudaimonismus setzt er seine materialistische und utopischhedonistische Ethik, die die körperliche Lust als das höchste Gut und ihren

0 Piaton: Der Staat, a.a.O., S. 41f., 153f., 167f., 360ff., 133ff.; 351 c ff, 433ff, 441 d ff,576 c ff, 419ff.

1 Aristoteles: Nikomachische Ethik, a.a.O., S. 205; 1129 b 18ff.

158

verhältnisse das Einzelne und Individuelle gleich und unterwerfen esgewalttätig dem Allgemeinen und Einheitlichen, besteht für AdornoGerechtigkeit darin, dem Einzelnen und den qualitativen Differenzengewaltfrei das ihnen angemessene zukommen zu lassen. Wie bereits

dargelegt, ist dieser Begriff von Gerechtigkeit, der für Adorno in umfassendster Weise und in den vielfältigsten Beziehungen verwirklicht werdenmüßte, in Aristoteles' Begriff der Billigkeit vorgebildet.

Der vielleicht größte Unterschied zwischen Adorno und der traditionellen politischen Ethik besteht jedoch in der Begründung des Übergangs vonder Tugend zum Glück. Piaton begreift die Gerechtigkeit als wesentlichesMoment eines erkennbaren wohlgeordneten Reichs von Ideen. Wenn dieSeele und die Polis sich an die Struktur dieser paradigmatischen Ordnungso weit wie möglich angleichen, gewährleistet diese Nachahmung dervorgegebenen Ordnung in sich dem Einzelnen und der Polis die Glückseligkeit. Aristoteles begreift den Kosmos als natürliche und erkennbareZweckordnung, in der alles eine ihm eigentümliche Leistung hat. Diespezifische Leistung des Menschen als Menschen besteht darin, seinWesen - den logos - im Rahmen der Polisordnung vollendet zu entfalten.Diese Entfaltung besteht in der tätigen Verwirklichung der ethischen unddianoetischen Tüchtigkeiten, die der Verwirklichung der Glückseligkeitgleichkommt.

Adorno dagegen verwirft jegliche vorgegebene ideelle oder natürlichesinnvolle Ordnung der Welt. Jedoch steht für ihn zweifelsfrei fest, daß dieverschiedenen voneinander ableitbaren Formen ungerechter Herrschaft derGrund für das gesellschaftlich bedingte Leiden sind. Als Begründung fürdiese These steht seine gesamte Geschichtsphilosophie. Die Ungerechtigkeit kritisiert er ausschließlich von einem materialistischen und hedoni

stischen Standpunkt. Denn Ungerechtigkeit kritisiert er allein wegen ihrerFolgen, die sie verursacht und die letztlich alle auf das physische Leiden -das Gegenteil von Glück - hinauslaufen. Die Tugend der Gerechtigkeitließe sich demzufolge von Adorno konsequent weder rationalistisch nochidealistisch, sondern nur materialistisch und utopisch hedonistisch mit der

Piaton: Der Staat, a.a.O., S. 211, 250f; 472 c ff, 500 e.Aristoteles: Die Nikomachische Ethik, a.a.O., S. 115-117; 1097 b 20ff.

159

KAPITEL V

Abschaffung des Leidens und der Entfaltung des Glücks begründen. Einederartige Form der Begründung von Tugend findet Adorno bereits beidem materialistischen Philosophen Epikur:

Daraus folgt auch in der Ethik das spezifisch materialistische Element desKapitel VIDie Verstelltheit gesellschaftsverändernder

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Epikur, trotz seiner Annäherung an das gesamtgriechische Denken. Beiihm wird der sinnliche Genuß nicht verworfen, und auch die Tugendlehreselbst, das bitte ich sie festzuhalten als das entscheidend Materialistische andieser Philosophie, wird mit Lust begründet, das heißt, glücklich macht die

434

Lust, welche aus der Tugend hervorgeht.

Der griechische Philosoph Epikur ist der Überzeugung, daß es keineGerechtigkeit an und für sich gibt. Folglich ist auch die Ungerechtigkeitkein Übel an sich, sondern wird es nur durch die Furcht, daß ungerechteTaten entdeckt werden könnten, und durch die Furcht vor den Folgendieser Entdeckung. Wie für Aristipp ist es für Epikur undenkbar, daß einMensch völlig sicher sein kann, daß seine Taten nicht von der Gesellschaftentdeckt werden. Demzufolge plädiert er für das gerechte Leben, weil esvon Unruhe am freiesten ist und weil aus der Seelenruhe die Lust hervorgeht.435 Analog dazu hat auch für Adorno die Gerechtigkeit ihre Bedeu

tung primär darin, daß sie zweckmäßig ist für das gelingende Leben desEinzelnen. Daß für Adorno die Verwirklichung der Gerechtigkeit in derSozialutopie tatsächlich zur Abschaffung des Leidens und zur Verwirklichung der Lust führen würde, kann erst im siebten Kapitel gezeigt werden.Davor muß noch die Frage geklärt werden, wie Adorno gesellschafts-verändernde politische Praxis und damit die Verwirklichungsmöglichkeitvon Sozialutopien überhaupt denkt.

434 Adorno: PhT, Bd. 2, S. 229.Epikur: Von der Überwindung der Furcht, a.a.O., S. 29-31, 64, 61.

160

Die Verstelltheit gesellschaftsverändernderpolitischer Praxis

Für Adorno ist in der physischen Negation des Leidens nicht nur dieKritik der ungerechten Herrschaftsverhältnisse, sondern auch gesell-schaftsverändernde Praxis begründet: „Das leibhafte Moment meldet derErkenntnis an, daß Leiden nicht sein, daß es anders werden solle. ,Wehspricht: vergeh.' Darum konvergiert das spezifisch Materialistische mitdem Kritischen, mit gesellschaftlich verändernder Praxis." Damit stelltsich natürlich die Frage, wie Adorno die verändernde Praxis denkt, diedurch das Leiden mit dem Ziel seiner Abschaffung motiviert wird.Verbleiben für Adorno überhaupt noch Möglichkeiten, die falscheGesellschaft zu verändern und den destruktiven Fortschrittsprozeßumzuwenden? Falls nicht, dann bleibt sein utopischer Hedonismus dazuverdammt, keinen Ort für seine Verwirklichung zu finden. Falls doch, wiekönnte trotz eines unterstellten umfassenden gesellschaftlichen Verblendungszusammenhangs die Rettung noch herbeigeführt werden? Etwadurch entschlossenes politisches Handeln?

Wenige Jahre nach der Erstveröffentlichung der Dialektik der Aufklärung publiziert Horkheimer die Schrift Zur Kritik der instrumenteilenVernunft, in der er die wichtigsten Punkte der gemeinsam mit Adornoentwickelten philosophischen Theorie darstellt. In diesem Werk beantwortet er die zuletzt aufgeworfene Frage eindeutig: „Dieses Zeitalter bedarf keines zusätzlichen Antriebs zum Handeln."436 Woran es für Horkheimer„fehlt, sind Menschen, die wissen, daß sie selbst die Subjekte undHandlanger ihrer Unterdrückung sind."437 Insofern heißt es im Schlußsatz

seines Buches, daß „die Denunziation dessen, was gegenwärtig Vernunftheißt, der größte Dienst" ist, „den die Vernunft leisten kann."

Die Abwendung von revolutionärer politischer Praxis ist bereits in der Dialektik der Aufklärung ausgesprochen. Das in diesem Werk zum Aus-

Max Horkheimer: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt am Main 1990, S.171, 14.Ebenda, S. 153.

161

KAPITEL VI

druck gebrachte „allgemeine Leiden" „zeichnet nicht, wie die rationalenGeschichtsphilosophien, eine bestimmte Praxis als die heilsame vor, auchnicht die des Nichtwiderstrebens."438 Mit den rationalen Geschichtsphilosophien sind natürlich vor allem Hegel, Marx und Engels gemeint.Horkheimer und Adorno sind sich dabei des „unaufhebbaren Wider

DIE VERSTELLTHEIT POLITISCHER PRAXIS

Sein Verdikt über das Verhältnis von Theorie und Praxis erachtet er nichtals endgültiges: „Das Verhältnis beider Momente zueinander ist nicht einfür allemal entschie den, sondern wechselt geschic htlich ." Damit stelltsich die Frage, ob Adornos Zeitdiagnose der Verstelltheit von politischerPraxis gut begründet ist. Sollte dies nicht der Fall sein, könnte man ihm

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spruchs" bewußt, den ihre Abkehr von der Praxis mit sich bringt. Denn siesprechen vom „Verhängnis, das Vernunft allein nicht wenden kann".43 9

Den schlechten bestehenden Zustand zu erkennen und zu negieren führtohne nachfolgende Praxis eben nicht zu seiner Veränderung. Die Mög

lichkeit zu politischem Handeln und gesellschaftlicher Veränderung sehenHorkheimer und Adorno aber nicht für alle Zeiten als versperrt an,sondern nur für die gegenwärtige Epoche. Die Voraussetzung, dieverändernde Praxis wieder möglich machen könnte, stellt für sie eine umsich greifende Bewußtseinsveränderung dar, die sie durch ihre Schriftenmit herbeiführen wollen: „Umwälzende wahre Praxis aber hängt ab vonder Unnachgiebigkeit der Theorie gegen die Bewußtlosigkeit, mit der dieGesellschaft das Denken sich verhärten läßt. [...] Der Geist solcherunnachgiebigen Theorie vermöchte den des erbarmungslosen Fortschrittsselber an seinem Ziel umzuw enden ." Unter den gegeben en sozialenVerhältnissen verbleibt für Horkheimer und Adorno die Theorie als die

allein noch mögliche Form von verändernder Praxis. An dieser Auffassung über das Verhältnis von Theorie und Praxis hält Adorno bis in seinSpätwerk fest:

Das Verzweifelte, daß die Praxis, auf die es ankäme, verstellt ist, gewährtparadox die Atempause zum Denken, die nicht zu nutzen praktischer Frevel wäre. Dem Denken kommt heute zugute, daß man seinen eigenen Begriff nicht verabsolutieren darf: es bleibt, als Verhalten, ein Stück Praxis,

441sei diese sich selbst noch so sehr verborgen.

Das praktische Element seines Denkens sieht Adorno zum einen darin,daß es versucht, der Macht und dem Anpassungsdruck des BestehendenWiderstand zu leisten, indem es die Unfreiheit und das Leiden zumAusdruck bringt. Zum anderen hofft er, durch seine Schriften das Bewußtsein der Menschen und damit die gesellschaftliche Realität zu verändern.

Adorno/Horkheimer: DdA, S. 256.Ebenda.

0 Ebenda, S. 65.1 Adorno: ND, S. 243.

162

vorwerfen, mit seiner Haltung den von ihm abgelehnten Zustand ungewollt zu affirmieren. Dieser Vorwurf wurde gegen Adorno auch tatsächlich während der Studentenrevolte der 68er erhoben.

Die Haltung von Horkheimer und Adorno zur Frage der Praxis muß vor

dem Hintergrund ihrer geschichtlichen Erfahrungen analysiert werden. Inder Zeit nach der russischen Oktoberrevolution 1917 war die Erwartungder von Marx prognostizierten proletarischen Revolution unter marxistischen Intellektuellen weit verbreitet. Diese Erwartung teilten auchHorkheimer und Adorno, da die von Marx vorgegebenen subjektiven undobjektiven Bedingungen für die Revolution erfüllt schienen. Das Proletariat war in der Arbeiterbewegung organisiert, die sein objektives Klasseninteresse vertreten konnte. Die Zentralisation der Kapitale war gemäßMarx ' Progno se weit fortgeschritten. Auch die Erwartun g, daß es derArbeiterbewegung gelingen würde, ein breites subjektives Klassenbewußtsein herzustellen, schien berechtigt. Dadurch hätte die Arbeiterklasse,

zweifellos die Mehrheit der Bevölkerung, spätestens unter Ausnutzung dermodernen Massendemokratie die politische Gewalt erobern und in derFolge den Kapitalismus abschaffen können. Die erschreckende Tatsachewar dann, daß nicht nur die Revolution ausblieb, sondern statt dessenunter Mitwirkung der Wählerschaft die faschistische Epoche Europas inden 30er Jahren begann. Diese Ereignisse wurden von Horkheimer undAdorno als unbedingt erklärungsbedürftig und als Herausforderung an dieTheorie aufgefaßt. Von großer Bedeut ung für den nachfolge ndenUmorientierungsprozeß, der auch zu einer zunehmenden Integration vonNietzsche und Freud in ihre Theorie führte, war auch die 1929 unter derLeitung von Erich Fromm begonnene Studie über Arbeiter und Angestellte

in der Weimarer Republik. Diese falsifizierte deutlich die ihr zugrundelie

gende theoretische Erwartung, daß das „Proletariat über eben jenepsychischen Qualitäten verfügt, die für eine Überwindung der kapitali-

Ebenda, S. 147.Karl Marx: Das Kapital, a.a.O., S. 512, 790.Helmuth Dubiel: Kritische Theorie der Gesellschaft. Eine einführende Rekonstruktionvon den Anfängen im Horkheimer-Kreis bis Habermas, Weinheim/München 1988, S.40f.

163

KAPITEL VI

stischen Ordnung nötig sind".Die Begründungen von Adornos These der Verstelltheit gesellschafts-

verändernder politischer Praxis sind in seinem Aufsatz Reflexionen zur Klassentheorie von 1942 zusammengefaßt.446 Sie finden sich aber auch inseinen anderen Schriften. Will man seine Begründungen auf einengemeinsamen Nenner bringen so läßt sich sagen daß sie auf den Versuch

DIE VERSTELLTHEIT POLITISCHER PRAXIS

sehte Mehrheit gespalten sind. Die Führer von Kapital und Arbeit verfolgen ihr partikulares Interesse und kooperieren dabei auf Kosten derMehrheit und teilen sich die Beute. Die gleichen „oligarchischen Züge"wie sie die Klassen aufweisen, finden sich auch in „ihrem spezifischenpolitischen Äquivalent, der Partei". Die Folge solcher Zustände ist, daßd A b it h di l Ni ht i h it" i Kl l ih b

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gemeinsamen Nenner bringen, so läßt sich sagen, daß sie auf den Versuchhinauslaufen zu erklären, wieso die Revolution nicht stattgefunden hat undwieso in der gegenwärtigen Epoche ein historisches Subjekt der Veränderung fehlt. Adorno hält einerseits am Klassenbegriff fest, da der Begriff 

der Klasse durch die Stellung zu den Produktionsmitteln bestimmt ist unddie Gesellschaft für ihn objektiv noch in Ausbeuter und Ausgebeutetegeteilt ist. Andererseits ist er der Ansicht, daß die Menschen im Spätkapitalismus „sich selber nicht als Klasse erfahren können".447 Vor diesemHintergrund wird auch verständlich, wieso in der Dialektik der Aufklärungdas für Marx zentrale geschichtliche Motiv des Klassenkampfs kaummehr vorkommt: „Kampf indessen, auch Klassenkampf, postuliertBewußtsein auf beiden Seiten. Sonst verflüchtigt sich sein Begriff zu einerAbstraktion objektiver und undurchschauter Klassengegensätze, die nichtSubjekt und deshalb fürs Handeln gleichgültig werden." 48

Ein Grund für das mangelnde Klassenbewußtsein ist für Adorno die„Nichteinheit der Klasse". Damit ist gemeint, daß die Bürger- und dieArbeiterklasse selbst jeweils wieder in mächtige Führer und eine beherr-

Ebenda, S. 45; Dementsprechend heißt es auch in den Reflexionen zur Klassentheorie:„Wie die Industrie ihre Opfer an physisch Verstümmelten, Erkrankten, Deformiertenfordert, droht sie das Bewußtsein zu deformieren. [...] Die Frage, wie die so Bestimmtenzur Aktion fähig sein sollen, welche doch nicht bloß Klugheit, Überblick und Geistesgegenwart, sondern die Fähigkeit zur äußersten Selbstaufopferung verlangt, wird nichterhoben. [...] Marx hat sich auf die Psychologie der Arbeiterklasse nicht eingelassen"(Adorno: Reflexionen zur Klassentheorie, in: Adorno: SS I, S. 388f).Adorno: Reflexionen zur Klassentheorie, in: Adorno: SS I, S. 373ff.; Für ReinhardKager läßt sich an Horkheimers Schriften zu Beginn der 30er Jahre schon ablesen, daß

er von der Hoffnung auf die proletarische Revolution abrückt (Reinhard Kager, a.a.O.,S. 64).

Adorno: Reflexionen zur Klassentheorie, in: Adorno: SS I, S. 377, 358, 184.Ebenda, S. 184; Martin Jay verkennt hier das Bedingungsverhältnis, da er schreibt: „Mitder Verlagerung des Gewichts im Institut vom Klassenkampf auf den Kampf zwischenMensch und Natur schwand die Möglichkeit eines historischen Subjekts, das fähigwäre, das revolutionäre Zeitalter einzuleiten" (Martin Jay: Dialektische Phantasie. DieGeschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung, 1923 - 1950,Frankfurt am Main 1976, S. 325). Genau genommen muß es heißen: Weil Horkheimerund Adorno das historische Subjekt schwinden sahen, verlagerten sie den Schwerpunktvom Klassenkampf auf den Kampf von Mensch und Natur.

164

der Arbeiter eher die „reale Nichteinheit" seiner Klasse als ihre ebenso„reale Einheit" erfährt und ihm dadurch die Anpassung ans Systemrationaler erscheint als die Solidarität mit fragwürdigen Führern: „DieZugehörigkeit zur gleichen Klasse setzt längst nicht in Gleichheit des

Interesses und der Aktion sich um."Einen weiteren Grund für das mangelnde Klassenbewußtsein sieht

Adorno darin, daß der jüngste „Gegensatz hochindustrialisierter undnichtentwickelter Völker den Klassenkampf in einen von Nationen oderBlöcken versetzte und unsichtbar machte."451 Adorno hält es 1942 auchfür unwahrscheinlich, daß die bürgerliche Demokratie noch eine Massenpartei mit ernsthaften revolutionären Absichten zuließe. Zudem geht er imAnschluß an Jürgen von Kempinski von der „militärtechnischen Unmöglichkeit spontaner Revolutionen" in den fortgeschrittenen Industrieländern

452

aus.Neben diesen Argumenten für die These der Verstelltheit von poli

tischer Praxis setzt sich Adorno auch mit Marx' Verelendungstheorieauseinander. Nach Marx folgt aus dem absoluten Akkumulationsgesetz,daß in der geschichtlichen Entwicklung mit der wachsenden Menge desakkumulierten, funktionierenden Kapitals auch die Masse des Elends, derArbeitsqual, der Knechtschaft, der Armut und folglich auch der Empörungder Arbeiterschaft wächst. Das gemeinsame Elend und die gemeinsameEmpörung der Arbeiter ist auch eine wichtige Voraussetzung für dieAusbildung eines Klassenbewußtseins und für die subjektive Bereitschaftzur Revolution.453 Warum es an beidem mangelt, erklärt Adorno dadurch,daß sich der Lebensstandard der Arbeiter im Vergleich zum 19. Jahrhundert deutlich verbessert statt verschlechtert hat und daß sich die Arbeits

zeiten verkürzt haben. Dadurch haben die Proletarier deutlich mehr zuverlieren als nur ihre Ketten, wie Marx noch im Kommunistischen Manifest meinte. Die Gewerkschaften haben durch ihre Aktivität zwar zur

Adorno: Reflexionen zur Klassentheorie, in: Adorno: SS I, S. 382, 379-381.0 Ebenda, S. 377-379.

Adorno: Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie, in: Adorno: NL, S. 507.2 Adorno: Reflexionen zur Klassentheorie, in: Adorno: SS I, S. 384; Adorno: St, S. 181.3 Adorno: Reflexionen zur Klassentheorie, in: Adorno: SS I, S. 384; vgl.: Karl Marx: Das

Kapital, a.a.O., S. 673-675, 790f.

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KAPITEL VI

piert für Adorno das Bewußtsein der Menschen, schaltet es gleich undintegriert sie total ins System: „Die Massenkultur macht sie bloß immernochmals so, wie sie unterm Systemzwang ohnehin schon sind, kontrolliert die Lücken, fügt noch den offiziellen Widerpart der Praxis als publicmoral dieser ein, stellt ihnen Modelle zur Imitation bereit." Die Folgendavon sind daß das manipulierte und fixierte Bewußtsein der Gefangenen

DIE VERSTELLTHEIT POLITISCHER PRAXIS

ändert haben." ' Auch in der Negativen Dialektik verwahrt sich Adornoim Kontext seiner Heideggerkritik ausdrücklich dagegen, als Schicksal zubetrauern, „was Selbstreflexion und von ihr entzündete Praxis vielleichtzu ändern vermöchten". Allerdings ist diese Praxis für Adorno „auf unabsehbare Zeit vertagt". Damit wird die Theorie für ihn vorläufig zureinzig noch verbleibenden verändernden praktischen Produktivkraft"

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davon sind, daß das manipulierte und fixierte Bewußtsein der Gefangenendes Systems seiner Widerstands- und Kritikpotentiale beraubt wird und siesich die Welt nicht mehr anders vorstellen können, als sie bereits ist.Zudem sind sie durch die kulturindustriell erzeugten Bedürfnisse und

Lüste gleichgemacht und an das bestehende System und seine vorgeprägten Belohnungen gefesselt. Da zu den Folgen der Kulturindustrie noch dieDeformation des Bewußtseins durch die entfremdete Arbeit hinzukommt,betrachtet Adorno die psychischen Qualitäten der Unterdrückten alsunzulänglich für freies, autonomes und spontanes Handeln und damit fürgesellschaftsverändernde politische Praxis.

Adorno begreift die Arbeiterschaft durch die Kulturindustrie und dengestiegenen Lebensstandard als so vollständig in das bestehende Systemintegriert, daß der Hoffnung und dem Ziel der revolutionären Veränderungdes Bestehenden die subjektive und bewußtseinsmäßige Basis entzogenist. In der bestehenden Gesellschaft gibt es folglich kein historischesSubjekt der Veränderung und damit auch keine über sie hinausdrängendenTendenzen und Gruppierungen mehr, an die ein kritischer Theoretikeranknüpfen könnte. Insofern ist es nur konsequent, wenn Adorno seineeinzige verzweifelte Hoffnung auf die Überwindung des Bestehenden indie Veränderung des Bewußtseins und des Denkens der Menschen, undzwar aller sozialer Schichten, setzt. Dadurch könnte vielleicht wieder eineBasis für zukünftige praktische Veränderungen geschaffen werden. DieVeränderung des Bewußtseins und des Denkens beabsichtigt er durchseine Schriften auf den Weg zu bringen, in denen er die verhängnisvollenFolgen des Zivilisations- und Rationalisierungsprozesses für die gesamteMenschheit offenzulegen versucht. So äußert Adorno 1969 in einemInterview mit dem Spiegel: „Ich glaube, daß eine Theorie viel eher fähig

ist, kraft ihrer Objektivität praktisch zu wirken, als wenn sie sich vonvornherein der Praxis unterwirft. [...] Es hat sich unzählige Male in derGeschichte ereignet, daß gerade Werke, die rein theoretische Absichtenverfolgen, das Bewußtsein und damit die gesellschaftliche Realität ver-

uEbenda, S. 390f., 184.

1Ebenda, S. 364, 17f., 388-390, 364; Adorno: St, S. 181.

168

einzig noch verbleibenden „verändernden, praktischen Produktivkraft ,deren Aufgabe es ist, eine „mögliche höhere Gestalt von Praxis" in derRealität zu enthüllen. Adornos Auseinandersetzung mit der Verstelltheitvon politischer Praxis markiert auch die Differenz zwischen seinem Den

ken und den von Marx kritisierten deutschen Ideologen Feuerbach, Stirnerund Bauer. Ihnen zufolge kann die gesellschaftliche Praxis ausschließlichdurch die kritische Veränderung des ihr gegenüber als selbständig betrachteten Bewußtseins erfolgreich verändert werden. Adorno dagegen leitetdas Bewußtsein aus der „Praxis" der Naturbeherrschung ab. Zudem ist ervon der Notwendigkeit von verändernder politischer Praxis überzeugt,sieht aber angesichts seiner verzweifelten Einschätzung, daß diese temporär verstellt ist, keine andere Alternative, als sich der Theorie zuzuwenden.

„Keine Angst vor dem Elfenbeinturm. Spiegel-Gespräch mit dem SozialphilosophenProfessor Theodor W. Adorno", Der Spiegel, Nr. 19, 1969, S. 204, 206.

 Afl-l 

Adorno: ND, S. 98, 15,242.464

Adorno: Marginalien zu Theorie und Praxis, in: Adorno: St, S. 175.Karl Marx; Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen

Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten, MEW, Bd. 3, Berlin 1983.

169

Kapitel VIIDie hedonistische Sozialutopie

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a p

Das vorangehende Kapitel hat die Gründe aufgezeigt, warum für Adorno

die Möglichkeit von gesellschaftsverändemder politischer Praxis „auf unabsehbare Zeit vertagt" ist. Die Menschen und ihr Bewußtsein begreifter durch die Manipulationen der Kulturindustrie, durch die konkretenArbeitsbedingungen und durch die gesellschaftlich vorgeprägten Bedürfnisse und Lüste gleichgemacht und vollständig in das bestehende Systemintegriert. Während das allgemeine Leiden in der Gesellschaft keineswegsabnimmt, kommt es für Adorno zu einem zunehmenden Verlust anLeidenserfahrung und Leidensfähigkeit bei den Menschen. Das Leidenwird entweder aus Realitätsgerechtigkeit verdrängt oder seine wahrenUrsachen werden verkannt. All das hat zur Folge, daß die Menschen sichdie Welt nicht mehr anders vorstellen können, als sie ist und sie soakzeptieren, wie sie ist. Dagegen fordert die physische Negation des

Leidens für Adorno, „daß Leiden nicht sein, das es anders werden solle".Adorno denkt das Andere, das an Stelle des schlechten Bestehenden seinsoll, nicht im Sinne der Theologie, sondern als eine hedonistischeSozialutopie, deren Grobskizze sich in seinen Schriften aufweisen läßt unddie ihre Möglichkeitsbedingung in der Gerechtigkeit hat. Diese Theseimpliziert, daß die materialistische und utopisch hedonistische Schicht dietragende in seinem Denken ist und daß Adornos Denken im Kern erfassenzu wollen, nicht heißen kann, ihn aus theologischer Sicht zu interpretieren.

Das Bestehende kann zwar durch gesellschaftliche und politische Praxisnicht verändert werden. Trotzdem verbleibt für Adorno zumindest dieMöglichkeit, der gesellschaftlichen Tendenz zur totalen Integration derMenschen und ihres Bewußtseins im Denken Widerstand zu leisten. Denndas Denken der wenigen Privilegierten, deren geistige Freiheit groß genugist, um sich dem gesellschaftlichen Anpassungsdruck widersetzen zukönnen, ist zumindest noch in der Lage, den Bannkreis des Bestehenden inGedanken zu überschreiten. Damit wird Denken zwangsläufig utopisch,da das Bessere keinen anderen Ort mehr findet als im Denken. Diese Formdes theoretischen Widerstandes gegen eine Gesellschaft, die für Adornoalle Differenzen zu einer homogenen Totalität nivelliert, erscheint amoptimistischen Praxisbegriff des klassischen Marxismus gemessen natür-

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KAPITEL VII

Versuch, diese Frage zu beantworten, führt zu Aporien und Problemen.Das Naturschöne und das Kunstschöne kann nämlich für Adorno wie dasNichtidentische weder abgebildet noch positiv bezeichnet und bestimmtwerden. Trotzdem versucht sich Adorno dem Naturschönen zu nähern,indem er es mit Begriffen konstellativ umkreist.

Jedes Stück Natur, Adorno verwendet öfters das Beispiel der Landh f h d i h l h d i

DIE HEDONISTISCHE SOZIALUTOPIE

Schein herstellen. Das Kunstschöne ist so flüchtig wie das Naturschöne.Adorno versteht es als „aufblitzende und vergehende Schrift", in der dasNichtseiende und Mögliche plötzlich aufgeht. Er bestimmt das Kunstschöne auch als „das objektiv im Bild Beherrschte, das vermöge seinerObjektivität Herrschaft transzendiert".

Adorno versteht die Kunst als „die Welt noch einmal, dieser so gleichwie ungleich" Ungleich sind gelungene Werke ihr vor allem deshalb

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schaft, vermag schön zu werden, „von innen her leuchtend". DieseErfahrung ist aber nicht durch angespannte Konzentration zu gewinnen,sondern eher durch „bewußtlose Wahrnehmung", die in ihrer Kontinuität

„plötzlich zuweilen" aufgeht. Das Schöne an der Natur ist ihr objektiverAusdruck, der auf den „Vorrang des Objekts" verweist, da er sich nichtauf die subjektive Rezeptivität reduzieren läßt: „Schön ist an der Natur,was als mehr erscheint, denn was es buchstäblich an Ort und Stelle ist."48(

Das Naturschöne ist flüchtig; es blitzt nur kurz auf und verschwindet dannwieder. Die Erfahrung des Naturschönen bewirkt sowohl Schmerz alsauch Sehnsucht nach dem, was das Schöne an der Natur verheißt. DieVerheißung ist die mögliche und utopische Gestalt der Natur. DerSchmerz ist das Leiden daran, daß diese Gestalt der Natur noch nicht ist.Adorno bezeichnet das Naturschöne auch als „die Spur des Nichtidentischen an den Dingen im Bann universaler Identität" und insofern als„Chiffre des noch nicht Seienden, Möglichen".481

Genuine Kunst ahmt durch die weitgehend gewaltfreie Integration desMaterials zu einem ästhetischen Ganzen das Naturschöne nach undversucht dessen utopischen Überschuß zum Ausdruck und zur Sprache zubringen. Der utopische Überschuß des von der Kunst nachgeahmtenNaturschönen verweist auf die utopische Gestalt der inneren und äußerenNatur, die statt ihrer identifizierten, deformierten und beherrschten Gestaltsein könnte und sein sollte. Den utopischen Überschuß, den die Kunstwerke durch den Zusammenhang ihrer sinnlichen Momente herstellen und

48?

zum Ausdruck bringen, versteht Adorno als ihre Transzendenz. DaNatur und Gesellschaft in der Geschichte immer wechselseitig voneinander abhängen, antizipiert Kunst, wie gleich zu zeigen sein wird, auch die

utopische Gestalt der Gesellschaft. Deren reale Möglichkeit und dieVersöhnung mit der Natur kann die Kunst aber nur symbolisch und als

Ebenda, S. 105, 113, 110.9 Ebenda, S. 110, 108, 102, 108, 112."Ebenda, S. 111.

' Ebenda, S. 114f, 198-200, 119, 111, 113.2 Ebenda, S. 121f., 166, 198; Adorno versteht die Kunst auch als „Säkularisierung von

Transzendenz" (Ebenda, S. 50).

176

wie ungleich . Ungleich sind gelungene Werke ihr vor allem deshalb,weil sie in der Lage sind, das Besondere in seiner Vielheit weitgehendgewalt- und herrschaftsfrei zu einer einheitlichen Form zu integrieren.Insofern kritisieren Kunstwerke als „Bilder einer veränderten Menschheit"durch ihre bloße Existenz die bestehende Gesellschaft und antizipieren dieWahrheit über die utopische Gestalt der Gesellschaft und des Individuums: „Utopie ist jedes Kunstwerk, soweit es durch seine Form antezipiert,was endlich es selber wäre, und das begegnet sich mit der Forderung, den

485

vom Subjekt verbreiteten Bann des Selbstseins zu tilgen". Wie dieKunst, müßte die richtige Gesellschaft die weitgehend gewalt- undherrschaftsfreie Integration ihrer Individuen bewerkstelligen und ihrenindividuellen und besonderen Qualitäten das ihnen angemessene zukommen lassen. Die bestehende Gesellschaft dagegen gleicht die Menschennach Adornos Verständnis durch die Kulturindustrie und die konkreten

Arbeitsbedingungen gewaltsam aneinander an und prägt sie zu austauschbaren Funktionsträgern. In der richtigen Gesellschaft wäre für Adornoauch eine Form von Individualität möglich, in der das Ichprinzip dieinnere Natur und Triebe nicht mehr zum Zweck der Selbsterhaltungunterdrücken und gewaltsam integrieren müßte. Insofern lautet AdornosForderung: „in einem sublimierten Sinn soll die Realität die Kunstwerkenachahmen".486

Die Utopie einer freien, gerechten und vernünftig eingerichteten Gesellschaft darf für Adorno nicht konkretisiert oder bebildert werden. DieseForderung konvergiert für ihn mit dem theologischen Bilderverbot: „DerMaterialismus säkularisierte es, indem er nicht gestattete, die Utopie

487

positiv auszumalen; das ist der Gehalt seiner Negativität ." Wie von derForschungsliteratur bereits wahrgenommen wurde, hält sich Adornokeineswegs konsequent an die selbst auferlegte „äußerste Treue zum Bil-

Ebenda, S. 120, 125, 129, 84, 98, 100, 113.Ebenda, S. 499.

Ebenda, S. 358, 203, vgl. 251; Die Form „vertritt im Kunstwerk das soziale Verhältnis"(Ebenda, S. 379).Ebenda, S. 199f.,359.Adorno: ND, S. 207 (Hervorhebung von mir).

177

KAPITEL VII

derverbot, weit über das hinaus, was es einmal an Ort und Stelle488

meinte". Zwar entwirft Adorno keine inhaltlich detailliert ausgestalteteUtopie der richtigen Gesellschaft, wie etwa Monis, Campanella und dieFrühsozialisten Saint-Simon, Fourier und Owen. Auch lassen sich beiihm selbstverständlich keine konkreten Pläne und Ansätze zur Verwirklichung der Utopie aufweisen. Jedoch findet sich in Adornos Schriften eine

DIE HEDONISTISCHE SOZIALUTOPIE

denem unter Gleiches auf. Kann das Tauschprinzip somit nur überwundenwerden, wenn vorher das fundamentalere Identifikationsprinzip überwunden wird? Die formale Plausibilität dieses Gedankens führt in die Irre.Zum einen erscheint es nahezu unmöglich, daß das Identifikationsprinzip

 jemals gänzlich überwunden werden kann. Zum anderen setzt Adorno dieÜberwindung des Tauschprinzips nicht einfach mit seiner Abschaffung

d i E t d h i d P i i l i h E d kt di

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c u g de Utop e au we se . Jedoc det s c do os Sc te e eGrobskizze des richtigen Zustandes, der für ihn der positive Bezugspunktseiner Kritik des Bestehenden ist. Durch diese kann Adorno inmitten der„verwalteten Welt" zumindest die Denkmöglichkeit des Anderen und

Besseren bewahren.

2. Die Grobskizze der hedonistischen Sozialutopie

Die wichtigste Voraussetzung für eine freie Gesellschaft und eine höhereForm von Praxis ist für Adorno die Überwindung des kapitalistischenWirtschaftssystems und der Zwänge, die seine Eigendynamik mit sichbringt. Da Adorno das Tauschprinzip als das Wesen und die Gesetzmäßigkeit der kapitalistischen Gesellschaftssysteme begreift, ist dessenÜberwindung die Voraussetzung zur Überwindung des Kapitalismus. Wiedenkt Adorno die Überwindung des Tauschprinzips? Setzt er die Überwindung des Tausches schlicht mit seiner Abschaffung gleich? Wiebereits erwähnt, erachtet Adorno das Tauschprinzip als „urverwandt" mitdem Identifikationsprinzip und spricht davon, daß jenes ohne dieses nichtwäre. Tatsächlich weisen beide Prinzipien die strukturelle Gemeinsamkeitder Abstraktion von Besonderem und der Subsumption von Verschie-

Adorno: Vernunft und Offenbarung, in: Adorno: St, S. 28; So bemerkt etwa ReinhardKager die „spärlichen Andeutungen, die Adorno trotz des Bilderverbots über den

versöhnten Zustand macht" (Reinhard Kager, a.a.O., S. 169). Auch Gerhard Kaiserbetont: „so stimmt es einfach nicht, daß Adorno keine Aussagen über das untermBilderverbot stehende Andere machte; er macht zwar vage, aber letztlich doch positive"Aussagen (Gerhard Kaiser, a.a.O., S. 347).Tommaso Campanella: Sonnenstaat, in: Der utopische Staat. (Hrsg. von Klaus J-Heinisch), Reinbeck bei Hamburg 1960, S. 112-169; Charles Fourier: Theorie der vierBewegungen und der allgemeinen Bestimmungen (Hrsg. von Theodor W. Adorno),Frankfurt am Main/Wien 1966; Thomas Morus: Utopia, Frankfurt am Main 1992;Robert Owen: Eine neue Gesellschaftsauffassung, in: Der Frühsozialismus. Quellentexte (Hrsg. von Thilo Ramm), Stuttgart 1968, S. 245-346; Claude-Henri de Saint-Simon: Ausgewählte Schriften (Hrsg. von Lola Zahn), Berlin 1977.

17 8

oder seiner Ersetzung durch ein anderes Prinzip gleich. Er denkt dieÜberwindung des Tauschprinzips auch nicht als Annullierung des Wertes,der „Maßkategorie der Vergleichbarkeit", unter die Verschiedenes

subsumiert werden kann. Statt dessen verweist er auf die Rationalität, diedem Tauschprinzip innewohnt. Wie an anderen Begriffen, entdecktAdorno nämlich am Begriff bzw. an der Idee des Tausches ein utopischesPotential. Das Tauschprinzip begreift er als überwunden, wenn dieRealität an den utopischen Überschuß des Tauschbegriffs angeglichen undsomit die rationale Identität erreicht wäre. Den utopischen Überschuß desTauschprinzips findet Adorno im Ideal des „freien und gerechtenTauschs". Die Bedingung für die Überwindung des Tauschprinzips undfür die Verwirklichung „möglicher Gerechtigkeit" ist für Adorno, daß dasIdeal des „freien und gerechten Tauschs" verwirklicht würde: „DieErfüllung des immer wieder gebrochenen Tauschvertrags konvergierte mitdessen Abschaffung; der Tausch verschwände, wenn wahrhaft Gleiches

getauscht würde; der wahre Fortschritt dem Tausch gegenüber nicht bloßein Anderes sondern auch dieser, zu sich selbst gebracht". Die entscheidende Konsequenz, die sich für Adorno aus der Überwindung desTauschprinzips ergäbe, wäre die Überwindung der kapitalistischenAneignung des Mehrwerts und damit der Klassenherrschaft und derAusbeutung: „Würde keinem Menschen mehr ein Teil seiner lebendigenArbeit vorenthalten, so wäre die rationale Identität erreicht, und dieGesellschaft wäre über das identifizierende Denken hinaus." Letztereserklärt sich folgendermaßen: Das identifizierende Denken wohnt demTauschprinzip inne, das in der Gesellschaft bewußtlos Identität stiftet, dasie durch das Tauschprinzip mit sich zusammengeschlossen ist. Wäre das

Tauschprinzip als die Gesetzmäßigkeit der Gesellschaft überwunden, dann

Adorno: Fortschritt, in: Adorno: St, S. 48; Adorno: ND, S. 149f; Auch der Duktus desAbschnitts Zur Dialektik von Identität  legt die oben gegebene Interpretation, wieAdorno die Überwindung des Tauschprinzips denkt, nahe. Am Anfang des Abschnittsverdeutlicht Adorno das utopische Potential der Begriffe und das Ziel der „rationalenIdentität" am Beispiel des Begriffs der Menschheit. Er fährt fort: „Daran haben allerelevanten Kategorien teil." Unmittelbar anschließend setzt er sich mit demTauschprinzip auseinander (Ebenda, S. 149).

17 9

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KAPITEL VII

eine Art Maschinenstürmerei auf erweiterter Stufenleiter theoretischbetreibt. Nicht die Technik ist das Verhängnis, sondern ihre Verfilzungmit den gesellschaftlichen Verhältnissen, von denen sie umklammertwird". " Trotz seiner radikalen Kritik an der „verwalteten Welt" istAdorno davon überzeugt, daß auch in einer freien Gesellschaft weder dieArbeitsteilung noch die verschiedenen gesellschaftlichen Organisationen

DIE HEDONISTISCHE SOZIALUTOPIE

renden und das Naturverhältnis ewig wiederholenden Herrschaft über die

Natur nicht zu heilen, indem es auch die inwendige Natur, das Es sich un

terwirft, sondern indem es mit dem Es sich versöhnt, wissend und aus Frei

heit es dorthin begleitet, wohin es will. Wie der richtige Mensch nicht der 

wäre, welcher den Trieb unterdrückt, sondern einer, der ihm ins Auge sieht 

und ihn erfüllt, ohne ihm Gewalt anzutun und ihm als einer Gewalt sich zu

beugen, so müßte das richtige Kunstwerk heute zu Freiheit und Notwen

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abgeschafft werden könnten. Sie verlören für ihn jedoch ihren Schrecken,wenn sie im Dienst einer freien und mündigen Menschheit stünden undnach deren Bedürfnissen geformt wären.

Durch die Abmilderung der äußeren Naturbeherrschung, die Abschaffung der Klassenherrschaft und die radikale Verkürzung der Arbeitszeitwürde für Adorno auch die Abmilderung der inneren Naturbeherrschungund somit langfristig eine andere Form von Individualität möglich. In derutopischen Gesellschaft, die für Adorno mit den vorhandenen gesellschaftlichen und ökonomischen Potentialen und Ressourcen bereitsverwirklicht werden könnte, wäre der Zweck der Selbsterhaltung gegenüber den früheren Gesellschaftsformen relativ leicht zu verwirklichen. Dieminimierte Arbeit wäre nur noch mit einem minimalen Triebverzichtgekoppelt. Dadurch würde der Gegensatz von Selbsterhaltung undLustprinzip weitgehend aufgehoben. In der verwirklichten Utopie könnte

das sich erhaltende Selbst seine bisherige repressive Form, in der es seineinnere Natur unterdrücken und beherrschen muß, zugunsten einer nichtverhärteten Form von Individualität überwinden. So äußert Adorno, „daßman einst wider das Lustprinzip agieren mußte um der Selbsterhaltungwillen; obwohl doch die auf ein Minimum reduzierte Arbeit nicht längermit Verzicht gekoppelt zu sein brauchte".498 Wie die angestrebte utopische Form von Individualität auszusehen hätte, äußert Adorno in einerbisher kaum rezipierten Textstelle:

Aber das Ich ist von seiner Kardinalsünde, der blinden, sich selbst verzeh-

Adorno: Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?, in: Adorno: SS I, S. 362f;„Technik, die, nach einem letztlich der bürgerlichen Sexualmoral entlehnten Schema,Natur soll geschändet haben, wäre unter veränderten Produktionsverhältnissen ebensofähig, ihr beizustehen und auf der armen Erde ihr zu dem zu helfen, wohin sie vielleichtmöchte" (Adorno: AT, S. 107, vgl. 75f).Adorno: Gesellschaft, in: Adorno: SS I, S. 17; Adorno: Individuum und Organisation,in: Adorno: SS I, S. 446.Adorno: Marginalien zu Theorie und Praxis, in: Adorno: St, S. 172; Adorno: ND, S.261; Adorno spricht vom utopischen „Begriff eines richtigen Menschen", vom„möglichen Subjekt" und von der Utopie der „opferlosen Nichtidentität" (Ebenda, S.273, 277); vgl.: Adorno: AT, S. 178.

182

g , g

digkeit modellhaft sich verhalten.

Hier zeigt sich noch einmal, daß für Adorno im Grunde genommen allesauf die Beziehung des Einzelnen zu seinem Körper und seinen Triebenhinausläuft. Denn wie das physische Leiden der negative Bezugspunktseiner Kritik der ungerechten Herrschaftsverhältnisse ist, so ist dessenAbschaffung und Ersetzung durch die körperliche Lust ihr positiverBezugspunkt und letztlich das Ziel der Utopie. Selbstverständlich sind dieReduktion der äußeren Naturbeherrschung und der Arbeitszeit, dieAbschaffung der Klassenherrschaft, der Gewalt etc. und die Verwirklichung einer gerechten Welt auch Ziele für sich. Trotzdem sind siezugleich Mittel für die Verwirklichung der Lust als dem summum bonum.Die Möglichkeit von genuiner somatischer Lust und Trieberfüllung setztdie Verwirklichung einer gerechten Gesellschaft voraus, die es dem

Einzelnen ermöglichen würde, den Trieben gewaltlos das ihre zukommenzu lassen. Damit begründet Adorno die Tugend der Gerechtigkeit letztlichwie Epikur materialistisch mit der Lust, die aus ihr folgt, und mit derUnlust, die durch sie vermieden werden kann.

In einer höheren und utopischen Form von Praxis wäre das Verhältnisder Menschen zueinander und gegenüber der inneren und äußeren Naturdeutlich verändert. Adorno denkt diesen statischen Zustand als„Kommunikation des Unterschiedenen", als „gestillter Drang, der es läßt,wie es ist" und als Zustand, in dem das „Viele ungefährdet und friedlichmiteinander existieren" könnte. Dagegen liegt das „universale Unrecht"der „verwalteten Welt" in der „Vertauschbarkeit und Substitution sel

ber". Der Kantische Begriff des ewigen Friedens kommt für Adorno dererfüllten Utopie am nächsten: „Friede ist der Stand eines Unterschiedenen

Adorno: Voraussetzungen. Aus Anlaß einer Lesung von Hans G. Helms, in: Adorno:NL, S. 444 (Hervorhebung von mir).Adorno: Zu Subjekt und Objekt, in: Adorno: St, S. 153; Adorno: Über Statik undDynamik als soziologische Kategorien, in: Adorno: SS I, S. 236; Adorno: Diskussionsbeitrag zu „Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?", in: Adorno: SS I, S. 587.

1 Adorno: MM, S. 94.

183

KAPITEL VII

ohne Herrschaft, in dem das Unterschiedene teilhat aneinander."Adornos utopische politische Vorstellung im engeren Sinne ist einZustand ohne Herrschaft: die An-archie. Während Herrschaft für ihnimmer mit Ungerechtigkeit und damit mit Leiden einhergeht, setzt dieEntfaltung der Lust einen politischen Zustand ohne Herrschaft voraus:„Der Gedanke an Glück ohne Macht ist unerträglich, weil es überhaupterst Glück wäre " Unerträglich ist dieser Gedanke natürlich nicht

DIE HEDONISTISCHE SOZIALUTOPIE

Unterschieden der Menschen gerecht und dürfte deshalb ihre „abstrakteGleichheit" „nicht einmal als Idee propagieren":

Liberalität, die unterschiedslos den Menschen ihr Recht widerfahren läßt,läuft auf Vernichtung hinaus wie der Wille der Majorität, die der MinoritätBöses zufügt und so der Demokratie Hohn spricht, nach deren Prinzip siehandelt [ ]Ungerechtigkeit ist dasMediumwirklicherGerechtigkeit

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erst Glück wäre." Unerträglich ist dieser Gedanke natürlich nichtAdorno, sondern der Gefolgschaft der Antisemiten aus den unterenKlassen, die ihre innere Natur krampfhaft beherrschen müssen. Adorno

hat auch konkrete Vorstellungen, wie die Anarchie organisatorischumzusetzen wäre: „In der Rätedemokratie müssen nicht alle Räder laufen:die Forderung selber impliziert die Furcht vor dem Arbeitslosen, der mitder kapitalistischen Ausbeutung verschwindet." Ob Adorno nicht eineäußerst idealisierte Vorstellung der Rätedemokratie hat, wenn er sie alsorganisatorische Umsetzung der Anarchie und damit der politischenGerechtigkeit begreift, mag hier dahingestellt bleiben. Daß Adorno diedirekte politische und wirtschaftliche Demokratie tatsächlich als utopischeOrganisationsform einer freien Gesellschaft begreift, belegt auch einePassage aus der Negativen Dialektik:

Mit der äußeren Repression verschwände, wahrscheinlich nach langen Fristen und unter der permanenten Drohung des Rückfalls, die innere. Kon-fundiert die philosophische Tradition, im Geist von Unterdrückung, Freiheit und Verantwortung, so ginge diese über in die angstlose, aktive Parti

 zipation jedes Einzelnen: in einem Ganzen, welches die Teilnahme nichtmehr institutionell verhärtet, worin sie aber reale Folgen hätte.

In einer gerechten gesellschaftlichen Organisation würden sich alleMitglieder am sozialen und politischen Leben beteiligen. Diese Partizipation würde für Adorno die aktive Verwirklichung ihrer Verantwortungdarstellen. Mit der Kritik an der institutionell verhärteten Partizipationgrenzt sich Adorno von den Formen der repräsentativen Demokratie,

insbesondere vom Parlamentarismus, ab, zu denen die Rätedemokratiebekanntlich im Gegensatz steht. Eine emanzipierte Gesellschaft würde den

Adorno: Zu Subjekt und Objekt, in: Adorno: St, S. 153 (Hervorhebung von mir);Adorno: MM, S. 208.Adorno/Horkheimer: DdA, S. 202.Adorno: Thesen über Bedürfnis, in: Adorno: SS I, S. 395.Adorno: ND, S. 261 (Hervorhebung von mir).

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handelt. [...]Ungerechtigkeit ist das Medium wirklicher Gerechtigkeit.

Da Adorno der Überzeugung ist, daß die Menschen verschieden sind,

führt ihre abstrakte Gleichbehandlung zu Ungleichheit und damit zuUngerechtigkeit. Um die Gerechtigkeit zu verwirklichen, müßten demzufolge die Menschen ungleich behandelt werden. Obwohl Adorno das nichtausdrücklich sagt, dürfte er damit den Gerechtigkeitsbegriff von Marxaufnehmen, der eine Abwandlung der Distributivgerechtigkeit vonAristoteles ist. So würde für Marx in einer „höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft" der „enge bürgerliche Rechtshorizont ganzüberschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder

507

nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!". DasPrinzip der Distributivgerechtigkeit lautet: Gleichen Gleiches und Ungleichen Ungleiches. Menschen mit ungleichen Bedürfnissen müßten in derrichtigen Gesellschaft demzufolge auch Ungleiches erhalten. Auf dieArbeit angewandt, die für Adorno in deutlichem Gegensatz zu Marx ineiner gerechten Gesellschaft natürlich nicht zum „ersten Lebensbedürfnis"würde, heißt das, daß Menschen mit ungleichen Fähigkeiten auchungleiche Arbeitsleistungen zu erbringen hätten.

Adornos politische Forderung lautet: „Es ist darauf hinzuarbeiten, daßso etwas wie Pluralität, eine Assoziation freier einzelner Menschen docheinmal möglich wird."508 Daß Adorno sich diese Arbeit nur mehr als den

Adorno: MM, S. 95 (Hervorhebung von mir); „Eine emanzipierte Gesellschaft jedochwäre kein Einheitsstaat, sondern die Verwirklichung des Allgemeinen in der Versöh

nung der Differenzen. Politik, der es darum im Ernst noch ginge, sollte deswegen dieabstrakte Gleichheit der Menschen nicht einmal als Idee propagieren. Sie sollte stattdessen auf die schlechte Gleichheit heute, die Identität der Film- mit den Waffeninteressenten deuten, den besseren Zustand aber denken als den, in dem man ohne Angstverschieden sein kann. Attestiert man dem Neger, er sei genau wie der Weiße, währender es doch nicht ist, so tut man ihm insgeheim schon wieder Unrecht an" (Ebenda, S.130f.).

07 Karl Marx: Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei, MEW, Bd. 19,Berlin 1987, S. 21; Aristoteles: Die Nikomachische Ethik, München 1991, S. 209ff.,1131 alOff.

508 Adorno: Diskussionsbeitrag zu „Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft", in:

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KAPITEL VII

Versuch vorstellen kann, die Selbstreflexion und eine um sich greifendeVeränderung des Bewußtseins und des Denkens auf den Weg zu bringen,erscheint am optimistischen Praxisbegriff des klassischen Marxismusgemessen natürlich als äußerst bescheiden. Denn die Folge davon ist, daßAdorno letztlich nicht mehr angeben kann, wie die Transformation desBestehenden in den utopischen Zustand gelingen könnte. Trotzdem kannAdorno zumindest die Möglichkeit einer Kritik des Bestehenden rechtfer

DIE HEDONISTISCHE SOZIALUTOPIE

setzt selber jene Steigerung der Produktivkräfte und damit eben jene Naturbeherrschung voraus, die nicht nur mit dem anti-stofflichen Prinzip aufstiefste verwachsen ist. Sie läßt überhaupt nur sich denken, indem den Menschen, die doch mit der äußeren Natur auch ihr Inneres beherrschen lernensollen, immerzu Versagungen zugemutet werden. Die Konzeption einesZustandes ohne Versagung, die Entfesselung der Produktivkräfte, die Abschaffung der Not, also jenes utopische Moment der schrankenlosen Erfül

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Adorno zumindest die Möglichkeit einer Kritik des Bestehenden rechtfertigen, da ihm im utopischen Moment der Begriffe und in der Utopie einMaßstab und ein positiver Bezugspunkt außerhalb des unterstellten

universalen Verblendungszusammenhangs der „verwalteten Welt"verbleibt.

Adornos Abwendung von der politischen Praxis ist nicht nur darin begründet, daß er in der bestehenden Gesellschaft keine über sie hinausdrängenden erfolgversprechenden Kräfte der Veränderung mehr wahrnimmt, an die die kritische Theorie anknüpfen könnte. Wie ChristophTürcke in seinem Aufsatz Praxisverzicht und Praxisverweigerung zeigt,erklärt sich seine Abneigung gegen politische Praxis auch durch dieGewalt und das Unrecht, mit dem diese selbst „bei optimalem Verlauf einherginge. Dementsprechend äußert Adorno 1969 in einem Spiegel-Gespräch, daß er sich „sinnvolle verändernde Praxis nur als gewaltlosePraxis vorstellen" kann.5 Adornos durchgängige Kritik und Ablehnungvon Gewalt erweist auch die in den 70er Jahren von dem hessischen CDU-Vorsitzenden Dregger, dem damaligen baden-württembergischen CDU-Ministerpräsidenten Filbinger und dem von Filbinger berufenen Sozialphilosophen Rohrmoser erhobenen Vorwürfe, die Frankfurter Schule seieine Ursache des bundesdeutschen Terrorismus, als haltlos. ÄhnlicheVorwürfe erhoben in den 70er Jahren auch „sich als Aufklärer und liberaleDemokraten verstehende Wissenschaftler wie Ernst Topisch und KurtSonthei mer". In einer Vorlesung , die er 1963 gehalten hat, formuliertAdorno den Grundwiderspruch der Zivilisation und sein Plädoyer fürSelbstreflexion und Besinnung in eingängiger Weise:

Der Gedanke, daß kein Mangel sein soll, daß niemand mehr in der Welthungern soll, also der Gedanke der Erfüllung, der Abschaffung der Not,

Adorno: SS I, S. 586.Christoph Türcke: Praxis und Praxisverweigerung nach Adorno, in: Frithjof Hager;Hermann Pfütze (Hrsg.): Das unerhörte Moderne, Lüneburg 1990, S. 48-62, 56f;„Keine Angst vor dem Elfenbeinturm. Spiegel-Gespräch mit dem SozialphilosophenProfessor Theodor W. Adorno", Der Spiegel, Nr. 19, 1969, S. 206.

510 Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule, a.a.O., S. 727f.

18 6

lung setzt seinem eigenen Sinn nach, um überhaupt möglich zu sein, ebendie Einschränkung, die Askese, ein bestimmtes Moment von Repression,von Unterdrückung voraus. Daran können sie sehen, daß Dialektik nicht

eine Sache ist, die so ein paar verstiegene Leute in ihrem Kopf haben.Ich möchte doch einmal sagen, daß ich glaube, daß eigentlich die Geschichte der Menschheit daran sich entscheidet, ob es ihr gelingen wird,aus dieser furchtbaren Verstrickung herauszukommen: Was das Anderemeint und ins Andere führen soll, um sich zu verwirklichen, entwickelt selber das Prinzip in sich, gegen das es sich wendet; dadurch steht es stets inGefahr, eben wieder in den Mythos zurückzufallen. Ich maße mir wahrhaftig nicht an, darauf zu antworten; aber ich glaube, wenn man überhaupternsthaft heute darauf denkt, wie man aus dem Unheil herauskommt,müßte man eigentlich über dieses Problem, das ich Ihnen hier wenigstensangedeutet habe, einmal aufs allerernsteste nachdenken - erst einmal nach-

. . 511denken, und nicht sofort sagen: Es wird gemacht, irgendwie.

511 Adorno: PhT, Bd. 2, S. 188 (Hervorhebung von mir).

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KAPITEL VII

den Anfang der 80er Jahre konstatiert Helga Gripp sogar die Vorherrschaft des theologischen Deutungsmusters, das sie auf den Begriff bringt:„Adornos Denken im Kern erfassen zu wollen, muß heißen, ihn austheologischer Sicht, im weitesten Sinne verstanden, zu interpretieren." 522

Wieder andere Interpreten - etwa Rene Buchholz - nehmen eine Vermittlungsposition ein: „Ob diese Erlösung, an welche Adorno denkt, eine vonGott eröffnete Wirklichkeit ist oder eine bloß regulative Idee endlicher

DIE HEDONISTISCHE SOZIALUTOPIE

„Auferstehung des Fleisches" säkularisiert die Emanzipation der innerenNatur und damit den „gestillten leibhaften Drang". ' Säkularisierte„Erlösung" heißt negativ die Abschaffung von Unrecht und Leiden sowiepositiv die Verwirklichung von Gerechtigkeit und Glück. Das materialistisch säkularisierte Bilderverbot kommt dem Verbot gleich, die Utopiepositiv auszumalen. Der Begriff der „Versöhnung" und des „richtigenoder messianischen Zustands" bezeichnet säkularisiert das Ziel der

hi htli h i kli h d Ut i Di Id d V öh

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Praxis, bleibt bei ihm ausdrücklich in der Schwebe." Gegen diebehauptete Ausdrücklichkeit steht aber folgendes Zitat von Adorno: „Wird

Fortschritt gleichgesetzt der Erlösung als dem transzendenten Eingriff schlechthin, so büßt er, mit der Zeitdimension, jede faßliche Bedeutungein und verflüchtigt sich in geschichtslose Theologie."

Wie die oben angeführten Positionen zeigen, bewirkt die Schwierigkeit,die theologischen Motive in Adornos Schriften angemessen zu interpretieren, eine extreme Polarisierung der Standpunkte in der Forschungsliteratur. Die Hauptursache dieser Schwierigkeit dürfte darin zu finden sein,daß die theologischen Motive im Werk Adornos immer eine klassischtheologische und eine materialistische Lesart erlauben. So bedeutet die

Horkheimer: Gesammelte Schriften, Bd. 7, Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973,Frankfurt am Main 1985, S. 385-404, S. 398); Hella Theill-Wunder: Die archaischeVerborgenheit. Die philosophischen Wurzeln der negativen Theologie, München 1970.Helga Gripp: Theodor W. Adorno, a.a.O., S. 9; Nach der Zusammenfassung derAdornokritik von Michael Theunissen und Koch/Kodalle fährt Helga Gripp resümierend fort: „Die mehr oder weniger pointiert artikulierten Kritiken ließen sich fortsetzen.In jeweils unterschiedlicher Betonung treffen sie sich in einem Punkt: Dialektik alsnegative, und das heißt eine Dialektik, die von Hegel ausgeht und Hegel zu überwindenzum Ziel hat, verstrickt sich notwendigerweise in Aporien, aus denen rationales Denkennicht herauszuführen vermag. Um dem Dilemma zu entgehen, so die Kritiker, rekurriertdie negative Dialektik auf eine allein noch eschatologisch zu begründende Hoffnung auf das ganz ,Andere'. Bezogen auf dieses Interpretationsmuster konstatiert Bolz dann auchfolgerichtig, daß nur ,eine Lektüre, die durchs Nadelöhr des Theologischen' hindurchgehe, die Gehalte der Kritischen Theorie neu und angemessen zu rezipieren vermöchte"(Ebenda, S. 12).

Rene Buchholz: Zwischen Mythos und Bilderverbot. Die Philosophie Adornos alsAnstoß zu einer kritischen Fundamentaltheologie im Kontext der späten Moderne,Frankfurt am Main 1991, S. 297. Für die von Buchholz zuletzt genannte Deutungsvariante plädiert auch Schweppenhäuser: „So bleibt gelingende Praxis als Versöhnunggleichsam regulative Idee, beständiges Korrektiv der Praxis, die den Menschen möglichist" (Gerhard Schweppenhäuser: Ethik nach Auschwitz, a.a.O., S. 53. Schweppenhäuserbezieht sich mit seiner Interpretation auf Christoph Türcke (Christoph Türcke: Praxisund Praxisverweigerung nach Adorno, in: Frithjof Hager; Hermann Pfütze (Hrsg.),a.a.O., S.50-53).Adorno: Fortschritt, in: Adorno: St, S. 33.

190

geschichtlich zu verwirklichenden Utopie: „Die Idee der Versöhnungselbst, das nach dem Maß des Endlichen transzendente Telos allenFortschritts, ist nicht herauszubrechen aus dem immanenten Prozeß von

Aufklärung."Säkularisiert Adorno also nur die in der jüdisch-christlichen Tradition

tief verwurzelten und positiv besetzten theologischen Begriffe und wendetsie materialistisch? Ist sein Vorbild Marx' Ansatz der Umstülpungidealistischer Denkstrukturen, den Adorno aufnimmt und auf theologischeGehalte ausweitet? So äußert Marx etwa über Hegels Dialektik: „Sie stehtbei ihm auf dem Kopf. Man muß sie umstülpen, um den rationellen Kern

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in der mystischen Hülle zu entdecken." Dementsprechend ließe sich diehedonistische Sozialutopie als der für Adorno rationale Kern der theologischen Hoffnungen auf „Versöhnung" und „Erlösung" deuten. Analogdazu sieht auch Herbert Schnädelbach in der von Adorno angestrebten

„hedonistischen Utopie vollständiger Triebbefriedigung" den materialistischen „Gehalt der Ideen der Versöhnung und Erlösung". Einederartige Deutung von Adornos Intentionen läßt sich - neben den auf denvorangehenden Seiten bereits zitierten Belegstellen - auch durch eineReihe von Argumenten stützen. So verleiht sie Adornos Äußerungengegenüber Benjamin, er intendiere eine „inverse Theologie", einen derBedeutung des Wortes „invers" gemäßen Sinn. Denn „Inversion" heißtnichts anderes als „Umkehrung" und folglich auch „Umstülpung". ImFalle der theologischen Hoffnungen von Jahrtausenden hieße das, ihr Zielaus der hinterweltlichen Transzendenz in die Immanenz hineinzuholenund ihre Erfüllung nicht von einer göttlichen Stiftung, sondern aus-

I? Adorno: ND, S. 207, 393 (Hervorhebung von mir).

Ebenda, S. 346; Adorno: Fortschritt, in: Adorno: St, S. 35.527

Adorno: ND, S. 207.528

Adorno: Fortschritt, in: Adorno: St, S. 34.529

Karl Marx: Das Kapital, a.a.O., S. 27; Wie im Verlauf dieser Untersuchung bereits anmehreren Stelle deutlich geworden sein dürfte, führt Adorno das marxsche Projekt einermaterialistischen Umwendung Hegels in mehrfacher Beziehung fort.

530 Herbert Schnädelbach: Dialektik als Vernunftkritik, a.a.O., S. 91.

191

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KAPITEL VII

lung."540 Während Buchholz aus Adornos Äußerungen schließt, daß dasZiel der durch menschliche Praxis geschichtlich zu verwirklichenden Utopie nicht das einzige und das letzte Ziel sein kann, löst sich für Theunissender Anspruch dieser Utopie gänzlich auf.

Zunächst gilt es festzuhalten, daß grundsätzlich sowohl Hoffnung auf Widerrufung vergangenen Leids als auch auf Gerechtigkeit gegenüber denToten ohne ein überweltliches, absolutes oder transzendentes Prinzip nichtd kb i t Di Th i k iti i t T t i t j d h

DIE HEDONISTISCHE SOZIALUTOPIE

die hedonistische Sozialutopie - nicht, wie Theunissen unterstellt, inEschatologie zurücknimmt. Analog dazu ist auch die mit Kants Idee derUnsterblichkeit verwandte theologische Idee eines Weltzustandes, in demauch vergangenes Leid abgeschafft werden könnte, nicht AdornosBezugspunkt der Kritik. Diese Idee, die die Hoffnungen der Theologieverkörpert, ist für Adorno wie die Kantische die zwangsläufige Folge derphysischen Negation des Leidens, die das Denken motiviert, über alleMö li hk i d h di d d kö fl k i Di

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denkbar ist. Die von Theunissen kritisierte Textpassage ist jedoch ausihrem Kontext entnommen. Sie bezieht sich auf Kants metaphysische Ideeder Unsterblichkeit, die Kant als Postulat der praktischen Vernunftbegreift und die mit der metaphysischen Idee Gottes zusammenhängt.Adorno findet bei Kant eine ihm verwandte Intention. Denn er hebthervor, daß Kant trotz seiner Destruktion der Metaphysik und trotz seinerKritik am ontologischen Gottesbeweis - die Adorno teilt - diese nichteinfach verwirft, sondern zugleich durch das Postulat der Unsterblichkeitzu erretten versucht. Die Idee der Unsterblichkeit versteht Adornozugleich als Kritik der „Unerträglichkeit des Bestehenden" und als dieVerkörperung von Hoffnung, die es möglich macht, dem Unerträglichenund damit der Verzweiflung zu widerstehen. Hoffnung, die für Adornowie alle theologischen Gehalte säkularisiert werden muß, ist für ihn wedereine freudige Zuversicht noch eine feste Erwartung: „Am Ende ist

Hoffnung, wie sie der Wirklichkeit sich entringt, indem sie diese negiert,die einzige Gestalt, in der Wahrheit erscheint."5 Da für Adorno dasnahezu total integrierte Ganze das Unwahre ist, „der absolute Gegensatzzur Gerechtigkeit", überlebt nur im ,Anderen' und der Hoffnung auf dieses die Wahrheit. Die Idee der Unsterblichkeit ist aber nicht AdornosInstanz der Kritik des Bestehenden, sondern - zumindest nach seinerInterpretation - die von Kant. Als Gestalt von Kritik des Bestehenden undHoffnung auf Veränderung ist die Idee der Unsterblichkeit - Kants,Anderes' - für Adorno aber grundsätzlich zu bejahen. Das macht deutlich,daß Adorno seinen positiven Bezugspunkt der Kritik - die Hoffnung auf 

Adorno: ND, S. 378; Michael Theunissen: Negativität bei Adorno, in: Ludwig vonFriedeburg; Jürgen Habermas (Hrsg.): Adorno-Konferenz 1983, a.a.O., S. 41-65, 59.

541 Adorno: ND, S. 394.

Adorno: MM, S. 123. Der Aphorismus, aus dem die oben zitierte Stelle entnommen ist,beginnt: „Nietzsche hat im Antichrist das stärkste Argument nicht bloß gegen dieTheologie, sondern auch gegen die Metaphysik ausgesprochen: daß Hoffnung mitWahrheit verwechselt werde; daß die Unmöglichkeit, ohne ein Absolutes zu denken,glücklich zu leben oder überhaupt nur zu leben, nicht für die Legitimität jenes Gedankens zeuge" (Ebenda, S. 122).

543 Adorno: DSH, S. 35; „Das Ganze ist das Unwahre" (Adorno: MM, S. 57).

19 6

Möglichkeiten, durch die es anders werden könnte zu reflektieren. DieseReflexionen führen auch zwangsläufig, sofern sich das Denken nichtGewalt antut und sie abbricht, zu der Idee eines anderen und besserenWeltzustandes. Insofern spricht Adorno von der „Konvergenz allerGedanken im Begriff von etwas, das anders wäre als das unsäglicheSeiende, die Welt".544 Hier zeigt sich, daß Adorno alle geschichtlichenGestalten der Kritik des Bestehenden und der Hoffnung auf einen besserenZustand aus der Tradition aufnimmt und zu retten versucht. Zudem wirddeutlich, daß theologische Erlösungshoffnungen nicht notwendig auch dasZiel von Adorno sein müssen.

Mittlerweile dürfte Adornos Motiv, theologische Gehalte aufzunehmenund seiner Philosophie kritisch anzuverwandeln, in den ersten Umrissenerkennbar geworden sein. Adorno setzt frühestens seit den 30er Jahrenkeine Hoffnungen mehr auf den Klassenkampf und sieht sich genötigt, die

mit ihm einhergehenden Begriffe der Revolutionstheorie und der Verelendungstheorie von Marx zu verabschieden. Die Folge davon ist diezunehmende Integration von Freud und Nietzsche in die eigene Theorie.Nietzsche habe er nach eigenem Bekunden schon „als Junge angefangen" zu lesen. Zudem wird Adorno durch seine Assistentenstelle beiPaul Tillich und seine Freundschaft mit Walter Benjamin, der wiederumvon seinem Freund Gershom Scholem beeinflußt ist, mit verschiedenentheologischen Gehalten konfrontiert. Wie Rolf Wiggershaus darlegt,versuchte Adorno bereits in seiner Habilitationsschrift, KirkegaardsPhilosophie, „die er als eine Spätform idealistischen Denkens einstufte, zuden Konturen einer materialistisch-theologischen Theorie zu sollen

den" '. Wiggershaus berichtet weiter:

,Ich bin', meinte Adorno nach Beendigung der Arbeit in einem Brief an

Kracauer, ,tiefer in theologische Kategorien gekommen, als ich es ge

Adorno: ND, S. 395.Adorno: PhT, Bd. 2, S. 162.Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule, a.a.O., S. 109.

197

r

KAPITEL VII

wünscht hatte und habe Angst, daß ich bei der Rettung und vor allem na

türlich Versöhnung zu viel gewiehert habe.' (Adorno-Kracauer, 6. 8. 30)

[...] Als Versuch einer historisch-materialistischen Konkretisierung theo

logischer Motive zeichnete sich hier zum erstenmal jene Konzeption ab,

die für Adorno zentral wurde: die Vorstellung, daß die Gesellschaft den

blinden Naturzwang so weitgehend in sich selbst verlegt habe, daß es nur

noch ihrer Selbstbesinnung bedürfe, um des Naturzwangs ledig zu wer-

DIE HEDONISTISCHE SOZIALUTOPIE

besinnung einen gesellschaftlichen Bewußtseinswandel in Gang zubringen, verwirklicht er jedenfalls auch dadurch, an Stelle der Begriffe derRevolutionstheorie und der Verelendungstheorie theologische Begrifflichkeiten zu setzen. Damit nimmt er die in der abendländischen Tradition tief verwurzelten und positiv besetzten theologischen Gehalte in den Dienstseiner materialistischen und utopisch hedonistischen Philosophie undseiner Hoffnungen auf eine Veränderung des Bestehenden. Denn in dentheologischen Gehalten findet Adorno sowohl eine Jahrtausende alte

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Diese Konzeption der Selbstbesinnung, von der das „Eingedenken derNatur im Subjekt" ein zentraler Bestandteil ist, kann hier nicht eingehenduntersucht werden. Die von Adorno verfolgte Strategie, durch Selbst-

Ebenda, S. 110.

„Während jedoch die reale Geschichte aus dem realen Leiden gewoben ist, daskeineswegs proportional mit dem Anwachsen der Mittel zu seiner Abschaffung geringerwird, ist die Erfüllung der Perspektive auf den Begriff angewiesen. Denn er distanziertnicht bloß, als Wissenschaft, die Menschen von der Natur, sondern als Selbstbesinnungeben des Denkens, das in der Form der Wissenschaft an die blinde ökonomischeTendenz gefesselt bleibt, läßt er die das Unrecht verewigende Distanz ermessen. Durchsolches Eingedenken der Natur im Subjekt, in dessen Vollzug die verkannte Wahrheitder Kultur beschlossen liegt, ist Aufklärung der Herrschaft überhaupt entgegengesetzt"

(Adorno/Horkheimer: DdA, S. 63f.). Das „Eingedenken der Natur im Subjekt" wirdnicht - wie Habermas meint - „beinahe magisch beschworen", sondern ist das Ergebnisder ethischen Selbstbesinnung über die durch das Unrecht der Klassenherrschaft undder Triebrepression unterdrückte, deformierte und leidende innere Natur (JürgenHabermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, a.a.O., S. 145). Die Selbstbesinnung versucht die Kontinuität der Verkennung und Verdrängung der zivilisatorischenUrsachen des Leidens zu durchbrechen, was mit der Hoffnung auf eine Veränderungdes Bewußtseins der Menschen, denen sie erinnernd vor Augen geführt werden, einhergeht: „Der herrschenden Praxis und ihren unentrinnbaren Alternativen ist nicht dieNatur gefährlich, mit der sie vielmehr zusammenfällt, sondern daß Natur erinnert wird"(Adorno/Horkheimer: DdA, S. 287, vgl. 200). Die Konzeption einer ethisch motiviertenSelbstbesinnung sowie die gesamte Dialektik der Aufldärung läßt sich auch als Verwirklichung einer Psychoanalyse der Kultur ^greifen, die bereits von Freud am Endeseiner Schrift Das Unbehagen in der Kultur  erwogen wird (Sigmund Freud, a.a.O., S.127). Das „Eingedenken der Natur im Subjekt" hat noch eine andere Bedeutung. Diesebesteht in Horkheimers und Adornos Postulat der „Selbsterkenntnis des Geistes als mitsich entzweiter Natur" (Adorno/Horkheimer: DdA, S. 63). Dieses Postulat stellt diematerialistische Umwendung Hegels dar, der in seiner idealistischen Hybris die Naturals den mit sich entzweiten Geist denkt (Gunzelin Schmid Noerr: Das Eingedenken derNatur im Subjekt. Zur Dialektik von Vernunft und Natur in der Kritischen TheorieHorkheimers, Adornos und Marcuses, Darmstadt 1990, S. 25). Indem die vorherrschende Vernunft sich als vergeistigte und entzweite Natur erkennt, so die Hoffnungvon Horkheimer und Adorno, erkennt sie ihre geschichtliche Beschränkung auf einsubjektives Herrschaftsinstrument, erschrickt und erzittert vor sich selbst, und übersteigtsich durch die Emanzipation von der Herrschaft zur „Übernatur" und zu einem

198

theologischen Gehalten findet Adorno sowohl eine Jahrtausende alteKritik des Bestehenden und des von ihm erzeugten Leidens als auch dieHoffnung auf dessen Veränderung und Abschaffung. Mit diesem Gedanken knüpft Adorno auch partiell an Marx an, der sich wiederum auf Feuerbachs Religionskritik bezieht. So äußert Marx: „Das religiöse Elendist in einem der Ausdruck  des wirklichen Elends und in einem dieProtestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer derbedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geistgeistloser Zustände ist". Im Gegensatz zu Marx distanziert sich Adorno

 jedoch von der „Kritik der Waffen" und setzt aus den untersuchtenGründen allein auf die gewaltlose „Waffe der Kritik", die eine Veränderung des Bewußtseins der Menschen anstrebt. Marx Strategie bestehtdarin, die Menschen durch die Kritik der Religion zu ent-täuschen, um siezu revolutionärer Praxis zu motivieren: „Die Kritik der Religion ent

täuscht den Menschen, damit er denke, handle, seine Wirklichkeit gestaltewie ein enttäuschter, zu Verstand gekommener Mensch". Adornos

„Instrument der Versöhnung" (Adorno: ND, S. 285, Max Horkheimer: Zur Kritik derinstrumenteilen Vernunft, a.a.O., S. 165, vgl. Kapitel VIII).

In diesem Sinne läßt sich auch die zweideutige und kontrovers diskutierte erstegeschichtsphilosophische These Walter Benjamins auslegen. Ob, und wenn ja inwieweit, sich bei Benjamin eine ähnliche Strategie aufweisen läßt, kann hier nicht untersucht werden: „Bekanntlich soll es einen Automaten gegeben haben, der so konstruiertgewesen sei, daß er jeden Zug eines Schachspielers mit einem Gegenzuge erwiderthabe, der ihm den Gewinn der Partie sicherte. Eine Puppe in türkischer Tracht, eineWasserpfeife im Munde, saß vor dem Brett, das auf einem geräumigen Tisch aufruhte.Durch ein System von Spiegeln wurde die Illusion geweckt, dieser Tisch sei von allen

Seiten durchsichtig. In Wahrheit saß ein buckliger Zwerg darin, der ein Meister imSchachspiel war und die Hand der Puppe an Schnüren lenkte. Zu dieser Apparatur kannman sich ein Gegenstück in der Philosophie vorstellen. Gewinnen soll immer diePuppe, die man historischen Materialismus' nennt. Sie kann es ohne weiteres mit jedemaufnehmen, wenn sie die Theologie in ihren Dienst nimmt, die heute bekanntlich kleinund häßlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen (Walter Benjamin: Zur Kritikder Gewalt und andere Aufsätze, Frankfurt am Main 1965, S. 78).

0 Karl Marx: Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, in: MEW, Bd. 1, Berlin 1961,S. 378.

' Ebenda, S. 379, 385.

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KAPITEL VIII

Philosophie in den Bereich der theoretischen Philosophie verlagern unddaß das positive Resultat von Adornos Kritik des vorherrschendenwissenschaftlichen und philosophischen Denkens die „Moral des Denkens" darstellt. Diese kann verkürzt durch ihre drei wichtigsten Postulatecharakterisiert werden: das Postulat des Vorrangs des Objekts und derQualität, das Postulat des Vermögens zur Erfahrung des Objekts und dasPostulat der Emanzipation des Denkens von der Herrschaft und derGewalt Adornos Moral des Denkens kommt aber dem von ihm und

„DIE SELBSTKRITIK DER VERNUNFT"

sind, wieder an die Gegenstände heran, die es sich unterwerfen undeinverleiben will. Dem Subjekt gelingt es aber nicht, die Individualitätund Eigentümlichkeit der Gegenstände im Begreifen voll zu erfassen.Denn die Qualitäten der besonderen Gegenstände können in ihrenallgemeinen Gattungsbegiffen nicht enthalten sein. Die Konsequenz ist,daß die Begriffe die ihnen unterworfenen Gegenstände im Begreifenletztlich verfehlen und in sich befangen bleiben. Die traditionell vomphilosophischen Denken angestrebte und beanspruchte Identität von

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Gewalt. Adornos Moral des Denkens kommt aber dem von ihm undHorkheimer geforderten positiven Vernunftbegriff noch nicht gleich,sondern stellt nur einen Schritt zur Überwindung des vorherrschendenDenkens dar.

1. Die Kritik der identifizierenden Vernunft

In der Negativen Dialektik avanciert die traditionelle Philosophie - insbesondere der Deutsche Idealismus und Heidegger - zum Hauptgegenstandvon Adornos Vernunftkritik: „Philosophie erheischt heute wie zu KantsZeiten Kritik der Vernunft durch diese, nicht deren Verbannung oderAbschaffung."556 Adorno beabsichtigt, dem Willen des vorherrschendenphilosophischen Denkens, seinen Gegenstand restlos zu begreifen, einenMachtanspruch nachzuweisen. Damit schreibt er die Geschichte der Herrschaft im Hinblick auf die Philosophie. Wie in der Dialektik der Aufklärung sieht Adorno in der Negativen Dialektik den Ursprung der Vernunftprimär im Verlangen des selbsterhaltenden Subjekts, die Natur zubeherrschen: „In Wahrheit gehen alle Begriffe, auch die philosophischen,auf Nichtbegriffliches, weil sie ihrerseits Momente der Realität sind, diezu ihrer Bildung - primär zu Zwecken der Naturbeherrschung - nötigt."Die Herrschaft über die Natur reproduziert sich bis ins philosophischeDenken hinein und spiegelt sich dor\ wider.

Das Ziel traditionellen philosophischen Denkens ist die Identität vonBegriff und Gegenstand: „Denken heißt identifizieren."558 In den identifizierenden Urteilen bringt das denkende Subjekt seine allgemeinenBegriffe, die durch Abstraktion von besonderen Gegenständen entstanden

Ebenda, S. 92.

Ebenda, S. 23, 16, 69f., 104f.

Ebenda, S. 17.

202

philosophischen Denken angestrebte und beanspruchte Identität vonBegriff und Gegenstand erweist sich für Adorno als Nichtidentität.Weitere Folgen der Abstraktionen des Identitätsdenkens sind, daß dasbegreifende Subjekt den Gegenständen Gewalt antut und mit „bitteremOpfer an der qualitativen Mannigfaltigkeit der Erfahrung zu zahlen"hat. Das sind die Kernpunkte von Adornos Kritik der „Identität, die alsgeistiges Prinzip nur Widerschein der realen Naturbeherrschung ist."

Wie läßt sich das Herrschafts- und Gewaltmoment des Begriffs genauerbestimmen? Wie in der Dialektik der Aufklärung läßt sich in der Negativen Dialektik  ein primär instrumentelles Verständnis des Begriffsaufweisen. Das bedeutet, daß der Begriff von Adorno nicht an sich mitHerrschaft gleichgesetzt wird, sondern als Mittel und Instrument derHerrschaft des denkenden Selbsts aufgefaßt wird. Begriffe sind für ihn„Instrumente menschlichen Denkens". 61 Problematischer ist die Bestim

mung des Gewaltmoments des Begriffs gegenüber seinem Gegenstand.Zunächst läßt sich festhalten, daß zwischen allgemeinem Begriff undbesonderem Gegenstand eine Differenz besteht. Liegt für Adorno in demMoment der Differenz schon ein Moment von Gewalt? Ist es überhauptgerechtfertigt, hier von einem Gewaltverhältnis zu sprechen, da derBegriff traditionell doch nur das Allgemeine am Besonderen zu begreifenbeabsichtigt? In der Negativen Dialektik  spricht Adorno von der„Gewalttat des Gleichmachens", von der „Gewalttätigkeit losgelassenerQuantifizierung" und davon, daß „das Denken dem, woran es seineSynthesen übt, Gewalt antut".562 Da die Allgemeinbegriffe durch dieAbstraktion von gleichen Merkmalen verschiedener besonderer Gegen

stände gewonnen werden, muß die Vernunft auch die Fähigkeit haben,gleiche von ungleichen Gegenständen zu unterscheiden: „Ohne sie wäredie synthetische Funktion des Denkens, abstraktive Vereinheitlichung,

Ebenda, S. 18, 149,58, 127.

Ebenda, S. 266.

Ebenda, S. 94, 23, 58, 148.

Ebenda, S. 146,53,30.

203

KAPITEL VIII

nicht möglich. Gleiches zusammennehmen heißt notwendig, es vonUngleichem zu sondern." Sowohl im quantifizierenden Denken derneuzeitlichen Wissenschaften als auch im begrifflichen Denken ist dasUngleiche die Qualität der verschiedenen besonderen Gegenständen.Diese werden durch die Zahl gleichgesetzt und meßbar und durch dieAllgemeinbegriffe, die Adorno als „geronnene Synthesen" auffaßt,vergleichbar und identifizierbar.

Bereits in der Dialektik der Aufklärung findet sich eine Stelle, die zur

„DIE SELBSTKRITIK DER VERNUNFT

nicht gelingen, wenn die verschiedenen besonderen und individuellenGegenstände nicht Merkmale aufwiesen, die ihnen gemeinsam sind. Zwarteilt Adorno Nietzsches Kritik an der „Metaphysik des Bleibenden", dienur das Unveränderliche und Konstante - etwa Piatons Ideen oder dasDing gegenüber den Erscheinungen - als das Wahre ansieht. Für Adornozieht Nietzsche aus seiner Kritik der „Metaphysik des Bleibenden" denSchluß, daß die Wirklichkeit chaotisch ist und im ständigen Wandel undder permanenten Veränderung ihr Wesen hat. Adorno hält diesen Schluß

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Bereits in der Dialektik der Aufklärung findet sich eine Stelle, die zurBeantwortung der oben aufgeworfenen Fragen beiträgt: „Das vergegenständlichende Denken enthält wie das kranke die Willkür des der Sachefremden subjektiven Zwecks, es vergißt die Sache und tut ihr eben damitschon die Gewalt an, die ihr später in der Praxis geschieht." Das Gewaltmoment wird hier im Vergessen des Besonderen und Individuellendes Gegenstands festgemacht. In der Negativen Dialektik heißt es zudem,daß das Besondere und Individuelle vom Begriff ausgeschieden, abgeschnitten, zugerüstet, unterdrückt, mißachtet und weggeworfen wird.Da die Bedingung der Bildung von Begriffen das Gleichmachen desUngleichen von verschiedenen Gegenständen ist, gehen diese Akte fürAdorno zwangsläufig mit ihrer Bildung einher. In ihnen läßt sich sowohlGewaltsamkeit als auch Unrecht aufweisen, da sie dem Besonderen nichtgerecht werden. Das Denken ist für Adorno primär als Werkzeug und

Mittel der Naturbeherrschung des Subjekts entstanden. Sein Materialrichtet es zu „wie die Arbeit ihren Rohstoff'. 567 Das Individuelle undBesondere der Gegenstände kann gleichsam als ausgeschiedenes Abfallprodukt aufgefaßt werden, das bei der Begriffsbildung anfällt. Letztlichleitet Adorno das Gewaltmoment des Begriffs aus dem Herrschafts- undSelbstbehauptungsstreben des denkenden Subjekts gegenüber der Naturbzw. dem Objekt ab.

Adorno verortet das Gewaltmoment im Prozeß der Begriffsbildung unddarin im Akt des abstrahierenden Gleichmachens und Synthetisierens vonindividuellen und verschiedenen Gegenständen. Insofern liegt im Momentder Differenz selber kein Gewa^moment, da die Differenz von Begriff und Gegenstand erst nach der Bildung des Begriffs konstatiert werdenkann. Zu diesem Zeitpunkt lassen sich für Adorno die Gewaltakte zwarnoch erkennen, sind aber bereits erfolgt. Die Begriffsbildung könnte aber

Ebenda, S. 53.

Ebenda, S. 160.

Adorno/Horkheimer: DdA, S. 223.Adorno: ND, S. 20f.Adorno: DSH, S. 26; Adorno: ND, S. 30.

204

p gaber für widersprüchlich und weist ihn mit einem überzeugenden Argument zurück:

Das Feste dem Chaotischen entgegenzusetzen und Natur zu beherrschen,wäre nie gelungen ohne ein Moment des Festen an dem Beherrschten, dassonst ohne Unterlaß das Subjekt Lügen strafte. Jenes Moment skeptischganz abzustreiten und es einzig im Subjekt zu lokalisieren ist nicht minderdessen Hybris, als wenn es die Schemata begrifflicher Ordnung verabsolu-tiert.

Zurecht wendet Adorno gegen Nietzsche ein, daß weder die Bildung festerund invarianter Begriffe gelingen könnte noch die Allgemeinbegriffeerfolgreich zum Zweck der Naturbeherrschung auf die Wirklichkeit ange

wendet werden könnten, wenn die Wirklichkeit ein sich permanent veränderndes Chaos wäre. Bedingung der Möglichkeit der Begriffsbildung undder Naturbeherrschung sind gewisse Regelmäßigkeiten und sich durchhaltende Züge an der Wirklichkeit, die Adorno vorsichtig als „ein Momentdes Festen" bezeichnet. Dieses Moment begreift Adorno aber nicht alsetwas Konstantes und Unveränderliches. Die Wirklichkeit bekommt ihreOrdnung weder allein von der festen Begrifflichkeit des Subjekts auferlegtnoch entspricht die Ordnung der Begriffe einer unveränderlichen Ordnungder Wirklichkeit: „Die Invarianz des Begriffs, die nicht wäre ohne dasAbsehen von der zeitlichen Bestimmtheit des unter jenem Befaßten, wirdverwechselt mit der Unveränderlichkeit des Seins an sich." Hier

zeichnet sich bereits ab, wie Adorno das „Moment des Festen" und damitdie allgemeinen Bestimmungen der Gegenstände denkt, die die Begriffsbildung ermöglichen. Vieles spricht dafür, daß Adorno eine Variante des

Adorno: ZME, S. 27; Auch in der Negativen Dialektik spricht Adorno von der „Spur derBestimmtheit der Objekte an sich" und davon, daß das Denken „Halt am Nichtidentischen" hat (Adorno: ND, S. 36, 182).

569 Adorno: ZME, S. 25.

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KAPITEL VIII

Adorno als hybrider Machtanspruch des Subjekts, das sich vermessen denPrimat zuspricht, zurückgewiesen. Bereits in der Vorrede der Negativen

 Dialektik  begreift es Adorno „als seine Aufgabe, mit der Kraft desSubjekts den Trug konstitutiver Subjektivität zu durchbrechen", was sichselbstverständlich auch gegen Kants Konstitution der Welt durch dastranszendentale Subjekt richtet.

In der Negativen Dialektik  gelingt Adorno eine immanente Kritik desvorherrschenden Identitätsdenkens. Er kann ihm nämlich vorhalten, daß es

„DIE SELBSTKRITIK DER VERNUNFT"

der Systemphilosophie - der Systeme Kants, Fichtes und Hegels - gegenüber ihrem Objekt zu erklären, verortet Adorno ihre „Urgeschichte imVorgeistigen, dem animalischen Leben der Gattung." Damit das seinerSelbsterhaltung folgende Raubtier den Sprung auf sein Opfer wagt, das esfressen will, bedarf es neben seines Hungers des zusätzlichen Impulses derWut auf sein Opfer. Beim Fortschritt zur Humanität wird diese Wut zurProjektion, daß das Opfer böse sei, rationalisiert:

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seinen eigenen Anspruch, den der Identität und Entsprechung von Begriff und Gegenstand, von Subjekt und Objekt, nicht einlösen kann und deshalb

zu seinen eigenen Prämissen in Widerspruch gerät. Als Folge seiner Kritikam Identitätsdenken verabschiedet Adorno den traditionellen Wahrheitsbegriff der Philosophie, der Wahrheit als „adaequatio rerum et intellectus"bestimmt. Was vom Gegenstand im Begriff nicht aufgeht, bezeichnet erals das Nichtidentische. Der für seine Kritik am Identitätsdenken und fürdie ganze Negative Dialektik  zentrale Begriff des Nichtidentischen ergibtsich aus dem Widerspruch und der Differenz von Begriff und Gegenstand:„Der Widerspruch ist das Nichtidentische unter dem Aspekt der Identität;der Primat des Widerspruchsprinzips in der Dialektik mißt das Heterogeneam Einheitsdenken." 7!' Das kritische Moment des Nichtidentischenbesteht darin, daß der Gegenstand nicht in seinem Begriff, das Exemplarnicht in seinem davon abstrahierten Gattungsbegriff aufgeht: „DasMoment der Nichtidentität in dem identifizierenden Urteil ist insofernumstandslos einsichtig, als jeder einzelne unter eine Klasse subsumierteGegenstand Bestimmungen hat, die in der Definition seiner Klasse nichtenthalten sind."

Adornos immanente Kritik des Identitätsdenkens geht den Weg derKonfrontation des allgemeinen Begriffs mit seinem besonderen Gegenstand. Diese Konfrontation führt zum Aufweis des Nichtidentischen, dasunter den Prämissen des Identitätsdenkens als Widerspruch erscheint:„Der geringste Rest von Nichtidentität genügte, die Identität, total ihremBegriff nach, zu dementieren." Somit zeigt sich der in der traditionellenPhilosophie vorherrschende Primat des begreifenden Subjekts als seinem

Objekt nicht gewachsen. Denn die unterstellte Identität von Subjekt undObjekt erweist sich als Schein. Um den Machtanspruch und die Gewalt

B Adorno: ND, S. 10, 140-142.Ebenda, S. 17.Ebenda, S. 153.Ebenda, S. 33.

208

Dies anthropologische Schema hat sich sublimiert bis in die Erkenntnistheorie hinein. Im Idealismus - am ausdrücklichsten bei Fichte - waltet bewußtlos die Ideologie, das Nichtich, 1' autrui, schließlich alles an NaturMahnende sei minderwertig, damit die Einheit des sich selbst erhaltendenGedankens getrost es verschlingen darf. [...] Das System ist der Geist gewordene Bauch, Wut die Signatur eines jeglichen Idealismus.

Diese Kritik verdankt sich wiederum Nietzsche, für den jede Erkenntnisdem Willen zur Macht als Mittel untersteht. Adorno hebt das selbst hervor: „Nietzsches Befreiendes, wahrhaft eine Kehre des abendländischenDenkens, die Spätere bloß usurpierten, war, daß er derlei Mysterien aussprach."

2. Die „Moral des Denkens"

Adornos Negative Dialektik  bleibt nicht bei der Kritik des Identitätsdenkens stehen: „Indem es auf seine Grenze aufprallt, übersteigt essich." Indem das Identitätsdenken das Nichtidentische als Grenze, alsden Widerspruch und die Differenz von Begriff und Gegenstand, vonSubjekt und Objekt, erfährt, ist es auf einer höheren Reflexionsstufe alsnegative Dialektik genötigt, gegen diesen Widerspruch und somit gegen

sich selbst in Widersprüchen zu denken. Allein durch die Erfahrung diesesWiderspruchs und seiner Negation vermag aber Adornos veränderteVersion von Dialektik, deren „unkräftige Renaissance"585, nicht unmittel-

Ebenda, S. 33f.Ebenda, S. 34.Ebenda, S. 17.Ebenda, S. 18, 148f., 358.

20 9

KAPITEL VIII

bar zum Nichtidentischen - als wiederum Positivem - zu gelangen. WürdeDialektik versuchen, die Differenz und das Individuelle erneut unmittelbarpositiv zu bezeichnen, wäre das Nichtidentische bereits wieder identifiziert und solche Identifikation ein unerlaubter Rückfall in das Identitätsdenken. Das Verbindende von Hegels und Adornos Dialektik ist, daßletztere am Begriff der bestimmten Negation, dem kritischen und bewegenden Moment von Dialektik, und am inhaltlichen Denken festhält. DasTrennende ist, daß der Widerspruch zum Widerspruch, die Negation der

„DIE SELBSTKRITIK DER VERNUNFT"

wenn sie es nicht unmittelbar positiv bezeichnen können? Und was istüberhaupt unter dem Nichtidentischen genauer zu verstehen, wenn esanders als als Widerspruch erfahren wird? Auf letztere Frage antwortetAdorno, daß das Nichtidentische „die eigene Identität der Sache gegen

589

ihre Identifikationen" wäre. Der Begriff Objekt ist für Adorno „derpositive Ausdruck des Nichtidentischen". Seinen Begriff des Nichtidentischen versteht Adorno auch als anderen Ausdruck für Materie, waswiederum auf sein Selbstverständnis als materialistischer Denker ver

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Negation für Adorno, im Gegensatz zu Hegel, nicht mit Positivitätgleichgesetzt werden kann. Diese Gleichsetzung ist für Adorno „dieQuintessenz des Identifizierens": „Unmittelbar ist das Nichtidentischenicht als seinerseits Positives zu gewinnen und auch nicht durch Negationdes Negativen". Ob Adorno allerdings noch berechtigt ist, den Begriff der bestimmten Negation für sich zu beanspruchen, obwohl die Negationder Negation kein positives Resultat mehr hat, kann hier nicht entschiedenwerden.

Nach diesem kurzen Vergleich der Dialektik von Adorno und Hegelkann Adornos Vorbereitung eines positiven Begriffs von Vernunft weiterverfolgt werden. Bereits die Dialektik der Aufklärung erhebt den Anspruch, einen positiven Begriff von Vernunft vorzubereiten, der sie aus„ihrer Verstrickung in blinder Herrschaft löst". Diesen Anspruch

vermag Adorno aber erst in der Negativen Dialektik  partiell einzulösen.Wie bereits erwähnt, kann das Nichtidentische nicht unmittelbar positivbezeichnet werden, da das wieder auf seine Identifikation hinausliefe. Dereinzig mögliche Versuch, sich ihm zu nähern, bedarf des Begriffs, denn„Denken ohne Begriff ist keines": „Diese Richtung der Begrifflichkeit zuändern, sie dem Nichtidentischen zuzukehren, ist das Scharnier negativer

588

Dialektik." Können aber die Begriffe das Nichtidentische gewinnen,

Ebenda, S. 161; Bereits in der Dialektik der Aufklärung beziehen sich Horkheimer undAdorno mit ihrer Vernunftkritik positiv auf Hegels Begriff der bestimmten Negation(Adorno/Horkheimer: DdA, S. 46£ 49). An anderer Stelle formuliert Adorno pointiert:„Der Nerv der Dialektik als Methode ist die bestimmte Negation" (Adorno: DSH, S.76). Die bestimmte Negation ist für Hegel immer Negation eines bestimmten Inhaltsoder einer bestimmten Sache, die durch den Widerspruch zu ihr aufgelöst wird undsomit den Fortgang der Erkenntnis gewährleistet (G. W. F. Hegel: Wissenschaft derLogik I, Werke, Bd. 5, Frankfurt am Main 1993, S. 49; G. W. F. Hegel: Enzyklopädieder philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Erster Teil: Die Wissenschaft derLogik, Werke, Bd. 8, § 81, Frankfurt am Main 1986, S. 172-176).Adorno/Horkheimer: DdA, S. 21.Adorno: ND, S. 105, 24; Adornos Überzeugung, „Denken ohne Begriff ist keines",wirft auch ein kritisches Licht auf Herbert Schnädelbachs Deutung, daß Adorno ein„Evidenztheoretiker der Wahrheit" und ein „Noetiker des Nichtidentischen" ist (Herbert

21 0

wiederum auf sein Selbstverständnis als materialistischer Denker verweist. Er spricht davon, daß die „nichtidentischen Momente sich als

materiell, oder als untrennbar fusioniert mit Materiellem" zeigen.Negative Dialektik hat ihr wahres Interesse „beim Begriffslosen, Einzelnen und Besonderen" und bei den Qualitäten der Gegenstände. DasNichtidentische ist als das Nichtbegriffliche und Materielle das Besondereund Individuelle der Gegenstände, die das Denken erkennen will. Wiebereits dargestellt, wurde dieses für Adorno bei der Begriffsbildunggewaltsam ausgemerzt und weggeschnitten. Die entscheidende Fragebleibt, ob sich das Nichtidentische überhaupt mit Begriffen erkennen undausdrücken läßt. Sie gilt es im Blick zu behalten, wenn Adornos Weg derVorbereitung eines positiven Begriffs von Vernunft nun weiter verfolgtwird: „Erheischt negative Dialektik die Selbstreflexion des Denkens, so

impliziert das handgreiflich, Denken müsse, um wahr zu sein, heute jedenfalls, auch gegen sich selbst denken." Damit ist für Adorno primärangezeigt, daß selbstbesonnenes Denken in seinem Verhältnis zu denGegenständen eine Umwendung gegenüber dem Identitätsdenkenvollziehen muß.

Herrscht im traditionellen Denken der Primat des Subjekts vor, so verlangt selbstbesonnenes Denken den Vorrang des Objekts: „DurchgeführteKritik an der Identität tastet nach der Präponderanz des Objekts. Identitätsdenken ist, auch wenn es das bestreitet, subjektivistisch." Ein Argument, mit dem Adorno begründet, daß dem Objekt der Vorrang gebührt,lautet: „Vom Subjekt ist Objekt nicht einmal als Idee wegzudenken; abervom Objekt Subjekt. Zum Sinn von Subjektivität rechnet es, auch Objekt

zu sein; nicht ebenso zum Sinn von Objektivität, Subjekt zu sein."5 3 Wie

Schnädelbach: Dialektik als Vernunftkritik, a.a.O., S. 74f).589 Adorno: ND, S. 164.590 Ebenda, S. 193.591 Ebenda, S. 20.592 Ebenda, S. 358.93 Ebenda, S. 184; Adornos Gedanke des Vorrangs des Objekts kann auch als Wieder

aufnahme der Aufforderung zur „Selbsterkenntnis des Geists als mit sich entzweiter

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KAPITEL VIII

seinem Ideal des Differenzierens und Nuancierens zusammenhängen.Während das vorherrschende Denken sich mit Hilfe der Begriffe seinerGegenstände bemächtigt, diese damit unterwirft und sich einverleibt,strebt selbstbesonnenes Denken danach, diese Gewalttaten wiedergutzumachen, der Naturbeherrschung zu entsagen und so zur Versöhnung mitseinen Gegenständen zu gelangen: „Diese gäbe das Nichtidentische frei,entledigte es noch des vergeistigten Zwanges, eröffnete erst die Vielheitdes Verschiedenen, über die Dialektik keine Macht mehr hätte."60

Die angeführten drei Hauptpunkte die für einen positiven Begriff von

„DIE SELBSTKRITIK DER VERNUNFT"

zwischenmenschlichen Bereich gebraucht. Daß Adorno sie geschlossen inden Bereich des Denkens und auf dessen Verhältnis zu seinen Gegenständen überträgt, macht auch ein Stück Originalität seines Ansatzes aus. Dievon Adorno aufgestellten moralischen Postulate, die ein selbstbesonnenesDenken zu befolgen hätte, bilden den Kern seiner Moral des Denkens, diesich auch als Erkenntnisethik begreifen läßt.

Der Gedanke einer Moral des Denkens ist - wie einige der zentralenGedanken der Negativen Dialektik - in Adornos Minima Moralia bereitsvorgedacht: Wenn der Abstraktionsprozeß alle Begriffsbildung mit dem

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Die angeführten drei Hauptpunkte, die für einen positiven Begriff vonVernunft relevant sind, sind der Vorrang des Objekts und der Qualität, das

Postulat des Vermögens zur Erfahrung des Objekts und die Emanzipationdes Denkens von der Herrschaft und der Gewalt. Genau betrachtet lassensie sich gar nicht voneinander absondern, da sie wechselseitig aufeinanderbezogen sind. Sie bringen primär die Forderung nach der direkten Umkehrund Umwendung des spezifischen Verhältnisses des denkenden Subjektszu seinen Gegenständen zum Ausdruck, welches das Identitätsdenkencharakterisiert. Das herrschaftliche Verhältnis des Identitätsdenkensgegenüber seinen Gegenständen bezeichnet Adorno als „absolut Bö-ses". Da die von ihm intendierten drei Punkte die Umkehr und Umwendung dieses Verhältnisses fordern, müssen sie als moralische Postulatebegriffen werden. Mit seinen Postulaten beabsichtigt Adorno auch, daß

seiner Ansicht nach zur Selbstverständlichkeit gewordene Ethos derIdentität umzudrehen: „Selbstverständlichkeit ist Kennmarke des Zivilisatorischen: gut sei das Eine, Unveränderliche, Identische. Was dem nichtsich fügt, alles Erbe des prälogischen Naturmoments, wird unmittelbarzum Bösen, so abstrakt wie das Prinzip seines Gegenbildes."606 Der vonAdorno angestrebte positive Vernunftbegriff, für dessen Verwirklichungdie Erfüllung seiner drei moralischen Postulate die Voraussetzung wäre,repräsentiert somit im Gegensatz zum Identitätsdenken das Gute. Adornocharakterisiert das Verhältnis des Identitätsdenkens zu seinen Gegenständen als herrschaftlich, distanzierend, gewalttätig, entfremdend undfeindlich. Selbstbesonnenes Denkens dagegen läßt sich als mimetisch,gewalt- und herrschaftsfrei sowie durch das liebende Streben und Sehnennach Nähe zum Gegenstand charakterisieren. Die meisten dieser negativenund positiven Charakterisierungen werden gewöhnlich vor allem im

Ebenda, S. 29, 35, 39, 90.

Ebenda, S. 18, 191.

Ebenda, S. 358.

Ebenda, S. 240.

21 4

vorgedacht: „Wenn der Abstraktionsprozeß alle Begriffsbildung mit demWahn der Größe schlägt, so ist zugleich in ihm, durch Distanz zum Akti

onsobjekt, durch Reflexion und Durchsichtigkeit, das Gegengift aufbewahrt: Die Selbstkritik der Vernunft ist deren eigenste Moral. " In demAphorismus § 46, der mit dem Titel Zur Moral des Denkens überschriebenist, heißt es: „Die Moral des Denkens besteht darin, weder stur nochsouverän, weder blind noch leer, weder atomistisch noch konsequent zuverfahren."608 Ein unmoralisches Denken, das den Gegensatz zur geforderten Moral des Denkens darstellt, verfährt stur, da es nicht imstandeoder nicht willens ist, sich auf seinen Gegenstand einzulassen undeigensinnig und ohne Abweichung an seiner Methode festhält. Adornosteht wissenschaftlichen und philosophischen Methoden weitgehendkritisch gegenüber, da die Methode ein subjektives Produkt darstellt, das

der Sache und dem Inhalt zumeist äußerlich bleibt bzw. von außen an sieherangetragen wird und ihr so Gewalt antut. Ein souveränes Denken istdeshalb moralisch verwerflich, da es seinen Gegenstand beherrschen undunterwerfen will und ihm dabei Gewalt antut. Die Forderung, daß Denkenweder blind noch leer verfahren soll, spielt auf Kants berühmten Satz an:„Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sindblind."610 Damit bringt Kant zum Ausdruck, daß Erkenntnis sowohl auf Begriffe als auch auf Anschauungen angewiesen ist und nur aus derVereinigung von beidem entspringen kann. Atomistisches Denken istunmoralisch, da es das Einzelne zusammenhangslos, also nicht mitanderem und letztlich einem Ganzen vermittelt zu begreifen versucht. Andieser Stelle läßt sich eine bereits angesprochene wichtige Begründung

von Adornos Moral des Denkens nochmals erläutern. UnmoralischesDenken ist nämlich nicht einfach nur unmoralisch, sondern zumeist auch

Adorno: MM, S. 163.18 Ebenda, S. 91.19 Adorno: ZME, S. 19f., 50f.0 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1976, A 51 = B 75, S. 95.

21 5

KAPITEL VIII

erfolglos und vergeblich: „Nur dort vermag Erkenntnis sich zu erweitern,wo sie beim Einzelnen so verharrt, daß über der Insistenz seine Isoliertheitzerfällt. Das setzt freilich auch eine Beziehung zum Allgemeinen voraus,aber nicht die der Subsumtion, sondern fast deren Gegenteil." Schließlich ist konsequentes Denken in dem Sinne als moralisch verwerflichabzulehnen, in dem es unbeirrt und fest entschlossen als logischerZwangsmechanismus fortschreitet, ohne diesen Zwangsmechanismus alssolchen innehaltend selbstkritisch zu reflektieren. In dem hier interpretierten Aphorismus aus der Minima Moralia fährt Adorno mit einem positi

„DIE SELBSTKRITIK DER VERNUNFT"

Dingen" treten. Die Wertethik Max Schelers betrachtet die Liebe alssittlichen Grundwert. Adorno überträgt sie aus dem praktischen Bereichin den Bereich des Denkens und postuliert sie für das Verhältnis selbstbesonnenen Denkens zu seinen Gegenständen. Solch ein gewandeltesVerhältnis des Denkens gegenüber seinem Anderen ist auch mit demVorrang des Objekts gemeint: „Der versöhnte Zustand annektierte nichtmit philosophischem Imperialismus das Fremde, sondern hätte sein Glückdaran, daß es in der gewährten Nähe das Ferne und Verschiedene bleibt,

 jenseit s des Heterogenen wie des Eigenen."

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ten Aphorismus aus der Minima Moralia fährt Adorno mit einem positiven Hegelbezug fort: „Die Doppelschlächtigkeit der Methode, welche der

Hegeischen Phänomenologie unter vernünftigen Leuten den Ruf abgründiger Schwierigkeit eingetragen hat, nämlich die Forderung, gleichzeitigdie Phänomene als solche sprechen zu lassen - das ,reine Zusehen' - unddoch in jedem Augenblick ihre Beziehung auf das Bewußtsein als Subjekt,die Reflexion präsent zu halten, drückt diese Moral am genauesten und inaller Tiefe des Widerspruchs aus." Der hier angesprochene Widerspruch,der ein moralisches Denken vor schwerwiegende Probleme stellt, beziehtsich auf die beiden an das Denken unabweislich ergehenden„antagonistischen Forderungen des Zusehens und Konstruierens", die esim Erkenntnisprozeß vermitteln muß. Wahre Erkenntnis, die nur aus derVerbindung von Anschauung und begrifflicher Reflexion entspringenkann, muß demzufolge „in jedem Augenblick in den Sachen und außerden Sachen sein". " In der Terminologie der Negativen Dialektik formuliert, ließe sich das auch so ausdrücken, daß der Vorrang desObjekts und damit die Überwindung des Primats des Subjekts und desIdentitätsdenkens nur durch subjektive Reflexion geleistet werden kann.

Denken wird moralisch, wenn es sein herrschaftlich unterdrückendesVerhältnis gegenüber seinen Gegenständen reflektiert und dabei erkennt,daß es ihnen nicht gerecht wird. Adorno versucht, dem herrschaftlichenIdentitätsdenken der traditionellen Philosophie die Notwendigkeit einesanderen und weniger herrschaftlichen Verhältnisses zu seinem Gegenstand - mag er als Welt, Natur oder Nichtidentisches bezeichnet werden -klarzumachen. Er beabsichtigt vorzuführen, wie feindlich das Identitäts

denken seinem Anderen, dem es im Begreifen Gewalt antut, gegenübersteht. Anstelle dieses feindlichen Verhältnisses müßte in einem selbstbesonnenen Denken, das sich der fatalen Konsequenzen seines feindlichenund herrschaftlichen Weltverhältnisses bewußt ist, die „Liebe zu den

611 Adorno: MM, S. 90f.612 Ebenda, S. 91.

21 6

j g g

Adorno ist davon überzeugt, daß im versöhnten Zustand, der der Ver

wirklichung der hedonistischen Sozialutopie gleichkäme, auch dasphilosophische Denken ein anderes wäre und ein gewandeltes Verhältniszu seinen Gegenständen hätte. In ihm ließe sich nicht nur der angestrebtepositive Begriff von Vernunft so weit wie möglich verwirklichen. Auchein richtiges Bewußtsein von den „letzten Dingen" hält Adorno imversöhnten Zustand für möglich. Denn dieses setzt eine „Zukunft ohneLebensnot" voraus: „Die metaphysischen Interessen der Menschen bedürfen der ungeschmälerten Wahrnehmung ihrer materiellen". Daß Adornoderartige Erwartungen hegt, läßt sich zum einen dadurch erklären, daß dieArbeitszeit der Menschen im utopischen Zustand minimiert wäre, wasdeutlich mehr Zeit zum Denken ließe. Zum anderen sind sie vor allemdadurch begründet, daß die Menschheit im utopischen Zustand ein anderesVerhältnis zur Natur und zu ihren sexuellen Trieben hätte und dieseweitgehend ungehemmt ausleben könnten. Adornos Überzeugung, daß eingewandeltes Verhältnis der Menschheit zur Natur und zu ihren sexuellenTrieben beträchtliche Auswirkungen auf ihr Denken hätte, ist wiederumdie Konsequenz seiner positiven Aufnahme von Nietzsches Gedanken:„Nietzsches Aphorismus ,Grad und Art der Geschlechtlichkeit einesMenschen reicht bis in den letzten Gipfel seines Geistes hinauf trifftmehr als bloß einen psychologischen Sachverhalt. Weil noch die fernstenObjektivierungen des Denkens sich nähren von den Trieben, zerstört es indiesen die Bedingungen seiner selbst."616 Die ungerechte Unterdrückungund Deformierung der Triebe in der „verwalteten Welt" mittels der

selbsterhaltenden Vernunft geht für Adorno mit einem „Verdummungs-prozeß" einher. Ex negativo läßt sich schließen, daß ihre Entfaltung und

Adorno: ND, S. 191; Max Scheler: Wesen und Formen der Sympathie, GesammelteWerke, Bd. 7, Bern 1973, S. 164ff.

614 Adorno: ND, 192.6, 5 Ebenda, S. 390f.616 Adorno: MM, S. 158.

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KAPITEL VIII

In-die-Acht-nehmen und Vorliegenlassen des von sich aus Vorliegenden. Im In-die-Acht-nehmen im Sinne von vernehmen, achten,beachten, respektieren und sorgsam behandeln, ist ein Teil des ethischenMoments des Denkens gegeben. Bei Adorno heißt das die Liebe zu denDingen, das mimetische „sich anschmiegen" an sie und das ihnen imDenken gerecht werden. Im Vorliegenlassen des von sich aus Vorliegenden ist der andere Teil des ethischen Moments des Denkens gegeben.Bei Adorno heißt das das Potential der Gegenstände, das auf das Denken„in seinem Gegenüber wartet", damit ihm dieses gerecht werden kann:

„DIE SELBSTKRITIK DER VERNUNFT"

Auch finden sich in vielen Werken Adornos heftige Kritik und polemischeAusfälle gegen Heidegger. Herrmann Mörchen spricht im Hinblick auf diebeiden Denker von dem extremsten Beispiel zeitgenössischer philoso

 phischer Kommunikationsverweigerung". Die in dieser Untersuchungthematisierten Resultate der Vernunftkritik beider Denker weisen abereine Reihe von Gemeinsamkeiten auf. Sie können deshalb als fruchtbarewechselseitige Ergänzungen verstanden werden.

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„ g , g„Vor der Einsicht in den konstitutiven Charakter des Nichtbegrifflichen

im Begriff zerginge der Identitätszwang, den der Begriff ohne solche aufhaltende Reflexion mit sich führt."625

Sowohl Heidegger als auch Adorno weisen die Ethik ins Denken. Fürbeide können die schwerwiegenden Krisen der Gegenwart nur durch dasDenken, nicht durch das Handeln verwunden oder überwunden werden.Da das Ge-stell, als das Wesen der modernen Technik, das Denken unddas Weltverhältnis der neuzeitlichen Menschen maßgeblich bestimmt, istes für Heidegger zu seiner Verwindung nötig, daß die Menschen „vor deranscheinend immer nächsten und allein als dringlich erscheinenden Frage:Was sollen wir tun, dies bedenken: Wie müssen wir denken? Denn dasDenken ist das eigentliche Handeln".626 Sowohl Heidegger als auch

Adorno kritisieren die vorherrschende Subjektphilosophie in radikalerWeise. Beide geben auch ein ungefähres Modell dafür, wie selbstbesonnenes Denken aussehen könnte. Heidegger kommt zu seinem durch eineRückbesinnung auf die Anfänge der abendländischen Philosophie. Durchdie Ungeschiedenheit von Ethik und Ontologie bietet Parmenides einGegenmodell zu dem vorherrschenden rechnenden Denken, das die Naturdurch das vergegenständlichende Vorstellen auf sich zu stellt. Adornogelangt zu seinem Gegenmodell durch die immanente Kritik am Identitätsdenken und dessen bestimmter Negation. Dabei hat er die Hoffnung,daß sich dieses durch die Bewußtwerdung der ihm vorgeführten immanenten Widersprüche selbst übersteigt. Für sich selbst reklamiert Adorno indiesem Prozeß, das Identitätsdenken - soweit möglich - schon überstiegen

zu haben und den fortgeschrittensten Stand der Theorie zu verkörpern.Zwar sind die Methoden und Ansätze beider Denker sehr verschieden.

Ebenda, S. 124ff.

Adorno: ND, S. 191,24,53.Ebenda, S. 24.Martin Heidegger: Die Technik und die Kehre, Pfullingen 1988, S. 40, 38f.

220

3. Die Durchführung der „Moral des Denkens": Dekon-struktion von Kants Willensbegriff und konstellativeErschließung des moralischen Impulses

Wie das vorangehende Kapitel gezeigt hat, läuft das von Adorno entwickelte Programm und Verfahren negativer Dialektik auf ein selbstbesonnenes Denken und die Moral des Denkens hinaus. Im dritten Teil der

 Negativen Dialektik  führt Adorno dieses Programm auch an konkretenInhalten durch: „Die Wendung zum Nichtidentischen bewährt sich in ihrerDurchführung; bliebe sie Deklaration, so nähme sie sich zurück." In derDurchführung der Moral des Denkens kann Adorno seiner Intention nachinhaltlichem Denken gerecht werden und dabei verdeutlichen, wasselbstbesonnenes Denken überhaupt ist. Dabei ist er sich durchausbewußt, daß es sowohl der Methode als auch den Begriffen verwehrt ist,ihre Inhalte und damit das Nichtidentische ganz zu absorbieren: „DerVorrang des Inhalts äußert sich als notwendige Insuffizienz der Me-thode." Philosophie „muß in ihrem Fortgang unablässig sich erneuern,aus ihrer eigenen Kraft ebenso wie aus der Reibung mit dem, woran siesich mißt". Mit der Durchführung der Moral des Denkens beabsichtigtAdorno zudem, nachahmenswerte Modelle für ein antisystematisches und

Hermann Mörchen: Macht und Herrschaft im Denken von Heidegger und Adorno,Stuttgart 1980, S. 7; Hermann Mörchen: Adorno und Heidegger. Untersuchung einerphilosophischen Kommunikationsverweigerung, Stuttgart 1981.Adorno: ND, S. 157.

Ebenda, S. 58, 10; Wie bereits erwähnt, steht Adorno wissenschaftlichen und philosophischen Methoden durchweg kritisch gegenüber, da die Methode ein subjektivesProdukt darstellt, das der Sache und dem Inhalt zumeist äußerlich bleibt bzw. von außenan sie herangetragen wird und ihr so Gewalt antut (Adorno: ZME, S. 19f, 51).Adorno: ND, S. 44.

22 1

KAPITEL VIII

nicht herrschaftliches Denken zu geben:

Die Forderung nach Verbindlichkeit ohne System ist die nach Denkmodellen. [...] Das Modell trifft das Spezifische, ohne es in seinen allgemeinerenOberbegriff zu verflüchtigen. Philosophisch Denken ist soviel wie in Modellen denken; negative Dialektik ein Ensemble von Modellanalysen.

Das einzige positive Verfahren, das Adorno angibt, durch das die Morald D k i E k i ß d k i d k l

,DIE SELBSTKRITIK DER VERNUNFT"

Weber für Adornos Auffassung des Verhältnisses von Begriff undGegenstand aufgewiesen werden, die bisher kaum wahrgenommen wurde.Zudem hat die Forschung Webers Einfluß auf Adornos Konstellationsbegriff bisher im Verhältnis zu dem Benjamins zumeist unterbewertet.Adorno betont jedoch im Hinblick darauf, wie Gegenstände durch Konstellationen zu erschließen sind:

Dabei braucht man keineswegs von dem eigenen Gehalt nach metaphysischen Untersuchungen wie Benjamins ,Ursprung des deutschen Trauer

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des Denkens im Erkenntnisprozeß umgesetzt werden kann, ist das konstel-

lative Denken. Um das Nichtidentische bzw. eine Sache zu erkennen, dienicht unmittelbar positiv erfaßt werden kann, müssen verschiedeneBegriffe zentriert um sie gesetzt werden, in eine Konstellation treten:„Indem die Begriffe um die zu erkennende Sache sich versammeln,bestimmen sie potentiell deren Inneres, erreichen denkend, was Denkennotwe ndig aus sich ausme rzte ." Um das Innere der Sache zu erkennen,ist es erforderlich, diese nicht isoliert, sondern in ihrem Zusammenhangzu gewahren. Der Gegenstand bzw. das Nichtidentische steht nämlichselbst mit Anderem in einer Konstellation, die durch und durch geschichtlich und demzufolge auch veränderlich ist. Die Produktion eines gelungenen Zusammenhangs von Begriffen in einer Konstellation versteht Adornoanalog zu der Produktion einer gelungenen musikalischen Komposition.

Bei beiden ist der Maßstab ihres Gelingens der, daß das produzierendeund komponierende Subjekt darin verschwindet und die Konstellationoder Komposition zum Ausdruck von etwas Anderem, Objektivem wird.Eine gelungene Konstellation von Begriffen ähnelt für Adorno einerlesbaren Schrift, die zum Zeichen des Nichtidentischen wird, das soerschlossen werden kann.633

Adornos Begriff der Konstellation wurde von der Forschungsliteraturbereits häufig untersucht.634 Hier gilt es kurz auf Max Weber einzugehen,auf dessen „Idealtypen" sich Adorno mit seinem konstellativen Denkenauch bezieht. So kann die keineswegs unbeträchtliche Bedeutung von Max

l

'3I Ebenda, S. 39; vgl. zum Begriff des Modells bei Schönberg: Adorno: PnM, S. 58.632 Adorno: ND, S. 164f.633 Ebenda, S. 164-167, vgl. auch 36.

Susan Buck-Morss: The Origin of Negative Dialectics, a.a.O., S. 96ff; FriedemannGrenz: Adornos Philosophie in Grundbegriffen, a.a.O., S. 216ff; Reinhard Kager,a.a.O., S. 202ff; Norbert Rath: Adornos Kritische Theorie, a.a.O., S. 97ff; ReinhardUhle: Zur Erschließung von Einzelnem aus Konstellationen. Negative Dialektik und„objektive Hermeneutik", in: Jürgen Naeher (Hrsg.): Die Negative Dialektik Adornos,Stuttgart 1984, S. 359-371.

222

sischen Untersuchungen wie Benjamins ,Ursprung des deutschen Trauerspiels' auszugehen, die den Begriff der Wahrheit selber als Konstellation

fassen. Zu rekurrieren wäre auf einen so positivistisch gesonnenen Gelehrten wie Max Weber. Wohl verstand er die Jdealtypen', durchaus im Sinnsubjektivistischer Erkenntnistheorie, als Hilfsmittel, dem Gegenstand sichzu nähern, bar jeglicher Substanzialität in sich selbst und beliebig wiederzu verflüssigen. Aber wie in allem Nominalismus, mag er auch seine Begriffe als nichtig einschätzen, in diesem etwas von der Beschaffenheit derSache durchschlägt [...] so lassen die materialen Arbeiten Webers weitmehr vom Objekt sich leiten, als nach der südwestdeutschen Methodologie

.. 635zu erwarten wäre.

Max Weber entwickelt seine sozialwissenschaftliche Methode des „Idealtypus" in dem „Objektivitätsaufsatz" von 1904 im Kontext der Untersuchung der logischen „Funktion und Struktur der B e g r i f f e " . Nebender „theoretischen Schule" Carl Mengers grenzt sich Weber in seinemAufsatz vor allem von der „historischen Schule" Gustav von Schmollersab. Letzterer wirft er ein von der „antik-scholastischen Erkenntnislehre"geprägtes unreflektiertes Verständnis der Begriffe vor, da sie die Begriffeals „vorstellungsmäßige Abbilder der ,objektiven' Wirklichkeit" versteht.637 Dagegen wendet Weber ein: Je „umfassender die Geltung einesGattungsbegriffs - sein Umfang - ist, desto mehr führt er uns von derFülle der Wirklichkeit ab , da er ja, um das Gemeinsame möglichst vielerErscheinungen zu enthalten, möglichst abstrakt, also inhalt sarm seinmuß."63 8 Die Begriffe sind für ihn weder Abbilder ihrer Gegenstände noch

135 Adorno: ND, S. 166; Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: WalterBenjamin: Gesammelte Schriften 1.1, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schwep-penhäuser, Frankfurt am Main 1974, S. 214f.

36 Max Weber: Die „Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischerErkenntnis, a.a.O., S. 185ff.

637 Ebenda, S. 208.638 Ebenda, S. 180.

223

KAPITEL VIII

stimmen sie völlig mit ihnen überein, da die ihnen subsumierten Erscheinungen der Wirklichkeit eine größere Fülle und einen größeren inhaltlichen Reichtum aufweisen, als die von ihnen abstrahierten Begriffeenthalten können. Wie Adorno wehrt sich Weber gegen die Versuchung,im Denken der „Wirklichkeit Gewalt anzutun" und dagegen, die Geschichte in das „Prokrustesbett" von „theoretischen Begriffsbildern"hineinzuzwängen. Zudem geht es Weber wie Adorno nicht um die Erkenntnis der generellen und gattungsmäßigen Merkmale der Wirklichkeit,sondern um „historische Individuen oder deren Einzelbestandteile" und

„DIE SELBSTKRITIK DER VERNUNFT"

minalistisches Verständnis der Begriffe und damit der Idealtypen vor.Darunter versteht Adorno, daß Begriffe bloße abstrahierte Zeichen und„Abbreviaturen" sind, die letztlich an ihre Gegenstände nicht mehrherankommen. Wie bereits erwähnt, ist das nicht sein Verständnis derBegriffe und der Sprache. Adornos Anspruch ist, daß wenn die Begriffekonstellativ um die Sache versammelt werden und die Konstellationnachvollziehen, in der sie steht, diese erkennbar wird.

Wie er diesen Anspruch und damit das Programm negativer Dialektikeinzulösen versucht, soll im folgenden anhand seiner Durchführung ani k k t I h lt d D k t kti " K t Will

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um die „Kulturbedeutung" von einzelnen und konkreten historischen

Tatsachen. So zielt auch Adornos programmatische Aussage, daßnegative Dialektik ihr Interesse beim „Begrifflosen, Einzelnen und Besonderen" bekundet, nicht darauf ab, etwa diesen konkreten Baum oder

 jenes konkrete Blatt zu begreifen, was ein äußerst zweifelhaftes Erkenntnisziel wäre. Die Gegenstände von negativer Dialektik sind zwar vorallem - wie gleich gezeigt wird - die der Philosophie. Sie sind aber teilweise ebenso die Gegenstände der Sozialwissenschaften. Deshalb könntenegative Dialektik auch als sozialwissenschaftliches Verfahren begriffenwerden.

Die Konsequenzen, die Max Weber aus den angeführten Reflexionenfür seinen eigenen Umgang mit Begriffen zieht, führen zu der metho

dischen Konzeption des „Idealtypus". Wie Adorno zutreffend bemerkt,sind die Idealtypen begriffliche Hilfsmittel der Erkenntnis und ihrerDarstellung, die subjektiv vom Wissenschaftler konstruiert werden. DieseKonstruktion abstrahiert und steigert als bedeutend und typisch erachteteZüge der Wirklichkeit zu einem „einheitlichen Gedanken bilde".641 AlsBeispiel lassen sich Webers drei Typen legitimer Herrschaft anführen. ImProzeß der Erkenntnis werden die Idealtypen und ihre jeweiligen Bestimmungen um eine einzelne und konkrete historische Tatsache - etwa dieHerrschaft von Kaiser Wilhelm II. in Deutschland - versammelt. Diesewird dann mit den Idealtypen der charismatischen, traditionalen undlegalen Herrschaft verglichen, wobei der jeweils festzustellende Grad anÜbereinstimmung und Abweichung es dem Wissenschaftler erlaubt, diese

„objektiv" zu erkennen und einzuordnen.642 Adorno wirft Weber ein no-

Ebenda, S. 204, 195; Ob, und wenn ja inwieweit, Max Weber sein Verständnis derBegriffe wie Adorno Nietzsches Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermora-lischen Sinne verdankt, kann hier nicht untersucht werden (vgl. Kapitel IV (2)).

0 Ebenda, S. 194, 176, 168, 178, 201; vgl. zum Begriff „Konstellation" 172.' Ebenda, S. 190f.2 Ebenda, S. 194, 213; Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1980, S.

224

einem konkreten Inhalt - der „Dekonstruktion" von Kants Willens

begriff - erläutert werden. Dabei geht es nicht darum, lückenlos alleInhalte von Adornos Denkmodell zu präsentieren, sondern in etwa zuzeigen, was konstellatives Denken und damit die Durchführung der Moraldes Denkens bedeutet. Adorno setzt sich mit Kants Willensbegriff inseinem ersten Modell auseinander, in dem er die Frage diskutiert, ob dasSubjekt und damit der Wille frei ist oder nicht. Bereits in der Vorrede der

 Negativen Dialektik  äußert Adorno von seinen Modellen, sie erörtern„Schlüsselbegriffe philosophischer Disziplinen, um in diese zentral einzugreifen". Wie dieser Eingriff zu denken ist, erläutert Adorno: „AlsKonstellation umkreist der theoretische Gedanke den Begriff, den eröffnen möchte". Wie bereits erwähnt, ist Kant für Adorno ein Vertreterdes identifizierenden Denkens. Demzufolge ist Kants einheitlicher

Willensbegriff für Adorno auch eine herrschaftliche Identifikation seinesGegenstandes, der inneren Natur oder des Nichtidentischen im Menschen.Um dieses zu erretten, muß zuerst Kants Willensbegriff dekonstruiertwerden. Die in den Begriffen „versteinerte Denkbewegung ist wiederum

124ff.Der Begriff der Dekonstruktion wird gewöhnlich für Jacques Derridas Lektüre vonphilosophischen und literarischen Texten verwendet. Dekonstruktion ist aber keineMethode im klassischen Sinne, sondern läßt sich eher als methodenloses und gewaltloses Nachspüren bezeichnen, das versucht, der Besonderheit der Gegenstände gerechtzu werden. Dieses Bestreben und die Kritik an der subjektiven Zurichtung der individuellen Gegenstände durch die Methode verbindet Derrida mit Adorno. Die Verwendung des Begriffs der Dekonstruktion für Adornos Durchführung negativer Dialektikbehauptet keine Identität beider Verfahren, will aber auf Gemeinsamkeiten aufmerksammachen. Sie rechtfertigt sich auch durch den moralischen Impuls, der beiden Verfahrengemeinsam ist. So heißt es bei Derrida: „Die Dekonstruktion ist die Gerechtigkeit"(Jacques Derrida. Gesetzeskraft - Der „mystische Grund der Autorität", Frankfurt amMain 1991, S. 30).Adorno: ND, S. 10.Ebenda, S. 166.

22 5

KAPITEL VIII

zu verflüssigen, wiederholend gleichsam ihrer Triftigkeit nachzugehen".646 Selbstbesonnenes Denken muß seine Begriffe um Kants Willensbegriff versammeln und ihn durch Kritik zu verflüssigen und zu öffnenversuchen. Dabei muß es den Blick auf die Sache als das Innere gerichtethalten, das von Kants Willensbegriff durch die Identifikation ausgemerztwurde.

Bei Kant ist der „Wille, Oberbegriff und Einheitsmoment der Handlungen, vergegenständlicht".647 Sein Willensbegriff ist für Adorno eine bloße„Konstruktion". Höchstwahrscheinlich ist auch hier wieder Nietzsche dasV bild d K i ik S h iß b i Ni h W ll h i i

,DIE SELBSTKRITIK DER VERNUNFT"

und Impulse, auf die bereits Nietzsche hingewiesen hat und deren jeweiligen Qualitäten der Vorrang gebührt. Indem selbstbesonnenes Denkengewaltlos mit verschiedenen Begriffen die Nuancen der inneren Natur unddamit des Körpers zu erfassen versucht, verwirklicht es die Moral desDenkens. Es versucht, die Gewalttaten des traditionellen Denkens wiedergutzumachen und seinem Gegenstand Gerechtigkeit widerfahren zulassen.

Die spontanen Regungen stellen für Adorno die eigentliche Freiheit derSubjekte dar. Da sich aber das herrschaftliche Identitätsprinzip der Gesell

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Vorbild der Kritik. So heißt es bei Nietzsche: „Wollen scheint mir vor

Allem etwas Complicirtes, Etwas, das nur als Wort eine Einheitist". Einer der vielen Kritikpunkte Adornos an Kant ist, daß er denWillen unzulässig mit dem Bewußtsein und der Vernunft gleichsetzt.Adorno stellt fest, daß „der auf die reine praktische Vernunft gebrachteWille eine Abstraktion ist. Das Hinzutretende ist der Name für das, wasvon jener Abstraktion ausgemerzt ward; real wäre Wille ohne es überhaupt nicht." Das Hinzutretende ist einer der Begriffe, mit denenAdorno in seinem ersten Modell versucht, an das Spezifische, dasNichtidentische in den Subjekten, heranzureichen, ohne es in seinenallgemeinen Oberbegriff zu verflüchtigen. Das Nichtidentische in denSubjekten ist genau das, wovon Kants Willensbegriff abstrahiert und wasin dieser Abstraktion gewaltsam ausgemerzt und unterworfen wird.

Weitere Begriffe die Adorno wählt, um das Nichtidentische im Subjekt zugewinnen, sind etwa „ungebändigter, vor-ichlicher Impuls" und „spontaneRegung". All diese Begriffe läßt Adorno in seinem ersten Modellzueinander in Konstellation treten und versammelt sie, um ans Begriffloseheranzureichen. Die von Adorno gewählten Begriffe sind für ihn keineswegs bloße Hilfsmittel der Erkenntnis, da durch sie bereits die zuerkennende Sache spricht und zum Ausdruck gelangt, der sie sichangleichen. Hier zeigt sich auch noch einmal exemplarisch, was Adornomit dem „Begrifflosen, Einzelnen und Besonderen" meint, bei demselbstbesonnenes Denken sein Interesse bekundet, und was er unter demGegenstand versteift, dem das traditionelle Denken nicht gerecht wird. In

Adornos erstem Modell ist der Gegenstand die diffuse Vielheit derinneren Natur und ihrer ausdifferenzierten einzelnen Triebe, Regungen

Ebenda, S. 104.

Ebenda, S. 236.

Ebenda, S. 237; Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, a.a.O., S. 32.Adorno: ND, S. 228, 226.Ebenda, S. 221,28 1.

22 6

schaft auch im Subjekt reproduziert, muß das vernünftige Ich seine

spontanen Regungen, das Nichtidentische in sich, beherrschen: „Dasidentifizierende Prinzip des Subjekts ist selber das verinnerlichte derGesellschaft." Adornos Dialektik der Freiheit und Unfreiheit dervergesellschafteten Subjekte lautet:

Frei sind die Subjekte, nach Kantischem Modell, soweit, wie sie ihrerselbst bewußt, mit sich identisch sind; und in solcher Identität auch wiederunfrei, soweit sie deren Zwang unterstehen und ihn perpetuieren. Unfreisind sie als nichtidentische, als diffuse Natur, und doch als solche frei, weilsie in den Regungen, die sie überwältigen - nichts anderes ist die Nicht-identität des Subjekts mit sich -, auch des Zwangscharakters der Identitätledig werden.

Wahrhaft frei wären die Subjekte für Adorno also erst, wenn sie sich ihresIdentitätszwanges, dem Unrecht der rationalen Herrschaft des Ichs überdie innere Natur und die spontanen Regungen entledigten. Dies wäre fürihn nur in einer freien Gesellschaft möglich. Insofern spricht er von der„Idee von Freiheit als Möglichkeit von Nichtidentität".65 Wie aber wahreund freie Individualität ohne Identitätszwang aussehen könnte, bleibtnotgedrungen weitgehend dunkel bzw. utopisch, da sie noch nichtexistiert. Wie das siebte Kapitel bereits dargestellt hat, wäre das Ich mitdem Es versöhnt und würde es, „wissend und aus Freiheit" „dorthinbegleiten, wohin es will". Daß ein derartiger Gesellschaftszustand

überhaupt denkbar ist, setzt voraus, daß die innere Natur und die spontanen Regungen an sich gut und human sind. Tatsächlich ist dem Impulsund den spontanen Regungen, dem Nichtidentischen im Subjekt, für

1Ebenda, S. 239.

2Ebenda, S. 294.

3Ebenda, S. 266.

227

KAPITEL VIII

Adorno eine starke moralische Komponente zu eigen:

Der Impuls, die nackte physische Angst und das Gefühl der Solidarität mitden, nach Brechts Wort, quälbaren Körpern, der dem moralischen Verhalten immanent ist, würde durchs Bestreben rücksichtsloser Rationalisierungverleugnet; das Dringlichste würde abermals kontemplativ, Spott auf dieeigene Dringlichkeit.

Adorno wehrt sich in diesem Passus wiederum gegen Kants Vorgehen, die

„DIE SELBSTKRITIK DER VERNUNFT"

worden". Adorno rechtfertigt auch spontane und impulsive Widerstandshandlungen als moralisch. Dazu bedient er sich des Beispiels derNS-Verbrecher: „Hätte man die Chargierten der Folter samt ihrenAuftraggebern und deren hochmögenden Gönnern sogleich erschossen, sowäre es moralischer gewesen, als einigen von ihnen den Prozeß zumachen." Moralische Handlungen finden für Adorno aber in derbestehenden Gesellschaft nur sehr vereinzelt statt und bleiben weitgehendutopisch. Er ist der Ansicht, daß „das geschichtlich fortgeschrittenste,punktuell aufleuchtende, rasch verlöschende, Bewußtsein, dem der Impulsinnewohnt das Richtige zu tun" lediglich die konkrete intermittierende

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Adorno wehrt sich in diesem Passus wiederum gegen Kants Vorgehen, diespontanen Regungen zu einem abstrakten Willensbegriff oder zu einemallgemeinen Moralprinzip zu rationalisieren. Den moralischen Impulsbegreift er aber nicht ausschließlich als körperlich-naturhaft. Er istnämlich „intramental und somatisch in eins". Wie bereits im fünftenKapitel gezeigt, entfaltet Adorno seinen Gedanken des moralischenImpulses im Kontext seiner Kritik am traditionellen Leib-Seele Dualismus, den er überwinden will: „Alles Geistige ist modifiziert leibhafterImpuls". In der dialektischen Einheit von Körper und Geist hat der Leibden Vorrang, weil „Bewußtsein seinerseits abgezweigte Triebenergie,selber auch Impuls" ist. An Kants Gleichsetzung von Wille undVernunft kritisiert Adorno, daß dieser das körperlich-naturhafte Momentvernachlässigt, das erst in seinem Zusammenspiel mit dem Bewußtsein

das Spezifische dessen ausmacht, was der einheitliche Begriff des Willensauszudrücken versucht. Impulsive, spontane moralische Handlungenentstehen für Adorno also im Zusammenspiel des somatischen und desrationalen Moments: „Spontan wird Bewußtsein so weit reagieren, wie esdas Schlechte erkennt, ohne mit der Erkenntnis sich zu befriedigen." ' Ineiner freien Handlung tritt für Adorno zum Bewußtsein die spontaneRegung hinzu, die ihr gewissermaßen die Freiheit hinzufügt. Dieses JähHerausspringende, ist die Spontaneität" oder der somatische moralischeImpuls, der aus der „physischen Negation des Leidens" erwächst, womitAdorno letztlich auch den „neuen kategorischen Imperativ" begründet.

Wahrhaft moralische Sätze sind für Adorno Sätze als Impuls wie: „Es

soll nicht gefoltert werden", wenn „gemeldet wird, irgendwo sei gefoltert

654 Ebenda, S. 281.655 Ebenda, S. 228, 227-229.656 Ebenda, S. 262.657 Ebenda, S. 282.658 Ebenda, 228f.

228

innewohnt, das Richtige zu tun , lediglich die „konkrete, intermittierende

Vorwegnahme der Möglichkeit" von verwirklichter Moralität darstellt.661

Diese Ansicht kann auch als Neuauflage seines Diktums, daß es keinrichtiges Leben im falschen gibt, verstanden werden.

Obwohl der moralische Impuls für Adorno immer mit Bewußtsein verknüpft ist, verortet er das spezifisch Moralische vor allem in der innerenNatur und dem Nichtidentischen des Subjekts, dem somatisch-naturhaftenMoment des Impulses: „Human sind die Menschen nur dort, wo sie nichtals Person agieren und gar als solche sich setzen; das Diffuse der Natur,darin sie nicht Person sind". ' Warum aber das somatisch-naturhafteMoment des Impulses und die spontanen, vor-ichlichen Regungen einegrößere Affinität zur Moral als etwa zur Grausamkeit haben sollen, bleibtin Adornos Modell weitgehend unbegründet. Der einzige Ansatz zu einerBegründung, der sich in der Negativen Dialektik  finden läßt, basiert auf der für Adorno unauslöschlichen „Einsicht der Psychoanalyse, daß diezivilisatorischen Mechanismen der Repression die Libido in antizivilisatorische Aggression verwandeln", von der in dem Kapitel über Vernichtungswillen und Zerstörungsdrang bereits die Rede war. Deshalb istAdorno davon überzeugt, daß mit der Abschaffung der Repression derinneren Natur auch Phänomene wie Sadismus, Vernichtungswillen undZerstörungsdrang und das daraus resultierende Leiden verschwindenwürden und die hedonistische Sozialutopie keine konventionelle Moralmehr nötig hätte: „Schwarz verhängt ist der Horizont eines Standes vonFreiheit, darin es keiner Repression und keiner Moral mehr bedürfte, weil

der Trieb nicht länger zerstörend sich äußern müßte".664

Adornos Satz läßt

Ebenda, S. 281.0 Ebenda, S. 282.1 Ebenda, S. 292.2 Ebenda, S. 274.3 Ebenda, S. 330.4 Ebenda, S. 281, vgl. 218; vgl.: Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Hans-Georg

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KAPITEL IX

chen und zu „Geist"670 zu werden: „In den Kunstwerken ist der Geist nichtlänger der alte Feind der Natur. Er sänftigt sich zum Versöhnenden."

Damit ästhetischer Rationalität die weitgehende Emanzipation von derHerrschaft und der Gewalt gelingt, wie es die von Adorno postulierteMoral des Denkens fordert, ist es unabdingbar, daß ästhetische Rationalität sich den zu objektivierenden mimetischen Impulsen überläßt, die sichdem Anderen, Objektiven, dem der Vorrang gebührt, gleichmachen:

In den Kunstwerken ist der Geist zu ihrem Konstruktionsprinzip geworden,b i l d d i d d

ETHIK ALS ERSTE PHILOSOPHIE

beherrschende draußen angerichtet hat". Das produzierende Subjektgeht im Kunstwerk unter und die ästhetische Rationalität wird zu Geist.Dazu ist es aber auch erforderlich, daß die ästhetische Rationalität denVorrang des Objekts nicht nur auf der Ebene des Auszudrückenden, vorallem des Leidens, sondern auch auf der Ebene des Materials und seinerQualitäten zu verwirklichen versucht:

Und die Synthesis durchs Kunstwerk ist seinen Elementen nicht bloß ange

tan; sie wiederholt, worin sie miteinander kommunizieren, insofern ihrer

i i S ü k A d h i A h S h i h ih F d i d i

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aber genügt seinem Telos nur dort, wo er aus dem zu Konstruierenden, den

mimetischen Impulsen, aufsteigt, ihnen sich anschmiegt, anstatt daß er ihnen souverän zudiktiert würde. Form objektiviert die einzelnen Impulsenur, wenn sie ihnen dorthin folgt, wohin sie von sich aus wollen. Das alleinist die Methexis des Kunstwerks an Versöhnung. Die Rationalität derKunstwerke wird zu Geist einzig, wofern sie untergeht in dem ihr polarEntgegengesetzten.

Der Widerspruch zwischen dem mimetisch expressiven und dem konstruktiv rationalen Moment versöhnt sich für Adorno nur in gelungenenKunstwerken, in denen beide Extreme in gleicher Intensität vorhandensind. Wenn die Konstruktion sich den mimetischen Impulsen, die sie zu

einer einheitlichen Form integriert und objektiviert, überläßt und sichohne subjektive Planung aus ihnen fügt, dann gelingt ästhetischerRationalität die weitgehende Emanzipation von der Herrschaft und derGewalt: „ästhetische Rationalität will wieder gutmachen, was die natur-

Adorno differenziert zwischen den Begriffen „ästhetische Rationalität" und „Geist".Seinen Geistbegriff grenzt er gegen den Geist des kunstschaffenden Subjekts sowiegegen den idealistischen und andere Geistbegriffe ab (Ebenda, S. 134f.). Kunstwerkewerden „allein durch das Verhältnis ihrer sinnlichen Momente zueinander Geist"(Ebenda, S. 166). Ihr Geist ist aber mehr als dieses Verhältnis. Er ist der objektive

Gehalt der Kunstwerke, Geist der Sache, die durch sie zum Ausdruck kommt (Ebenda,S. 138, 135). Adorno verwendet den Begriff des Geists für ästhetische Rationalität, deres gelungen ist, sich von der Herrschaft und der Gewalt zu emanzipieren und einenobjektiven Gehalt auszudrücken (Ebenda, S. 180). Den Geist der Kunstwerke bestimmtAdorno auch als „ihr objektiviertes mimetisches Verhalten" (Ebenda, S. 424).

671 Ebenda, S. 202.672 Ebenda, S. 180.

Die Versöhnung von mimetisch expressivem und konstruktiv rationalem Momentbetrachtet Adorno bei „exemplarischen Künstlern der Epoche wie Schönberg, Klee,Picasso" als erreicht (Ebenda, S. 381).

234

seits ein Stück Andersheit. Auch Synthesis hat ihr Fundament in der geist

fernen, materialen Seite der Werke, in dem, woran sie sich betätigt, nichtbloß in sich. Das verbindet das ästhetische Moment der Form mit Gewalt-

losigkeit.

Ästhetische Rationalität muß nicht nur dem Auszudrückenden, dem objektiven Gehalt, sondern auch der Vielheit des Materials, seinen Qualitätenund seiner Kohärenz so weit wie möglich gerecht werden. Auch dadurchverwirklicht sich der Vorrang des Objekts in den Kunstwerken. Denn sokommt nicht nur der objektive Gehalt des Kunstwerks weitgehend ohnesubjektive Zurüstung und Herrschaft zum Ausdruck; auch dem Materialund seinen Qualitäten widerfährt weitgehend das seine: „Ästhetische

Einheit empfängt ihre Dignität durchs Mannigfaltige selbst. Sie läßt demHeterogenen Gerechtigkeit  widerfahren" und ist „ihrerseits Funktion desMannigfaltigen".

An anderer Stelle erscheint es Adorno jedoch fraglich, ob sich dasPostulat des Vorrangs des Objekts und der Qualität einfach auf die Kunstübertragen läßt:

Die epistemologische Kritik des Idealismus, die dem Objekt ein Momentvon Vormacht verschafft, ist nicht simpel auf die Kunst zu übertragen.Objekt in ihr und in der Realität ist ein durchaus verschiedenes. Das derKunst ist das von ihr hervorgebrachte Gebilde, das die Elemente der empirischen Realität ebenso in sich enthält wie versetzt, auflöst, nach seinem

674 Ebenda, S. 430, 72, 213, 381, 429f, 454; „Der Akt, der das Mimetische und Diffuse imKunstwerk bindet und stillstellt, tut der amorphen Natur nicht nur Böses an" (Ebenda,S. 202).

675 Ebenda, S. 19.Ebenda, S. 285 (Hervorhebung von mir); „Die ästhetische Einheit des Mannigfaltigenerscheint, als hätte sie diesem keine Gewalt angetan, sondern wäre aus dem Mannigfaltigen selber erraten" (Ebenda, S. 202).

23 5

KAPITEL IX

eigenen Gesetz rekonstruiert. Einzig durch solche Transformation, nichtdurch ohnehin stets fälschende Photographie, gibt sie der empirischenRealität das Ihre, die Epiphanie ihres verborgenen Wesens und den verdienten Schauer vor ihm als dem Unwesen. Der Vorrang des Objekts behauptet ästhetisch allein sich am Charakter der Kunst als bewußtloser Geschichtsschreibung, Anamnesis des Unterlegenen, Verdrängten, vielleichtMöglichen. Der Vorrang des Objekt, als potentielle Freiheit dessen was istvon der Herrschaft, manifestiert sich in der Kunst als ihre Freiheit von denObjekten.

ETHIK ALS ERSTE PHILOSOPHIE

Idee sich wirklich einlassen, während es im Ideal der Versöhnung vorschnell auf eine mögliche Einheit hin überschritten wird. Pointiert gesagt:Die Idee der Gerechtigkeit ist jene Umformulierung des Ideals der Versöhnung, die in dem Moment unausweichlich wird, in dem man an eine letzteVereinbarung des Heterogenen nicht mehr glauben kann. Dann muß derharte und nüchterne Begriff der Gerechtigkeit den hoffnungsvoll-wolkigender Versöhnung ablösen.

Welsch vertritt auch die These, daß Adorno die Idee der Versöhnung - vonmimetisch expressivem und rational konstruktivem Pol der Kunst - ganz

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Im strengen Sinne will Adorno also nur auf der Ebene des Auszudrückenden - des durch die geschichtliche Unterdrückung und Herrschaft erzeugten Leidens - vom Vorrang des Objekts sprechen. Allerdings hält sichAdorno selbst nicht an diese Beschränkung. So heißt es etwa auch:„Vorrang des Objekts heißt im ästhetischen Gebilde der der Sache selbst,des Kunstwerks, über den Hervorbringenden wie über den Empfangenden." Inwieweit es nun für Adorno wirklich gerechtfertigt ist, auch auf der Ebene des Materials vom Vorrang des Objekts zu sprechen, mag hierdahingestellt bleiben. Festzuhalten gilt es jedoch, daß ästhetische Rationalität so weit wie möglich dem „Heterogenen Gerechtigkeit widerfahrenläßt". Zudem vermag sie - vor allem im Hinblick auf fragmentarischeWerke - eine „gewaltlose Synthesis des Zerstreuten" zu leisten und damit

„das Einzelne durchs Ganze zum Sprechen zu bringen". Mit derVerwirklichung der wechselseitig aufeinander bezogenen Postulate derMoral des Denkens verwirklicht ästhetische Rationalität auch die Gerechtigkeit, die diese Postulate übergreift und einbezieht. Da ästhetische Rationalität weitgehend imstande ist, Adornos Moral des Denkens einzulösen,stellt sie auch ein nachahmenswertes Modell für das vorherrschende Identitätsdenken dar. Inwieweit dieses aber vermag, sich ästhetischer Rationalität gleichzumachen, bleibt ein offene Frage.

Im Hinblick auf die eben zitierte Textstelle zur Gerechtigkeit analysiertWolfgang Welsch das Verhältnis von den Ideen der Gerechtigkeit und derVersöhnung in der Kiiist folgendermaßen:

Damit tritt nun die Idee der Gerechtigkeit an die Stelle des Ideals der Versöhnung. Denn auf das Divergente und Widerspruchsvolle kann nur diese

Ebenda, S. 384.

Ebenda, S. 479, vgl. 217, 254.Ebenda, S. 216f., 285.

23 6

preisgibt. Die Belegstellen, die er dafür angibt, sind nicht eindeutig.Andere Passagen sprechen gegen seine These: „Während die Einheit derKunstwerke abstammt von der Gewalt, welche die Vernunft den Dingenantut, stiftet sie zugleich in den Kunstwerken die Versöhnung ihrer

 /" Ol

Momente." In Anbetracht der Ergebnisse der gesamten Untersuchung -vor allem von Kapitel VII - läßt sich das grundsätzliche Verhältniszwischen den beiden Ideen so bestimmen, daß die Idee der Gerechtigkeitder säkularisierte und materialistische Gehalt der Idee der Versöhnung istund damit das wirklich Wesentliche in Adornos Denken. Deswegenverwirft er die Idee der Versöhnung aber nicht, sondern versucht siezugleich kritisch zu erretten und hält an ihr in den verschiedenstenKontexten fest.

2. Das Verhältnis von diskursiver Erkenntnis und Kunstals Form von Erkenntnis

Wie bereits dargelegt, begreift Adorno die Kunst als Gestalt bzw. alsForm von Erkenntnis, die Wahrheit über die gesellschaftliche Wirklichkeitzum Ausdruck bringt. Über das Verhältnis von diskursiver bzw. philosophischer Erkenntnis und Kunst als Form von Erkenntnis äußert er: „Kunst

berichtigt die begriffliche Erkenntnis, weil sie, abgespalten, vollbringt,was jene von der unbildlichen Subjekt-Objekt-Relation vergebens erwar-

0 Wolfgang Welsch: Adornos Ästhetik: eine implizite Ästhetik des Erhabenen, a.a.O., S.196.

1 Adorno: AT, S. 454.

237

KAPITEL IX

tet: daß durch subjektive Leistung ein Objektives sich enthüllt."682 Wiediese Berichtigung genauer zu verstehen ist, erläutert Adorno an andererStelle:

Während diskursive Erkenntnis an die Realität heranreicht, auch an ihre Irrationalitäten, die ihrerseits ihrem Bewegungsgesetz entspringen, ist etwasan ihr spröde gegen rationale Erkenntnis. Dieser ist das Leiden fremd, siekann es subsumierend bestimmen, Mittel zur Linderung beistellen; kaumdurch seine Erfahrung ausdrücken: eben das hieße ihr irrational. Leiden,auf den Begriff gebracht, bleibt stumm und konsequenzenlos: das läßt in

ETHIK ALS ERSTE PHILOSOPHIE

Kunst vorb ei." Eine Gegenthes e zu Haber mas und Bubner findet sichbei Herbert Schnädelbach, der die Auffassung vertritt, „daß Negative

 Dialektik  und Ästhetische Theorie in einem Komplementärverhältniszueinander stehen und nicht in einem Verhältnis des Übergangs des einenin das andere". Das von Schnädelbach nur konstatierte Komplementärverhältnis läßt sich hier so begründen, daß nicht nur diese beidenWerke, sondern Adornos Gesamtwerk dem Primat der materialistischenund utopisch hedonistischen Ethik untersteht, die den Kern seinesDenkens bildet. Viele der Begründungen für diese These haben dievorangehenden Kapitel bereits geleistet. So ist es die Aufgabe der

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Deutschland nach Hitler sich beobachten. Dem Hegeischen Satz, denBrecht als Devise sich erkor: die Wahrheit sei konkret, genügt vielleicht imZeitalter des unbegreifbaren Grauens nur noch die Kunst. Das HegeischeMotiv von der Kunst als dem Bewußtsein von Nöten hat über alles von ihmabsehbare hinaus sich bestätigt.

Die rationale Erkenntnis kann das Leiden und die es verursachende unvernünftige Wirklichkeit zwar auf den Begriff bringen und seine Gründeanalysieren. Ihr Mangel besteht jedoch für Adorno darin, daß sie imGegensatz zur Kunst das Leiden und damit die Wahrheit nicht erfahrbarmachen kann und deshalb auch wenig zur Veränderung des falschenBewußtseins beitragen kann. Begründet ist dieses Defizit nicht nur imWesen der rationalen Erkenntnis, sondern auch in den Schwierigkeiten,die philosophische Objektivation des Leidens anderen Menschen zukommunizieren und evident zu machen. Trotzdem ist es keineswegsgerechtfertigt, mit Jürgen Habermas eine „Abtretung der Erkenntnis-Kompetenzen an die Kunst"68 4 oder mit Rüdiger Bubner die Auswanderung der Theorie in die Ästhetik" 6 *5 zu unterstellen. Die Auslegungenvon Habermas und Bubner bezeichnet Reinhard Kager schlicht alsFehldeutungen: „Dieses Mißverständnis, Adorno wolle Philosophie inÄsthetik überführen oder gar ein philosophisches Kunstwerk inszenieren,geht völlig am dialektisch konzipierten Verhältnis von Philosophie und

I

Ebenda, S. 173; „Unverhüllt ist das Wahre der diskursiven Erkenntnis, aber dafür hatsie es nicht; die Erkenntnis, welche Kunst ist, hat es, aber als ein ihr Inkommensurables" (Ebenda, S. 191).

683 Ebenda, S. 35.

Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns I, a.a.O., S. 514.Rüdiger Bubner: Kann Theorie ästhetisch werden? Zum Hauptmotiv der Philosophie Adornos, a.a.O., S. 131.

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Geschichtsphilosophie, die ungerechten Herrschaftsverhältnisse und damitdie geschichtlichen und gesellschaftlichen Ursachen des Leidens zu analysieren. Die in sie integrierten psychologischen bzw. psychoanalytischenTheorieelemente haben die Aufgabe, die ungerechte Herrschaft der selbsterhaltenden Vernunft über die Triebe zu untersuchen. In diesem Zusammenhang spricht Fredric Jameson davon, daß der „Übergang der Ethik in(historisch verstandene) Soziologie der bedeutsamste strategische Zug" inAdorn os Werk ist. Obwohl Jameson die Geschich tsphilo sophie und diepolitische Theorie offensichtlich der Soziologie unterordnet, ist seineAuffassung hinsichtlich des ethischen Primats von Adornos Denken nichtumfassend genug, sonst aber durchaus zutreffend. Denn Adorno betreibtnicht nur die Soziologie, die das Unrecht der gesellschaftlichen Herrschaft

und das daraus entstehende Leiden analysiert, sondern auch dietheoretische Philosophie und damit die Erkenntnistheorie aus ethischerPerspektive. Dies konnte das vorangehende Kapitel über die Negative

 Dialektik  zeigen, das die Gerechtigkeit und die Ungerechtigkeit imBereich des theoretischen Denkens untersucht hat. Daß auch die Kunstund die Ästhetik - das heißt die philosophische Perspektive auf die Kunst -

Reinhard Kager, der sich auch auf eine Reihe weiterer Arbeiten bezieht, versucht auchdie Gründe der Entstehung dieser Fehldeutung aufzuklären (Reinhard Kager, a.a.O., S.274).

Herbert Schnädelbach: Dialektik als Vernunftkritik, a.a.O., S. 92. In ähnlicher Weisebegreift Byeong-Ho Mun das Verhältnis von ästhetischer und diskursiver Erkenntnis alskomplementär: „Philosophie und Kunst sollen, nach Adorno, ihre Mangelhaftigkeit beidem Erkenntnisakt des Gegenstandes gegenseitig ergänzen: Philosophie durch dasanschauliche Moment, welches dem mimetischen Verhalten der Kunst innewohnt,Kunst durch die Begrifflichkeit, über welche Philosophie als deren Medium verfügt"(Mun, Byeong-Ho: Intentionslose Parteinahme. Zum Verhältnis der Kunst und Literaturzur Gesellschaft im Bann der Naturbeherrschung und Rationalisierung bei Theodor W.Adorno, Frankfurt am Main u.a.O. 1992, S. 96).Fredric Jameson, a.a.O., S. 13.

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KAPITEL IX

dem Primat der Ethik unterstehen, wird im folgenden Kapitel zu zeigensein. Davor ist es erforderlich, auf das Verhältnis von Kunst und Ästhetikeinzugehen.

Vielleicht eignen sich Paul Celans spätere Gedichte durch ihre Dunkelheit und Hermetik besonders zur Veranschaulichung dessen, was Adornoals allgemeines Merkmal genuiner Kunst ansieht: „Alle Kunstwerke, undKunst insgesamt, sind Rätsel; das hat von altersher die Theorie der Kunstirritiert. Daß Kunstwerke etwas sagen und mit dem gleichen Atemzug esverbergen, nennt den Rätselcharakter unterm Aspekt der Sprache."Durch ihren Rätselcharakter fordern Kunstwerke die Reflexion und die

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Adorno als Totalität begreift, bedarf es zur Interpretation und zumVerständnis ihres Wahrheitsgehalts der umfassenden philosophischenTheorie. Das bedeutet, daß Theorie gar nicht - wie Rüdiger Bubnerunterstellt - in die Ästhetik auswandern kann, sofern sie Theorie bleibenwill. Denn das Verständnis der Kunst setzt für Adorno das Verständnis derWirklichkeit und damit die Integration aller philosophischer Disziplinenvoraus. Auch von der „Abtretung der Erkenntnis-Kompetenzen an dieKunst", die Jürgen Habermas annimmt, kann nicht die Rede sein. Zumeinen weil der Bereich der ihr möglichen Erkenntnis begrenzt ist. Kunst

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vermag es für Adorno grundsätzlich nicht Objekte zu erkennen

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Interpretation heraus. Sie wollen von ihren Rezipienten verstandenwerden. Gänzlich sind authentische Kunstwerke für Adorno jedoch nichtzu verstehen. Ihr Rätselcharakter läßt sich nicht vollständig auflösen. Inseiner strengen Bedeutung verlangt das Rätsel der Kunstwerke von derInterpretation, ihre immanente Zusammensetzung zu verstehen: „DasRätselbild der Kunst ist die Konfiguration von Mimesis und Rationalität." Durch die Komposition, in der das mimetisch expressive Momentdurch rationale Konstruktion objektiviert ist, gewinnt das Kunstwerkseinen Wahrheitsgehalt. Diesen durch deutende Vernunft herauszustellen,ist für Adorno die primäre Aufgabe der Interpretation: „In oberster Instanzsind die Kunstwerke rätselhaft nicht ihrer Komposition sondern ihremWahrheitsgehalt nach." 91 Die Voraussetzung zur Interpretation eines

Werkes stellt für Adorno die volle ästhetische Erfahrung des Rezipientendar. Auf die verschiedenen Schichten seiner Auffassung von Kunstverständnis muß hier nicht eingegangen werden. Entscheidend ist für Adorno,daß der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke „allein durch philosophischeReflexion zu gewinnen" ist: „Das, nichts anderes rechtfertigt Ästhetik."Für Adorno ist Ästhetik „aber keine angewandte Philosophie sondernphilosophisch in sich".692

Wie im Verlauf der Untersuchung deutlich geworden sein dürfte, dekonstruiert und überschreitet Adornos Denken grundsätzlich die Grenzlinien,die Aristoteles durch die Disziplinierung der Wissenschaften gezogen hat.Ästhetik, als die philosophische Perspektive auf die Kunst, läßt sich

demzufolge auch nicht als ein von der übrigen Philosophie abgetrennterBereich begreifen. Da die Kunst ein Moment der Wirklichkeit ist, die

Adorno: AT, S. 182.Ebenda, S. 192, 184f.Ebenda, S. 192, 194.

Ebenda, S. 193, 140; vgl. zu den verschiedenen Schichten von Adornos Auffassung vonKunstverständnis: 513-518.

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vermag es für Adorno grundsätzlich nicht, Objekte zu erkennen.Ebensowenig kann die Kunst als begrifflose Erkenntnis die geschichtlichen Gründe und kausalen Zusammenhänge von Ungerechtigkeit undLeiden analysieren, geschweige denn Ungerechtigkeit im Bereich dertheoretischen Philosophie und des wissenschaftlichen Denkens. Zumanderen bedarf es immer der philosophischen Perspektive auf die Kunstund damit der rationalen Erkenntnis, um ihre Form von Erkenntnisverstehen und interpretieren zu können. Der Vorzug der Kunst gegenüberder Theorie besteht für Adorno darin, daß sie ihren Wahrheitsgehalterfahrbar machen kann und damit „Eingriffe ins Bewußtsein" der Menschen möglich macht. Adorno ist der Überzeugung, daß die Veränderungdes Bewußtseins irgendwann in „die Veränderung der Realität übergehen

könnte", da „der Fortbestand der bestehenden Gesellschaft mit ihremBewußtsein von sich selbst unvereinbar ist". Dieser Überzeugungstehen natürlich die erheblichen Anforderungen entgegen, die radikalmoderne Kunst an ihre Rezipienten stellt und die auch mit Adornoselitärer Auffassung von genuiner ästhetischer Erfahrung verbunden sind.Da moderne Kunst durch ihre hohen Anforderungen nur von den wenigsten verstanden werden kann, kann sie wie Adornos Philosophie kaum auf breiterer Basis Wirkung entfalten. Folglich ist auch politisch nicht vielvon ihr zu erwarten.

693 Ebenda, S. 391,419,516.694 Ebenda, S. 46 3, 360f., 292.

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KAPITEL IX

vom menschlichen Vernunftwesen auf die Natur, der für Adorno derVorrang gebührt. Wie gleich gezeigt wird, meint Adorno jedoch mit derNatur, die zum Erhabenen wird, vor allem die innere Natur des Körpersund der Triebe, die die Menschheit als Folge der Beherrschung deräußeren Natur durch Arbeit mittels der selbsterhaltenden Vernunft unterdrücken muß. Deutlich wird das an Adornos Reflexionen über das Erhabene als Gefühl, die im Zusammenhang mit seinen von der Forschungsliteratur nahezu vollständig übersehenen Gedanken über die Rezeption von Kunst stehen.

Das Beispiel, das Adorno für den Rezeptionsaspekt der Kunst anführt,

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Erschütterung reißt das distanzierte Subjekt wieder in sich hinein. Währenddie Kunstwerke der Betrachtung sich öffnen, beirren sie zugleich den Betrachter in seiner Distanz, der des bloßen Zuschauers; ihm geht die Wahrheit des Werkes auf als die, welche auch die Wahrheit seiner selbst seinsollte. Der Augenblick dieses Übergangs ist der oberste von Kunst. Er errettet Subjektivität, sogar subjektive Ästhetik durch ihre Negation hindurch. Das von Kunst erschütterte Subjekt macht reale Erfahrungen; nun

 jedoch, kraft der Einsicht ins Kunstwerk als Kunstwerk solche, in denenseine Verhärtung in der eigenen Subjektivität sich löst, seiner Selbstsetzung ihre Beschränktheit aufgeht. Hat das Subjekt in der Erschütterungsein wahres Glück an den Kunstwerken, so ist es auch eines gegen das

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ist der Eintritt der Reprise von Beethovens Neunter Symphonie: „Sieerdröhnt als ein überwältigendes So ist es. Darauf mag Erschütterungantworten, getönt von der Furcht vor der Überwältigung; indem die Musikaffirmiert, sagt sie auch die Wahrheit über die Unwahrheit." 7 Umgenuine ästhetische Erfahrungen machen zu können, ist für Adorno dieäußerste Anspannung des Rezipienten erforderlich. In diesem Zustandkommt es zu der unwillkürlichen Betroffenheit durch das Kunstwerk, dieAdorno als den Augenblick der Erschütterung denkt. In diesem Augenblick vergißt sich der Rezipient, „verschwindet" im Kunstwerk und machtsich ihm in einer spontanen Reaktion gleich. Genuine Kunstrezeptionbegreift für Adorno mimetisches Verhalten mit ein: „adäquate Erkenntnisvon Ästhetischem ist der spontane Vollzug der objektiven Prozesse, die

vermöge seiner Spannungen darin sich zutragen".7 Die volle Erfahrungder Kunstwerke setzt für Adorno nicht nur das Verständnis ihres Produktionsaspekts voraus, sondern auch die umfassende philosophische Theorie,durch die sich die gesellschaftliche Bedeutung der Formstrukturenverstehen läßt.

Im Augenblick der Erschütterung erfährt der Rezipient das Erhabene alsden objektiven Wahrheitsgehalt des Kunstwerks:

 _ ,

So unterstellt Albrecht Wellmer, daß Adorno „in einer eigentümlichen Verengung desBlicks" immer „nur an die ästhetischen Produzenten denkt" (Albrecht Wellmer: ZurDialektik von Moderne und Postmoderne, a.a.O., S. 103). Auch Fredric Jameson sprichtdavon, daß Adorno „als treuer Gefolgsmann Benjamins, Aspekte der Rezeption systematisch aus seiner Ästhetik" ausblendet (Fredric Jameson: Spätmarxismus, a.a.O., S.85). Analog dazu spricht Ulrich Gmünder von „Adornos Vernachlässigung des Rezeptionsaspekts" (Ulrich Gmünder: Kritische Theorie. Horkheimer, Adorno, Marcuse,Habermas, Stuttgart 1985, S. 79).

" Adorno: AT, S. 363.2 Ebenda, S. 109, 363f., 190.

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Subjekt; darum ihr Organ das Weinen, das auch die Trauer über die eigeneHinfälligkeit ausdrückt. Kant hat davon etwas in der Ästhetik des Erhabe-

• • _ *7 0 3nen gespurt.

Indem das Subjekt die Wahrheit des Kunstwerks erfährt, erfährt es fürAdorno die Wahrheit über sich selbst und seine Naturhaftigkeit. Währendder Mensch für Kant an der Natur die Erfahrung seiner übersinnlichenVernunftbestimmung macht, erfährt er sich für Adorno an der Kunst alssinnliches Naturwesen: „Erhaben sollte die Größe des Menschen als einesGeistigen und Naturbezwingenden sein. Enthüllt sich jedoch die Erfahrung des Erhabenen als Selbstbewußtsein des Menschen von seiner

Naturhaftigkeit, so verändert sich die Zusammensetzung der Kategorieerhab en." Im Augenbl ick der Erschütt erung erfährt das Subjekt dieinnere Natur des Körpers und der Triebe als deformierte, unterdrückte undleidende Natur. Zusammen mit der „Furcht vor der Überwältigung" machtdiese Erfahrung das Moment von Unlust an der Erschütterung und damitam Gefühl des Erhabenen aus. Im Kunstwerk korrespondiert dieserErfahrung das unabdingbare Moment von Gewalt und Herrschaft, die dieästhetische Rationalität über das Material ausübt. Die Erschütterung gehtaber im Gefühl des Erhabenen auch mit wahrer Lust einher, die das Glückder Erfahrung und der Erkenntnis der eigenen sinnlichen Triebnaturgewährt, die Adorno als eine Erkenntnis „von Gerechtigkeit" begreift.Denn für Momente „wird das Ich real der Möglichkeit inne, seine

Ebenda, S. 401 (Hervorhebungen von mir).Ebenda, S. 295.Ebenda, S. 30. Das Glück und damit die wahre Lust, die der Rezipient in der Erschütterung durch die Kunst erfährt, darf natürlich nicht mit Adornos Kritik am „ästhetischenHedonismus" verwechselt werden, der die Kunst als „Genußmittel höherer Ordnung"begreift und ein regressives, banausisches und kulinarisches Verhältnis zur Lust und zurKunst hat: „Worte wie Ohrenschmaus überführen ihn" (Ebenda, S. 27, 30, vgl. 364).

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KAPITEL IX

Selbsterhaltung unter sich zu lassen, ohne daß es doch dazu ausreichte, jene Möglichkeit zu realisieren." In der ästhetischen Erfahrung, die dieobjektiven Prozesse im Kunstwerk spontan nachvollzieht und sich an sieangleicht, fühlt das Subjekt „das Potential, als wäre es realisiert".Dadurch erfährt es die erhabene innere Natur des Körpers und der Triebeund die mögliche Freiheit von ihrer Unterdrückung durch die selbsterhaltende Vernunft und schaut geistig „aus der Gefangenschaft in sichselbst heraus". In diesem Augenblick lösen sich die Spannungen undVerhärtungen, die mit der Herrschaft des rationalen Ichs über den Körperund die Triebe einhergehen, und der Rezipient beginnt für Adorno zu

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nicht indem sie erdrücken.""1

Genuine ästhetische Erfahrungen stellen für Adorno „Eingriffe ins Bewußtsein" der Rezipienten dar, da in ihnen der Scheincharakter der Kunstwerke demontiert und auf ihren objektiven Wahrheitsgehalt hin überschritten wird. Dieser besteht für Adorno zum einen in dem von derungerechten Gesellschaft erzeugten physischen Leiden und zum anderenin der utopischen Gestalt der Natur, des Individuums und der Gesellschaft:

Ergriffen wird das Ich von dem unmetaphorischen, den ästhetischen Scheinzerbrechenden Bewußtsein: das es nicht das letzte, selber scheinhaft sei.

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weinen. Im Kunstwerk korrespondiert dieser Erfahrung, daß ästhetischeRationalität durch die Verwirklichung der Moral des Denkens so weit wiemöglich dem „Heterogenen Gerechtigkeit widerfahren läßt". Durch dieweitgehend gewaltfreie und herrschaftsfreie Integration der Vielheit zueiner einheitlichen Form antizipieren die Kunstwerke die utopischeGestalt der Natur, des Individuums und der Gesellschaft. Dadurch sind dieKunstwerke auch nachahmenswerte Modelle: „in einem sublimierten Sinnsoll die Realität die Kunstwerke nachahmen". In der hedonistischenSozialutopie, die für Adorno durch den damaligen Stand von Wissenschaftund Technik bereits hätte verwirklicht werden können, könnte das Ichseine herrschaftliche Selbstsetzung zurücknehmen und genuine somatische Lust verwirklichen. So äußert Adorno, „daß man einst wider das

Lustprinzip agieren mußte um der Selbsterhaltung willen; obwohl dochdie auf ein Minimum reduzierte Arbeit nicht länger mit Verzicht gekoppelt zu sein brauchte". Das Glück der Erfahrung seiner utopischenGestalt gibt dem Rezipienten einen Ausblick auf die Möglichkeit derhedonistischen Sozialutopie sowie auf die in ihr mögliche Freiheit. Damiterhält er für Adorno auch das Gefühl und das Vermögen, dem Leiden amBestehenden geistig standzuhalten. Auch dieser Gedanke Adornos ist dasResultat einer materialistischen Umwendung von Kants „Vermögen zuwiderstehen von ganz anderer Art": „mit tiefem Recht hat er den Begriff des Erhabenen durch den Widerstand des Geistes gegen die Übermachtdefiniert. Das Gefühl des Erhabenen gilt nicht dem Erscheinendenunmittelbar; die hohen Berge sprechen als Bilder eines von dem Fesselnden, Einengenden befreiten Raums und von der möglichen Teilhabe daran,

™° Ebenda, S. 364.

Ebenda.708 Ebenda, S. 410; vgl. bereits: Adorno: PnM, S. 122.709 Adorno: AT, S. 199f.

Adorno: Marginalien zu Theorie und Praxis, in: Adorno: St, S. 172.

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Das verwandelt die Kunst dem Subjekt in das, was sie an sich ist, dengeschichtlichen Sprecher unterdrückter Natur, kritisch am Ende gegen dasIchprinzip, den inwendigen Agenten der Unterdrückung.

An diesem Punkt zeigt sich, daß Adorno auch die Kunst und die Ästhetikdem Primat seiner materialistischen und utopisch hedonistischen Ethikunterstellt. Denn er weist der modernen Kunst die Aufgabe zu, die er alsihr Wesen ausgibt, Sprecher der unterdrückten somatischen Triebe dererhabenen inneren Natur zu sein und das Leiden - Unlust und Schmerz -an ihrer Repression auszudrücken, das von der ungerechten Gesellschaftvermittelt durch das Ichprinzip erzeugt wird. Damit ordnet Adorno die

Kunst dem aus der physischen Negation des Leidens erwachsendenmoralischen Impuls seiner Ethik unter, dem Leiden als dem höchsten ÜbelAusdruck zu verleihen, es zu kritisieren und an seiner Abschaffung zuarbeiten. Angesichts der „Verstelltheit wahrer Politik hier und heute" kanner sich diese Arbeit nur als den gewaltlosen Versuch der Veränderung desBewußtseins der Menschen vorstellen. Vielsagend spricht Adorno davon,es sei „den Kunstwerken aufgebürdet, wortlos festzuhalten, was derPolitik versperrt ist". Wie bereits dargelegt, besteht das materialistischeElement von Adornos Ethik darin, dem Leib und dem Sofflichen einenPrimat vor dem aus ihm abgeleiteten Geistigen zuzuerkennen. DiesesMoment tritt auch deutlich in der materialistischen Umwendung von

Ebenda, S. 296, 31, 66, 381; Adorno: Aufzeichnungen zu Kafka, in: Adorno: P, S. 262;Immanuel Kant: Kritk der Urteilskraft, a.a.O., S. 185.

712 Adorno: AT, S. 364f, 292 (Hervorhebungen von mir); vgl. Adorno: ND, S. 277.13 Adorno: Engagement, in: Adorno: NL, S. 430 (Hervorhebung von mir); In diesem

Aufsatz äußert Adorno auch: „Noch im sublimiertesten Kunstwerk birgt sich ein Es sollanders sein; [...]. Als rein gemachte, hergestellte, sind Kunstwerke, auch literarische,Anweisungen auf die Praxis, deren sie sich enthalten: Die Herstellung richtigen Lebens"(Ebenda, S. 429).

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KAPITEL IX

Kants Theorie des Erhabenen in Erscheinung. Das utopisch hedonistischeMoment seiner Ethik verwirklichen die Kunstwerke durch die Antizipation der körperlichen Lust als dem Guten und dem Ziel und der Gerechtigkeit, durch die die Lust allein wirklich werden könnte. Da die Aufgabeder Ästhetik für Adorno darin besteht, den Wahrheitsgehalt der Kunstwerke durch die auf die umfassende philosophische Theorie gestützteInterpretation zu gewinnen, unterstellt er sie gleichermaßen dem Primatder Ethik. Seine Ästhetik läßt sich demzufolge als materialistische undutopisch hedonistische Ästhetik unter dem Primat der Ethik charakterisieren. Da Adorno nicht nur die Geschichtsphilosophie, die Soziologie, die

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Brüsten sieht. Natürlich war dieser Schwachsinn kalkuliert 715

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Psychologie, die politische Theorie und die Erkenntnistheorie, sondernauch die Kunst und die Ästhetik dem Primat seiner materialistischen undutopisch hedonistischen Ethik unterstellt, ist es gerechtfertigt, von Ethikund nicht von Ästhetik als erster Philosophie im Denken Adornos zusprechen.

Im Lichte der Ergebnisse dieser Untersuchung wird die Bedeutung derEreignisse von 1969 für Adorno erst in ihrer ganzen Tragweite verständlich. Am 31. Januar 1969 sieht Adorno im Institut für Sozialforschung vonseinem Zimmer aus Studenten „in relativ geschlossener Gruppe, dicht,aber lose, im Geschwindmarsch um die Ecke biegen (wie er später aussagen wird)." Als die Studenten trotz mehrfacher Aufforderung dasInstitut nicht verlassen, läßt es Adorno von der Polizei räumen, weil erdavon ausgeht, daß sie es besetzen wollen. Damit ist der Bruch mit denStudenten, die ihn auch wegen seiner Ablehnung von politischer Praxiskritisieren, endgültig. Seine Vorlesung im Sommer-Semester kann er nichtzu Ende führen, weil sie von Studenten gesprengt wird. Besonders harttrifft Adorno, der sich schließlich als materialistischer und utopischhedonistischer Denker erwiesen hat, daß eine Gruppe von Studentinnenmit entblößtem Oberkörper das Podium gestürmt hatte. So äußert erwenige Monate vor seinem Tod in einem Spiegel-Gespräch:

Gerade bei mir, der sich stets gegen jede Art erotischer Repression und gegen Sexualtabus gewandt hat! Mich zu verhöhnen und drei als Hippies zu

rechtgemachte Mädchen auf mich loszuhetzen! Ich fand das widerlich. DerHeiterkeitseffekt, den man damit erzielt, war ja doch im Grunde die Reaktion des Spießbürgers, der Hihi! kichert, wenn er ein Mädchen mit nackten

714 Adornos Aussage ist zitiert in seiner Biographie von Hartmut Scheible (HartmutScheible: Theodor W. Adorno, Hamburg 1989, S. 145; vgl. zu den Vorfällen von 1969auch: Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule, a.a.O., S. 702ff.

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715 „Keine Angst vor dem Elfenbeinturm. Spiegel-Gespräch mit dem SozialphilosophenProfessor Theodor W. Adorno", Der Spiegel, Nr. 19, 1969, S. 206.

24 9

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