Theoretische und experimentelle Untersuchungen über die Entstehungsbedingungen des Carcinoms....

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Theoretisehe und experimentelle Untersuchungen tiber die Entstehungsbedingungen des Careinoms. Zugleich ein Bei- trag zur Frage des konstitutionellen )Iomentes. Von Erwin Bauer. (Aus dem Institut fiir allgemeine Biologie und experimentelle Morphologie der Karlsuniversit/~t Prag.) Mit 11 Textabbfldungen. (Eingegangen am '2. Juni 1923.) Wird dieselbe Erscheinung durch die verschiedensten ,,Bedingungen" oder ,,Ursaehen" hervorgerufen, so gill es, das Gemeinsame in den ver- schiedenen ,,Ursachen" resp. ,,Bedingungen" zu finden. Gelingt es, dieses Gemeinsame aufzufinden, so sind wir geneigt anzunehmen, das- selbe sei die ,,Ursaehe" der betreffenden Erseheinung. Diese Annahme machen wit auf Grund des ,,Kausaliti~tsprinzips", welches besagt, dab unter ganz genau densdben Umstanden ganz genau d~ieselbe Erscheinung auftreten muB, dab also die zu erwar~ende Erscheinung durch die ge- gebenen Anfangsbedingungen eindeutig bestimmt ist. Es ist klar, dab die M6glichkeit einer Naturwissenschaft, also die MS~lichkeit eines Naturgesetzes mit diesem Prinzip steht und fallt. Es ist aber aueh klar, daB, wenn wir ein Gemeinsames in den verschiedenen Bedingungen ge- funden haben, dieses noch nieht ganz genau diejenigen Anfangsbedin- gungen darzustellen braueht, die die betreflende Erscheinung eindeutig bestimmen. Dies ist nur sozusagen in erster Annaherung der Fall, das betreffende Gemeinsame betraehten wir in erster Ann~herung als die ,,Ursache". Es ist niimlich anzunehmen, dab das aufgefundene Ge- meinsame zum Hervorrufen der betreffenden Erscheinung tatsi~ehlich immer hinreicht, aber nicht unbedingt noSwendig ist, also, wie man zu sagen pflegt, kann die betreffende Erscheinung auch eine ,,andere Ursache" haben. In diesem Falle haben wires mit einer ,,Regel des Vorkommens" im Sinne Roux '1) zu tun. Erst im Falle, dab wit nach- weisen k6nnen, dal~ dieses Gemeinsame nieht nur hinreicht, sondern auch unbedingt notwendig zum Hcrvorrufen der betreffenden Er- scheinung ist, kSnnen wir sagen es sei die ,,Ursache" der betreffenden 1) W. Roux, Prinzipielle Sonderung yon Naturgesetz und Regel, yon Wirken und Vorkommen. Si~zungsber. d. preul]. Akad. d. Wigs. 1920. )Iitt. v. 6. V.

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Theoretisehe und experimentelle Untersuchungen tiber die Entstehungsbedingungen des Careinoms. Zugleich ein Bei-

trag zur Frage des konstitutionellen )Iomentes.

Von Erwin Bauer.

(Aus dem Institut fiir allgemeine Biologie und experimentelle Morphologie der Karlsuniversit/~t Prag.) Mit 11 Textabbfldungen.

(Eingegangen am '2. Juni 1923.)

Wird dieselbe Erscheinung durch die verschiedensten ,,Bedingungen" oder ,,Ursaehen" hervorgerufen, so gill es, das Gemeinsame in den ver- schiedenen ,,Ursachen" resp. ,,Bedingungen" zu finden. Gelingt es, dieses Gemeinsame aufzufinden, so sind wir geneigt anzunehmen, das- selbe sei die ,,Ursaehe" der betreffenden Erseheinung. Diese Annahme machen wit auf Grund des ,,Kausaliti~tsprinzips", welches besagt, dab unter ganz genau densdben Umstanden ganz genau d~ieselbe Erscheinung auftreten muB, dab also die zu erwar~ende Erscheinung durch die ge- gebenen Anfangsbedingungen eindeutig bestimmt ist. Es ist klar, dab die M6glichkeit einer Naturwissenschaft, also die MS~lichkeit eines Naturgesetzes mit diesem Prinzip steht und fallt. Es ist aber aueh klar, daB, wenn wir ein Gemeinsames in den verschiedenen Bedingungen ge- funden haben, dieses noch nieht ganz genau diejenigen Anfangsbedin- gungen darzustellen braueht, die die betreflende Erscheinung eindeutig bestimmen. Dies ist nur sozusagen in erster Annaherung der Fall, das betreffende Gemeinsame betraehten wir in erster Ann~herung als die ,,Ursache". Es ist niimlich anzunehmen, dab das aufgefundene Ge- meinsame zum Hervorrufen der betreffenden Erscheinung tatsi~ehlich immer hinreicht, aber nicht unbedingt noSwendig ist, also, wie man zu sagen pflegt, kann die betreffende Erscheinung auch eine ,,andere Ursache" haben. In diesem Falle haben w i r e s mit einer ,,Regel des Vorkommens" im Sinne Roux '1) zu tun. Erst im Falle, dab wit nach- weisen k6nnen, dal~ dieses Gemeinsame nieht nur hinreicht, sondern auch unbedingt notwendig zum Hcrvorrufen der betreffenden Er- scheinung ist, kSnnen wir sagen es sei die ,,Ursache" der betreffenden

1) W. Roux, Prinzipielle Sonderung yon Naturgesetz und Regel, yon Wirken und Vorkommen. Si~zungsber. d. preul]. Akad. d. Wigs. 1920. )Iitt. v. 6. V.

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Erscheinung. In diesem Falle haben wir .es mit einem ,,Wirkungsgesetz" im Sinne Roux' zu tun. Wenn wir also yon der Erforschung der ,,Ursache" einer Erscheinung sprechen, so verstehen wir darunter die Erforschung der notwendigen und hinreichenden Bedingungen dieser Erscheinung, durch welche also die Erscheinung tats~chlich eindeutig bestimmt ist. Es muft nicht eigens gesagt werden, dal3 eine ,,Rege! des Vorkommens" immer ein spezieller Fall eines ,,Wirkungsgesetzes" ist und dal3 jedes ,,Wirkungsgesetz" zu einer ,,l~egel des Vorkommens" wird oder werden k~nn, sobald ein allgemeineres Gesetz gefunden wird ; und dies ist immer mSglich, denn wir kSnnen niemals siimtliche Umstande ganz genau kennen, die eine :Erscheinung naeh dem KausMit~tsprinzip eindeutig bestimmt. Dieser Umstand ermSglicht es eben immer allgemeinere Gesetze zu linden und immer ,,neue Gesichtspunkte" in der Erforsehung einer Erscheinung zu linden. Ein Kriterium dafiir, ob wir tats~chlieh ein ,,Wirkungsgesetz" vor uns haben oder nur eine ,,Regel des Vorkom- mens", existiert nicht, wir kSnnen also nie sagen, wir h~tten die ,wahre Ursaehe" der Erscheinung erforscht, wir k6nnen nut sagen, wir haben die derzeit allgemeinste Bedingung aufgefunden; der Ausdruck ,,Ur- saehe" im Sinne ,,notwendige und hinreiehende Bedingung", hat also immer eine aktuelle Bedeutung.

Aus dem Gesagten folgt, dab wenn wir das Gemeinsame in den ver- schiedensten Umst~nden, die eine gewisse Erscheinung hervorrlffen, aufgefunden haben, wir t rachten miissen, den Nachweis zu erbringen, daft dies auch ta t s~hl ich eine notwendige Bedingung der Erscheinung ist. Wir werden also nachzuweisen suchen, daft diese Umstande iiberall vor- handen sind, wo die betreffende Erscheinung auftrit t . Gelingt uns dies, so kSnnen wir sagen, wir h~tten die derzeit aUgemeinste Entstehungs- bedingung der betreffenden Erscheinung aufgefunden.

Vielleicht auf keinem Gebiete ist es so notwendig, diese Oberlegungen vor Augen zu halten, wie auf dem Gebiete der Carcinomfrage. Ich mSchte daher im folgenden dieselben in konkreter Weise auf dieses Problem anwenden, wobei ich aus einer konkreten Annahme als der hinreiehenden Bedingung ausgehe und naehzuweisen suche, dal3 diese Bedingung aueh tatsi~chlieh, eine notwendige ist, indem sic iiberall vorhanden ist, wo e i n Carcinom auftritt , dal~ damit also die derzeit allgemeinste Entstehungs- bedingung des Carcinoms gegeben ist.

Beim Careinom haben wir einen typischen Fall einer Erscheinung, die durch die verschiedensten Umstande hervorgerufen werden kann. Carcinome entstehen erfahrungsgem~ft sehr h~ufig durch ehronisch- entziindliche Prozesse, durch wiederholte Traumen und andauernde mechanische Reize, durch Einwirkung gewisser Chemikalien, wie Anilin (Krebs der Anilinarbeiter), durch RSntgenstrahleneinwirkung usw., weiter kann es experimentell erzeugt werden dureh Teerpinselung, durch

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Fiit terung yon Spiroptera usw. Aus der Ffille dieser ganz heterogenen Reihe der carcinombedingenden Momente das gemeinsame Moment herauszufinden, ware ein fast boffnungsloses Bestreben, wenn wit nicht naeh irgendwelchen Richtlinien arbeiten kSnnten. Zu einer solchen Richtlinie kann uns die Frage ffihren: welcher Art mul~ dieses gemein- same Moment sein ~. Jedenfalls muir es derartig sein, dab es solche Ver- ~nderungen im Gewebe oder in den Zellen hervorruft, die geeignet sind ein ,,unbeschranktes Wachs tum" der Gewebszellen, also ein Carcinom hervorzurufen. Wir mfissen also zuerst nieht nach dem bedingenden ~Ioment, sondern nach der Wirkungsweise dieses bedingenden Momentcs fragen. Wir mfissen uns eine Vorstellung dariiber maehen, was wir yon dem bedingenden gemeinsamen Faktor verlangen wollen. Dies ist der erste Punkt , wo die Theorie eingreifen muff.

Man pflegt zwar oft zu sagen, dab dieses Verfahren nicht , ,exakt" sei, weil eine derartige vorausgehende Vorstellung fiber die Wirkungs- weise des gesuchten Faktors ein Vorurteil mi t sich bringt und man mfisse doch in den hTaturwissensehaften vorurteilslos an die Versuehe und an die Deutung derselben herangchen. Dies ist nun in dieser Fassung ganz und gar falsch. Wiirde man sich fiber die Wirkungsweise keine Vorstel- lungen und Theorien machen, so ki~me man fiberhaupt nicht vom Flecke, die Beobachtungen wiirden sich nut vermehren und man wfirde sich in der Ffille der Tatsachen ganz und gar nicht auskennen. Das Experiment mu2 eine Frage beantworten, die lautet : ist diese Annahme richtig oder ifieht ? Die Exakthei t einer Wissenschaft beginnt also erst mi t einer exakten Fragestellung, auf die ein Exper iment eine klare Antwort geben kann, sie beginnt also eben erst mit den scharf formulierten Theorien,. die eine Voraussage gestatten.

Wenn wir also vor einer solchen Ffille yon inhomogenen Bedingungen stehen, die ein Carcinom hervorrufen k(innen, wie dies der Fall ist, so wird es die erste Notwendigkeit des Eortkommens sein, uns eine Annahme fiber die Wirkungsweise des vermuteten gemeinsamen Momentes zu machen. Denn aus den Beobachtungen selbst kSnnen wir diese nicht herausschiilen, da wir ja noeh nieht einmal das gemeinsame bedingende 1VIoment kennen, dem diese Wirkungsweise zukommen soll.

Es sind nun bekanntlich eine Reihe solcher Annahmen gemacht worden. So wurde angenommen, dab die Wirkung eine ,,chemische Abar tung" dcr Gewebszellen hervorru~en muB, dab es sich um eine spezifische toxisehe Wirkung auf die Gewebszellen handelt, dal3 es sieh um die ungleiche Verteilung der Chromosomen auf die Tochterzellen bei einer Zellteilung handelt, ferner dal~ es sich um die Abnahme des gegen- seitigen Gewebswiderstandes oder der Gewebsspannung handelt etc. etc.

Den meisten dieser Annahmen mull der Vorwuff gemacbt werden, dab sie viel zu unbest immt, viel zu unscharf sind. Es lassen sieh auf

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Grund derselben keine Schliisse auf die bewirkenden Faktoren ziehen. Was soll man sich z. B. unter einer ,,chemischen Abartung" einer Zelle vorstellen ~. Sie sind viel zu allgemein gefal~t. Wo sie wieder scharf ge- faBt sind, wie z. B. die Annahme der ungleichen Chromosomenverteilung, haben sie sich in zweierlei Hinsieht nicht bewi~hrt : erstens erklaren sie nicht s~mtliche Beobachtungstatsachen in eindeutiger Weise, und zweitens, was noch schlimmer ist, lassen sie keine experimentelle Prti- lung, also keine Voraussage zu.

Ieh werde daher zur Beantwortung unserer ersten F~'age: in welcher Weise wird das Careinom yon dem vermute ten gemeinsamen Faktor hervorgerufen ? oder was verlangen wir yon dem gesuehten gemeinsamen Faktor ~. aus einer Annahme ausgehen, zu der ieh auf Grund meiner , ,Grundprinzipien"l), als deren logisehe Konsequenz geffihrt wurde. Diese Annahme lautet : ,,die Gesehwulstbildung wird dutch die St6rung eines dutch Gewebs- resp. Zellausfall bedingten regulatorischen An- passungsvorganges : der P~egeneration bedingt" , und zwar besteht diese StSrung darin, d a f die bei der Regeneration sich bildenden neuen, noeh indifferenten Zcllen nicht dem regulatorisehen Einf luf der Umgebung unterliegen, wie dies bei der ungestSrten Regeneration der Tall ist und daher keine Differenzierung ei~tritt , die Zellen werden eine gewisse Selbsti~ndigkeit gegeniiber der Umgebung zeigen und es kommt zur Geschwulstbildung.

Ich wies in meiner erwi~hnten Schrift darauf bin, d a f diese Annahme in bestem Einklange mit der Erfahrung steht. Diese Annahme Iordert nun yon dem wirksamen Faktor folgende Eigenschaften; 1. der be- tretfende Faktor m u f auf die Umgebung der Zellen wirken, aus denen sieh ein Careinom entwickelt, also im Gegensatze zu einer Anzahl anderer Annahmen, die eine direkte Einwirkung alff die Zelle fordern; in l~ber- einst immung hiermit meint auch Lubarsch~), dab die neuesten ~'orschun- gen zeigten, daft ,,der Angriffspunkt der Seh~dlichkeit nicht ausschlie~- lich in das Epithel verlegt" werden mul~; 2. der Fak tor mul~ die Eigen- schaft besitzen, den regulatorischen Einflul~ der umgebenden Zellen zu vermindern, also eine Isolation der Zellen herbeifiihren zu k6nnen; 3. der Faktor mul~ natiirlieh die Zellproliferation der betreffenden Zellen begiinstigen; soll uns ein Faktor , der si~mtliehe diese Eigenschaften be- sitzt, zur Auffindung der Entstehungsbedingungen des Careinoms fiihren, so m u f er natiirlich 4. samtlichen bekannten carcinomerzeugenden

1) E. Bauer, Die Gl~dndprinzipien der rein naturwissenschaftlichen Biologie und ihre Anwendungen in der Physiologie und Pathologie. Roux' Vortr. u. Aufs. fiber die Entwicklungsmechanik d. Organismen. Julius Springer, Berlin 1920, Heft 26.

3) O. Lubarsch, Der heutige Stand der Geschwulstforsehung. Klin. Wochenschr. 1922.

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Umst~nden gemeinsam sein und schlieBlich wollen wir nachweisen, dab dieser Faktor tatshchlich eine notwendige Bedingung des Carcinoms darstellt, so miissen wir noeh fordern 5., dab er iiberall dort nachweisbar ist, wo es sieh um das Auftreten yon einem Carcin0m handelt.

Wir stellten also :auf Grund unserer Annahme ]i~n] Forderunffen auf, denen die derzeit allgemeinste Entstehungsbedingung des Carcinoms entsprechen muB. Dutch diese groBe Einsehr~nkung wird uns natiirlich die Suche nach dem gemeinsamen carcinomerzeugenden Momente in der heterogenen Fiille der Tatsachen wesentlich erleiehtcrt.

Auf Grund unserer ersten Forderung, dab es sich um einen Faktor handeln muB, der auf die Umgebung der Zellen einwirkt, kommen wir zuerst auf den SehluB, dab es sieh um eine Jl~nderung irgendwelcher Eigenschaft des Gewebssaftes handeln muB, denn dieses stellt die un- mittelbare Umgebung der Zellen dar. Es muB sieh also um eine Eigen- schait yon Flfissigkeiten handeln. Nun berichtcte ich unl~ngst 1) fiber eine Eigenschaft der Flfissigkeiten, deren ~alderung tatsachlich zur Beschleunigung der Zellteilung und aueh zur Isolierung der Zellen ffihrt, also auch unserer zweiten und dri t ten Forderung Geniige leistet. Diese Eigenschaft ist die Erniedrigung der Oberflachenspannung. Zu diesem Schlusse bin ich ebenfalls durch Anweddung meiner ,,Grundprinzipien" gelangt. Diese sagen namlich aus, dab die lebende Zelle eine Arbeit gegen das Gleichgewieht leistet , woraus folgt, daB bei der Zellteilung, wobei es sieh um eine VergrSl~erUng der Oberfli~che handelt, nieht ein Ausgleieh von Spannungsdifferenzen, sondern eine Arbeit gegen die Oberflachen- spannung stattf indet; wird also diese Oberfl~chenspannung vcrmindert, so wird die Teilungsarbeit erleichtert, d ie Teilung wird begiinstigt."

Wit stellen nun die Behauptung au/, daft die Erniedrigung der Ober- ]ldchenspannung in der Gewebs/li~ssiffkeit ein Moment darstelIt, welches den ]i~n/ Forderungen Geni~ge leistet.

Diese Behauptung wollen wir nun theoretisch, experimentell und durch das in der Literatur vorhandene Tatsachenmaterial beweiscn, womit unsere Hauptaufgabe im wesentliehen gelSst ist.

Ad 1. Da die Erniedrigung der Oberfli~chenspanmmg laut Behaup- tung in der, die Gewebszellen umsptilenden, Gewebsfltissigkeit statt- finden soll, so ist es klar, dab dies ein Moment ist, welches nicht auf die Zellen selbst in irgendeiner spezifisehen Weise einwirkt, sondern auf die Umgebung derselben.

Ad 2. Die Gewebszellen sind voneinander durch eine capillare Schieht der Gewebsfliissigkeit getrennt. Diese eapillare Flfissigkeits- schicht hat infolge ihrer Oberfl~chenspannung dig Tendenz Minimal- flachen zu bilden. Am klarsten ist dies z. B. bei den ersten Teilungen

x) Naturforscherversammlung Septbr. 1922. Abt. Anat. u. Physiol.; Leipzig. (Hundertjahrfeier.)

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der Eizellen zu sehen, wo die Verh~ltnisse noch iibersichtlich sind, abcr auch an dem fertig ausgebildeten Gewebe kommt diese Wirkung der Oberfliichenspannung zur Geltung. So sagt z. B. O. Hertwigl): ,,Behufs richtiger Beurtcflung der Verhi~ltnisse ist endlich aueh zu beachten, dab die Lage der TeilflSchen, wie sie unmittelbar bei der Durehschneidung der Mutterzellen entsteht, sehr h~ufig noch veri~ndert wird infolge naeh- traglich sieh einstellender Verschiebungen. Da die Zellen sehr weieh und wasserreich sind, so unterliegen sie in ihrer Anordnung den yon Plateau ermittelten Gesetzen fiber schaumige Substanzen. In solchen abet ordnen sich die einzelnen Scheidew~nde, dureh welche die Blasen oder ,Zellen' des Schaumes gegenseitig abgegrenzt werden, naeh dem Prinzip tier kleinsten Fl~ehen, d. h. so an, dab bei dem gegebenen Vo- lumen der einzelnen Blasen die Summe aller Oberflaehen ein Minimum wird. Unter Zugrundelegung dieses Prinzipes lassen sich die Brechungen und Verschiebungen erkl~ren, welche die Beri~hrungsfl~ehen yon Toeh- terzellen erfahren, die aus einer gemeinsamen Mutterzelle hervorgegangen sind, wie man besonders schSn an den Furchungszellen tierischer Eier beobaehten kann. Abet aueh im Pflanzengewebe t re ten dieselben ein, solange die jungen Cellulosew~nde noch dfinn, weieh und biegsam sind. Daher wird der Botaniker in allen Geweben, die nicht mehr in Teilung begriffen sind, vergeblich nach rechtwinklig sich schneidenden Zell- wanden suchen." Es liegt also an der Oberflaehenspannung der Gewebs- flfissigkeit, dal] die Zellen gegeneinander abgeplattet sind und lest zu- sammengehalten werden. Daraus folgt nun, dal3, wenn die Oberflaehen- spannung der Gewebsflfissigkeit his zu einem gewissen Grade herabgesetzt wird, diese, die Gewebszellen zusammenhaltende, Kraf t abnimmt und es schlie/31ich zur Isolation der Zellen kommt. Die verschiedenen Ver- fahren zur Isolierung der Blastomeren des Seeigeleies z. B. beruhen meist ebenfalls hierauf. So die Isolierung naeh Herbst dutch caleiumfreies Meerwasser, da die Ca"-Ionen bekanntlieh die Oberfl~ehenspannung erh6hen, auch das Verfahren yon H. Driesch dureh Erw~rmung auf 37 ~ C ist hierauf zurfickzufiihren, da die Oberflaehenspannung mit steigender Temperatur abnimmt etc.

Wir wollen gleieh hier in bezug auf das Careinom erw~hnen, dab bei dem kiinstlich erzeugten Teercarcinom diese isolierende Wirkung des Teers ebenfalls deutlieh zu sehen ist. Herr Dr. Nikischin, der eine groBe Reihe mit Teerpinselung an M~usen erzeugter Carcinome histologiseh in bezug auf ihre Entstehungsweise untersuchte, bemerkte mir, dab diese Wirkung ausnahmslos vorhanden ist ~ und die erste Wirkung der Teerpinsehmg in den histologischen Schnitten in der Isolierung der Epithelzellen, in der Lockerung des Zellverbandes zutage tri t t . Herr Dr. Nikischin hatte die Liebenswiirdigkeit, mir seine Pri~parate zur Ver-

1) Allgemeine Biologie. IIL Aufl. 1909, S. 255.

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fiigung zu stellen und beiliegendes Mikrophotogramm (Abb. 1), welches die beginnenden Veri~nderungen nach Teerpinselung darstellt, nach einem seiner Pri~parate mir zur Mitteilung tiberlassen. Die Abbildung zeigt diese Loekerung (Abb. 1, J), die Isolation der Zellen im Beginn der Careinomentwicklung durch die Teerwirkung. Dieselbe Erscheinung erwahnt tibrigens auch der franzSsische Autor Giraudel 1) bei Entziin- dungsvorgangen, worauf wir weiter unten noch zuriickkommen werden. Diese Tatsachen m5gen geniigen, um zu beweisen, dab die Erniedrigung

Abb. 1.

der Oberflachenspannung tatsi~chlich zur Isolierung der Gewebszellen ftihren kann.

Ad 3. Da$ die Zellproliferation durch die Erniedrigung der Ober- flachenspannung bedeutend begiinstigt und beschleunigt wird, habe ich an einer Reihe yon Versuehen direkt nachweisen kSnnen. Da ich diese Versuche z. T. schon a. a. O. vorgetragen habe, andererseits dieselben demn~chst a. a. O. 3) ausfiihrlich erscheinen sollen, will ich hier nur die wesentliehen Resultate dieser Versuche anffihren.

Legt man Ascariseier z. T. in Wasser, z. T. in Wasser, zu welchem irgendeine oberfli~chenaktive Substanz hinzugefiigt wurde, z.B. Tributyrin, so zeigt sich, dall die Eier aus demselben Individuum und yon derselben ttShe entnommen

1) Cpt: rend. des s6ances de la soc. de biol. Paris 1922. ~) Arch. f. Entwicklungsmech. d. Organismen.

tiber (lie Entstehungsbedingungen des Car('inoms. 365

in dieser LSsung sich bedeutend frtiher zu teilen beginnen und sich bedeutend rascher teilen, Beiliegende Photogramme sollen dieses zeigen. Die Abb. 2a stell~ die Kontrolleier, die Abb. 2b die Versuchseier 24 Stunden nach Beginn des Ver- suches dar. Wie zu sehen ist, ha t sich in der Kontrolle noch fast gar keine Zelle geteilt, w/~hrend sich imVersuch schon fast s~mtliche Zellen geteilt haben. Abb. 3a

Abb. 2 a. Abb. 2 b.

Abb. 8 a. Abb. 8 b.

und 3b zeigt die Stadien am 5. Tage. W~h1~nd in der Kontrolle 3a sich die aller- meisten Zellen noch immer nicht geteilt haben und nur hier und da eine Zwei- teilung erscheint, zeigen die Versuchseier 3b s~mtlich ein 8--16-Zellenstadium, am 6. Tage beginnt bei den Versuchseiern 4b schon die Gastrulation, die Kontroll- eier zeigen bei den wenigen, die sich i iberhaupt teilten, h6chstens 8-Zellenstadien. Am 8. Tage haben wir bei den Versuchseiern schon Gastrulae (5b), wi~hrend in der Kontrolle (Sa) die meisten Zellen noch immer ungeteilt sind und das fort-

366 E. Bauer: Theoretische und exl)erimentelle Untersuchungen

gesehrittenste Stadium noch immer 16-Zeller sin& 6 Tage hierauf erhielten wir bei den Versuchseiern sehon larvenffrmige Gebilde (Abb. 6). Die Kontrolleier wurden zum Schlusse des Versuches in das Thermostat bei 30 ~ C gebracht, um zu sehen, ob sie tats~tchlich lebend und entwicklungsf/~hig sind und nur bei der tieferen Temperatur keinen Teilungsimpuls erhalten konnten. Dal~ dem tat-

Abb. 4 a. Abb. 4 b.

. Abb. 5a. Abb. 5b.

s/~chlich so war, bewies, dab sich im Thermostaten sdmtliche Kontrolleier inner- halb 4 Tagen zu Larven entwickelten.

Beziiglich der Wirkung der Tempera tu r und der Rolle des osmotischen

Druckes wird in meiner e rw~hnten Arbe i t ausfiihrlich berichtet . Hier

geniigt uns in bezug auf die Carcinomfrage die Tatsache, dab die Er-

niedrigung der Oberf l~chenspannung einesteils zur Zel l te i lung anregt ,

fiber die Entstehungsbedingungen des Carcinoms. 367

unter Verhiltnissen, unter welehen dieselbe nicht oder nur schwer ein- tr i t t , also einen Impuls zur Teilung erteilt, andererseits die Teilung selbst beschleunigt.

Weiterhin konnte gezeigt werden, dab die Regeneration selbst eben- falls durch die Stoffe, die die Oberfliehenspannung herabsetzen, wie z .B. dutch Na-Taurocholat und Na-Glykocholat oder durch Chinin be- deutend beschleunigt wird. Diesbeziigliche Versuche ffihrte Frl. Dr. Vejnarova aus und wird fiber dieselben demniehst ausffihrlieh berichten.

Die Versuche Petris i) zeigen es, dab derselbe Faktor auch bei der Teilung der I)flanzenzellen in derselben Richtung wirkt. Er konnte ni~mlich an der Weinrebe mit Injektion von Na-Glykocholat eine groBe Hyperplasie der Gewebe hervorrufen. DaB es sieh hierbei tatsiehlich ebenfalls um die oberflichen- spannungerniedrigende Wir- kung des Na-Glykoeholates handelt, geht auch daraus her- vor, dab Petri mit den ver- schiedensten Substanzen ex- perimentierte, so mit t tarn- stoff, Phosphorwolframsaure, Albumosen etc. und nur mit dem Glykocholat eine Hyper- plasie erzielen konnte. Die Erkliirung liegt klar auf der Hand, wenn wir bedenken, dab yon den verwendeten LS- sungen nut das Na-Glyko- cholat ausgesprochen ober- Abb. 6. fli~chenaktiv ist. Ich konnte weiterhin nachweisen, da~ die Wirkung der Haberlandtschen ,,Wund- hormone", die teilungsfSrdernd wirken und durch mechanische Beschi~- digung der Zellen entstehen, ebenfalls auf ihrer Oberfl iehenaktivi t i t be- ruht. Denn erstens konnte ieh nachweisen, dab sie die Oberflichen- spannung tatsi~chlich stark herabsetzen und zweitens, da[~ diese ihre Oberfli~ehenaktiviti~t dureh Aufkochen schwindet, in vSlligem Einklange mit der Angabe Haberlandts, wonach durch Aufkochen die teilungs- fSrdernde Wirkung der Wundhormone ausbleibt. (Bezfiglich der Ver- suehsanordnung und der zahlenmiiBigen Angaben verweise ich auf meine erwihnte Arbeit im Arch. f. Entwicklungsmech.)

Die angeftihrten Versuchsergebnisse und Tatsachen zeigen es nun unzweifelhaft, dab die Erniedrigung der Oberfli~chenspannung sowohl

1) Atti Accad. Lincei 1913, S. 509.

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im Tierreiche, wie in der Pflanzenwelt eine ausgesprochene teilungs- fSrdernde Wirkung besitzt.

Ad 4. Wir haben nun nachzuweisen, dai] bei si~mtlichen carcinom- erzeugenden )'[omenten, die durch die Erfahrung bekannt sind, die oberflachenspannungerniedrigende Wirkung derselben t in gemeinsames Moment bildet. ~Venn wir die chemischen lZeizstoffe fiberblicken, welche erfahrungsgemi~f~ zu einer Carcinombildung ffihren oder dieselbc be- giinstigen kSnnen, so sehen wir sofort, dab diese Stoffe chcmisch keine Verwandtsehaft zeigen, Teer und Anilin sind chemisch nicht verwandt, beide Substanzen kSnnen aber zur Careinombiidung ftihren oder die- selbe zumindest begfinstigen. So haben diese Substanzen auch Init der Milehs~ure chemisch gar nichts Gemeinsames ; die Versuche P. Rostocks z) zeigten aber z. B., da$ Injektion yon MilchsSure die Virulenz der Mause- impftumore auffMlend steigerte. Was aber allen diesen Substanzen gemeinsam ist, das ist ihre grol3e Oberfli~ehenaktivitat, d. h. sie setzen schon in den allerkleinsten 5[engen die Oberflhchenspannung hochgradig herab. Diese Eigenschaft kommt aul~er der Milchsi~ure au~h allen anderen niedern und unges~tttigten Fet tsauren zu. In diesem Zusammenhang wollen wir schon hier auf den ]3efund -con W. H. Duncan und A. N. Currie 2) hinweisen, die fanden, dal3 das Fet t der Krebskranken einen l~berschul3 an freien ungesatt igten Fettsi~uren sowohl im KSrperfett- gewebe als auch in unmittelbarer 2~i~he der Geschwiilste enthMt. Es ist also anzunehmen, dal3 der Gewebssaft der Krebskranken eine ge- ringere Oberfli~chenspannung besitzt als der gesunder Individuen. Weiter unten werden wir auf Grund eigene r Messungen nachweisen, dal~ dies tats~tchlich zutrifft. Es zeigt sich also tatsi~chlich, dal3 diejenigen chemischen Stoffe, welche zu einer Carcinombildung fiihren oder dieselbe begiinstigen, die gemeinsame Eigenschaft der grol3en Oberfl~chen- aktiviti~t besitzen. Die Sache gill aber auch umgekehrt . In neuerer Zeit wurden ]3eobachtungen verSffentlicht, wonach gewisse anorganische Salze die Careinomentwieklung bis zu einem gewissen GraAe hindern resp. sein Wachstum verlangsamen. In letzterer Zeit gibt dies P. Girard a) vom Bleinitrat, R. Reding und A. P. Dustin 4) vom Magnesiumsulfat an. Ahnliches wurde auch von Calciumsalzen in der Mteren Li teratur an- gegeben. Alle diese Salze haben nun die gemeinsame Eigenschaft, dal3 sie die Oberfli~chenspannung erhShen, und zwar sind es eben diejenigen Kationen (3'Ig, Ca etc.), die relativ den grSl3ten Einflul3 auf die Ober- fli~chenspannung im Sinne einer Erh6hung haben.

1) p. Rostock, Kiinstliche Virulenzsteigerung bci M~useimpftumoren usw. Dtsch. med. Woehenschr. 1921, Nr. 44.

2) Lancet 1911. 3) p. Girard, Cpt. rend. des s6ances de la soc. de bi01. Paris 38, Nr. 7. 1923. 4) Cpt. rend. des s6ances de la soc. de biol. Paris 58, Nr. 4. 1923.

tiber die Entstehungsbedingungen des Carcinoms. 369

Ein anderes empirisch beobachtetes atiologisches Moment der Ent- stehung des Carcinoms stellen wiederholte cbronisch-entzfindliche und mechanische Reize dar.~ DaB diese VerAnderungen mit einer lokalen Erniedrigung der Oberfli~chenspannung einhergehen, geht aus ver- schiedenen Grfinden klar hervor. Erstens ist es bekannt, dab bei mecha- nisohen Schadigungen an der WundflAche immer eine elektrische Poten- tialdifferenz zwischen geschi~digtem und ungeschiidigtem Gewebe ent- s teht und wir wissen, dab die Z u n a h m e der elektrischen Aufladung an den Grenzfli~chen eine Abnahme der Oberfliichenspannung bedingt. AuBerdem finder durch die Zellbesch/~digung ein Abbau star t und hier- durch werden oberflAchenaktive Stoffe ffei. DaB bei chronisch-ent- ziindlichen Prozessen die Abnahme der Oberfliichenspannung auch zu e iner Isolation der Epithelzellen fiihren kann, geht aus der erw/ihnten Bcobachtung Giraudels hervor, der bei entziindlichen Prozessen eine Isolation der Epithelzellen beschrieb. DaB auch bei tierischen Zellen yon , ,Wundhormonen" gesprochen werden kann, als Analogie zu den Haberlandtschen pflanzlichen Wundhormonen, scheint uns die Arbeit yon K. Naswytis 1) zu beweisen, der eben in der Absicht, nachzuprfifen, ob eine solche Analogie besteht, Versuche an Hunden anstellte~ indem er denselben Blut entnahm, die Blutk6rperchen duroh KAlteeinwirkung schi~digte, das entnommene Blur einer Temperatur v o n - - 40 ~ C aussetzte und so reinjizierte. Er land, dab die Anzahl der roten BlutkSrperchen innerhalb einigen Tagen sich ganz bedeutend erhShte. Da wir nun zeigen konnten, daft die Wirkung der pflanzlichen Wundhormone durch ihre Oberfl/~chenaktivit/~t bedingt wird, so liegt der Schlul] nahe, hicr auch dieselbe Wirkungsweise a n z u n e h m e n . DaB also bei mechanischen und chronisch-entztindlichen Schadigungen eine Abnahme der Ober- fl/~chenspannung stattfindet, ist nach dem Gesagten wohl zweifellos.

Diese Abnahme geniigt aber in den meisten F~llen nur dazu , den Teilungsimpuls den benachbarten Zellen zu erteilen, die zu einer normalen Regeneration fiihrt. Dami t es zu einer Carcinombildung kommen sol], ist noch eine Isolation tier neugebildeten Zellen notwendig (s. oben) . Zu einer Isolation kann es nun entweder dadurch kommen, dab die vermin- derte Oberfli~chenspannung langerdauernd einwirkt oder die Verminde- rung noch fortschreitet, oder aber evtl. die Isolation direkt mechanisch herbeigefiihrt wi rd . Beides ist um so wahrscheinlicher, je hi~ufiger dcr betreffende mechanische Reiz an derselben Stelle einwirkt. Daher sehen wit auch, dab zur Entwicklung eines Carcinoms meist eine li~ngere Zeit hindurch sich hi~ufig wicderholende mechanische Reizung notwendig ist, diese aber auch nicht unbedingt zu einer Carcinombildung fiihren lnuB. Hiermit erklhrt es sich, dab bei den Versuchen Fibigers mit

1) Dtsch. reed. Wochenschr. 1922. Zeitschrift ftir Krebsforschung. 20. Bd. 2 5

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Fiitterung yon Spiroptera zwar in einem groBen Prozentsatz, aber doch nieht in jedem Falle, Magencarcinome erzeugt werden konnten.

Gewisse typische Lokalisationen des Carcinoms erscheinen auf Grund dieser ~berlegungen auch verst~ndlieh nnd zeigen uns, dab es sich dabei um eine St6rung der Regeneration handelt, in dem Sinne, dab hierzu noch eine Isolation der neugebildeten (noeh indifferenten) Zellen kommen mug. So sehen wir, dab bei Frauen eine der hi~ufigsten Lokalisationen des Carcinoms im Uterus und in den Mammae ist. Beides Organe, in welchen sich auch physiologischerweise immer Regenerationen ab- spielen, so regeneriert die Uterusschleimhaut bei jeder Menstruation, die Milehdrfise bei ihrer physiologischen Funktion und bei beiden finder auch sehon physiologiseh eine Desquamation der Zellen start, was darauf hinweist, dab die Zellen sieh hier le iehter isolieren. J(hIfliehe Uber- legungen kSnnten aueh ffir die Haut zutreffen. DaB die stark ober- fli~chenaktive Milchsi~ure die Entwicklung des Magencarcinoms zu- mindest begiinstigen kSnnte, erscheint nach dem Gesagten ebenfalls wahrscheinlich, wissen wir doch, dab es noeh vor der Carcinoment- wieklung im Magen meist zu einer vermehrten Milchs~urebildung im Magensaft kommt. Im Duodenum k6nnte eine hhnliche Rolle den stark oberfl~chenaktiven Cholaten zukommen. Diese Tatsachen genfigen wohl, um uns zu zeigen, dab das Moment der Oberfl~ehenspannungserniedri- gung tatsi~chlich bei allen heterogenen careinomerzeugenden Umsti~nden ein Gemeinsames darstellt.

Ad. 5. Wir wollen nun noch einen Schritt weitergehen und umgekehr t zeigen, dab bei vorhandenem Careinom tatsi~chlieh eine Erniedrigung der Oberfli~ehenspannung des Gewebssaftes vorhanden ist. Dag dies der ~'all ist, darauf weisen schon gewisse Tatsachen hin, so die erwi~hnte Angabe von W. H. Duncan und A. N. Currie fiber die Vermehrung der un- gesi~ttigten Fetts~uren bei Carcinomat6sen, auf die wir sehon weiter oben hinwiesen, weiterhin der Befund yon Waterman1), dab die Konzentrat ion der Ca"-Ionen im Blutplasma yon Carcinomat6sen ca. um 10% geringer ist, als im Plasma Gesunder. Nun geh6rt das Ca"-Ion, wie ich schon oben erwKhnte, eben zu denjenigen Kationen, die die Oberfliiehenspannung am meisten erhShen; es ist zu erwarten, dab das Plasma mit einem geringeren Gehalt an Ca".Ionen auch eine geringere Oberfl~chenspannung besitzt.

Ieh hat te nun selbst auf Grund der obigen Darlegungen Messungen am Blutserum Careinomat6ser ausgefiihrt. Diese meine Messungei1 sollen aber gleichzeitig an einem Beispiel zeigen, dag aueh hier die Saehe auch umgekehrt gilt, d. h. falls ein Umstand das bestehende Careinom giinstig beeinflugt, derselbe die Oberfli~chenspannung des Gewebssaftes erh6ht. Es ist nun eine klinische Erfahrung, dab ein interkurrentes Erysipel das Carcinom klinisch sichtbar beeinflussen kann, indem es

i) Bioehem. Zeitsehr. 133, Heft 4/6.

tiber die Entstehungsbedingungen des Carcinoms. 371

sein Waehstum hindert, ja es sogar bis zu einem gewissen Grade zur Riickbildung bringt, so da~ Wolffheim 1) in letzter Zeit sogar schon an die therapeutische Auswertung dieser Erscheinung da~hte, Sind nun unsere bisherigen ~berlegungen zutreffend und ist die Erniedrigung der Obcr- flachenspannung das wesentliche Moment, welches zur Carcinomentwiek. lung fiihr~, so muB aueh diese letzte Konsequenz gelten, dal~ beim Ery- sipel eine Erh6hung der Oberfli~chenspannung des Gewebssaftes vorliegt.

I m folgenden gebe ich nun meine diesbeziiglichen Resultate wieder, die diesen' SchluB auf das beste bestatigen.

Meine Messungen beziehen sich insgesamt auf 52 menschliche Blut- sera, hiervon s tammten 7 aus Carcinomkrankcn, 8 aus Erysipelkranken und 37 aus einem vollkommen gemischten klinischen Material, wobei die verschiedensten Krankhei ten vorkamen; darunter auch einige klinisch gesunde Individuen.

Die Messungen fiihrte ich mit der sog. Abreil~methode aus, und zwar mittels der Torsionswage, wie sie Br inkmann und E. van Dam 2) angaben. Das mittels einer vollkommen reinen Nadel in ein chemisch naeh )/I6glieh: keit vollkommen gereinigtes und getrocknetes GefaB entnommene Blur wurde im Kiihlen 24 Stunden abstehen gelassen und das so gewonnene Serum bei einer Temperatur yon 22 - -23~ gemessen. Jedes Serum wurde 10 real gemessen und als Resultat das ari thmetische Mittel der 10 Messungen eingetragen. Urn nicht si~m~liche Resultate im einzelnen tabellarisch aufzahlen zu mfissen, m6chte ich folgende Data hervorheben:

Die verschiedenen Krankhei ten, sowie auch scheinbar das Alter und verschiedene konstitutionelle Momente scheinen die Oberfl~chen- spannung in verschiedener Richtung zu beeinflussen, wir erhielten daher. eine ziemliehe Variationsbreite, doch hi~ufen sich die Werte bei den Nicht-Carcinomat6sen und Nicht-Erysipelat6sen zwischen 58 --60 dyn/cm, der Mittelwert dieser 37 Fi~lle betri~gt 59,2 dyn/cm (Abb. 7); demgegen- fiber zeigten die Carcinomat6sen folgende Werte:

Oberfl~lehen- N r . Gesehlecht Diagnose spannung in

dyn/cm

1 . 2. 2~ 4.

Alter

56 Jahre 40 ,7 50 ,, 44 ,~

5. 38 7, 6. 55 ,, 7. 65 ,,

Frau

Mann

Ca. labii inf. Ca. recti

Ca. mammae Ca, mammae

Ca. coeci Ca. recti

Ca. ventric.

58,5 58,6 57,0 59,9 58,1 59,4 56,5

Mitt~lwer~: 58,3

Sie zeigen also eine Variationsbreite von 56,5--59,9 mit einem Mittelwert yon 58,3. 7

1) Wol/]heim, Heilender Einflu0 des Erysipels usw. Zeitschr. f. klin. Med. 92, Heft 4/6.

2) Brinkmann und E. van Dam, Mtinch. reed. Woehenschr. 1921, Nr. 48.

25*

3 7 2 E. Baner: Theoretische und experimentelle Untersuchungen

Dic 8 F/~lle yon Erysipelas zeigen Iolgende W e r e :

Ge- -~ ~ Oberflaehen- Nr. Alter sehleeht ~ ~ Lokalisation spannung in

dyn/em

.1. .2~ 3.

"4~

5. i 6.1 .7~ 8.

32 5ahre 36 ,, 33 ,,

23 ,, 27 ,, 22 ,, 48 ,,

IV[ann 5.

,, 12.

Frau 4. ,~ 5.

,~ 4o

Regio glutealis bilat. 60,0 Facies bi lat , i 58,9

. . . . I 60,1

" " sin 62,4 . . . . 61,6

~rys. cruris sin. 62,3 ,, antibraeh. .: 62,8 ,, cruris dextr. ! 62,8

Mittelwert: 61,4

57 58 5~ ~ 61 5"2 Abb. 7.

der F~lle, das }t~tufigkeitsmaximum nehmen wir im Mittelwert an. Das yon der Ordinate a (also yore Mittel- werte) links liegende Dreieck wiirde uns dann das Gebiet darstellen, wel- ches die sehematisehe It~ufigkeits- kurve bei den CarcinomatSsen mit der Abszisse einschlieBt, das Dreieck

reehts hiervon entsprechend bei den Erysipeli~llen. Die Dreieekspitzen liegen bei den Mittelwerten der entsprechenden F~ille. Die Abbildung zeigt uns auf den ersten Bliek, dal~ hier e in Antagonismus in bezug auf die Oberflgehenspannung besteht: W~hrend der Mittelwert der Carcinomat6sen bedeutend unter dem Mittelwert s~mtlicher iibrigen FMle liegt, liegt er flit die ErysipelfMle bedeutend h6her. W~hrend die grSBten Werte bei den CarcinomatSsen l~um den Mittelwert iibersehreiten, untersehreiten die kleinsten Werte der E13,sipelatSsen kaum den Mittelwert der iibrigen F~lle.

Wir schen also hieraus, dab das Blutserum Carcinomkranker tat- s~tchlieh eine geringere Oberflachenspannung zeigt als der Durchschnitt si~mtl icher t ib r igen Fi~lle u n d d a b d i e j e n i g e n M o m e n t e , we lche die

C a r c i n o m e n t w i c k l u n g in k l i n i s c h e m S inne g i ins t ig bee inf lussen , m i t e ine r E r h S h u n g de r Ober f l~ tchenspannung des B l u t s e r u m s e i n h e r g e h e n .

Wir konnten also nachweisen; daft die JErniedrigung der Ober/l(ichen- ~pannung im Gewebssa]t tats~ichlich den]enigen Faktor darstellt, der sgmt- lichen /i~n/ Forderungen Geniige leistet, daft also die derzeit allgemein2te ,, Ursache", d. h. die notwendige und hinreichende Bedingung einer Carcinom- entwiclclung in einer derartigen Erniedrigung der Ober/ldchenspannung des Gewebssa/tes besteht, welche zu einer Isolation und Beschleunigung der Zellteilung ]i~hrt.

Sic zeigen also eine Variationsbreite yon 58,9--62,8 mit einem Mittelwert yon 61,4. Bemerkenswert ist dabei, dal~ si~mtliche Wel~e tiber 60 liegen und nur in dem einzigen Falle, bei welchem die Blutentnahme erst am 12. Tage der Er- krankung geschah, cinen niedrigeren ~Vert yon 58,9 dyn/cm zeigt.

In der Abb. 7 stellten wir nun diese Verh~ltnisse der (~bersichtlichkeit wegen graphisch dar; auf die Abszisse sind die Werte in dyn/cm aufgetragen, die Ordi- nate a wurde .ira Mittelwerte s~mtlicher F~lle aufgetragen mi~ Ausnalmm der Carcinom- und ]~rysipelf~lle. Die Ordinate hat die Bedeutung der H~tufigkeit

tiber die Entstehungsbedingungen des Carcinoms. 373

INoeh einige Worte fiber die Frage des konstitutionellen Momentes. Unsere obigen Ausffihrungen zeigten, daf~ es sich beim Carcinom urn eine Eigensehaft des Gewebssaftes resp. des Blutserums handelt, also u m ein ,,humoralpathologisches" Moment, im Gegensatze zu den Auf- fassungen, die das bedingende Moment in die Zelle verlegen wollen, also eine primi~re , E n t a r t u n g " der Zelle annehmen. Auf diesen Gegensatz mSehte ich mit aUer Schi~rfe hinweisen, ich t a t dies schon in meiner erwi~hnten Schrift. Es seheint mir ni~mlich eine Auffassung, die das Primi~re unabhi~ngig yon der Umgebung in den Zellen sueht, aus prin- zipiellen Grfinden unzuli~ssig. Die Funktionen eines jeden Lebewesens und so auch einer jeden Zelle sind nun einmal unbestrei tbar durch die Zustandsiinderungen der Umgebung bedingt und in ihrer Riehtung bcs t immt; ware dies nieht der Fall, so g~be es keine Anpassung, keine Regulation, es gi~be keine Differenzierung der Zellen und es wi~re jede Zelle eine Carcinomzelle! Die Umgebung der Gewebszellen stellen nun aber unzweifelhaft die Gewebss~fte dar. t tandel t es sich also um eine Funkt ions inderung einzelner Gewebszellen, so mul3 dies dureh eine -~nderung im Gewebssaft bedingt worden sein. Nun kSnnte man ein- wenden, dab die Gewebssifte sich doeh wiederum nur dureh die ver- i~nderte Zellfunktion i~ndern k6nnen und so w~re der Streit, ob das Pri- m~re in den Zellen oder in den Gewebssi~ften liegt, ungefi~hr dasselbe wie der Streit, ob zuerst das Ei oder die Henne vorhanden war ? Dies tr iff t insofern zu, dab eine direkte Einwirkung auf die Zelle aueh mSglich ist, aber wieder nur durch diuflere Einwirkung, die Folgeerscheinungen dieser Einwirkung auf die iibrigen Zellen des Organismus kSnnen und miissen wir uns aber nur vermittels des Gewebssaftes vorstellen, indem wir sagen, die veri~nderte Zellfunktion bedingte eine Verhnderung der Ge- webssi~fte. Die unmittelbare Bedingung stellt uns also doeh immer die Veriinderung der Umgebung, also des Gewebssaftes, dar.

Es handelt sich also nicht um das iitiologische Moment, das, wie wir wissen, beim Carcinom nieht einheitlieh ist, sondern um die gemeinsame unmittelbare ]~edingung, die diese verschiedenen ~r hervorrufen, also um den gemeinsamen Wirkungsmechanismus, d. h. um die Beant- wortung der Frage, die Lubarsch l) aufwirft, ,,ob nicht die so verschiede- nen ~ul3eren und inneren Schidlichkeiten, die zur Krebsbildung fiihren kSnnen, in ihrem innersten Wesen auf ein und denselben Umstand zurfiekzufiihren sind". Dieser gemeinsame Umstand ist nun die unmittel- bare Bedingung und liegt, wie wir sahen, in einer Eigenschaft des Ge- webssaftes. Auf Grund des Gesagten mfissen wir also im Falle des Car- cinoms, falls wir yon einem konstitutionellen oder dispositionellen Mo- mente sprechen, dasselbe in den Eigensehaften des Gewebssaftes, und zwar in der Erniedrigung der Oberflachenspannung desselben suchen.

5) 1. e .

374 E. Bauer: Theoretische und experimentelie Untersuchungen.

Wiirde man bei der Vorstellung einer primaren Entar tung irgendwelcher Gewebszellen durch irgendwelche Einwirkung festhalten, so k6nnte man

sich wohl schwerlich irgendeine konkrete Vorstellung yon einem konsti- tut ionellen oder dispositionellen Momente maehen. DaB aber so etwas vorhanden ist, das folgt schon aus der bekannten Tatsache, dab das Carcinom eine Krankhei t des fortgeschrittenen Alters ist. DaB anderer- seits konstitutionelle Momente die Oberflachenspannung und ihre ~nde- rung beeinflussen kSnnen und diese in engem Zusammenhange mit dem sog. Komplementgehalt des Blutserums zu sein scheint, zeigte ich vor kurzeml). Hiernach seheint der Komplementgehalt resp. sein Mallstab, d. h. die Komplementwirkung, mit der Oberflachenspannung des Serums parallel zu gehen, je grSller ]etztere, um so gr6Ber die erstere und umge- kehrt .

Es ist nun bekannt, dab yon schwangeren Meerschweinchen entnom- menes Serum ,,schlechtes" Komplement hat, also mull hier eine geringere Oberfliichenspannung, also ein das Carcinomwachstum begiinstigendes Moment vorhanden sein. Damit wiirde sich das das Carcinomwachstum begiinstigende Moment bei Schwangeren erklaren. Jedenfalls ware hier eine meBbare GrSl~e ffir die Careinomdisposition gegeben und die Mes- sungen und Erfahrung kSnnen die Frage eindeutig entseheiden, ob die Abnahme der Oberflachenspannung des Blutserums tatsaehlich ein dispositionelles Moment darstellt. Die weiter oben erwahnten Versuche Rostocks scheinen jedenfalls hierfiir zu spreehen. Auch die Tatsache, dab die Gewebe im Alter an Kalksalzen reicher werden, kann wohl am besten so erld/~rt werden, dab im Alter dic Gewebe Kalksalze adsorbieren und dieselben ausgefallt werden, was natfirlich eine Abnahme der Ca '1- I one n im Gewebssaft und so eine Abnahme der Oberfl/iehenspannung desselben bedingen wiirde, wodurch die gr6Bere Disposition f/Jr Car- einom im Alter erklarlich ware.

Auf Grund der angefiihi%en Versuche, Tatsachen und l~berlegungen erachte ich nun das 1)roblem des Carcinoms gel6st, in dem Sinne, daft wit in der Ober]ldchenspannung des Serums eine meflbare Gr6fle besitzeu, yon deren .Belrag die Entstehungs- und Wachstumsm6glichlceit des Car- cinoms abMingt. Versuche zur naheliegenden therapeutischen Aus- beutung dieses l~esultates sind zwar im Gauge, d i e Kontrolle meiner Resultate und der daraus gezogenen Konsequenzen ware aber, in Anbe- t r ach t des in Frage stehenden Problems, iiberaus wfinschenswert.

1) t/iochem. Zcitschr. 1923.