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Theoriegeschichte in systematischer Absicht

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Theoriegeschichte in systematischer Absicht

Theoriegeschichte in systematischer Absicht

Wolfgang Schluchters „Grundlegungen der Soziologie“ in der Diskussion

Herausgegeben von

Hans-Peter Müller und Steffen Sigmund

Mohr Siebeck

ISBN 978-3-16-153621-2

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2017 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de

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Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruck -papier gedruckt und gebunden.

Inhaltsverzeichnis

Einführung ..........................................................................................................1

Beiträge zum 1. Band von Wolfgang Schluchters„Grundlegungen der Soziologie“

Frank EttrichSoziologischer HegelianismusAnmerkungen zu Wolfgang Schluchters Marx-Interpretation in denGrundlegungen der Soziologie..........................................................................23

Harald BluhmDie Konzeptualisierung von Handlungsmitteln bei Karl Marx undderen Relevanz für Max Weber ........................................................................55

Matthias KoenigZur andauernden Aktualität des Durkheimianischen ForschungsprogrammsEinige Anmerkungen zu Schluchters Grundlegungen der Soziologie ..............75

Karl-Siegbert RehbergGeschichte als Quelle des VerstehensAnmerkungen zu Differenzen und Übereinstimmungen zwischenWilhelm Dilthey und Max Weber .....................................................................89

Thomas SchwinnOffene Fragen einer kantianisierenden SoziologieZum Verhältnis Kant – Weber ........................................................................103

Alessandro CavalliDie Präsenz der Absenz – Georg Simmel .......................................................123

Gert AlbertDie Präsenz der Absenz – Vilfredo Pareto ......................................................131

VI Inhaltsverzeichnis

Beiträge zum 2. Band von Wolfgang Schluchters„Grundlegungen der Soziologie“

Michael SchmidDie systemtheoretische Wende – Talcott Parsons...........................................169

Harald WenzelDoppelte Kontingenz und die Idealisierung der KommunikationZu Wolfgangs Schluchters Deutung der Theorieleistungen vonGeorge Herbert Mead und Jürgen Habermas in seinenGrundlegungen der Soziologie........................................................................193

Ulrich BachmannDivergierende Forschungsprogramme, inkompatible Leitdifferenzenund die radikalisierte Systemtheorie Niklas Luhmanns ..................................219

Uwe SchimankDer weite Weg zum common ground der Soziologie –vorbei an Ab- und Scheidewegen....................................................................251

Georg KneerTheorieexplikation und TheoriesyntheseEin Kommentar zu Wolfgang Schluchters Grundsätzen einerstrukturalistisch-individualistischen verstehenden Soziologie ........................263

Weiterführende Überlegungen

Wolfgang SchluchterZur Dualität von Struktur und HandlungUmriss eines weberianischen Forschungsprogramms.....................................293

Autorenverzeichnis .........................................................................................315

VI Inhaltsverzeichnis

Beiträge zum 2. Band von Wolfgang Schluchters„Grundlegungen der Soziologie“

Michael SchmidDie systemtheoretische Wende – Talcott Parsons...........................................169

Harald WenzelDoppelte Kontingenz und die Idealisierung der KommunikationZu Wolfgangs Schluchters Deutung der Theorieleistungen vonGeorge Herbert Mead und Jürgen Habermas in seinenGrundlegungen der Soziologie........................................................................193

Ulrich BachmannDivergierende Forschungsprogramme, inkompatible Leitdifferenzenund die radikalisierte Systemtheorie Niklas Luhmanns ..................................219

Uwe SchimankDer weite Weg zum common ground der Soziologie –vorbei an Ab- und Scheidewegen....................................................................251

Georg KneerTheorieexplikation und TheoriesyntheseEin Kommentar zu Wolfgang Schluchters Grundsätzen einerstrukturalistisch-individualistischen verstehenden Soziologie ........................263

Weiterführende Überlegungen

Wolfgang SchluchterZur Dualität von Struktur und HandlungUmriss eines weberianischen Forschungsprogramms.....................................293

Autorenverzeichnis .........................................................................................315

Einführung

Hans-Peter Müller und Steffen Sigmund

Heute scheinen die Zeiten der großen Theoriebildung erst einmal vorbei zusein. Das sah am Ende der 1960er Jahre, während der 1970er Jahre und An-fang der 1980er Jahre noch ganz anders aus. Passend zu dem gesellschaftli-chen Aufbruch (‚1968‘) setzte ein Zeitalter der Theorie ein, in dem verschie-dene Ansätze wie der Strukturalismus und Funktionalismus, die Kybernetikund Systemtheorie, der Marxismus und Neomarxismus, die mikrosozialenSchulen von symbolischem Interaktionismus, der Phänomenologie und Eth-nomethodologie darum rangen, ‚Gesellschaft‘ analytisch neu zu denken. Dieklassischen sozialtheoretischen Fragen wie Handeln und Struktur, Mikro- undMakroanalyse, Differenzierung und Integration, Konsensus und Konflikt usf.wurden ebenso aufgenommen wie Versuche, durch Rückgriff auf die Klassi-ker ein theoretisches Ordnungsniveau zu erreichen, das den Namen ‚Gesell-schaftstheorie‘ sich tatsächlich verdienen könnte.

Ein kurzer Rückblick auf diese Zeit vermag die Dominanz des Theoriein-teresses zu illustrieren. Es war der Soziologiekongress im Jahre 1964 in Hei-delberg, der die theoretische und zeitdiagnostische Kraft der Soziologie MaxWebers (Stammer 1965) kritisch unter die Lupe nahm und in der Folgezeiteine regelrechte „Weber-Renaissance“ (Müller/Sigmund 2014) auslösen soll-te. Sie führte nicht nur zu einer vorbildlichen und verbindlichen „Max-Weber-Gesamtausgabe“, sondern zu einem „Max Weber Paradigma“ (Albertet al. 2003), das sein Werk zu einem eigenständigen Ansatz von Gesell-schaftsanalyse und Gesellschaftsgeschichte weiter entwickelt. Die verschie-denen Versionen des Marxismus und Neomarxismus (Althusser/Balibar1972) lenkten das Augenmerk zurück auf das Werk von Karl Marx, dessenEinheit und Widersprüchlichkeit nicht nur breit rezipiert und diskutiert wur-de. Sondern in der Folgezeit entstand daraus auch eine fruchtbare theoreti-sche Strömung, die sich später als „analytischer Marxismus“ (Roemer 1986,Elster 1985) bezeichnen sollte und heute unter dem Stichwort „soziologischerMarxismus“ (Burawoy/Wright 2001) firmiert. Diese Richtung rekurriert aufMarx’sche Konzepte und Theoreme mit dem Ziel, an dessen Trias von Ge-sellschaftstheorie, -analyse und zeitdiagnostischer Kritik (Jaeggi/Loick 2013)anzusetzen und weiter zu entwickeln. Aus dem alten Funktionalismus entwi-ckelte sich nicht nur der Neofunktionalismus (Alexander/Smith 1985), derTeile des Parsonianischen Erbes bewahren und weiter entfalten wollte, son-

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dern auch verschiedene Varianten der Systemtheorie, die neben der Theorie-entwicklung auch die Probleme der gesellschaftlichen Planung und Steuerung(Willke 1982, 1994, 1995) in Angriff zu nehmen versuchten.

Charakteristisch für die prominentesten dieser Theorieversuche waren derRückgriff auf die Klassiker und deren Problemstellung, die Reflexion aufsozialtheoretische Grundprobleme wie Handeln und Struktur und – auf dieserBasis – die Entwicklung eines gesellschaftstheoretischen Ansatzes. Uneinge-standenes Vorbild für diese Vorgehensweise wurde Talcott Parsons’ (1968)bahnbrechende, zweibändige Studie über The Structure of Social Action ausdem Jahre 1937, in der er klassische europäische Denker aus Ökonomie undSoziologie wie Alfred Marshall, Vilfredo Pareto, Émile Durkheim und MaxWeber auf dem Weg zu einer facheinheitlichen Theorie des voluntaristischenHandelns gesehen haben wollte, die dann zur Richtschnur für seinen eigenenStruktur-Funktionalismus werden sollte. Auf den Spuren von Parsons machtesich Jeffrey C. Alexander (1982/3) daran, in vier Bänden der Theoretic Logicof Sociology und ihren Syntheseversuchen auf die Spur zu kommen. In Eng-land war es Anthony Giddens (1986), der auf der Basis einer Fülle von Stu-dien zu den Klassikern den Grundstein dafür legte, seine eigene Gesell-schaftstheorie in Gestalt von The Constitution of Society vorzulegen. InFrankreich entwickelte Pierre Bourdieu (1979) eine Theorie der Praxis, diemit der Grundformel von Struktur-Habitus-Praxis alle Gesellschaftsformatio-nen zu untersuchen erlaubt, indem man Klassen- und Feldanalyse kombiniert.Die klassenspezifische Seite seiner Gesellschaftstheorie kommt in seinerbahnbrechenden Studie über Die feinen Unterschiede (Bourdieu 1982) zumAusdruck, die feldtheoretische Seite findet sich in Die Regeln der Kunst(Bourdieu 1999). In Deutschland entwickelte sich seit den frühen 1970erJahren eine produktive Theoriekonkurrenz zwischen Jürgen Habermas undNiklas Luhmann, die der Diskussionsband Theorie der Gesellschaft oderSozialtechnologie (Habermas/Luhmann 1971) auslösen sollte. Der Titeltransportierte ein grobes Missverständnis, das aber fruchtbare Folgen zeitigensollte. Sehr zu seiner Verwunderung fand sich Niklas Luhmann auf der Seitevon Sozialtechnologie wider, obgleich er zeit seines Lebens nichts weiterhatte machen wollen, als Gesellschaftstheorie zu treiben. Nach zahlreichenVorarbeiten legte er 1984 die Grundzüge in seinem Buch Soziale Systeme(Luhmann 1984) vor. Kurz vor seinem Tod brachte er dann sein opus mag-num in Gestalt von Die Gesellschaft der Gesellschaft (Luhmann 1997) her-aus. Jürgen Habermas hingegen arbeitete sein ganzes Leben an der Konstruk-tion einer neuen kritischen Theorie der Gesellschaft auf der Basis seiner Vor-läufer Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. In einer aufschlussreichenMélange aus symbolischem Interaktionismus und Systemtheorie, auf derBasis einer dialogischen Handlungstheorie, eines zweistufigen Gesellschafts-begriffs – System und Lebenswelt – und einer kritischen Zeitdiagnose – derKolonialisierung der Lebenswelt – legte er Anfang der 1980er Jahre sein

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dern auch verschiedene Varianten der Systemtheorie, die neben der Theorie-entwicklung auch die Probleme der gesellschaftlichen Planung und Steuerung(Willke 1982, 1994, 1995) in Angriff zu nehmen versuchten.

Charakteristisch für die prominentesten dieser Theorieversuche waren derRückgriff auf die Klassiker und deren Problemstellung, die Reflexion aufsozialtheoretische Grundprobleme wie Handeln und Struktur und – auf dieserBasis – die Entwicklung eines gesellschaftstheoretischen Ansatzes. Uneinge-standenes Vorbild für diese Vorgehensweise wurde Talcott Parsons’ (1968)bahnbrechende, zweibändige Studie über The Structure of Social Action ausdem Jahre 1937, in der er klassische europäische Denker aus Ökonomie undSoziologie wie Alfred Marshall, Vilfredo Pareto, Émile Durkheim und MaxWeber auf dem Weg zu einer facheinheitlichen Theorie des voluntaristischenHandelns gesehen haben wollte, die dann zur Richtschnur für seinen eigenenStruktur-Funktionalismus werden sollte. Auf den Spuren von Parsons machtesich Jeffrey C. Alexander (1982/3) daran, in vier Bänden der Theoretic Logicof Sociology und ihren Syntheseversuchen auf die Spur zu kommen. In Eng-land war es Anthony Giddens (1986), der auf der Basis einer Fülle von Stu-dien zu den Klassikern den Grundstein dafür legte, seine eigene Gesell-schaftstheorie in Gestalt von The Constitution of Society vorzulegen. InFrankreich entwickelte Pierre Bourdieu (1979) eine Theorie der Praxis, diemit der Grundformel von Struktur-Habitus-Praxis alle Gesellschaftsformatio-nen zu untersuchen erlaubt, indem man Klassen- und Feldanalyse kombiniert.Die klassenspezifische Seite seiner Gesellschaftstheorie kommt in seinerbahnbrechenden Studie über Die feinen Unterschiede (Bourdieu 1982) zumAusdruck, die feldtheoretische Seite findet sich in Die Regeln der Kunst(Bourdieu 1999). In Deutschland entwickelte sich seit den frühen 1970erJahren eine produktive Theoriekonkurrenz zwischen Jürgen Habermas undNiklas Luhmann, die der Diskussionsband Theorie der Gesellschaft oderSozialtechnologie (Habermas/Luhmann 1971) auslösen sollte. Der Titeltransportierte ein grobes Missverständnis, das aber fruchtbare Folgen zeitigensollte. Sehr zu seiner Verwunderung fand sich Niklas Luhmann auf der Seitevon Sozialtechnologie wider, obgleich er zeit seines Lebens nichts weiterhatte machen wollen, als Gesellschaftstheorie zu treiben. Nach zahlreichenVorarbeiten legte er 1984 die Grundzüge in seinem Buch Soziale Systeme(Luhmann 1984) vor. Kurz vor seinem Tod brachte er dann sein opus mag-num in Gestalt von Die Gesellschaft der Gesellschaft (Luhmann 1997) her-aus. Jürgen Habermas hingegen arbeitete sein ganzes Leben an der Konstruk-tion einer neuen kritischen Theorie der Gesellschaft auf der Basis seiner Vor-läufer Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. In einer aufschlussreichenMélange aus symbolischem Interaktionismus und Systemtheorie, auf derBasis einer dialogischen Handlungstheorie, eines zweistufigen Gesellschafts-begriffs – System und Lebenswelt – und einer kritischen Zeitdiagnose – derKolonialisierung der Lebenswelt – legte er Anfang der 1980er Jahre sein

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opus magnum, die zweibändige Theorie des kommunikativen Handelns (Ha-bermas 1981) vor.

Wie nun hat sich Wolfgang Schluchter in die theoretischen Diskurse dieserZeit eingeschrieben? Schluchter (1972) begann nicht mit der Konstruktioneiner Gesellschaftstheorie, sondern mit der Behandlung von Gesellschafts-problemen. Schon Max Weber hatte die Rationalisierung und Bürokratisie-rung der Welt vorausgesagt. Schluchter nahm diesen Faden auf und verfolgteden Zusammenhang von Herrschaft und Bürokratie in den Sozialtheorien des19. und 20. Jahrhunderts: Saint-Simon, Marx, Weber, Burnham, Ellul,Schelsky und die Kritische Theorie von Marcuse und Habermas. Von da ausunternahm er einen ersten Versuch, das analytische Potential von WebersAnsatz auszuloten. Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus(Schluchter 1979) firmierte zwar sachlich als „Eine Analyse von Max WebersGesellschaftsgeschichte“, unter Rückgriff auf Parsons und Habermas ging esin theoretischer Hinsicht hingegen darum, Webers Ansatz für zeitgenössischeAnalysen zu profilieren. Wer seinerzeit geglaubt hatte, dass Schluchter dieDyade der deutschen Theoriekonkurrenz zu einer Triade ausweiten würde,sah sich in der Folgezeit getäuscht.

Wie so häufig im Leben von Wissenschaftlern waren es äußere Ereignisse,die seine zukünftige Forschungsrichtung entscheidend beeinflussen sollte.Nach dem Ende des Max-Planck-Instituts zur Erforschung der wissenschaft-lich-technischen Lebensbedingungen in Starnberg sollte ein neues Institut inMünchen errichtet werden, in das Wolfgang Schluchter neben Jürgen Haber-mas als Direktor eintreten sollte. Diese Zusammenarbeit hätte sicherlich imLichte des geplanten Forschungsprogramms interessante gesellschaftstheore-tische Früchte getragen. Aber Schluchter blieb in Heidelberg und Habermaswechselte nach Frankfurt. Beide sollten die gesellschaftstheoretischen Pfadeerst einmal verlassen. Habermas (1992) widmete sich einer politischen Philo-sophie der Demokratie und des Rechts, wie der Titel Faktizität und Geltungschon andeutet. Schluchter engagierte sich nicht nur in der Max-Weber-Gesamtausgabe, sondern explizierte das religionssoziologische Forschungs-programm Max Webers in einer langen Reihe von Tagungen und der Publika-tion von einschlägigen Bänden. So entstanden Studien über das Judentum(Schluchter 1981), den Konfuzianismus und Taoismus (Schluchter 1983), denHinduismus und Buddhismus (Schluchter 1984), das antike Christentum(Schluchter 1985), den Islam (Schluchter 1987) und das okzidentale Christen-tum (Schluchter 1988a). Zugleich widmete er sich einer genaueren Erfor-schung der Grundlagen des Weberschen Forschungsprogramms, die er unterdem programmatischen Titel Religion und Lebensführung (Schluchter 1988b)in zwei Bänden vorlegte. Diese Tiefenbohrungen in die erkenntnis- und wert-theoretischen Fundamente des Weberschen Ansatzes markieren sein opusmagnum, wenn es um die Etablierung einer eigenständigen weberianischinspirierten Soziologie gehen soll.

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Was dieses langjährige Engagement in der Weber-Edition und Interpreta-tion erfolgreich verdeckt hat, ist die Tatsache, dass Schluchters Theorieinte-resse keineswegs erlahmt war. Nur äußerte es sich nicht mehr in der Art undWeise der frühen Publikationen, sondern fand nur in dem inneruniversitärenRaum und zwar im Vorlesungsbetrieb an der Universität Heidelberg statt.Wer jemals Wolfgang Schluchters berühmte Theorievorlesungen gehört hatte,wurde in die Welt der klassischen und zeitgenössischen Theoriebildung und-diskussion eingeführt und mit einem analytischen Theorieinteresse ange-steckt. Ein Meister der Explikation, legte er die philosophischen Grundlagenund Einflüsse der Ansätze offen und warf durch seine Interpretation neuesLicht auf die Botschaft ihrer Autoren. Zugleich vermochte er, die großenLinien der Theorieentwürfe, ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede, ihreüberraschenden und überzeugenden Verbindungen offenzulegen, also das,was man das Feld der soziologischen Theoriebildung nennen könnte, wie siein keinem Lehrbuch der Zeit zu finden gewesen wäre. Allein, die Fülle dieserEinsichten und Erkenntnisse blieb nur seinem beeindruckten studentischenPublikum vorbehalten, der theorieinteressierten Soziologie blieb sie verbor-gen.

Man musste denn auch auf seine Emeritierung warten, bis Schluchter(2006/7) endlich die Zeit fand, diese langjährigen und ausgereiften Vorlesun-gen einer breiteren Öffentlichkeit vorzulegen. Zu Beginn des 21. Jahrhun-derts indes war das Zeitalter der großen Theorie und Theoriedebatten längstzu Ende und so stießen seine zweibändigen Grundlegungen der Soziologieauf ein zwar höfliches, aber reserviertes Interesse. Zeitlich, wenn auch nichtsachlich, hätten diese Bände kurz nach Habermas’ opus magnum erscheinenkönnen und müssen. Sicherlich wäre ihnen dann eine ganz andere Aufmerk-samkeit und lebhafte Diskussion zuteilgeworden. Einen unschätzbaren Vor-teil hat die Theorie freilich gegenüber der Empirie: Sie veraltet nicht soschnell, denn Argumente sind haltbarer als Daten. Theorieexplikation und -interpretation mögen auch ihre Konjunkturen haben, aber einschlägige Werkealtern edel. Sie ähneln guten Weinen und werden mit der Zeit immer besser.Schluchters Grundlegungen können deshalb als Endmoräne der großen Zeitder Theorie gelesen werden, aber auch als Auftakt, sich in Zukunft wiederstärker im Weinberg der Theoriebildung zu engagieren.

In den beiden Bänden nimmt Schluchter die damalige grundlagentheoreti-sche Problemstellung wieder explizit auf, wie sie schon in seiner Studie überDie Entwicklung des okzidentalen Rationalismus (Schluchter 1979) ange-klungen war, und entwickelt unter der Bezeichnung individualistisch-strukturalistisches Forschungsprogramm seine Lesart und Lösung des Struk-tur-Handlungs-Problems. In dem ersten Band rekurriert er auf die Klassikerder Soziologie, die Triade von Marx, Durkheim und Weber, expliziert sieunter Rückgriff auf ihre Hintergrundphilosophien als soziologischen Hegeli-anismus, soziologischen Kantianismus und kantianisierende Soziologie. Das

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Was dieses langjährige Engagement in der Weber-Edition und Interpreta-tion erfolgreich verdeckt hat, ist die Tatsache, dass Schluchters Theorieinte-resse keineswegs erlahmt war. Nur äußerte es sich nicht mehr in der Art undWeise der frühen Publikationen, sondern fand nur in dem inneruniversitärenRaum und zwar im Vorlesungsbetrieb an der Universität Heidelberg statt.Wer jemals Wolfgang Schluchters berühmte Theorievorlesungen gehört hatte,wurde in die Welt der klassischen und zeitgenössischen Theoriebildung und-diskussion eingeführt und mit einem analytischen Theorieinteresse ange-steckt. Ein Meister der Explikation, legte er die philosophischen Grundlagenund Einflüsse der Ansätze offen und warf durch seine Interpretation neuesLicht auf die Botschaft ihrer Autoren. Zugleich vermochte er, die großenLinien der Theorieentwürfe, ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede, ihreüberraschenden und überzeugenden Verbindungen offenzulegen, also das,was man das Feld der soziologischen Theoriebildung nennen könnte, wie siein keinem Lehrbuch der Zeit zu finden gewesen wäre. Allein, die Fülle dieserEinsichten und Erkenntnisse blieb nur seinem beeindruckten studentischenPublikum vorbehalten, der theorieinteressierten Soziologie blieb sie verbor-gen.

Man musste denn auch auf seine Emeritierung warten, bis Schluchter(2006/7) endlich die Zeit fand, diese langjährigen und ausgereiften Vorlesun-gen einer breiteren Öffentlichkeit vorzulegen. Zu Beginn des 21. Jahrhun-derts indes war das Zeitalter der großen Theorie und Theoriedebatten längstzu Ende und so stießen seine zweibändigen Grundlegungen der Soziologieauf ein zwar höfliches, aber reserviertes Interesse. Zeitlich, wenn auch nichtsachlich, hätten diese Bände kurz nach Habermas’ opus magnum erscheinenkönnen und müssen. Sicherlich wäre ihnen dann eine ganz andere Aufmerk-samkeit und lebhafte Diskussion zuteilgeworden. Einen unschätzbaren Vor-teil hat die Theorie freilich gegenüber der Empirie: Sie veraltet nicht soschnell, denn Argumente sind haltbarer als Daten. Theorieexplikation und -interpretation mögen auch ihre Konjunkturen haben, aber einschlägige Werkealtern edel. Sie ähneln guten Weinen und werden mit der Zeit immer besser.Schluchters Grundlegungen können deshalb als Endmoräne der großen Zeitder Theorie gelesen werden, aber auch als Auftakt, sich in Zukunft wiederstärker im Weinberg der Theoriebildung zu engagieren.

In den beiden Bänden nimmt Schluchter die damalige grundlagentheoreti-sche Problemstellung wieder explizit auf, wie sie schon in seiner Studie überDie Entwicklung des okzidentalen Rationalismus (Schluchter 1979) ange-klungen war, und entwickelt unter der Bezeichnung individualistisch-strukturalistisches Forschungsprogramm seine Lesart und Lösung des Struk-tur-Handlungs-Problems. In dem ersten Band rekurriert er auf die Klassikerder Soziologie, die Triade von Marx, Durkheim und Weber, expliziert sieunter Rückgriff auf ihre Hintergrundphilosophien als soziologischen Hegeli-anismus, soziologischen Kantianismus und kantianisierende Soziologie. Das

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Resultat seines Durchgangs durch die soziologische Klassik lautet nicht aufKonvergenz wie bei Parsons und Habermas, sondern Divergenz. Schluchterspricht deshalb auch von den Grundlegungen im Plural. Im zweiten Bandwendet er sich neueren Ansätzen zu und diskutiert die systemtheoretischeWende (Talcott Parsons), die sprachtheoretische Wende (George HerbertMead und Jürgen Habermas) und die radikalisierte Systemtheorie (NiklasLuhmann), um am Ende sein eigenes strukturalistisch-individualistischesForschungsprogramm im Anschluss an Weber darzulegen.

Der vorliegende Band zielt darauf ab, die von Schluchter vorgelegte ‚The-oriegeschichte in systematischer Absicht“ kritisch zu diskutieren, um dastheoretische Potential, die begrifflichen Chancen und Beschränkungen, wieauch mögliche Anschlussperspektiven, die mit diesen Grundlegungen derSoziologie verbunden sind, herauszuarbeiten.

Als Richtschnur hierfür sollen vier Leitfragen dienen, auch wenn die ein-zelnen Beiträge durchaus eigene Schwerpunkte in ihrer kritischen Auseinan-dersetzung wählen:

1. Theoriebildung: Kann eine Theoriegeschichte, wie systematisch sieauch ausfallen mag, tatsächlich die Theoriebildung auch heute noch inspirie-ren und informieren? Das gilt für das gesamte Spektrum des Theoretisierensvon der Sozialtheorie über die soziologische Theorie bis hin zur Gesell-schaftstheorie, um Anthony Giddens’ Unterscheidungsreihe zu verwenden.Kurz und knapp: Wie steht es um das Verhältnis von Theoriegeschichte undTheoriebildung?

2. Theoriegeschichte in systematischer Absicht: Schluchters Projekt stehtin einer Reihe mit den großen Versuchen zur Grundlegung von Talcott Par-sons und Jürgen Habermas. Was ihn indes markant von seinen Vorläufernunterscheidet, ist, dass er von Konvergenz auf Divergenz umstellt. Parsonsund Habermas – sei es in einer voluntaristischen oder sei es in einer kommu-nikativen Handlungstheorie – glaubten, damit den gemeinsamen Kern dessoziologischen Projekts einer Gesellschaftstheorie gefunden zu haben. DieKonvergenzthese mündete also in eine verbindliche Grundlegung der Sozio-logie. Schluchter weist diese Konvergenzanstrengungen als gescheitert zu-rück und betont, dass viele, wenn auch nicht alle Wege nach Rom führen.Diese Divergenzthese lässt ihn von den Grundlegungen der Soziologie imPlural sprechen. Wenn man von Einheit auf begrenzte Vielfalt umstellt, wasbedeutet das für die Verbindlichkeit einer Gesellschaftstheorie? Wie unter-scheidet man die Güte zwischen den verschiedenen Versuchen zur Grundle-gung? Ist die „Multiparadigmatase“ (Luhmann) eine Geschmacks- und Tem-peramentsfrage oder gibt es übergreifende Kriterien der Superiorität vonGrundlegungsversuchen? Kurz und knapp: Wie muss man das Verhältnis vonDivergenz und Gesellschaftstheorie verstehen?

3. Klassische und zeitgenössische Ansätze: Der Aufteilung in zwei Bändeentspricht die Zweiteilung in klassische und zeitgenössische Ansätze. So

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aufschlussreich die Auseinandersetzung mit Karl Marx und Émile Durkheimausfällt, wie wir gleich sehen werden, so gewinnt man doch den Eindruck,dass ihre Ansätze mehr oder minder passé sind und ihre Beiträge insofernGeschichte. So wird nicht recht deutlich, woran im Falle von Marx undDurkheim der Ertrag zu einer Theoriegeschichte in systematischer Absichtfest zu machen ist. Die Ausnahme bildet auch hier Max Weber, der zweimalvorkommt – zum einen als Klassiker im ersten Band, zum anderen als wich-tigster Gewährsmann eines strukturalistisch-individualistischen Ansatzes imzweiten Band. Ähnlich wie für Marx und Durkheim im ersten Band gilt paripassu die ‚Passéhaftigkeit‘ für Parsons und Luhmann im zweiten Band, wirddoch die Systemtheorie insgesamt als „Sackgasse“ für eine adäquate Gesell-schaftstheorie charakterisiert. Am meisten scheint Schluchters Ansatz vonGeorge Herbert Mead und Jürgen Habermas zu lernen – oder täuscht dieserEindruck? Kurz und knapp: Wie steht es um das Verhältnis der behandeltenAnsätze und ihrem Beitrag für den strukturalistisch-individualistischen An-satz als Königsweg für die Gesellschaftstheorie?

4. Das Feld der Theoriebildung heute: Schluchters Grundlegungen bildenrecht gut das Feld der Theoriebildung ab, wie es sich in den 1970er und1980er Jahren vor allem in der deutschen Soziologie ausgeprägt hat. Wirschreiben indes das Jahr 2017. Was hat sich in den letzten Jahrzehnten getan?Und welche Weichenstellungen müsste man vornehmen, um die Grundlegun-gen à jour zu bringen? Kurz und knapp: Wie sieht das Feld der Theoriebil-dung heute aus und lässt es sich mit dem Ansatz und der Methode beikom-men, die Schluchter in seinen Grundlegungen paradigmatisch vorgeführt hat?

Entlang dieser Problemstellungen und orientiert an der Gliederung derGrundlegungen haben wir im Rahmen eines zweitägigen Symposiums dasPotential dieses aus unserer Sicht einzigartigen systematischen Versuchsdiskutiert, die prinzipiell möglichen und wirkmächtigen Ansätze in der Sozio-logie mit den dahinterstehenden philosophischen Positionen zu vermitteln, jadie Eigenart und Besonderheit der jeweiligen Ansätze erst durch die Aufklä-rung ihrer philosophischen Grundannahmen verständlich zu machen. Inwie-fern dies Wolfgang Schluchter gelingt und welche Bedeutung dies für diesoziologische Theoriebildung in Gänze hat, zeigen die nachfolgenden Beiträ-ge.

Zu Beginn setzt sich Frank Ettrich unter dem Titel „Soziologischer Hege-lianismus. Anmerkungen zu Wolfgang Schluchters Marx-Interpretation“umfang- und kenntnisreich in dreifacher Hinsicht mit Schluchters Werk undinsbesondere seinen Grundlegungen der Soziologie auseinander.

Zunächst reflektiert er kurz dessen allgemeine Werkentwicklung seit den1970er Jahren, ehe er dann dessen Marx-Interpretation in doppelter Weisediskutiert: Einerseits vermittelt über die Art und Weise, wie Schluchter denEinfluss von Marx auf die Entwicklung der Weberschen Soziologie rekon-struiert, also über die Problemstellung, welche Rolle Marx für das weberiani-

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aufschlussreich die Auseinandersetzung mit Karl Marx und Émile Durkheimausfällt, wie wir gleich sehen werden, so gewinnt man doch den Eindruck,dass ihre Ansätze mehr oder minder passé sind und ihre Beiträge insofernGeschichte. So wird nicht recht deutlich, woran im Falle von Marx undDurkheim der Ertrag zu einer Theoriegeschichte in systematischer Absichtfest zu machen ist. Die Ausnahme bildet auch hier Max Weber, der zweimalvorkommt – zum einen als Klassiker im ersten Band, zum anderen als wich-tigster Gewährsmann eines strukturalistisch-individualistischen Ansatzes imzweiten Band. Ähnlich wie für Marx und Durkheim im ersten Band gilt paripassu die ‚Passéhaftigkeit‘ für Parsons und Luhmann im zweiten Band, wirddoch die Systemtheorie insgesamt als „Sackgasse“ für eine adäquate Gesell-schaftstheorie charakterisiert. Am meisten scheint Schluchters Ansatz vonGeorge Herbert Mead und Jürgen Habermas zu lernen – oder täuscht dieserEindruck? Kurz und knapp: Wie steht es um das Verhältnis der behandeltenAnsätze und ihrem Beitrag für den strukturalistisch-individualistischen An-satz als Königsweg für die Gesellschaftstheorie?

4. Das Feld der Theoriebildung heute: Schluchters Grundlegungen bildenrecht gut das Feld der Theoriebildung ab, wie es sich in den 1970er und1980er Jahren vor allem in der deutschen Soziologie ausgeprägt hat. Wirschreiben indes das Jahr 2017. Was hat sich in den letzten Jahrzehnten getan?Und welche Weichenstellungen müsste man vornehmen, um die Grundlegun-gen à jour zu bringen? Kurz und knapp: Wie sieht das Feld der Theoriebil-dung heute aus und lässt es sich mit dem Ansatz und der Methode beikom-men, die Schluchter in seinen Grundlegungen paradigmatisch vorgeführt hat?

Entlang dieser Problemstellungen und orientiert an der Gliederung derGrundlegungen haben wir im Rahmen eines zweitägigen Symposiums dasPotential dieses aus unserer Sicht einzigartigen systematischen Versuchsdiskutiert, die prinzipiell möglichen und wirkmächtigen Ansätze in der Sozio-logie mit den dahinterstehenden philosophischen Positionen zu vermitteln, jadie Eigenart und Besonderheit der jeweiligen Ansätze erst durch die Aufklä-rung ihrer philosophischen Grundannahmen verständlich zu machen. Inwie-fern dies Wolfgang Schluchter gelingt und welche Bedeutung dies für diesoziologische Theoriebildung in Gänze hat, zeigen die nachfolgenden Beiträ-ge.

Zu Beginn setzt sich Frank Ettrich unter dem Titel „Soziologischer Hege-lianismus. Anmerkungen zu Wolfgang Schluchters Marx-Interpretation“umfang- und kenntnisreich in dreifacher Hinsicht mit Schluchters Werk undinsbesondere seinen Grundlegungen der Soziologie auseinander.

Zunächst reflektiert er kurz dessen allgemeine Werkentwicklung seit den1970er Jahren, ehe er dann dessen Marx-Interpretation in doppelter Weisediskutiert: Einerseits vermittelt über die Art und Weise, wie Schluchter denEinfluss von Marx auf die Entwicklung der Weberschen Soziologie rekon-struiert, also über die Problemstellung, welche Rolle Marx für das weberiani-

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sche Forschungsprogramm spielte, andererseits dann direkt mit Bezug aufseine Rekonstruktion des Marxschen Forschungsprogramms. Ausgangspunktfür Ettrich ist zunächst der Einwand, dass Schluchters Konzeptualisierung desVerhältnisses von Philosophie und Soziologie als Ergänzungs- oder Erset-zungsverhältnis zu kurz greift; dieses sei weitaus komplexer und, gerade mitBlick auf das Verhältnis von Marx zu Hegel, lange Zeit ja Gegenstand aus-ufernder Debatten gewesen. Darüber hinaus würden sich Schluchters Grund-legungen nur auf die Interpretation und Genese der Forschungsprogrammeder zentralen Soziologen konzentrieren, eine systematische Theorieexplikati-on, die für alle zielführend sei, würde er aber nur im Falle Webers vorlegen.

Mit Blick auf das Marx-Weber-Verhältnis macht Ettrich deutlich, dassSchluchter, indem er in Weber den Vorläufer der von ihm präferierten struk-turalistisch-individualistischen Theorie sieht, Marx‘ Intentionen teilweisemissinterpretiert, so etwa hinsichtlich der motivationellen Grundlagen desKapitalismus, die Marx im Kapital nicht behandle. Diese Einseitigkeit derGesichtspunkte bei Marx beruht jedoch auf „methodischen Gründen“ undhatte eine „realhistorische Berechtigung“, so dass sie eben nicht in Konkur-renz zur Weberschen Problemlösung steht. Und auch die von Schluchter überWeber vermittelte Lösung des Handlungs-Struktur-Problems im Sinne einerMehrebenenanalyse „überbietet“ nicht den Marxschen Ansatz, sondern ver-fehlt dessen spezifische Theoriearchitektur. Hinsichtlich Schluchters unmit-telbarer Marx-Interpretation sieht Ettrich ein zentrales Problem darin, dassdieser das Marxsche Forschungsprogramm fast ausschließlich aus der Per-spektive des frühen Marx liest, so dass der dort vorherrschende „naturalisierteHegelianismus“ (Schluchter 2006, S. 73) oder Emanatismus die Interpreta-tionsfolie für das Gesamtwerk abgibt. Ettrich zeigt demgegenüber konziseauf, dass das Marxsche Oeuvre durch eine enorme Dynamik gekennzeichnetist. Als „work in progress“ unterliegt es permanenten Transformationen; solässt sich etwa schon mit Blick auf Die Deutsche Ideologie nachzeichnen,dass die dort angestrebte Kritik gerade der „empirischen Tatsachen“ nicht imRahmen des Hegelianismus verwirklicht werden kann. Abschließend suchtEttrich noch Marx‘ Forschungsprogramm mit Blick auf den darin angelegtenBeitrag zur Soziologie zu explizieren, indem er deutlich macht, wie die imKapital entwickelte Gesellschaftsanalyse als „Inspirationsquelle“ für dieGründerväter des Faches – wenn auch mit gänzlich anderen philosophischenund wissenschaftstheoretischen Grundannahmen – wirkte.

Harald Bluhm schlägt in seiner Auseinandersetzung mit Schluchters Marx-Interpretation auch den Bogen zu Weber und setzt doppelt an. Zunächst fragter in genealogischer Hinsicht, ob man beider Werk vollständig gerecht wird,wenn man sie, wie Schluchter vorschlägt, ausschließlich als Soziologie rezi-piert. Demgegenüber betont Bluhm, dass beide Autoren einem universalge-schichtlichen Ideal in ihrer Theoriebildung folgen, das auch politisch-interventionistische Aspekte beinhaltet, die auf konkrete Veränderungen ihrer

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jeweiligen Gegenwartsgesellschaft abzielen. Die Fokussierung der For-schungsprogramme von Marx und Weber auf ausschließlich soziologisch-objektivistische Problemstellungen wäre, so die These, eine Verkürzung, dasie die diagnostischen und originär politischen Dimensionen beider Werkeausblenden würde.

In systematischer Hinsicht geht Bluhm in handlungstheoretischer Perspek-tive einer bislang wenig thematisierten problemgeschichtlichen Parallelitätzwischen den beiden Autoren nach, nämlich der Frage, welche Bedeutung dasKonzept der sog. Handlungsmittel (materiell, institutionell, symbolisch) inderen Ansätzen hat. Handlungsmittel werden hierbei nicht, wie in den gängi-gen soziologischen Handlungstheorien, als Präferenzen oder Ressourcenverstanden, sondern stärker instrumentell als Werkzeuge zur Zweckerrei-chung. Ausgehend von der Beobachtung, dass Hegels Vermittlungskonzeptexplizit auf die Bedeutung von Handlungsmitteln als Werkzeuge referiert unddiese institutionentheoretisch fasst, betont er zunächst, dass Marx hieranprinzipiell anschließt, wenngleich er einen eingeschränkteren Begriff derHandlungsmittel benutzt, in dessen Folge Marx auf Kosten einer präziserenUntersuchung institutioneller Arrangements oder sozialer Beziehungskonstel-lationen die Bedeutung der Ökonomie (und damit der Produktionsmittel) insZentrum seiner Analyse der kapitalistischen Gesellschaft rückt. Schließlichweist Bluhm darauf hin, dass auch für Weber das Konzept der Mittel einenprominenten Platz in seiner Handlungslehre besitzt. In Fortführung und Ver-allgemeinerung von Marx, so die These, öffnet Weber dieses Konzept zurAnalyse vielfältiger institutioneller Ordnungen. Trotz divergierender For-schungsprogramme lässt sich zeigen, so die Quintessenz von Bluhms Überle-gungen, dass zwischen Marx und Weber systematische Parallelen bestehen,deren Aufklärung interessante Perspektiven auch für die zeitgenössischeSoziologie bieten können.

Theoriegeschichtlich teilt Mathias König in seinem Beitrag zwar Schluch-ters These der Grundlegungen, dass die soziologische Theorieentwicklungauf Divergenzen, und nicht auf Konvergenzen beruht. Theoriepolitisch ist eraber skeptisch gegenüber der damit einhergehenden Idee, dass sich die diver-genten Forschungsprogramme auch scharf voneinander abgrenzen. Vielmehrsieht er für eine innovative Theorieentwicklung das Potential eher in unter-schiedlichen Kombinationen soziologischer Grundbegrifflichkeiten. Diesversucht er mit Blick auf die von ihm propagierte andauernde Aktualität desDurkheimschen Forschungsprogramms nachzuzeichnen. Denn entgegen dervon Schluchter und einer Vielzahl von Vertretern des methodologischenIndividualismus immer wieder betonten Einseitigkeit und damit „Nutzlosig-keit“ (Tilly 1981a) des makrosoziologischen Programms von Durkheim, siehtKönig gegenwärtig eine Art Durkheim-Renaissance, die stattdessen dieFruchtbarkeit dieses Forschungsprogramms belegt. Gerade die gegenwärtigan ihn anschließenden kultur- und religionssoziologischen Diskussionen

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jeweiligen Gegenwartsgesellschaft abzielen. Die Fokussierung der For-schungsprogramme von Marx und Weber auf ausschließlich soziologisch-objektivistische Problemstellungen wäre, so die These, eine Verkürzung, dasie die diagnostischen und originär politischen Dimensionen beider Werkeausblenden würde.

In systematischer Hinsicht geht Bluhm in handlungstheoretischer Perspek-tive einer bislang wenig thematisierten problemgeschichtlichen Parallelitätzwischen den beiden Autoren nach, nämlich der Frage, welche Bedeutung dasKonzept der sog. Handlungsmittel (materiell, institutionell, symbolisch) inderen Ansätzen hat. Handlungsmittel werden hierbei nicht, wie in den gängi-gen soziologischen Handlungstheorien, als Präferenzen oder Ressourcenverstanden, sondern stärker instrumentell als Werkzeuge zur Zweckerrei-chung. Ausgehend von der Beobachtung, dass Hegels Vermittlungskonzeptexplizit auf die Bedeutung von Handlungsmitteln als Werkzeuge referiert unddiese institutionentheoretisch fasst, betont er zunächst, dass Marx hieranprinzipiell anschließt, wenngleich er einen eingeschränkteren Begriff derHandlungsmittel benutzt, in dessen Folge Marx auf Kosten einer präziserenUntersuchung institutioneller Arrangements oder sozialer Beziehungskonstel-lationen die Bedeutung der Ökonomie (und damit der Produktionsmittel) insZentrum seiner Analyse der kapitalistischen Gesellschaft rückt. Schließlichweist Bluhm darauf hin, dass auch für Weber das Konzept der Mittel einenprominenten Platz in seiner Handlungslehre besitzt. In Fortführung und Ver-allgemeinerung von Marx, so die These, öffnet Weber dieses Konzept zurAnalyse vielfältiger institutioneller Ordnungen. Trotz divergierender For-schungsprogramme lässt sich zeigen, so die Quintessenz von Bluhms Überle-gungen, dass zwischen Marx und Weber systematische Parallelen bestehen,deren Aufklärung interessante Perspektiven auch für die zeitgenössischeSoziologie bieten können.

Theoriegeschichtlich teilt Mathias König in seinem Beitrag zwar Schluch-ters These der Grundlegungen, dass die soziologische Theorieentwicklungauf Divergenzen, und nicht auf Konvergenzen beruht. Theoriepolitisch ist eraber skeptisch gegenüber der damit einhergehenden Idee, dass sich die diver-genten Forschungsprogramme auch scharf voneinander abgrenzen. Vielmehrsieht er für eine innovative Theorieentwicklung das Potential eher in unter-schiedlichen Kombinationen soziologischer Grundbegrifflichkeiten. Diesversucht er mit Blick auf die von ihm propagierte andauernde Aktualität desDurkheimschen Forschungsprogramms nachzuzeichnen. Denn entgegen dervon Schluchter und einer Vielzahl von Vertretern des methodologischenIndividualismus immer wieder betonten Einseitigkeit und damit „Nutzlosig-keit“ (Tilly 1981a) des makrosoziologischen Programms von Durkheim, siehtKönig gegenwärtig eine Art Durkheim-Renaissance, die stattdessen dieFruchtbarkeit dieses Forschungsprogramms belegt. Gerade die gegenwärtigan ihn anschließenden kultur- und religionssoziologischen Diskussionen

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relativieren somit nicht nur einige der Schluchterschen Kritikpunkte, sondernsie eröffnen darüber hinaus innovative Anschlussperspektiven. König zeigtdies exemplarisch an der gegenwärtigen Debatte zur Entstehung und Wirkungder Menschenrechte. Insgesamt ist es für König somit notwendig, SchluchtersBewertung des harten Kerns von Durkheims Forschungsprogramm nochmalszu überdenken. Dies zeigt sich auch in methodologischer Hinsicht, wo ge-genwärtig überzeugend für die analytische Stärke holistischer gegenüberindividualistischen Forschungsprogrammen argumentiert wird, etwa bei derAnalyse von Institutionalisierungsprozessen.

Karl-Siegbert Rehberg und Thomas Schwinn setzen sich in unterschiedli-cher Stoßrichtung mit Schluchters Weber-Interpretation als einer kantianisie-renden Soziologie auseinander. Während Rehberg in seinem Beitrag stärkereinen Teilaspekt hervorhebt und eine zu Schluchter alternative Lesart desVerhältnisses von Weber zu Dilthey reflektiert, problematisiert Schwinngrundsätzlich die These Schluchters, dass das Webersche Forschungspro-gramm durch einen harten kantianischen Kern gekennzeichnet sei.

Trotz der Anerkennung grundlegender Gegensätze zwischen den Ansätzenvon Wilhelm Dilthey und Max Weber, auf die auch Schluchter (2006, S.212ff.) in seinen Grundlegungen detailliert eingeht, sucht Karl-Siegbert Reh-berg in seinem Beitrag „Geschichte als Quelle des Verstehens“ ihre Über-einstimmungen in ihrer Verstehensheuristik offenzulegen. Hierfür arbeitet erentlang der Themen Ontologie, organischer Kollektivbegriff, Konzept derGeisteswissenschaft, Geistbegriff, Nacherleben als Methode und Persönlich-keitsbegriff sechs Grunddifferenzen zwischen beiden Ansätze heraus, die, soseine These, bei genauerer Lesart hingegen stets auch durch Annäherungenund Übereinstimmungen zu kennzeichnen sind. Insbesondere bei der in derLiteratur gemeinhin als unüberwindbar erscheinenden Divergenz in der me-thodischen Bedeutung des „Nacherlebens“ als zentralem Verfahren im Pro-zess der Sinn- und Handlungserschließung zeigt Rehberg, dass es selbst hiernoch interessante Parallelen zwischen beiden Denkern gibt. Denn die grund-legende Skepsis Webers gegenüber der methodischen Regel des Nacherle-bens findet Rehberg schon bei Dilthey vorformuliert, bei dem ebenfalls Ty-penbildungen eine wichtige Rolle spielen und dessen Gedanken zu kulturel-len Strukturbildungen und deren Verstehen, im Sinne des Nacherlebens, sichauch bei Weber ansatzweise finde. Rehberg sucht also nicht die Differenzenzwischen den beiden Autoren zu verwischen, sondern will vielmehr dafürsensibilisieren, dass hier in methodischer Hinsicht Ähnlichkeiten zu findensind, die auch für das Verständnis der Quellen von Webers Verstehensbegriffaufschlussreich sind.

Thomas Schwinns Beitrag zielt demgegenüber nicht auf eine kritischeKommentierung eines Aspekts von Schluchters Weber-Interpretation ab,sondern setzt grundlegend an dessen These an, dass die zentralen soziologi-schen Forschungsprogramme auf philosophische Grundpositionen rückbezo-

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gen werden können, die wiederum deren harten Kern bilden (ebd., S. 11ff.).Mit Blick auf die These, dass Webers Werk als kantianisierende Soziologiezu verstehen ist, fragt er sich deshalb, wie Schluchter denn das deutlicheSpannungsverhältnis „zwischen Kants Transzendentalphilosophie und We-bers Verständnis der Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft“ aufzulösensucht. Hierfür verweist Schwinn zunächst darauf, dass in den Grundlegungenhinsichtlich zentraler, für die soziologische Theoriebildung konstitutiverBegriffsdichotomien wie etwa Subjektivismus-Objektivismus, Motiv-Insti-tution, Ideen-Interessen oder Geist-Form zwar propagiert wird, dass WebersSoziologie jenseits dieser Alternativen zu verorten sei, Schluchter selbst aberaufgrund seiner Kantrezeption eine eher selektive Aufmerksamkeit auf nureine Seite der Dichotomien nahelegt. Denn die Kantsche Philosophie leistetin vielerlei Hinsicht „einem dualistischen Denken selbst Vorschub.“ Weberhat, hier sind Schwinn und Schluchter konvergent, in seinem Forschungspro-gramm Lösungen jenseits der benannten Dualismen entwickelt, jedoch nicht,und hierin besteht die Divergenz, aufgrund eines harten, sondern bestenfallseines „weichen“ kantianischen Kerns.

Es fällt auf, dass zwei Autoren in Schluchters Rekonstruktion fehlen, de-nen ebenfalls Klassikerstatus zugeschrieben werden kann: Vilfredo Pareto,der ja noch in Talcott Parsons Structure of Social Action eine wichtige Rollespielte, und Georg Simmel. Alessandro Cavalli sieht in seinem knappen undkonzisen Aufsatz „Die Präsenz der Absenz“ den Grund für die Vernachlässi-gung Simmels einerseits darin, dass er, so die vorherrschende Annahme dermeisten Autoren, seine Soziologie ohne systematische Absicht verfasst hatund somit in fast allen systematisierenden Theoriegeschichten des 20. Jahr-hunderts ausgeblendet wird. Andererseits führte seine Unterscheidung zwi-schen Form und Inhalt zu der Fehlinterpretation, dass Simmel eine rein for-male Soziologie anstrebe und damit für die zeitgenössische Soziologie weniganschlussfähig sei. Demgegenüber skizziert Cavalli kurz, dass Simmel nichtnur hinsichtlich der sieben von Schluchter benannten Grundsätze des struktu-ralistisch-individualistischen Forschungsprogramms diesem nahesteht, son-dern dass darüber hinaus auch, und dies ist systematisch bedeutsamer, inseiner Theorie der Ambivalenz eine Subjekttheorie angelegt ist, die als Ge-genmodell zum homo oeconomicus die Chance eröffnet, dass unterschiedli-chen Handlungsorientierungen ganz im Sinne Webers Rechnung getragenwerden kann.

Ist das Fehlen Georg Simmels in Schluchters Theoriegeschichte zumindestnachvollziehbar, so wundert die Absenz zunächst, wenn man sich mit Vilfre-do Pareto auseinandersetzt. Denn dieser bietet, so Gert Albert in seiner aus-führlichen Rekonstruktion von dessen Ansatz, eine von Schluchter nicht be-achtete, aber wirkmächtige Transformation von philosophischen Grundposi-tionen in ein soziologisches Forschungsprogramm. Für Albert stellt der philo-sophische Positivismus eine bedeutsame Hintergrundphilosophie dar, die in