Thieme: Pharmakologie und Toxikologie · pathischen Fasern je nach Lokalisation aus dem...

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10 Vegetatives System 10.1 Physiologische Vorbemerkungen ...................... 105 10.2 Beeinflussung des Parasympathikus ................... 108 10.3 Der Sympathikus ....................................... 118 10.4 Die ganglionäre Übertragung .......................... 141 10.5 Glatte Muskulatur ..................................... 142 10 10.1 Physiologische Vorbemerkungen Das vegetative oder autonome Nervensystem besteht aus einem zentralen und einem peripheren Anteil. Der zentrale Anteil ist im Rückenmark und Hirnstamm gelegen; seine spezifische pharmakologische Beeinflussung ist bisher nur begrenzt möglich. Vom peripheren Anteil hat der efferente Teil für die experimentelle Pharmakologie und für die The- rapie jedoch eine sehr große Bedeutung gewonnen. Box 10.1 Regulation der Funktion vegetativer Organe Die vegetativen Organe bedürfen einer ständigen Steuerung, damit ihre Funktion den Gesamtbedürfnissen des Organismus angepasst ist. Diese Regelung kann nerval und humoral ge- schehen. Für die meisten vegetativen Organe (glatte Muskeln, Herz, Drüsen) erfolgt die Funktionssteuerung durch das ve- getative (autonome) Nervensystem, dessen beide funktionel- len Teile, der Parasympathikus und der Sympathikus, meis- tens gegensätzlichen Einfluss auf die Organfunktion nehmen. Diese nerval vermittelte Einstellung unterliegt weiterer Modu- lation durch Hormone und Lokalhormone, wodurch eine Fein- anpassung an die jeweiligen Bedürfnisse erfolgt. Der anatomische Aufbau des peripheren vegetativen Ner- vensystems ist schematisch in Abb. 10.1 dargestellt. Eine Besonderheit des vegetativen Nervensystems besteht darin, dass alle Nervenfasern, die aus dem zentralen Nervensys- tem (ZNS) austreten, nochmals auf ein Neuron umgeschal- tet werden (postganglionäres Neuron). Die sympathischen präganglionären Nervenfasern verlassen das ZNS aus- schließlich in den Rückenmarksegmenten Th 1 bis L 3 . Der Parasympathikus dagegen schließt sich den vier Hirnnerven N. oculomotorius, N. facialis (Chorda tympani), N. glosso- pharyngeus und zur Hauptsache dem N. vagus an. Lediglich die Organe des kleinen Beckens werden parasympathisch von den Nn. sacrales versorgt, die aus dem Sakralmark ent- springen (Abb. 10.1). Die physiologischen Wirkungen von Parasympathikus und Sympathikus auf verschiedene Organe sind in Tab. 10.1 zusammengefasst. Abb. 10.2 zeigt schematisch die ver- schiedenen Synapsen mit ihren Überträgerstoffen sowie den jeweils angreifenden Pharmaka. Am Erfolgsorgan (glat- ter Muskel, Herz, Drüse, aber auch Gefäßendothelzelle) kann durch entsprechende Pharmaka eine Erregung bzw. Hemmung des vegetativen Nervensystems imitiert werden. Abb. 10.1 Aufbau des peripheren vegetativen Systems. durch- gezogene Linien: präganglionär gestrichelte Linien: postganglionär Mes: Mesencephalon Rh: Rhombencephalon * Die Haut und die Gefäße erhalten ihre postganglionären sym- pathischen Fasern je nach Lokalisation aus dem entsprechen- den Teil des Grenzstrangs: segmentale Versorgung. ** Die Schweißdrüsen werden durch den Sympathikus innerviert, wobei das postganglionäre Neuron jedoch Acetylcholin als Überträgerstoff benutzt. *** Nebennierenmark- (chromaffine) Zelle, entspricht dem 2. Neuron. Die paravertebral umgeschalteten adrenergen postganglionären Fasern sind zum Teil dargestellt. 10 aus: Lüllmann u.a., Pharmakologie und Toxikologie (ISBN 9783133685184) © 2016 Georg Thieme Verlag KG

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10 Vegetatives System10.1 Physiologische Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

10.2 Beeinflussung des Parasympathikus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108

10.3 Der Sympathikus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118

10.4 Die ganglionäre Übertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

10.5 Glatte Muskulatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142

1010.1 Physiologische

Vorbemerkungen

Das vegetative oder autonome Nervensystem besteht auseinem zentralen und einem peripheren Anteil. Der zentraleAnteil ist im Rückenmark und Hirnstamm gelegen; seinespezifische pharmakologische Beeinflussung ist bisher nurbegrenzt möglich. Vom peripheren Anteil hat der efferenteTeil für die experimentelle Pharmakologie und für die The-rapie jedoch eine sehr große Bedeutung gewonnen.

Box 10.1 Regulation der Funktion vegetativer Organe

Die vegetativen Organe bedürfen einer ständigen Steuerung,damit ihre Funktion den Gesamtbedürfnissen des Organismusangepasst ist. Diese Regelung kann nerval und humoral ge-schehen. Für die meisten vegetativen Organe (glatte Muskeln,Herz, Drüsen) erfolgt die Funktionssteuerung durch das ve-getative (autonome) Nervensystem, dessen beide funktionel-len Teile, der Parasympathikus und der Sympathikus, meis-tens gegensätzlichen Einfluss auf die Organfunktion nehmen.Diese nerval vermittelte Einstellung unterliegt weiterer Modu-lation durch Hormone und Lokalhormone, wodurch eine Fein-anpassung an die jeweiligen Bedürfnisse erfolgt.

Der anatomische Aufbau des peripheren vegetativen Ner-vensystems ist schematisch in Abb. 10.1 dargestellt. EineBesonderheit des vegetativen Nervensystems besteht darin,dass alle Nervenfasern, die aus dem zentralen Nervensys-tem (ZNS) austreten, nochmals auf ein Neuron umgeschal-tet werden (postganglionäres Neuron). Die sympathischenpräganglionären Nervenfasern verlassen das ZNS aus-schließlich in den Rückenmarksegmenten Th1 bis L3. DerParasympathikus dagegen schließt sich den vier HirnnervenN. oculomotorius, N. facialis (Chorda tympani), N. glosso-pharyngeus und zur Hauptsache dem N. vagus an. Lediglichdie Organe des kleinen Beckens werden parasympathischvon den Nn. sacrales versorgt, die aus dem Sakralmark ent-springen (Abb. 10.1).

Die physiologischen Wirkungen von Parasympathikusund Sympathikus auf verschiedene Organe sind in Tab. 10.1zusammengefasst. Abb. 10.2 zeigt schematisch die ver-schiedenen Synapsen mit ihren Überträgerstoffen sowieden jeweils angreifenden Pharmaka. Am Erfolgsorgan (glat-ter Muskel, Herz, Drüse, aber auch Gefäßendothelzelle)kann durch entsprechende Pharmaka eine Erregung bzw.Hemmung des vegetativen Nervensystems imitiert werden.

Abb. 10.1 Aufbau des peripheren vegetativen Systems. durch-gezogene Linien: präganglionär gestrichelte Linien: postganglionärMes: Mesencephalon Rh: Rhombencephalon* Die Haut und die Gefäße erhalten ihre postganglionären sym-

pathischen Fasern je nach Lokalisation aus dem entsprechen-den Teil des Grenzstrangs: segmentale Versorgung.

** Die Schweißdrüsen werden durch den Sympathikus innerviert,wobei das postganglionäre Neuron jedoch Acetylcholin alsÜberträgerstoff benutzt.

*** Nebennierenmark- (chromaffine) Zelle, entspricht dem 2.Neuron.

Die paravertebral umgeschalteten adrenergen postganglionärenFasern sind zum Teil dargestellt.

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Entsprechend den Überträgersubstanzen Acetylcholinund Noradrenalin, die eine Nervenzelle (Neuron) an ihremEnde freisetzt, werden cholinerge und adrenerge Neuroneunterschieden. Der Begriff cholinerges Neuron beschränktsich nicht auf das vegetative Nervensystem, da auch ver-schiedene Neurone im ZNS sowie die motorischen, die Ske-lettmuskeln versorgenden Neurone cholinerger Natur sind:Acetylcholin ist auch Überträgersubstanz an der motori-schen Endplatte (S. 313). Wie von cholinergen und adren-ergen Neuronen gesprochen wird, so dienen die Ausdrückecholinerg und adrenerg auch zur Charakterisierung vonWirkstoffen: Eine cholinerge Substanz (Cholinomimeti-kum) wirkt wie eine Acetylcholin-Freisetzung aus den Ner-venzellen, entsprechend eine adrenerge Substanz wie eineNoradrenalin-Freisetzung.

Die „vegetativen Pharmaka“ können nach ihrem prinzi-piellen Wirkungsmechanismus unterschieden werden in:● Substanzen, die sich an die Rezeptoren für Acetylcholin

oder Noradrenalin anlagern (Definition von Rezeptorens. S. 26). Wird dadurch ein zelluläres Signal ausgelöst,handelt es sich um einen Agonisten („direktes Mimeti-kum“, s. a. S. 33), wird dagegen der Rezeptor nur blo-ckiert, sind die betreffenden Substanzen Antagonisten(„Lytikum“) (Abb. 10.3 c).

● Substanzen, die die synaptische Konzentration der Über-trägerstoffe verändern, indem sie in den Stoffwechselvon Acetylcholin und Noradrenalin eingreifen (Synthese,Speicherung im Gewebe, Freisetzung aus dem Nerven-

ende, Inaktivierung). Da diese Pharmaka sich nicht di-rekt an die Rezeptoren der Erfolgsorgane binden, son-dern den physiologischen Überträgermechanismus ver-ändern, wird folglich von indirekt wirkenden Pharmakagesprochen: indirekte Parasympathomimetika und indi-rekte Sympathomimetika (Abb. 10.3 b). Im Bereich dersympathischen Nervenendigung gibt es auch Möglich-keiten, die Menge an freigesetztem Überträgerstoff herab-zusetzen. Ein Beispiel ist die Beeinträchtigung der Nor-adrenalin-Speicherung durch Reserpin (S. 139). DieserEingriff führt zu einer Herabsetzung des Sympathikoto-nus, was bei der Therapie der essenziellen Hypertonietherapeutisch eventuell ausgenutzt werden kann: Anti-sympathotonika.

So wie Acetylcholin nicht nur im Parasympathikus, sondernauch im ZNS sowie an der motorischen Endplatte wirkt,sind die Wirkungen der Pharmaka ebenfalls dieser ana-tomischen Einteilung entsprechend zuzuordnen. Atropinblockiert sowohl die vegetativen als auch die zentralen Ef-fekte von Acetylcholin. Umfassender als die Termini „Para-sympathomimetika, -lytika“ wären die Begriffe „Muscarin-rezeptor-Agonisten“ bzw. -Antagonisten“.

Die Anpassung an die notwendige Funktionslage durchdas vegetative Nervensystem erfolgt im Allgemeinen re-flektorisch, es sei nur an die Regulation des Blutdrucks,die helligkeitsabhängige Pupillenweite oder die Steuerungder Speichelsekretion erinnert.

Tab. 10.1 Gegensätzliche Wirkungen von Sympathikus und Parasympathikus. Für beide Systeme sind die Rezeptortypen der Erfolgs-organe angegeben

Organ Parasympathikus beteiligterRezeptortyp

Sympathikus beteiligterRezeptortyp

Pupille Verengung (M. sphincter pupillae) M3 Erweiterung (M. dilatator pupillae) α1

Bronchien Verengung M3 Erweiterung β2

Bronchialdrüsen Stimulation M3 Hemmung α1

Magen HCl-Produktion ↑ M1

Darm Sekretion ↑

Peristaltik ↑

M3 Peristaltik ↓

Sphinktertonus ↑β2α

Uterus unterschiedlich, je nach Funktions-zustand

Wehenhemmung β2

HarnblaseDetrusor Tonussteigerung M3 Tonussenkung β3Sphinkter Tonussteigerung α1

Blutgefäße Dilatation (Endothel-vermittelt) M3 KonstriktionDilatation

α1, α2

β2

HerzSinusknoten neg. chronotrop M2 pos. chronotrop β1 > β2Vorhof neg. inotrop M2 pos. inotrop β1 > β2AV-Knoten neg. dromotrop M2 pos. dromotrop β1 > β2Ventrikel kein Einfluss auf die Kontraktionskraft pos. inotrop, arrhythmogen β1 > β2

Speicheldrüsen viel dünnflüssiger Speichel wenig zäher Speichel α1

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10710.1 Physiologische Vorbemerkungen

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10.1.1 Enterisches Nervensystem(„Gehirn des Darmes“)

Besonders kompliziert sind die Verhältnisse im Verdau-ungskanal, der eine funktionelle Automatie besitzt. Afferen-te Fasern informieren das ZNS über die augenblicklicheSituation im Intestinaltrakt, vom ZNS her laufen Impulseüber den Parasympathikus und den Sympathikus zu denzahlreichen Ganglienzellen des Ösophagus, des Magensund des Darmes. Hier befinden sich Nervengeflechte, diedie Motorik und die Sekretionsleistung steuern. Dazu sindviele Interneurone und Motoneurone notwendig, die mit-tels verschiedener Überträgersubstanzen den Tonus derglatten Muskulatur steigern oder hemmen und die Drüsen-sekretion an den Bedarf anpassen.

Da sich die glatte Muskelzelle im Ruhezustand in einemmittleren Kontraktionszustand befindet, muss dieser Tonussowohl gesteigert als auch verringert werden, damit Pen-del- oder peristaltische Bewegungen ablaufen können.Diese Koordination hat über eine größere Distanz zu erfol-gen, denn vor einem aboral wandernden Schnürring müs-sen lange Abschnitte erschlaffen, damit der Darminhaltweiter transportiert wird. Besonders raffinierter Koordina-tion bedürfen die Bewegungsabläufe beim Durchtritt derSpeisen durch die Cardia, des Mageninhaltes durch denPylorus und der Faeces durch den Anus. Die intramuralen

Neurone, angeordnet in zwei Plexus (Meissner- und Auer-bach-Plexus), benutzen eine Reihe von Transmittern wieSerotonin, Histamin, Glutamat, Substanz P, Enkephaline,das vasoaktive intestinale Peptid (VIP), Cannabinoide, Stick-stoffmonoxid, Motilin, Tachykinin und Cholezystokinin.Hinzu kommen die Wirkstoffe aus den enteroendokrinenZellen: wiederum Serotonin, sowie Cholezystokinin undSomatostatin. Der Parasympathikus und der Sympathikusbedienen sich ihrer üblichen Transmitter: Acetylcholin undNoradrenalin. Die Zielzellen besitzen die entsprechendenRezeptoren; daraus ergibt sich die Möglichkeit, durch dieGabe von Pharmaka mehr oder minder spezifisch in dasGeschehen einzugreifen.

10.2 Beeinflussung desParasympathikus

10.2.1 Grundlagen: Acetylcholin

Synthese und Freisetzung. Acetylcholin wird in cholinergenNeuronen durch die Cholinacetyltransferase aus Cholin undAcetyl-Coenzym A synthetisiert (Abb. 10.4). Über einen ve-

Cocain, Reboxetin

RückaufnahmeundInaktivierungblockiert

Freisetzunggefördert

Abb. 10.3 Wirkprinzipien zur Beeinflussung der vegetativen Steuerung.

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sikulären Transporter wird es dann aus dem Zytoplasma indie Transmittervesikel befördert. Bei einer Depolarisationder präsynaptischen Membran fließt Ca2+ in das Axoplasmaund bewirkt die Exozytose von Acetylcholinvesikeln. In densynaptischen Spalt freigesetztes Acetylcholin aktiviert post-und präsynaptische Rezeptoren, wird aber schnell durchCholinesterasen gespalten und dadurch inaktiviert. Cholinwird nach Rücktransport in das Neuron zur Neusynthesevon Acetylcholin wiederverwendet.

Acetylcholin-Rezeptortypen. Die physiologischen Wirkun-gen von Acetylcholin werden durch Aktivierung verschie-dener Rezeptortypen vermittelt. Als Hauptgruppen werdendie Acetylcholin-Rezeptoren vom Nicotin-Typ und vomMuscarin-Typ unterschieden (Abb. 10.4). Die Klassifizierungleitet sich von der spezifischen erregenden Wirkung vonNicotin und von Muscarin auf diese Rezeptoren ab. Musca-rin stammt aus dem Fliegenpilz (Amanita muscaria). DieseSubstanz hat zwar nicht für die Therapie, jedoch für dieexperimentelle Pharmakologie Bedeutung erlangt.

Muscarin wirkt nur an den Acetylcholin-Rezeptoren derparasympathisch innervierten Erfolgsorgane; man nenntdeshalb diese Art der cholinergen Übertragung muscarin-artig. An den Acetylcholin-Rezeptoren der Ganglien undder motorischen Endplatte zeigt Muscarin keinen Effekt.Hier ist die cholinerge Wirkung dagegen mit Nicotin(s. S. 141) zu erzielen; man spricht daher auch von nicotin-artiger Wirkung. Die muscarinartigen Wirkungen sinddurch Atropin, die nicotinartigen am Ganglion durch Gan-glienblocker und an der Endplatte durch Muskelrelaxantienaufhebbar.

Beim „Nicotin-Rezeptor“ handelt es sich um ein Ionen-kanalprotein (s. S. 26). Der „Muscarin-Rezeptor“ ist auf denparasympathisch innervierten Endorganen (glatte Muskeln,Herz, Drüsen) und im Zentralnervensystem vorhanden. DieM-Rezeptoren gehören zu den G-Protein-gekoppelten Re-zeptoren (s. S. 27). Sie lassen sich in 5 Subtypen differenzie-ren (Abb. 10.4).

Neben den Rezeptoren ist im cholinergen System(s. S. 314) auch die Acetylcholinesterase für die Pharmako-logie und Toxikologie von besonderem Interesse, weil esspezifische Hemmstoffe dieses Enzyms gibt.

Wirkungsmechanismus von Acetylcholin. In der motori-schen Endplatte der Skelettmuskulatur und in den vegeta-tiven Ganglien, wo die Reaktion im Millisekunden-Maßstabablaufen muss, bindet sich Acetylcholin an einen ligand-gesteuerten Ionenkanal, den nicotinischen Rezeptor. Diekurzfristige Anlagerung von Acetylcholin an das Rezeptor-protein erhöht die Leitfähigkeit für Na+ und K+ und senktdamit das Membranpotenzial der Zelle. Der nicotinischeIonenkanal besteht aus fünf Proteinen, die gemeinsameinen Kationenkanal bilden. Die pentameren Ionenkanäleder Neuronen und der Skelettmuskulatur unterscheidensich in ihrer Zusammensetzung (neuronaler und muskulä-rer Typ). Dies erklärt, warum Antagonisten des Acetylcho-lin-Rezeptors in ihrer Affinität zu den zwei Rezeptortypenstark differieren können, so dass eine gezielte Blockade deseinen oder des anderen Typs möglich ist, was therapeutisch

Abb. 10.4 Cholinerge Nervenendigung und Einteilung derAcetylcholin-Rezeptoren.

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10910.2 Beeinflussung des Parasympathikus

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große Vorteile bringt (Muskelrelaxanzien und Ganglienblo-cker).

Verglichen mit den nicotinischen Rezeptoren verläuftdie Impulsübertragung durch die muscarinischen Rezepto-ren langsamer. Wie auf S. 27 ausgeführt wird, sind die mus-carinischen Acetylcholin-Rezeptoren G-Protein-gekoppelteRezeptoren, die nach Besetzung durch einen Agonistenüber eine Aktivierung von GTP-bindenden Proteinenschließlich die Funktion von Effektorproteinen (z. B. Kanal-proteinen, Phospholipase C) verändern. Die Zeiträume fürdiese Reaktionskette liegen im Sekundenbereich. M1-, M3-und M5-Rezeptoren aktivieren Gq/11-Proteine, während dieSubtypen M2 und M4 an Gi/o-Proteine gekoppelt sind.

Der von Acetylcholin im Herzen über M2-Rezeptorenhervorgerufene, negativ chronotrope und dromotrope Ef-fekt an Schrittmacher- bzw. Reizleitungsgewebe wirddurch zwei Ionenkanäle vermittelt: Die Aktivierung einesK+-Kanals (IK(ACh)) verstärkt die Hyperpolarisation desMembranpotenzials. Die verminderte intrazelluläre cAMP-Bildung reduziert den Schrittmacherstrom (Ih-Kanäle), so-dass die diastolische Depolarisation langsamer erfolgt, sodass die Schrittmacherfrequenz sinkt oder gar ein Herzstill-stand auftritt (Abb. 10.5). Durch die Permeabilitätsände-

rung kann auch die Form von Aktionspotenzialen beein-flusst werden. Abb. 10.6 zeigt den deformierten Erregungs-vorgang der Vorhofmuskulatur. Die extreme Verkürzungdes Aktionspotenzials durch Acetylcholin ist wahrschein-lich die Ursache für die verringerte Kontraktionskraft (ne-gativ inotroper Effekt): Die Erregung dauert nicht langgenug an, um das kontraktile System völlig zu aktivieren.

In der glatten Muskulatur steht die über M3-Rezeptorenvermittelte Aktivierung von Phospholipase C im Vorder-grund. Phospholipase C bewirkt einen Anstieg der intrazel-lulären Überträgersubstanz Inositol-(1,4,5)-trisphosphat,die ihrerseits zu einer Erhöhung der zytosolischen Ca2+-Konzentration führt.

Die Steigerung der Drüsensekretion durch den Parasym-pathikus scheint ebenfalls über M3-Rezeptoren abzulaufen.

Die vasodilatatorische Wirkung von Acetylcholin stellthingegen keinen direkten Effekt von Acetylcholin an derglatten Gefäßmuskelzelle dar, sondern wird vom Gefäß-endothel ausgelöst, das M3-Rezeptoren besitzt. Das Endot-hel setzt unter dem Einfluss von Acetylcholin die glattmus-kulär erschlaffende Substanz NO (Stickstoffmonoxid) frei.

Pharmakologische Einflussnahme. Es gibt zwei Möglichkei-ten, die postganglionären Wirkungen von Acetylcholin zuimitieren (Abb. 10.3):● Direkte Parasympathomimetika haben denselben An-

griffspunkt wie Acetylcholin. Praktisch bewähren sichnur Substanzen, die nicht oder nicht so schnell durchCholinesterasen abgebaut werden wie Acetylcholin.

● Indirekte Parasympathomimetika (Acetylcholinesterase-Inhibitoren) hemmen den Abbau des körpereigenenAcetylcholin durch die Cholinesterase.

Beide Möglichkeiten könnten als Mechanismus-spezifischbezeichnet werden, sie weisen aber keine Organspezifitätauf. Für therapeutische Zwecke wären Substanzen sehrnützlich, die gezielt nur ein bestimmtes Organ beeinflus-sen. Die verschiedenen Rezeptor-Subtypen eröffnen viel-leicht in Zukunft die Möglichkeit einer organspezifischenTherapie. Der M1-Antagonist Pirenzepin ist ein Beispiel füreine Substanz mit einer gewissen Subtyp-selektiven Affini-tät.

10.2.2 Parasympathomimetika

Überblick

Parasympathomimetika imitieren eine Erregung des Parasym-pathikus

Direkte ParasympathomimetikaAgonisten an den muscarinischen Acetylcholin-Rezepto-ren. Diese G-Protein-gekoppelten Rezeptoren lassen sichin verschiedene Subtypen unterteilen, jedoch konnten bis-her keine Substanzen mit hoher Subtyp-Selektivität ent-wickelt werden.Bei systemischer Gabe Bradykardie, Blutdruckabfall, Bron-chokonstriktion, Erbrechen, Durchfall; ggf. Gegenmittel:Atropin.

Acetylcholin

Acetylcholin

M2-R.

βγ α

IK(ACh) Ih

cAMP

Gi/o

Adrenalin

Adrenalin

β1-R.

Ih

cAMP

Gs

Abb. 10.5 Schrittmacherpotenziale des Herzens unter demEinfluss von Acetylcholin und Adrenalin. Acetylcholin hyperpola-risiert das maximale diastolische Potenzial (durch Aktivierung vonIK(ACh)), verlangsamt die diastolische Depolarisation (durch Hem-mung des Ih-Stroms) und vermindert so die Schlagfrequenz (nega-tiv chronotroper Effekt). Adrenalin beschleunigt die diastolischeDepolarisation (durch Aktivierung von Ih) und erhöht damit dieSchlagfrequenz (positiv chronotroper Effekt).(Experiment aus dem Institut für Pharmakologie, Universität Kiel)

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CarbacholLokale Glaukom-Therapie.

PilocarpinLokale Glaukom-Therapie.

Indirekte Parasympathomimetika (Cholinesterase-Hemm-stoffe)

Steigerung der Acetylcholin-Konzentration im synapti-schen Bereich durch Hemmung der Acetylcholinesterase.Die Wirkung betrifft sowohl die muscarinische Übertra-gung als auch die nicotinische Übertragung an der moto-rischen Endplatte und den vegetativen Ganglien.

„Reversible Hemmstoffe“Wie bei den direkten Parasympathomimetika.

NeostigminQuartäres Amin, nicht ZNS-gängig.Behandlung der Myasthenia gravis und zur Beendigungder Wirkung von nicht-depolarisierenden Muskelrelaxan-zien.

PhysostigminTertiäres Amin, ZNS-gängig.Lokale Glaukom-Therapie, Therapie einiger zentraler Ver-giftungen.

Donepezil, Rivastigmin, GalantaminZNS-gängig, helfen bei der Alzheimer-Erkrankung be-grenzt.

„Irreversible Hemmstoffe“ vom Typ der OrganophosphateIrreversible Hemmstoffe der Cholinesterasen.Insektizide.

Direkte Parasympathomimetika

Acetylcholin enthält für die Bindung an den Acetylcholin-Rezeptor zwei wichtige, räumlich getrennte Zentren: denpositiv geladenen Stickstoff und den Ester-Anteil mit einernegativen Partialladung.

Die Lebensdauer des Acetylcholin-Rezeptor-Komplexesliegt im Millisekunden-Bereich.

Die direkt wirksamen Parasympathomimetika Carba-chol, Pilocarpin und Arecolin besitzen wie Acetylcholin dietypischen zwei aktiven Zentren in einem bestimmten Ab-stand voneinander, wie es für die Interaktion mit muscari-nischen Rezeptoren notwendig ist.

Ein Vergleich der Strukturformeln zeigt, dass zwischenden Substanzen aber deutliche chemische Unterschiede be-stehen: Selbst die Ester Carbachol und Arecolin werdennicht oder nur sehr langsam von der Cholinesterase hydro-lysiert. Die genannten Substanzen sind daher länger wirk-sam als Acetylcholin. Ein weiterer Unterschied besteht da-rin, dass Pilocarpin und Arecolin einen tertiären, Acetyl-cholin, Carbachol und Muscarin dagegen einen quartärenStickstoff enthalten. Die tertiären Verbindungen können inForm der freien Base in das Zentralnervensystem eindrin-gen, was zusätzlich zentrale Wirkungen auslöst.

AcetylcholinWirkungsweise. Wird Acetylcholin intravenös injiziert,

so stehen Symptome im Vordergrund, die durch Erregungpostganglionärer parasympathischer Rezeptoren ausgelöstwerden: Blutdrucksenkung durch negativ chronotropeWirkung und indirekt (Endothel-vermittelt) ausgelösteVasodilatation, negativ inotrope Wirkung am Vorhof(Abb. 10.6), Bronchokonstriktion, Tonussteigerung desDarms (Abb. 10.7), Erregung der Harnblasenmuskulatur,vermehrte Drüsensekretion, Anregung der Säure- und Pep-sinogen-Produktion im Magen. Die ganglionären Struktu-ren und die motorische Endplatte sind weniger empfind-lich, so dass die genannten parasympathischen Symptomeim Vordergrund stehen.

Pharmakokinetik. Die Dauer der Acetylcholinwirkung istsehr kurz, weil die Substanz außerordentlich schnell abge-baut wird. Die schnelle Elimination macht Acetylcholin füreine systemische therapeutische Anwendung ungeeignet;es kann aber nach Augenoperationen verwendet werden,um schnell eine Miosis zu erreichen.

Carbachol und PilocarpinWirkungsweise. Obwohl Carbachol auch die ganglionä-

ren Acetylcholin-Rezeptoren erregt, steht wie bei Acetyl-cholingabe die muscarinerge Wirkung im Vordergrund.Nach subkutaner Injektion von 0,25mg kommt es zu star-ken parasympathischen Wirkungen, wie vermehrterSchweiß-, Speichel- und Magensaftsekretion, Zunahmeder Darmperistaltik, aber auch zu Bradykardie, Verschlech-terung der Herzfunktion, Erweiterung der Arteriolen undHautgefäße. Trotzdem sinkt der Blutdruck wegen gegen-regulatorischer Vorgänge nicht oder nur kurzfristig ab. Bei

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11110.2 Beeinflussung des Parasympathikus

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Einträufeln einer 1%igen Lösung in das Auge wird die Pu-pille verengt und bei Glaukom der Innendruck des Augeserniedrigt. Carbachol (Carbaminoylcholin) kann durch Cho-linesterasen nicht oder nur sehr langsam abgebaut werden.Ähnlich wie Carbachol kann der Carbaminsäure-β-methyl-cholinester (Bethanechol) zur cholinomimetischen Stimula-tion glatter Muskulatur Verwendung finden. Pilocarpinstammt aus den Blättern (Folia Jaborandi) von Pilocarpuspennatifolius. Es wirkt prinzipiell wie Carbachol; die Beein-trächtigung der Herzfunktion ist aber ausgeprägter. Daher

kann nur die lokale Applikation befürwortet werden. Aus-nahme: Per-os-Gabe beim Sjögren-Syndrom zur Linderungvon Mund- und Augentrockenheit.█

Anwendung. Wie Carbachol ist auch Pilocarpin lokalam Auge beim Glaukomwirksam. Der Druck sinkt infolgeder Erweiterung des Schlemm-Kanals und der Fontana-räume im Iriswinkel, also der Abflusswege für das Kam-merwasser (s. S. 146). Die schweißtreibende Wirkungvon Pilocarpin kann bei der Diagnose einer Mukoviszido-se (Nachweis eines abnorm erhöhten Na-Gehalts desSchweißes) ausgenutzt werden. Hierzu dient eine ionto-phoretische, lokale Anwendung von Pilocarpin.

Dosierung. Zur Erniedrigung des Innendrucks bei Glau-kom wird Pilocarpin in einer Lösung von 2% in das Augegeträufelt.

Nebenwirkungen. Selbst bei lokaler Applikation alsAugentropfen muss mit systemischen Wirkungen ge-rechnet werden (s. S. 45). Alle Nebenwirkungen, aberauch die gewünschten Wirkungen, lassen sich durch in-travenöse Injektion von 0,5 – 1mg Atropin (oder mehr)beseitigen.

Box 10.2 Das Genussmittel Arecolin

Dieses Alkaloid aus der Betel-Nuss, der Frucht von Areca ca-techu, besitzt muscarinartige und nicotinartige Wirkungen.Die Nüsse sind in Südostasien als Genussmittel weit verbrei-tet. Sie werden zusammen mit Kalk gekaut, um die Resorpti-on zu fördern. Im Gegensatz zu den quartären Parasympatho-mimetika dringt die tertiäre Substanz Arecolin gut in dasZentralnervensystem ein (S. 50). Ihr pKa-Wert liegt bei 7,8,so dass in vivo immer ein Teil der Substanz als freie Basevorliegt. Das Wirkungsbild von Arecolin ist bei gewohnheits-mäßiger Aufnahme immer durch die zentralnervöse Kom-ponente bestimmt, die im Gegensatz zur peripheren Para-sympathikus-Erregung subjektiv als angenehm empfundenwird. Betelnuss-Kauen führt zu bleibender Schädigung derZähne und erhöht die Häufigkeit oraler Karzinome.

Abb. 10.6 Wirkung von Acetylcholin auf Aktionspotenzial undKontraktionskraft des Vorhofs. Die mit intrazellulären Mikroelek-troden am Meerschweinchenvorhof abgeleiteten Aktionspotenzialeund die Kontraktionen wurden fortlaufend registriert und über-einander projiziert. Die schnelle Depolarisation ist gestrichelt retu-schiert. Zugabe von Acetylcholin (5 × 10−8 g/ml) verändert dieForm der Aktionspotenziale und die Höhe der Kontraktionsampli-tude. Beachte: Das Aktionspotenzial wird stark verschmälert (Be-schleunigung der Repolarisation), das Ruhe-Membranpotenzialwird etwas negativer, die Amplitude des Aktionspotenzials („Über-schusspotenzial“) bleibt unverändert.(Experiment aus dem Institut für Pharmakologie, Universität Kiel)

Kont

rakt

ion

Abb. 10.7 Atropin hemmt den Acetylcholin-Effekt am Darm.ACh 5 × 10−7 g/ml, Atropin 10−7 g/ml. In der verwendeten Konzen-tration reduziert Atropin die Acetylcholin-Wirkung. Der Atropin-

Effekt lässt sich langsam auswaschen. Versuch am isolierten Meer-schweinchendarm.(Experiment aus dem Institut für Pharmakologie, Universität Kiel)

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Indirekte Parasympathomimetika(Cholinesterase-Hemmstoffe)

Die Cholinesterase-Hemmstoffe vermindern die Abbau-geschwindigkeit von Acetylcholin, weil sie, abhängig vonihrer Konzentration, einen mehr oder minder großen Teilder Cholinesterase-Moleküle blockieren. Die aktuelle Ace-tylcholin-Konzentration steigt an, und damit nimmt derEinfluss des Parasympathikus zu. Derselbe Mechanismusgilt auch für andere cholinerge Synapsen (z. B. die „motori-sche Endplatte“, S. 313).

Die wichtigsten Cholinesterase-Hemmstoffe lassen sichin zwei Gruppen unterteilen: reversible Hemmstoffe, über-wiegend vierbindige Stickstoff-Verbindungen und die irre-versibel hemmenden Phosphorsäureester.

Reversible HemmstoffeZu den vierbindigen Stickstoff-Verbindungen gehören dasAlkaloid Physostigmin und die Synthetika Neostigmin undPyridostigmin.

Struktur und Wirkung. Diese Moleküle enthalten alleden Carbaminsäure-Rest. Ihre Ähnlichkeit mit Acetylcholinmacht es verständlich, dass diese Substanzen mit der Cho-linesterase reagieren. Die primäre Anlagerung erfolgt je-weils zwischen dem kationischen Stickstoff und dem sog.anionischen Zentrum des Enzyms (s. Abb. 25.21). Im Ver-lauf der Spaltungsreaktion bindet sich der Säurerest desEsters kovalent an die Esterase: Acetylierung der Esterasebei Acetylcholin-Spaltung, Carbamylierung z. B. bei Neo-stigmin-Spaltung. Erst nach Abgabe des Säurerestes ist dieEsterase wieder funktionsfähig. Dieses Intervall ist beimCarbaminsäurerest wesentlich länger (Minuten – Stunden)als beim Acetylrest (Millisekunden). Daher bewirken Car-baminsäure-Derivate eine Abnahme der Enzymaktivität.

Wirkstoffe, die jeweils nur eines der beiden chemischenCharakteristika enthalten, können sich als „falsche Substra-te“ an das aktive Zentrum der Esterase (reversibel) anla-gern und vermindern so den Umsatz von Acetylcholin. Bei-spiele sind Edrophonium mit dem quartären Stickstoff, aber

ohne Carbaminsäure-Rest, und Carbaryl, das nur die Carba-minsäure-Ester-Gruppierung besitzt.

Edrophonium ist ein sehr kurz wirksamer Cholinestera-se-Hemmstoff, Carbaryl ein Hemmstoff der Esterase, der alsInsektizid Verwendung findet, weil die Substanz durch dieChitinhülle der Insekten aufgenommen werden kann (Box25.18).

Physostigmin, auch Eserin genannt, ist ein Alkaloid aus denSamen (Kalabarbohne) des Schlingstrauches Physostigmavenenosum. Diese Früchte werden auch als Gottesurteil-Bohnen bezeichnet, weil sie von den Eingeborenen inWestafrika Verdächtigen oral verabreicht wurden; ein töd-licher Ausgang der Vergiftung bewies die Schuld! DieZufuhr von 0,5 bis 1,0mg Physostigminsalicylat ruft diesel-ben Symptome hervor wie eine Acetylcholin-Infusion bzw.eine Pilocarpin-Injektion. Weil die Hemmung der Herz-funktion und die Erregung des Darmes relativ stark aus-geprägt sind, soll Physostigmin nicht als Medikamentbenutzt werden, da besser verträgliche Substanzen, wieNeostigmin und Pyridostigmin, vorhanden sind.█

Dagegen eignet sich Physostigmin zur Therapie zentra-ler Vergiftungen durch Cholinolytika (wie Atropin undVerwandte, S. 114) und Antidepressiva (S. 393), weil Phy-sostigmin als tertiäres Amin in das Gehirn einzudringenvermag und zentral cholinomimetisch wirkt.

Neostigmin. Eine größere Anzahl von Physostigmin-analo-gen Substanzen ist hergestellt und untersucht worden. Da-runter befinden sich Verbindungen wie Neostigmin undPyridostigmin, die für die allgemeine Therapie vorteilhaftersind als das Alkaloid.█

Neostigmin kann zur Aufhebung der muskelrelaxie-renden Wirkung curareartiger Substanzen verwendetwerden; zu diesem Zweck wird es vor Beendigung derNarkose intravenös appliziert, wenn die Wirkung einesnicht depolarisierenden Muskelrelaxans noch nicht abge-klungen ist.

Die Wirkung von Neostigmin geht verhältnismäßigschnell vorüber, die Eliminationshalbwertzeit der Substanzliegt zwischen 15 und 30 Minuten. Diese kurze Wirkdauermuss bei Anwendung von Neostigmin zur Beendigungeiner Muskelrelaxans-Wirkung am Ende einer Narkose be-rücksichtigt werden.

Nebenwirkungen und Therapie der Vergiftung ent-sprechen denen von Carbachol.

10

11310.2 Beeinflussung des Parasympathikus

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Pyridostigmin. Es wirkt im Wesentlichen wie Neostig-min. Der Effekt tritt aber langsamer ein und hält längeran, so dass drei Dosen täglich ausreichend für eine gleich-mäßige Wirkung sind. Ähnliches gilt für Distigmin.█

Diese beiden Verbindungen sind daher bei der Dauer-therapie der Myasthenie dem Neostigmin vorzuziehen.Außerdem wird Pyridostigmin zur Beendigung der Wir-kung von nicht depolarisierenden Muskelrelaxanzieneingesetzt.

Edrophonium. Es handelt sich um einen nur wenige Mi-nuten wirksamen Cholinesterase-Hemmstoff, der chemischkein Carbaminsäure-Ester ist und dementsprechend auchnicht das esteratische Zentrum acylieren kann. Die Anlage-rung des Moleküls über elektrostatische (positiv geladenerStickstoff) und Van-der-Waals-Kräfte (Benzol-Ring) genügtzur Blockade des Enzyms.

Es findet Verwendung als Diagnostikum bei Verdachtauf das Vorliegen einer Myasthenia gravis; das rasche Ab-klingen der Wirkung ist hier vorteilhaft.

Indirekte Parasympathomimetika. Donepezil, Galantaminund Rivastigmin sind Acetylcholinesterase-Hemmer, diezur Therapie dementiver Symptome des Morbus Alzheimerverwendet werden. Die Inhibitoren passieren die Bluthirn-schranke und sollen helfen, einen relativen Acetylcholin-Mangel auszugleichen (s. S. 413, Therapie Morbus Alz-heimer). Indirekte parasympathische Wirkungen sind beidieser Indikation natürlich nicht angestrebt, aber als Ne-benwirkung unvermeidlich und für die Therapie hinderlich.

Irreversible Hemmstoffe (Phosphorsäureester)Die Phosphorsäureester vom Typ der Organophosphate

können das esteratische Zentrum der Cholinesterase sehrlangdauernd, unter Umständen irreversibel phosphorylie-ren. Diese Verbindungen spielen in der Therapie keineRolle, finden aber ausgedehnte Verwendung als Insektizide(S. 604) und sind von toxikologisch-forensischem Interesse.

Wichtige Wirkstoffe

10.2.3 Parasympatholytika

Überblick

Parasympatholytika sind spezifische Antagonisten am Acetyl-cholin-Rezeptor vom Muscarin-Typ.

Atropinhemmt alle M-Rezeptor-Subtypen gleichermaßen und be-wirkt eine generelle Parasympatholyse. Eine gezielte Be-einflussung nur eines Organs ist nicht möglich.

Scopolaminwirkt peripher wie Atropin, seine zentralnervöse Wirkungist dämpfend im Gegensatz zu Atropin.Es findet Anwendung zur Prophylaxe von Kinetosen.

Ipratropium und TiotropiumDiese quartären, nicht ZNS-gängigen Wirkstoffe werdenper Inhalation zur Therapie der obstruktiven Bronchitisund des Asthma bronchiale benutzt.

Glycopyrronium und Aclidiniumwerden zur Therapie der obstruktiven Bronchitis per Inha-lation verwendet. Glycopyrronium wird auch perioperativzur Sekretionsverminderung der Schleimhäute und gegenBradykardien eingesetzt.

Tropicamiddient lokal am Auge angewandt als Mydriatikum.

M3-AntagonistenDarifenacin, Fesoterodin, Solifenacin werden bei Drang-inkontinenz eingesetzt.

Die periphere cholinerge Übertragung lässt sich je nach derLokalisation durch verschiedene Substanzen blockieren:● in den Ganglien durch Ganglienblocker (S. 141);● an den motorischen Endplatten durch nicotinische Ace-

tylcholin-Rezeptor-Antagonisten (Muskelrelaxanzien)(S. 316);

● an den parasympathischen Endigungen durch Substan-zen aus der Gruppe der Parasympatholytika, die im Fol-genden besprochen werden:– Atropin,– quaternisierte Atropin-Derivate,– Scopolamin.

Atropin

Atropin ist ein Alkaloid, das aus zahlreichen Solanaceen-Arten gewonnen wird, vor allem aus Atropa belladonna(Tollkirsche), aus Hyoscyamus niger (Bilsenkraut) und ausDatura stramonium (Stechapfel).

Wirkstoff Handelsname Alternative

Direkte Parasympathomimetika

Carbachol Miostat®

(in Deutschlandnicht im Handel)

Acetylcholin Miochol®-E

Bethanechol Miocholine®

Pilocarpin Salagen® G, Pilomann®

Spersacarpin®

Indirekte Parasympathomimetika

Neostigmin G

Pyridostigmin Mestinon® Kalymin®

Distigmin Ubretid®

Physostigmin Anticholium®

Donepezil Aricept® G

Galantamin Reminyl® G

Rivastigmin Exelon® G

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