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B. Zustandekommen von Tarifverträgen von Steinau-Steinrück 139 Revision, 15.04.2011 Das Bundesarbeitsgericht stellt weder darauf ab, ob die Verhandlungsmöglichkeiten aus objektiver Sicht ausgeschöpft sind, noch verlangt es eine ausdrückliche Erklärung der Kampfparteien, um zu vermeiden, dass die Gewerkschaften dadurch einer Tarifzensur unterzogen werden. 136 Vielmehr sieht es in der Einleitung von Arbeitskampfmaßnah- men die allein entscheidende Erklärung der Tarifvertragspartei, dass sie die Verhand- lungen für gescheitert betrachtet. Diese Rechtsprechung ist auf Kritik gestoßen. Ge- gen sie wird insbesondere eingewandt, dass sie weder die Möglichkeit der Parteien berücksichtigt, in Schlichtungsabkommen ein Schriftformerfordernis für den einseiti- gen Abbruch der Verhandlungen festzulegen, noch die Möglichkeit zulässt, dem Ver- halten der Parteien durch Auslegung eine andere Bedeutung beizumessen, selbst wenn sie eindeutig signalisieren, dass sie nach wie vor verhandlungsbereit sind. 137 Für die Auffassung des BAG spricht allerdings entscheidend, dass sie eine klare Bewertung des Sachverhalts ermöglicht und dadurch Rechtssicherheit für die Beteiligten schafft, die ihr Handeln daran ausrichten können. Dementsprechend hat sich auch die Mehrzahl des Schrifttums der Rechtsprechung des BAG angeschlossen. 138 2. Schlichtungsverfahren Ziel des Schlichtungsverfahrens ist hauptsächlich Verhandlungsförderung, und zwar zu einem Zeitpunkt der Tarifverhandlungen, an dem ein gemeinsamer Stand- punkt der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite unmöglich erscheint. Das Schlich- tungsverfahren als besonderer Verfahrensweg hat drei Funktionen: Erstens soll der tarifvertragslose Zustands überwunden werden, zweitens geht es um die präventive Vermeidung von Arbeitskämpfen und drittens, falls Arbeitskämpfe doch unvermeidbar waren, um die Überwindung derselben. Während des Schlichtungsverfahrens können sich die Beteiligten auf einen Kompromiss einigen; ansonsten ergeht ein Schlichtungs- spruch, welcher verbindlich ist und die Wirkung eines Tarifvertrags hat. 139 Rechtsgrundlage einer Schlichtung kann eine staatliche Regelung oder eine pri- vatrechtliche Vereinbarung zwischen Tarifvertragsparteien, ein sogenanntes Schlich- tungsabkommen, sein. Außerdem wird das Schlichtungsverfahren ausdrücklich in Teil II Art. 6 Nr. 3 ESC und Nr. 13 der Gemeinschaftscharta der Sozialen Grundrech- te der Arbeitnehmer vom 9. 12. 1989 benannt. Die Möglichkeit, ein privatrechtliches Schlichtungsabkommen zu schließen, ist als Ausfluss der verfassungsrechtlich gewährleisteten Tarifautonomie verbürgt. Die ver- tragliche Schlichtung wird zumeist ad hoc oder vorbeugend vereinbart. Da diese auto- nomen Schlichtungsverfahren Tarifverträge darstellen, bedürfen sie der Schriftform. 140 Es gibt drei Arten von Schlichtungsverfahren: die einfache Schlichtung, den Schlich- tungszwang und die Zwangsschlichtung. 141 Bei ersterem steht die Schlichtung den Parteien ohne Zwang zur Verfügung. Ist Schlichtungszwang vorgesehen, muss auf An- trag einer Partei ein Schlichtungsverfahren durchgeführt werden. Eine Zwangsschlich- tung führt zu einer verbindlichen Entscheidung durch die Schlichtungsinstanz, also _______________________________________________________________________________________ 136 BAG 21. 6. 1988 – 1 AZR 651/86, NZA 1988, 846. 137 Siehe nur Löwisch/Löwisch/Rieble, ArbkampfR, 170.2 Rn. 119 ff. m. w. N. zur Gegenauffas- sung. 138 Vgl. Kissel, Arbeitskampfrecht, § 41 Rn. 30 m. w. N. 139 Kissel, Arbeitskampfrecht, § 69 Rn. 48; HWK/Hergenröder, Art. 9 GG Rn. 363 ff.; ausführlich zum Schlichtungsrecht Löwisch/Löwisch/Rumler, ArbkampfR, 170.11. 140 Löwisch/Löwisch/Rumler, ArbkampfR, 170.11 Rn. 3. 141 Vgl. Löwisch/Löwisch/Rumler, ArbkampfR, 170.11 Rn. 8. 73 74 75

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B. Zustandekommen von Tarifverträgen

von Steinau-Steinrück 139

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Revision, 15.04.2011

Das Bundesarbeitsgericht stellt weder darauf ab, ob die Verhandlungsmöglichkeiten aus objektiver Sicht ausgeschöpft sind, noch verlangt es eine ausdrückliche Erklärung der Kampfparteien, um zu vermeiden, dass die Gewerkschaften dadurch einer Tarifzensur unterzogen werden.136 Vielmehr sieht es in der Einleitung von Arbeitskampfmaßnah-men die allein entscheidende Erklärung der Tarifvertragspartei, dass sie die Verhand-lungen für gescheitert betrachtet. Diese Rechtsprechung ist auf Kritik gestoßen. Ge-gen sie wird insbesondere eingewandt, dass sie weder die Möglichkeit der Parteien berücksichtigt, in Schlichtungsabkommen ein Schriftformerfordernis für den einseiti-gen Abbruch der Verhandlungen festzulegen, noch die Möglichkeit zulässt, dem Ver-halten der Parteien durch Auslegung eine andere Bedeutung beizumessen, selbst wenn sie eindeutig signalisieren, dass sie nach wie vor verhandlungsbereit sind.137 Für die Auffassung des BAG spricht allerdings entscheidend, dass sie eine klare Bewertung des Sachverhalts ermöglicht und dadurch Rechtssicherheit für die Beteiligten schafft, die ihr Handeln daran ausrichten können. Dementsprechend hat sich auch die Mehrzahl des Schrifttums der Rechtsprechung des BAG angeschlossen.138

2. Schlichtungsverfahren Ziel des Schlichtungsverfahrens ist hauptsächlich Verhandlungsförderung, und

zwar zu einem Zeitpunkt der Tarifverhandlungen, an dem ein gemeinsamer Stand-punkt der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite unmöglich erscheint. Das Schlich-tungsverfahren als besonderer Verfahrensweg hat drei Funktionen: Erstens soll der tarifvertragslose Zustands überwunden werden, zweitens geht es um die präventive Vermeidung von Arbeitskämpfen und drittens, falls Arbeitskämpfe doch unvermeidbar waren, um die Überwindung derselben. Während des Schlichtungsverfahrens können sich die Beteiligten auf einen Kompromiss einigen; ansonsten ergeht ein Schlichtungs-spruch, welcher verbindlich ist und die Wirkung eines Tarifvertrags hat.139

Rechtsgrundlage einer Schlichtung kann eine staatliche Regelung oder eine pri-vatrechtliche Vereinbarung zwischen Tarifvertragsparteien, ein sogenanntes Schlich-tungsabkommen, sein. Außerdem wird das Schlichtungsverfahren ausdrücklich in Teil II Art. 6 Nr. 3 ESC und Nr. 13 der Gemeinschaftscharta der Sozialen Grundrech-te der Arbeitnehmer vom 9. 12. 1989 benannt.

Die Möglichkeit, ein privatrechtliches Schlichtungsabkommen zu schließen, ist als Ausfluss der verfassungsrechtlich gewährleisteten Tarifautonomie verbürgt. Die ver-tragliche Schlichtung wird zumeist ad hoc oder vorbeugend vereinbart. Da diese auto-nomen Schlichtungsverfahren Tarifverträge darstellen, bedürfen sie der Schriftform.140 Es gibt drei Arten von Schlichtungsverfahren: die einfache Schlichtung, den Schlich-tungszwang und die Zwangsschlichtung.141 Bei ersterem steht die Schlichtung den Parteien ohne Zwang zur Verfügung. Ist Schlichtungszwang vorgesehen, muss auf An-trag einer Partei ein Schlichtungsverfahren durchgeführt werden. Eine Zwangsschlich-tung führt zu einer verbindlichen Entscheidung durch die Schlichtungsinstanz, also _______________________________________________________________________________________

136 BAG 21. 6. 1988 – 1 AZR 651/86, NZA 1988, 846. 137 Siehe nur Löwisch/Löwisch/Rieble, ArbkampfR, 170.2 Rn. 119 ff. m. w. N. zur Gegenauffas-

sung. 138 Vgl. Kissel, Arbeitskampfrecht, § 41 Rn. 30 m. w. N. 139 Kissel, Arbeitskampfrecht, § 69 Rn. 48; HWK/Hergenröder, Art. 9 GG Rn. 363 ff.; ausführlich

zum Schlichtungsrecht Löwisch/Löwisch/Rumler, ArbkampfR, 170.11. 140 Löwisch/Löwisch/Rumler, ArbkampfR, 170.11 Rn. 3. 141 Vgl. Löwisch/Löwisch/Rumler, ArbkampfR, 170.11 Rn. 8.

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3. Kapitel: Begründung, Zustandekommen und Beendigung des Tarifvertrags

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entweder mit einem gemeinsamen Kompromiss oder mit einem Schlichtungsspruch, welcher gem. § 2 I Nr. 1 ArbGG vor dem Arbeitsgericht ergeht.142

Eine Schlichtung nach staatlichem Recht richtet sich nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 35 betreffend Ausgleichs- und Schiedsverfahren in Arbeitsstreitigkeiten vom 20. 8. 1946,143 welches in allen Bundesländern außer im früheren Land Baden (eigene Lan-desschlichtungsordnung) gilt. Wesentlich häufiger werden allerdings tarifliche Schlich-tungsabkommen vereinbart,144 welche den staatlichen Regelungen vorgehen.

Unzulässig ist eine staatlich aufgezwungene Schlichtung, da hierin ein Verstoß gegen das Gebot staatlicher Neutralität und gegen den Schutz der Tarifautonomie läge.145 Eine staatliche angeordnete Zwangsschlichtung würde den Tarifvertragsparteien ihre Autonomie in der Regelung der sie betreffenden Arbeits- und Wirtschaftsbedin-gungen entziehen. Nur in Ausnahmefällen – etwa beim Streit um Arbeitsbedingungen von besonders hohem Allgemeininteresse oder im Fall von Notstandssituationen – kann eine staatliche Zwangsschlichtung gerechtfertigt sein.146

3. Urabstimmung

In den Satzungen der Gewerkschaften ist nicht selten geregelt, dass die Einleitung des Arbeitskampfes einer Urabstimmung der Mitglieder bedarf. Ob die Einhaltung verbandsinterner Erfordernisse unabdingbare Voraussetzung für einen rechtmäßigen Streik ist, ist umstritten. Die herrschende Meinung aber betont zu Recht, dass keine gesetzliche Regelung existiert, die eine ordnungsgemäße Urabstimmung und ein posi-tives Votum der Gewerkschaftsmitglieder oder gar ein bestimmtes Abstimmungsquo-rum zur Voraussetzung für einen Streik erhebt.147 Die Urabstimmung dient vielmehr ausschließlich der verbandsinternen Willensbildung.148 Eine unterbliebene oder fehlerhafte Urabstimmung betrifft nicht die Interessen des tariflichen Gegenspielers, die Nichtabhaltung einer Urabstimmung erzielt keine zwingende Außenwirkung. Die Verletzung satzungsmäßiger Verfahrenregeln, wie etwa dem Gebot der Urabstimmung, betrifft damit lediglich das Verhältnis des Verbandes zu seinen Mitgliedern. Rechtsfol-gen bei einer Missachtung des Erfordernisses einer Urabstimmung ergeben sich daher auch nur verbandsintern. So besteht etwa für Gewerkschaftsmitglieder im Falle einer satzungswidrig unterbliebenen Urabstimmung keine Pflicht zur Teilnahme am aufge-rufenen Streik. Mitglieder, die sich einem Streikaufruf ohne vorangegangene Urab-stimmung widersetzen, dürfen nicht sanktioniert werden.149

Im Verhältnis zum bestreikten Arbeitgeber oder Arbeitgeberverband ist die Einhal-tung der Gewerkschaftssatzung und damit auch eine möglicherweise in der Satzung vorgeschriebenen Urabstimmung jedenfalls keine Voraussetzung für die Rechtmä-ßigkeit des Streiks.

II. Arbeitskampfgrundsätze

Erweisen sich die Verhandlungen der Tarifpartner als erfolglos, bleibt als letztes Mit-tel der Arbeitskampf, um die Gegenseite erneut zur Aufnahme von Tarifverhandlun-_______________________________________________________________________________________

142 HWK/Hergenröder, Art. 9 GG Rn. 371; Kissel, Arbeitskampfrecht, § 69 Rn. 58. 143 Abl. KR S. 174; Lembke, RdA 2000, 223 ff.; HWK/Hergenröder, Art. 9 GG Rn. 367. 144 Siehe Übersicht dazu bei Löwisch/Löwisch/Rumler, ArbkampfR, 170.11 Rn. 6. 145 Löwisch/Löwisch/Rieble, ArbkampfR, 170.1 Rn. 32; HWK/Hergenröder, Art. 9 GG Rn. 366. 146 Löwisch/Löwisch/Rieble, ArbkampfR, 170.1 Rn. 33. 147 Kissel, Arbeitskampfrecht, § 40 Rn. 2. 148 Müller/Preis/Müller/Landshuter, ArbR im öff. Dienst, Zweiter Abschnitt, Rn. 157. 149 Kissel, Arbeitskampfrecht, § 40 Rn. 18.

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gen und zum Abschluss eines Tarifvertrags zu bewegen. Der Interessenkonflikt um Ar-beits- und Wirtschaftsbedingungen zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite kann nicht ungelöst bestehen bleiben. Das folgt aus dem Prinzip des faktischen Ei-nigungszwangs.

1. Begriff und Rechtsgrundlagen des Arbeitskampfes

a) Begriff Der Begriff „Arbeitskampf“ ist nicht gesetzlich definiert; gleichwohl wird er vom

Gesetzgeber an verschiedenen Stellen verwendet (so in Art. 9 III 3 GG; § 2 I Nr. 2 ArbGG; § 74 II BetrVG; § 11 V AÜG; § 25 KSchG). Der Arbeitskampf ist ein allge-meines soziales Phänomen des kollektiven Arbeitskonflikts150 im Zusammenhang mit einem Arbeitsverhältnis und seit jeher prägend für die arbeitsrechtlichen Beziehungen. Als Konfliktlösungsinstrument soll er außerhalb des Vertragsrechts die Bereitschaft zum Abschluss von Tarifverträgen herbeiführen.151 Trotzdem hat sich eine einheitliche De-finition bisher nicht gefunden. In zwei maßgebenden Grundsatzentscheidungen aus den Jahren 1955 und 1971 enthielt sich das BAG einer Definition.152 1958 äußerte es sich in Anlehnung an den allgemeinen Sprachgebrauch dieses Begriffs folgenderma-ßen: „Als Kampfmaßnahme im allgemeinen Sprachgebrauch und im Sinne des einen Teil des Arbeitsrechts bildenden Arbeitskampfrechts sind […] alle Maßnahmen anzuse-hen, die den Verhandlungspartner bewusst und gewollt unter den unmittelbaren Druck eingeleiteter Arbeitskämpfe setzen und damit seine Entschließungsfreiheit be-einträchtigen sollen. Kampfmaßnahme in diesem Sinne ist jede Maßnahme, die an die Stelle des freien Verhandelns den Zwang zum Bewilligen der Forderungen des Partners oder jedenfalls zum Nachgeben setzen soll, und zwar aus Furcht vor den Nachteilen oder Verlusten, die der Arbeitskampf mit sich bringt.“153 Damit setzt das BAG den Ar-beitskampf in unmittelbaren Bezug zu Tarifverhandlungen und verknüpft dessen Zu-lässigkeit mit dem Zweck, zu einer Einigung über einen Tarifvertrag zu finden.

In der Literatur werden verschiedene Ansätze diskutiert,154 wobei jeder Definitions-versuch automatisch auf eine rechtliche Vorentscheidung hinsichtlich der Eigenschaf-ten und Rechtmäßigkeiten hinausläuft.155 Es lassen sich vornehmlich zwei Definitions-ansätze ausmachen: Ein engerer Arbeitskampfbegriff ist kampfzielorientiert und versteht unter Arbeitskampf die aufgrund eines Kampfentschlusses der Arbeitnehmer- oder Arbeitgeberseite erfolgende Störung des Arbeitslebens durch kollektive Kampf-maßnahmen mit dem Zweck, eine freiwillig nicht zugestandene kollektivvertragliche Regelung zu erreichen.156 Objektiv muss damit eine Konfliktsituation im Arbeitsleben zwischen den sozialen Gegenspielern vorliegen, der nur mit Druck ausübenden Ar-beitskampfmitteln begegnet werden kann. Subjektiv müssen sich diese Maßnahmen in ihrer Zwecksetzung gerade gegen den sozialen Gegenspieler richten, um ihn zu einer Änderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu bewegen, die auf freiwilliger _______________________________________________________________________________________

150 MüArbR/Ricken, § 193 Rn. 1. 151 MüArbR/Ricken, § 193 Rn. 2. 152 BAG 28. 1. 1955 – GS 1/54, BB 1955, 605; 21. 4. 1971 – GS 1/68, NJW 1971, 1668. 153 BAG 31. 10. 1958 – 1 AZR 632/57, NJW 1959, 356. 154 Bötticher, RdA 1955, 81; Ramm, AcP 160 (1961), 336; zusammenfassend Kissel, Arbeitskampf-

recht, § 15 Rn. 1 ff. 155 Vgl. Kissel, Arbeitskampfrecht, § 1 Rn. 14. 156 Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht II, S. 870.

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3. Kapitel: Begründung, Zustandekommen und Beendigung des Tarifvertrags

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Basis nicht erreicht werden konnte. Der Schwerpunkt dieser Definition liegt auf dem subjektiven Tatbestandselement der Kampfzielorientierung;157 diese Haltung wird zugleich von den Kritikern angegriffen, da in die Begriffsbildung Elemente der Recht-mäßigkeit des Arbeitskampfes mit einflössen.158 Gleichwohl wird nach Abschluss der Definition zwischen rechtmäßigem und rechtswidrigem Arbeitskampf differenziert.159

Nach einem weiten Arbeitskampfbegriff, der sich an die Rechtsprechung an-lehnt, ist die Störung der Arbeitsbeziehung im Zusammenspiel mit dem Charakteristi-kum der kollektiven und zielgerichteten Druckausübung, also der Konfliktlösung durch Kampf, maßgeblich.160 Ein besonderes Kampfziel ist nicht erforderlich, sondern wird erst bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit des Arbeitskampfes relevant.161 Das Kampfziel trägt somit der Einheit des äußeren Erscheinungsbildes eines Arbeitskampfes Rechnung. Die Konturenunschärfe dieser Definition wird bewusst in Kauf genom-men, um dem Arbeitskampf als außerrechtliches Phänomen gerecht zu werden.162 Gleichzeitig besteht aber die Gefahr, jedwede kollektive Beeinträchtigung des Gegen-übers als Arbeitskampf aufzufassen. Vorrang vor dem Arbeitskampf hat aber immer das herkömmliche Vertragsrecht.163 So schränken einige Autoren den weiten Arbeits-kampfbegriff dahingehend ein, dass erst nach Ausschöpfung der Einigungsmöglichkei-ten über „friedlich“ erreichte Vertragsabschlüsse oder gesetzliche Regelungen Interes-sensgegensätze über Arbeitskampfmittel ausgetragen werden dürfen.164

Zusammenfassend ist Arbeitskampf zu verstehen als bewusste und gewollte Druckausübung zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern mit nachteils- und scha-densbehafteten Mitteln zur Auflösung und Regelung einer die Arbeitsverhältnisse be-treffenden Konfliktsituation.

b) Rechtsgrundlagen

Auch der Arbeitskampf hat sich innerhalb der Rechtsordnung zu bewegen und be-

darf deshalb zu seiner Rechtmäßigkeit einer gesetzlichen Legitimation.

aa) Koalitionsbetätigungsgarantie

Rspr. und h. M. sehen die verfassungsrechtliche Grundlage des Arbeitskampfes in Art. 9 III GG.165 Dieser gewährleistet zunächst für jedermann und für alle Berufe das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden. Damit verbunden ist die Freiheit der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, die Wirtschafts- und Arbeitsbedingungen selbst durch Tarifabschluss zu regeln. Zu diesem Zweck dürfen sie Koalitionen bilden, die sich für ihre Interessen einsetzen, die sogenannte Koalitionsbetätigungsgarantie.166 Die Koalitionsbetäti-gungsgarantie ist ein verfassungsrechtlich geregelter Sonderfall der allgemeinen Verei-_______________________________________________________________________________________

157 HWK/Hergenröder, Art. 9 GG Rn. 146. 158 Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, Rn. 24. 159 Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht II, S. 977 ff. 160 Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, Rn. 17 f.; ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rn. 94; MüArb/Ricken,

§ 193 Rn. 3. 161 Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, Rn. 22. 162 MüArbR/Ricken, § 193 Rn. 3. 163 Däubler, Arbeitskampfrecht, Rn. 57. 164 Kissel, Arbeitskampfrecht, § 2 Rn. 1, § 60 Rn. 1; Däubler, Arbeitskampfrecht, Rn. 58. 165 So BVerfG 26. 6. 1991 – 1 BvR 779/85, NJW 1991, 2549; 7. 7. 1995 – 1 BvF 2/86, NJW

1996, 185; BAG 10. 6. 1980 – 1 AZR 822/79, NJW 1980, 1642, 1653; HWK/Henssler, Art. 9 GG Rn. 149 m. w. N.

166 Löwisch/Löwisch/Rieble, ArbkampfR, 170.1, Rn. 7.

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nigungsfreiheit aus Art. 9 I GG und kann von Arbeitnehmerseite (Arbeitnehmerkoali-tionen) wie auch von Arbeitgeberseite (Arbeitgeberkoalitionen) ausgeübt werden. Die Freiheit, Koalitionen zu bilden, gilt als Individualgrundrecht für jeden Einzelnen und für alle Berufe.167

Die Koalitionsfreiheit ist vorbehaltlos gewährleistet. Wie bei anderen vorbehaltlos gewährten Grundrechten sind die Grenzen der Koalitionsfreiheit bei der Wahrung an-derer verfassungsrechtlich geschützter Güter zu ziehen. Ebenso ist es Aufgabe des Ge-setzgebers, die Befugnisse der Koalitionen im Einzelnen näher auszugestalten,168 um die Voraussetzungen für eine Wahrnehmung dieses Freiheitsrechts festzusetzen.

Den Schutzbereich der Koalitionsfreiheit umschrieb das BVerfG lange als einen eng begrenzten Kernbereich. Dazu gehörten beispielsweise das gesetzlich geregelte Tarif-vertragssystem, insbesondere der Abschluss von Tarifverträgen; die Mitgliederwerbung; die Namensführung; und schließlich auch die Freiheit der Wahl der Mittel zur Errei-chung des Koalitionszwecks.169 Doch galt zum Kernbereich nur zugehörig, was für die Existenz von Koalitionen unerlässlich war.170 Inzwischen modifizierte das BVerfG seine Rechtsprechung dahingehend, dass die Reichweite von Art. 9 III GG nicht von vorn-herein auf den Bereich des Unerlässlichen beschränkt ist.171 Dem Gesetzgeber gebührt weiterhin die gesetzliche Ausgestaltung. Jedoch sind grundrechtlich nun alle Verhal-tensweisen geschützt, die koalitionsspezifisch sind.172 Auf eine Unerlässlichkeit im Sin-ne der Kernbereichstheorie kommt es nicht mehr an.173

Was nunmehr zum Schutzbereich gehört, ist im Einzelnen streitig. Nach wie vor essentiell für die Betätigungsfreiheit der Koalitionen ist das Aushandeln von Tarifver-trägen.174 Dies geschieht in eigener Verantwortung und im Wesentlichen ohne staatli-che Einflussnahme, da die verfassungsrechtliche Tarifautonomie einen Freiraum für das Austragen von Interessenkonflikten verlangt. Geschützt wird nicht nur ein Abschluss des Tarifvertrags, sondern auch die weitgehende Bestimmung über dessen Inhalt.

Schließlich ist auch die freie Wahl der Mittel, die zum Tarifabschluss führen, ga-rantiert – der Punkt, an dem Arbeitskampfmaßnahmen, die auf den Abschluss von Ta-rifverträgen gerichtet sind, ins Spiel kommen. Art. 9 III GG schreibt den Tarifparteien nicht vor, welche Mittel sie zur Erzwingung eines Tarifabschlusses verwenden sollen oder dürfen. Die Vorschrift verbietet aber auch keine bestimmten Kampfmittel. Das Grundgesetz trifft keine Aussage zum Arsenal an Arbeitskampfmitteln der Koalitionen. Als zentral und unerlässlich gelten der Streik und die Aussperrung, sie sind anerkannte und, insbesondere mit Blick auf den Streik, historisch gewachsene Kampfmittel. Jedes Kampfmittel, gleich welcher Art, hat sich aber innerhalb der verfassungsmäßigen Ord-nung zu bewegen.

Aus dem Wortlaut von Art. 9 III GG ergibt sich keine eindeutige Stellungnahme des Grundgesetzes zur Zulässigkeit von Arbeitskampfmaßnahmen. Dies ist zunächst _______________________________________________________________________________________

167 BVerfG 14. 11. 1995 – 1 BvR 601/92, NZA 1996, 381. 168 BVerfG 26. 5. 1970 – 2 BvR 664/65, NJW 1970, 1635; 1. 3. 1979 – 1 BvR 532/77, 1 BvR

533/77, 1 BvR 419/78, 1 BvL 21/78, NJW 1979, 699. 169 BVerfG 20. 10. 1981 – 1 BvR 404/78, NJW 1982, 815. 170 Vgl. z. B. BVerfG 14. 4. 1964 – 2 BvR 69/62, AP PersVG Bayern Art. 81 Nr. 1. 171 BVerfG 20. 10. 1981 – 1 BvR 404/78, NJW 1982, 815; 14. 11. 1995 – 1 BvR 601/92, NZA

1996, 381. 172 BVerfG 14. 11. 1995 – 1 BvR 601/92, NZA 1996, 381. 173 So z. B. Kissel, Arbeitskampfrecht, § 4 Rn. 20; Hanau, ZIP 1996, 447. Andere Stimmen der Lit.

halten weiterhin an der Kernbereichsformel fest, so Löwisch/Löwisch/Rieble, ArbkampfR, 170.1 Rn. 8.

174 Vgl. z. B. BVerfG 2. 3. 1993 – 1 BvR 1213/85, NJW 1993, 1379.

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historisch bedingt: Der parlamentarische Rat konnte in seinen Beratungen zum Wort-laut von Art. 9 GG keine Einigung über eine normative Absicherung des Streikrechts erzielen.175 Ausdrücklicher Schutz erfährt der Arbeitskampf in Art. 9 III 3 GG nur ge-gen Notstandsmaßnahmen, woraus kein Schluss auf eine grundsätzliche Absicherung des Arbeitskampfes zu ziehen ist.176 Somit ist ein Streikrecht verfassungsmäßig nicht ausdrücklich verankert. Trotzdem wird die Zulässigkeit von Arbeitskämpfen allgemein aus der Freiheit der Wahl der Mittel abgeleitet, jedenfalls insoweit, als dass sie erforder-lich sind, um eine funktionierende Tarifautonomie sicherzustellen.177

Zusammenfassend ergibt sich aus Art. 9 III GG: – Garantie der Koalitionsbetätigung, aber keine Pflicht hierzu – weitgehende Freiheit von Staatsintervention bei der Konfliktlösung – Freiheit der Wahl der Mittel zur Koalitionsbetätigung – kampfweise Konfliktlösung im Rahmen der Koalitionsbetätigungsgarantie als ultima

ratio – Teilnahmerecht der Koalitionsmitglieder am Arbeitskampf – Rechtfertigungswirkung von Streik und Aussperrung.

bb) Bundesrecht

Einfachgesetzlich sind Aspekte des Arbeitskampfes beispielsweise in § 2 I Nr. 2 ArbGG; § 74 II BetrVG; § 66 II 2, 3 BPersVG; § 11 V AÜG; § 25 KSchG; §§ 36 III, 146 SGB III; § 91 VI SGB IX; § 192 I Nr. 1 SGB V normiert. All diese Vorschriften liefern keine Definition des Arbeitskampfes, sie gehen aber davon aus, dass es „den Arbeitskampf“ gibt, indem sie ihn zum Tatbestandsmerkmal erheben. Die Vorschriften des Bundesrechts bestimmen jedoch nicht die Voraussetzungen und Grenzen von Ar-beitskämpfen insgesamt oder in Bezug auf einzelne Arbeitskampfmaßnahmen.178 Weil diese Vorschriften zwar den Arbeitskampf erwähnen, aber keine eigenständige Regel hierzu enthalten, hat das BAG diese Vorschriften als „neutrale Rechtsnormen“ be-zeichnet.179

cc) Landesrecht

Ausdrückliche Streikgarantien enthalten teilweise die Länderverfassungen (Art. 29 IV Hessische Verfassung, Art. 27 II Verfassung von Berlin, Art. 51 III Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen, Art. 66 II Verfassung für Rheinland-Pfalz, Art. 56 II Verfassung des Saarlandes).180 Bedeutung gewinnt das Landesverfassungsrecht allerdings nur im Rahmen von Art. 31 GG.

dd) International

Auch im internationalen Recht finden sich Vorschriften mit Bezug zum Arbeits-kampf und zur Koalitionsfreiheit. Deren Schutz reicht jedoch nicht weiter als der von Art. 9 III GG.

Koalitionsfreiheit und Arbeitskampf finden zunächst im Arbeitsvölkerrecht Er-wähnung: Art. 23 IV der Deklaration der allgemeinen Menschenrechte vom 10. 12. _______________________________________________________________________________________

175 Zur Entstehungsgeschichte Brox/Rüthers/Rüthers, Art. 9 GG Rn. 78 f. 176 So BAG 9. 7. 1968 – 1 ABR 2/67, AP TVG § 2 Nr. 25; a. A. Lerche, Verfassungsrechtliche

Zentralfragen des Arbeitskampfes, 1968, S. 89. 177 BVerfG 26. 6. 1991 – 1 BvR 779/85, NJW 1991, 2549; 2. 3. 1993 – 1 BvR 1213/85, NJW

1993, 1379; 4. 7. 1995 – 1 BvF 1/87, NZA 1995, 754. 178 MüArbR/Ricken, § 198 Rn. 1. 179 BAG GS 21. 4. 1971 – GS 1/68, AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 43. 180 Wortlaut nachzulesen bei Löwisch/Löwisch/Rieble, ArbkampfR, 170.1 Rn. 92.

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B. Zustandekommen von Tarifverträgen

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1948,181 Art. 8 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19. 12. 1966182 und Art. 22 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte vom 16. 12. 1966.183 Während Art. 23 IV der Deklaration der allgemeinen Menschenrechte nur als rechtliche Empfehlung einzuordnen ist,184 stellen die beiden UN-Pakte eine Verpflichtung zur Angleichung des nationalen Rechts dar.185 Nicht einig ist man sich allerdings über deren Qualität als subjektive, einklagba-re Rechte von Bürgern.186

Desgleichen sind Abkommen und Empfehlungen der Internationalen Arbeitsor-ganisation (ILO) von Bedeutung: Abkommen Nr. 87 vom 9. 7. 1948187 und Nr. 98 vom 1. 7. 1949.188 Auch sie enthalten eine Pflicht zur Anpassung des nationalen Rechts, jedoch keine Individualrechte.

Ferner sind Art. 11 EMRK189 und Teil II Art. 5 iVmit Art. 6 IV der Europäischen Sozialcharta190 aus der Rechtssetzung des Europarates zu nennen. Hiervon garantiert nur letztere ausdrücklich ein Streikrecht, wobei die Sozialcharta im Gegensatz zu Art. 11 EMRK kein unmittelbar geltendes Recht darstellt.191

Gemäß Art. 153 V AEUV kommt der EU keinerlei Rechtsetzungskompetenz auf dem Gebiet des Streik- und Aussperrungsrechts zu. Den Verträgen der Europäischen Gemeinschaft sind demnach keine Regelungen zum Arbeitskampf bzw. zur Koali-tionsfreiheit zu entnehmen.192 Dagegen enthält die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer vom 9. 12. 1989193 wie auch die Charta der Grund-rechte der EU vom 7. 12. 2000 (Art. 28)194 Bestimmungen zum Arbeitskampf. Der EuGH hat 2007 entschieden, dass aus dem Recht der Internationalen Arbeitsorganisa-tion, der Europäischen Sozialcharta und der Gemeinschaftscharta der sozialen Grund-rechte (aufgeführt in Art. 151 AEUV) ein Recht auf Durchführung kollektiver Maß-nahmen fließt.195

ee) Tarifautonome Regelungen

Nach der Rechtsprechung des BAG haben die Tarifparteien die Möglichkeit, mate-rielle Einzelheiten und Verfahrensfragen für einen späteren Arbeitskampf vorab tarif-vertraglich zu vereinbaren.196 Ungeklärt ist bislang allerdings, wie weit die Befugnis der Tarifparteien zur Gestaltung einer eigenen Arbeitskampfordnung reicht. Zulässig und aus der Praxis bekannt sind Regelungen zur Friedenspflicht und zu Fragen hin-sichtlich eines Schlichtungsverfahrens. Aber auch Vereinbarungen über Schadensbe-grenzungsmaßnahmen während des Arbeitskampfes und Wiedereinstellungsklauseln _______________________________________________________________________________________

181 UN Doc. A/811. 182 BGBl. II 1973, S. 1569. 183 BGBl. II 1973, S. 1534 ff. 184 Vgl. Gitter, ZfA 1971, 127, 132. 185 Echterhölter, BB 1973, 1595 f.; HWK/Hergenröder, Art. 9 GG Rn. 151. 186 HWK/Hergenröder, Art. 9 GG Rn. 151. 187 BGBl. II 1956, S. 2000 ff. 188 BGBl. II 1955, S. 122 ff. 189 BGBl. II 1952, S. 685, 953. 190 BGBl. II 1964, S. 12, 61 ff. 191 Brox/Rüthers/Rüthers, Art. 9 GG Rn. 124; Seiter, Streikrecht, S. 137 m. w. N. 192 HWK/Hergenröder, Art. 9 GG Rn. 154. 193 KOM (89) S. 248 endg., abgedruckt in EAS A 1500. 194 Abl. EG Nr. C 364 vom 18. 12. 2000, S. 1, abgedruckt in EAS A 1510. 195 EuGH 11. 12. 2007 – C 438/05, NZA 2008, 124 – Viking; 18. 12. 2007 – C 341/05, NZA

2008, 159 – Laval. 196 BAG 21. 4. 1971 – GS 1/68, NJW 1971, 1668.

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3. Kapitel: Begründung, Zustandekommen und Beendigung des Tarifvertrags

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für die Zeit nach einem Arbeitskampf sind zulässig.197 Regelungen, die grundlegende Prinzipien des Arbeitskampfes berühren oder gar missachten, müssen dagegen kritisch betrachtet werden. Das gilt insbesondere für tarifautonome Regelungen, die zu einer Verschiebung der Kampfparität führen. Unzulässig sind daher wohl Vereinbarungen über die Begrenzung der Teilnehmer am Arbeitskampf;198 das gilt jedenfalls dann, wenn dadurch die Durchsetzungsfähigkeit einer Kampfpartei beeinträchtigt wird.

ff) Betriebsvereinbarungen

Ob Arbeitgeber und Betriebsrat Regelungen zum Arbeitskampf in einer Betriebs-vereinbarung treffen können, ist bislang ungeklärt. Nach der Rechtsprechung des BAG sind jedenfalls die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats in Zeiten des Arbeitskampfes einzuschränken, wenn durch die Beteiligung des Betriebsrats der Arbeitgeber in der Ausübung von eigenen Arbeitskampf- oder Abwehrmaßnahmen eingeschränkt oder behindert würde. Bewegen sich bestimmte Maßnahmen des Arbeitgebers außerhalb der Abwehr eines Arbeitskampfes und ist eine Auswirkung auf den Arbeitskampf aus-geschlossen, erfährt die betriebliche Mitbestimmung keine Einschränkung. Für zulässig erachtet wurden daher in der Rechtsprechung zum Beispiel betriebliche Regelungen über die Belastung eines Gleitzeitkontos bei der Teilnahme am Streik199 und Regelun-gen über erforderliche Notstandsarbeiten.200 Die Regelungsbefugnisse der Betriebspar-teien finden jedenfalls ihre Grenze im Prinzip der Kampfparität: Arbeitgeber und Betriebsrat können nicht wirksam Regelungen treffen, welche die Kampfparität beein-trächtigen würden.201 Kritisch zu betrachten sind daher Betriebsvereinbarungen, die nicht nur konkrete Arbeitskampfmaßnahmen und deren Folgen im Hinblick auf die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats regeln, sondern allgemeine Vorschriften über künftige Arbeitskämpfe im Betrieb aufstellen.

gg) Rechtsprechung

Das Arbeitskampfrecht ist – sieht man von besagten „neutralen Rechtsnormen“ ab – gesetzlich nicht geregelt. Das GG trifft keine konkrete Aussage zur Gesetzgebungskom-petenz im Bereich des Arbeitskampfrechts. Allerdings gehört das Arbeitskampfrecht wie das Tarifrecht zum allgemeinen Bereich des Arbeitsrechts, wofür der Bund nach Art. 74 I Nr. 12 GG die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz hat. Das Parlament ist damit der berufene Gesetzgeber, es konnte sich aber bis heute auf keine Kodifika-tion festlegen. Somit kommt in der Praxis der Rechtsprechung, und dabei insbesonde-re dem BAG, die Rolle eines Ersatzgesetzgebers zu, was vom BVerfG gebilligt wird.202 Diese Situation erklärt sich aus dem Umstand, dass die gesellschaftlichen Fron-ten zum Thema kollektivrechtliche Maßnahmen seit jeher verhärtet sind und sich ein notwendiger mehrheitlicher Konsens diesbezüglich nicht finden lässt. Trotzdem sind Zweifel angebracht, ob eine derart weitgehende richterliche Rechtsetzung im Bereich des Arbeitskampfrechts mit der verfassungsrechtlichen Wesentlichkeitstheorie203 zu ver-_______________________________________________________________________________________

197 MüArbR/Otto (2. Aufl. 2000), § 283 Rn. 6. 198 MüArbR/Otto (2. Aufl. 2000), § 283 Rn. 15. 199 BAG 30. 8. 1994 – 1 ABR 10/94, NZA 1995, 183. 200 BVerfG 19. 2. 1975 – 1 BvR 418/71, NJW 1975, 968; BAG GS 21. 4. 1971 – GS 1/68, NJW

1971, 1668. 201 BAG 30. 8. 1994 – 1 ABR 10/94, NZA 1995, 183. 202 BVerfG 26. 6. 1991 – 1 BvR 779/85, NJW 1991, 2549; vgl. Löwisch/Löwisch/Rieble, Arb-

kampfR, 170.1 Rn. 118 m. w. N. 203 BVerfG 8. 8. 1978 – 2 BvL 8/77, NJW 1979, 359.

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