THÜRINGEN · meiergeschlecht der Karolinger, seit 751 Könige im Frankenreich, beschleu-nigte sich...

8
THÜRINGEN BLÄTTER ZUR LANDESKUNDE Thüringen Ein historischer Überblick Z ahlreich sind die Attribute, die Thü- ringen mit Blick auf seine Geschichte bei- gegeben wurden: „Herz- land deutscher Kultur“, „Kernland der Reforma- tion“, „Heimat der Ba- che“, „Land der Klas- sik“. Das traditionsrei- che Kulturland um Wart- burg und Weimar war aber bis ins 20. Jahrhun- dert hinein kein einheit- liches Staatsgebilde, son- dern vielmehr Inbegriff deutscher Kleinstaate- rei. Dies veranlasste die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, zwar die kulturellen Im- pulse aus Thüringen für die Nationsbildung zu betonen, zugleich aber dessen unheilvolle Zer- splitterung zu geißeln: „Unsere Cultur ver- dankt ihnen unsäglich viel, unser Staat gar nichts.“ (Heinrich von Treitschke) Die jüngere Historiographie hat die- ses Urteil revidiert, hat auch bedeutende politi- sche, soziale und öko- nomische Innovations- kräfte herausgearbeitet. Und aus der Perspek- tive des zwischen 1920 und 1990 schrittweise vereinten Thüringens überwiegt das Positive: Fürstlicher Repräsenta- tionsgeist bescherte dem „Land der Residenzen“ Schlösser, Parks, Muse- en, Bibliotheken und Theater in einmaliger Dichte, machte es zum Synonym des Landes der Dichter und Denker. Thüringen gilt mithin, ungeachtet sich wandelnder Bewertungen dieses Umstandes, als das Musterland der lange so charakteristischen territoria- len Zersplitterung Deutschlands. Das mittelalterliche Kaisertum war allmäh- lich zugunsten der Regionalmächte bis hin zu deren faktischer Unabhängigkeit nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618- 48) geschwächt worden. Einigen Ge- bieten insbesondere Südwest- und Mit- teldeutschlands bescherte dies zahlrei- Wappen Freistaat Thüringen

Transcript of THÜRINGEN · meiergeschlecht der Karolinger, seit 751 Könige im Frankenreich, beschleu-nigte sich...

Page 1: THÜRINGEN · meiergeschlecht der Karolinger, seit 751 Könige im Frankenreich, beschleu-nigte sich die im 6. Jh. einsetzende Christianisierung. Sie fand mit der Grün - ... begann

THÜRINGENB L Ä T T E R Z U R L A N D E S K U N D E

ThüringenEin historischer Überblick

Zahlreich sind dieAttribute, die Thü-ringen mit Blick

auf seine Geschichte bei-gegeben wurden: „Herz-land deutscher Kultur“,„Kernland der Reforma-tion“, „Heimat der Ba-che“, „Land der Klas-sik“. Das traditionsrei-che Kulturland um Wart-burg und Weimar waraber bis ins 20. Jahrhun-dert hinein kein einheit-liches Staatsgebilde, son-dern vielmehr Inbegriffdeutscher Kleinstaate-rei. Dies veranlasste dieGeschichtsschreibungdes 19. Jahrhunderts,zwar die kulturellen Im-pulse aus Thüringen fürdie Nationsbildung zubetonen, zugleich aber

dessen unheilvolle Zer-splitterung zu geißeln:„Unsere Cultur ver-dankt ihnen unsäglichviel, unser Staat garnichts.“ (Heinrich vonTreitschke) Die jüngereHistoriographie hat die-ses Urteil revidiert, hatauch bedeutende politi-sche, soziale und öko-nomische Innovations-kräfte herausgearbeitet.Und aus der Perspek-tive des zwischen 1920und 1990 schrittweisevereinten Thüringensüberwiegt das Positive:Fürstlicher Repräsenta-tionsgeist bescherte dem„Land der Residenzen“Schlösser, Parks, Muse-en, Bibliotheken undTheater in einmaliger

Dichte, machte es zum Synonym desLandes der Dichter und Denker.

Thüringen gilt mithin, ungeachtetsich wandelnder Bewertungen diesesUmstandes, als das Musterland derlange so charakteristischen territoria-len Zersplitterung Deutschlands. Das

mittelalterliche Kaisertum war allmäh-lich zugunsten der Regionalmächte bishin zu deren faktischer Unabhängigkeitnach dem Dreißigjährigen Krieg (1618-48) geschwächt worden. Einigen Ge-bieten insbesondere Südwest- und Mit-teldeutschlands bescherte dies zahlrei-

WappenFreistaat Thüringen

Page 2: THÜRINGEN · meiergeschlecht der Karolinger, seit 751 Könige im Frankenreich, beschleu-nigte sich die im 6. Jh. einsetzende Christianisierung. Sie fand mit der Grün - ... begann

torische Bezugspunkte, die Thüringenüber die Jahrhunderte der Kleinstaate-rei hinweg im kollektiven Bewusstseinverankerten: das frühmittelalterlicheKönigreich der Thüringer und die Land-grafschaft Thüringen der Ludowinger.

che weltliche und kirchliche „Duodez-fürsten“ auf engstem Raum. In Thürin-gen nahm die Zersplitterung besondersextreme Formen mit zeitweise bis zu 30staatlichen Gebilden an und hielt sichso lange wie in keiner anderen Region.Allerdings gab es zwei glanzvolle his-

Der im Zuge der frühen Völker-wanderung möglicherweise ausden Germanenstämmen der Her-

munduren, Angeln und Warnen hervor-gegangene Stamm der Thüringer wirdum 380 beim römischen Autor VegetiusRenatus erstmals erwähnt. Den „Tho-ringi“ gelang im 5. Jh. die Bildung einesmächtigen Königreiches. Es dehnte sichüber einen kleineren Siedlungskernhinaus von Altmark und Elbe bis hin zuWerra und Donau aus. Als wichtigerMachtfaktor des spätantik-germani-schen Europas war es u.a. mit demOstgotenreich Theoderichs des Großenverbündet. Familienbande führten 510die Theoderich-Nichte Amalaberga andie Seite des Thüringer-Königs Hermi-nafrid. Nach dem Tode Theoderichs(526) unterlagen die Thüringer jedoch531 in einer vernichtenden Schlacht ander Unstrut den Heeren der Frankenund Sachsen. 534 fiel Herminafrid ei-nem Mordanschlag zum Opfer. Damitschied Thüringen als selbständiger Ak-teur von der historischen Bühne.

Thüringen wurde nun Bestandteil desfränkischen Reiches der Merowinger-Könige. Unter dem aufstrebenden Haus-meiergeschlecht der Karolinger, seit751 Könige im Frankenreich, beschleu-nigte sich die im 6. Jh. einsetzendeChristianisierung. Sie fand mit der Grün-

dung des (bald an Mainz angeglieder-ten) Bistums Erfurt durch den Missio-nar Bonifatius 742 einen ersten Ab-schluss. Aus dem östlichen Teil desFrankenreiches bildete sich seit Mittedes 9. Jh. allmählich das DeutscheReich heraus. Unter den ottonisch-sächsischen Königen (919–1024) stellteThüringen eine der wichtigsten Stützender Zentralmacht dar. Diese Königsnä-he ging unter den rheinischen Saliern(1024 –1125) wieder verloren und esbegann der Aufstieg jenes einheimi-schen Geschlechtes, das in der Staufer-zeit (1138–1254) als Landgrafen vonThüringen (1131–1247) große Bedeu-tung erlangen sollte.

Die nach dem Vornamen ihrer erstge-borenen männlichen Vertreter bezeich-neten Ludowinger stammten aus demFränkischen und hatten sich unter Lud-wig dem Bärtigen um 1040 im RaumFriedrichroda angesiedelt. Seinem SohnLudwig dem Springer (1080–1123), le-gendärer Gründer der Wartburg, derNeuenburg und des Klosters Reinhards-brunn, gelang der Ausbau der verstreu-ten Güter- und Herrschaftskomplexe inThüringen. Durch Erbschaft erreichtewiederum sein Sohn Ludwig die Aus-dehnung des Besitzes nach Hessen.

1131 wurde dieser als Ludwig I.(1131–1140) mit der von Kaiser Lothar

Vom Königreich zur Landgrafschaft

Page 3: THÜRINGEN · meiergeschlecht der Karolinger, seit 751 Könige im Frankenreich, beschleu-nigte sich die im 6. Jh. einsetzende Christianisierung. Sie fand mit der Grün - ... begann

von Supplinburg neu geschaffenenLandgrafenwürde von Thüringen be-lehnt. Bald zählten die Ludowinger, dieHerrschaft und Landfrieden sichernsollten, zu den mächtigsten Reichsfürs-ten. Ludwig II. (1140–1172) festigte dieBindung an das staufische Kaiserhausu.a. durch die Heirat einer Halbschwes-ter Friedrich Barbarossas. Unter Lud-wig III. (1172–1190) erreichte die Land-grafschaft im Zuge der Entmachtungdes Welfenherzogs Heinrich der Löwe(1180/81) erneut erheblichen Bedeu-tungszuwachs. Den glanzvollen Höhe-punkt bildete die Regentschaft Her-manns I. (1190–1217); mit seinem Na-men ist der sagenhafte „Sängerkriegauf der Wartburg“ (1206/07) verbun-den, Symbol für die am Landgrafenhofgepflegte ritterlich-höfische Adelskul-tur (Walther von der Vogelweide, Wolf-

ram von Eschenbach, Heinrich von Vel-deke). Ludwig IV., der Fromme (1217–1227) ist bis heute als Gemahl der Hei-ligen Elisabeth in Erinnerung geblie-ben.

Die Erhebung von Ludwigs Nachfol-ger Heinrich Raspe (1227–1247) zumdeutschen König 1246 bedeutete aller-dings keinen krönenden Gipfelpunkt.Nicht nur, dass sich Heinrichs Gegen-königtum („Pfaffenkönig“) gegen denStaufer Friedrich II. in keiner Weisedurchsetzen konnte, schon 1247 erloschmit seinem Tode das Ludowingerge-schlecht im Mannesstamm. Ein blutigerErbfolgekrieg endete 1264 mit der Tei-lung der Landgrafschaft in eine hessi-sche und thüringische Hälfte. Die thü-ringische Landgrafschaft fiel an dieMarkgrafen von Meißen aus dem Ge-schlecht der Wettiner.

Die Wettiner herrschten im Spät-mittelalter über einen mächti-gen, teils weit über das heutige

Sachsen, Thüringen und südliche Sach-sen-Anhalt hinausreichenden Länder-komplex. 1423 wurden sie durch dieBelehnung mit dem Herzogtum Sach-sen (Wittenberg) in den Kurfürsten-stand erhoben. Auch in Thüringenkonnten sie ihre Besitzungen erweitern(Altenburg, Coburg, Weimar) und sichnach dem thüringischen Grafenkrieg1342– 46 als stärkste Kraft etablieren.Erbteilungen splitterten allerdings denwettinischen Gesamtbesitz immer wie-der auf, bis die „Leipziger Teilung“1485 unter den Brüdern Ernst und Alb-recht zur dauerhaften Aufspaltung ineine ernestinische (thüringische) und

albertinische (sächsische) Linie führte. Zunächst hatten die Ernestiner mit

Wittenberg auch die Kurfürsten-Würdeinne. Im Schmalkaldischen Krieg gingdiese nach der Niederlage gegen denKaiser und Herzog Moritz in derSchlacht bei Mühlberg 1547 jedoch andie Albertiner über. Diesen gelang hin-fort die Entwicklung des Kurfürsten-tums (ab 1806 Königreichs) Sachsen zueinem einheitlichen Territorialstaat mitder Hauptstadt Dresden. Ganz andersdie zunächst in Weimar residierendenernestinischen Herzöge: Beginnend mitder Erfurter Teilung 1572 splitterte sichihr Besitzstand in zeitweise bis zu zehnEinzelherrschaften auf (Eisenach, Je-na, Hildburghausen, Eisenberg, Saal-feld, Römhild). Nach einer letzten Um-

Thüringer Kleinstaatenwelt

Page 4: THÜRINGEN · meiergeschlecht der Karolinger, seit 751 Könige im Frankenreich, beschleu-nigte sich die im 6. Jh. einsetzende Christianisierung. Sie fand mit der Grün - ... begann

strukturierung im Jahre 1826 bestan-den bis 1918 die Herzogtümer Sachsen-Weimar-Eisenach (seit 1815 Großher-zogtum), Sachsen-Coburg und Gotha,Sachsen-Meiningen und Sachsen-Alten-burg.

Neben den Wettinern gelang es zweiweiteren Adelsgeschlechtern, sich dau-erhaft als Landesherren zu etablieren.Die seit dem 12. Jh. nachgewiesenenReußen in Ostthüringen wurden 1673in den Reichsgrafenstand und ab 1778in den Reichsfürstenstand erhoben. Siehatten ihre Ländereien phasenweisein zahlreiche Kleinstgebilde aufgeteilt(Schleiz, Lobenstein, Ebersdorf, Hirsch-berg, Saalburg, Burgk, Dölau, Rothen-thal). Die letzte Umgruppierung 1848ergab die Fürstentümer Reuß ältereLinie (Greiz) und Reuß jüngere Linie(Gera). Der Besitz der bis ins 8. Jh. zu-

rückgehenden und 1697 in den Reichs-fürstenstand erhobenen Schwarzbur-ger, benannt nach ihrem Stammsitz imThüringer Wald, unterteilte sich seit1599 in die Linien Schwarzburg-Son-dershausen und Schwarzburg-Rudol-stadt. Weitere Zersplitterungen bliebenaus, nur im 17. Jh. kam es zur Bildungvon Nebenlinien (Arnstadt, Ebeleben).Graf Günther von Schwarzburg gelang-te neben dem Ludowinger HeinrichRaspe als einziger Thüringer zu freilichebenso kurzen wie folgenlosen Königs-würden (1349).

Der Großteil Thüringens wurde alsoüber Jahrhunderte von drei Herrscher-häusern geprägt. Hinzu kamen jedochweitere Bestandteile: die ReichsstädteMühlhausen und Nordhausen, die hes-sische Herrschaft Schmalkalden, dieLändereien des Kurfürsten von Mainz

Aus Hans Herz, Thüringen: Zwölf Karten zur Geschichte 1485 – 1995, Erfurt 2003.

Page 5: THÜRINGEN · meiergeschlecht der Karolinger, seit 751 Könige im Frankenreich, beschleu-nigte sich die im 6. Jh. einsetzende Christianisierung. Sie fand mit der Grün - ... begann

(Erfurt, Eichsfeld) sowie albertinischeGebiete zwischen Langensalza undNaumburg, um Suhl, Schleusingen undZiegenrück. Der alte thüringische Zen-tralort Erfurt ragte als eine der größtendeutschen Städte des Mittelalters, alsHandels- und Kulturmetropole deutlichheraus. Erfurt hatte seit der Mitte des13. Jh. reichsstadtähnliche Autonomieerlangt und bildete mit seinem Landge-biet auch einen Machtfaktor. Nach derUnterwerfung durch den Landesherren1664 blieb es Sitz eines kurmainzischenStatthalters. Genannt seien noch diemächtigen Grafen von Henneberg inSüdwestthüringen, die jedoch 1583 aus-starben und deren Besitzungen an dieWettiner übergingen.

Während sich die Kleinstaaten selbstüber alle Flurbereinigungen zwischenFranzösischer Revolution und WienerKongress 1789 –1815 hinüberrettenkonnten, gingen Teile der übrigenGebiete (Erfurt, Eichsfeld, Nordhausen,Mühlhausen) 1802 im Königreich Preu-ßen auf. Nach dessen Niederlage gegenNapoleon bei Jena und Auerstedt imOktober 1806 und der französischenBesatzungszeit bis 1813/14 wurden sieeinschließlich der kursächsischen Ge-biete endgültig Preußen zugeschlagen.Thüringen war nunmehr zweigeteilt ineinen kleinstaatlichen und preußischen

Bereich, dessen Kern der 1816 gebil-de-te Regierungsbezirk Erfurt in derProvinz Sachsen bildete. Zum „preußi-schen Thüringen“ zählten aber auchder Kreis Schmalkalden (Provinz Hes-sen-Nassau, seit 1866) sowie nach zeit-genössischem Verständnis Teile des Re-gierungsbezirkes Merseburg (Sanger-hausen, Eckartsberga, Querfurt, Wei-ßenfels, Naumburg und Zeitz).

An diesen Verhältnissen änderte dieGründung des Deutschen Kaiserreiches1871 nichts. Der neue föderale Natio-nalstaat vereinte 22 Monarchien, dreiHansestädte und das Reichsland Elsass-Lothringen, wobei sich im thüringi-schen Raum nunmehr fast ein Drittelaller souveränen Fürsten (Bismarcks„Zaunkönige“) drängte. Die deutscheHegemonialmacht Preußen gewann inThüringen eine immer stärkere Stel-lung; von ihr gingen wichtige ökonomi-sche Impulse aus, sie übernahm dasEisenbahnnetz, trieb die Modernisierungvon Recht, Verwaltung und Bildung vo-ran und besaß in fast allen KleinstaatenGarnisonen. Trotz teilweiser politischerRückschrittlichkeit führte dies zusam-men mit dem Nimbus der Reichseini-gungsmacht zur Entstehung eines preu-ßischen Landespatriotismus in den ent-sprechenden Gebieten.

Kulturland Thüringen

Die historische Bedeutung Thü-ringens liegt v.a. im kulturellenBereich. Als Kernland der 1517

mit dem legendären Wittenberger The-senanschlag einsetzenden Reformationist es eng mit Martin Luther verbunden.Luther besuchte 1501-05 die seinerzeit

führende Universität Erfurt, mit ihremGründungsprivileg von 1379 die ältesteim heutigen Deutschland, und lebte biszu seiner Übersiedlung nach Wittenb-erg 1511 als Mönch im dortigen Au-gustinerkloster. Kurfürst Friedrich derWeise (1486 –1525) wurde zum Schutz-

Page 6: THÜRINGEN · meiergeschlecht der Karolinger, seit 751 Könige im Frankenreich, beschleu-nigte sich die im 6. Jh. einsetzende Christianisierung. Sie fand mit der Grün - ... begann

herrn Luthers und ließ ihn 1521/22 aufder Wartburg in Sicherheit bringen, woder Reformator das Neue Testament insDeutsche übersetzte. Friedrichs NeffeJohann Friedrich („Hanfried“) gründete1548 als Ersatz für die 1547 an dieAlbertiner verlorene Wittenberger Uni-versität (1502) die „Hohe Schule“ (1558Universität) in Jena, die sich zur pro-testantischen Landesuniversität entwi-ckelte.

Die weitverzweigte Bach-Familie hatihre Heimat ebenfalls in Thüringen. Jo-hann Sebastian Bach wurde 1685 in Ei-senach geboren und bekam in Arnstadt,Mühlhausen und Weimar erste Anstel-lungen. Eine Reihe weiterer Namenvom Mystiker Meister Eckhart und Tho-mas Müntzer, Führer des Bauernkriegsin Thüringen (1525), über Lucas Cra-nach und Heinrich Schütz bis hin zuErnst Haeckel, Carl Zeiss, Ernst Abbe,Ernst Barlach, Friedrich Nietzsche,Henry van de Velde oder Walter Gropiuswären zu nennen.

Das Bild der Kulturlandschaft Thürin-gen wird freilich am stärksten von der„Weimarer Klassik“ bzw. „Goethezeit“(1775–1832) geprägt, dem „GoldenenZeitalter“ in Sachsen-Weimar-Eisenach.Der „Musenhof“ von Herzogin AnnaAmalia und die Regentschaft ihres Soh-nes Carl August (1775–1828) hattenzahlreiche Geistesgrößen der Zeit ins„Ilmathen“ geführt: neben dem „Dich-terfürsten“ Johann Wolfgang Goetheu. a. Christoph Martin Wieland, JohannGottfried Herder und Friedrich Schiller.Parallel hierzu bildete die UniversitätJena, an der Schiller 1789–93 als Pro-fessor wirkte, ein Zentrum der idealisti-schen Philosophie (Fichte, Schelling,Hegel) und der Frühromantik (Schlegel,Tieck, Brentano, Novalis).

Sachsen-Weimar erlebte später ein„Silbernes Zeitalter“ unter Großherzog

Carl Alexander (1853 –1901) mit demWirken Franz Liszts, der Pflege des„klassischen Erbes“ sowie dem Wieder-aufbau der Wartburg. Die Herrscheranderer Kleinstaaten waren ebenfallsbestrebt, sich kulturell zu profilieren;in Gotha hatte Herzog Ernst der From-me (1640–1675) einen absolutistischenMusterstaat zu schaffen versucht, inMeiningen der „Theaterherzog“ GeorgII. (1866–1914) deutsche Theaterge-schichte geschrieben.

Aber auch der Weg in die Modernedes 19. Jh. bezog wichtige Impulse ausThüringen. Die liberale Nationalbewe-gung fand hier ein günstiges Klima;Sachsen-Weimars konstitutionelle Ver-fassung aus dem Jahre 1816 etwa gehör-te zu den ersten ihrer Art. Das Wartburg-fest 1817, die Gründung der DeutschenBurschenschaft in Jena 1818 und dieVorbereitung des Nationalvereins in Ei-senach 1859 unterstreichen dies. Er-wähnt sei weiter der liberale HerzogErnst II. von Sachsen-Coburg und Go-tha (1844 –1893), wobei es freilich auchkonservative Herrscher gab und um dieJahrhundertwende eine generelle Um-orientierung nicht zu übersehen ist.

Die Industrialisierung seit Mitte des19. Jh. trug vielgestaltige und innovati-ve Züge. Besonders die Universitäts-stadt Jena entwickelte sich zu einemMusterbeispiel wissenschaftlich-techni-schen Fortschritts (Zeiss, Schott). Alsaufstrebende Industrieregion bildeteThüringen zugleich für die Arbeiterbe-wegung ein frühes Zentrum, in demwegweisende Parteitage stattfanden:1869 Gründung der Sozialdemokratieunter August Bebel und Wilhelm Lieb-knecht in Eisenach, 1875 Vereinigungmit dem Lassalleschen ADAV in Gothaund 1891 der Erfurter Programmpar-teitag, auf dem der Name SPD ange-nommen wurde.

Page 7: THÜRINGEN · meiergeschlecht der Karolinger, seit 751 Könige im Frankenreich, beschleu-nigte sich die im 6. Jh. einsetzende Christianisierung. Sie fand mit der Grün - ... begann

Der Weg zum Freistaat Thüringen

Die Bestrebungen nach einer Ver-einheitlichung Thüringens rei-chen lange zurück. Deutlich grei-

fen lassen sie sich schon während derRevolution von 1848/49. Zu Beginn des20. Jahrhunderts wurden die Rufe im-mer lauter. Insbesondere die Schrift desMeininger Sozialdemokraten Arthur Hof-mann „Thüringer Kleinstaatenjammer“(1906) entfachte eine heftige Diskus-sion. Es waren schließlich der ErsteWeltkrieg 1914/18 und das Ende derMonarchien in der Novemberrevolution1918, die den Prozess entscheidend vo-ran brachten. Die nach dem Zusammen-schluss der beiden Reuß (1919) noch sie-ben Kleinstaaten schlossen sich am 1.Mai 1920 zum Freistaat Thüringen mitder Hauptstadt Weimar zusammen; le-diglich Coburg blieb durch seinen An-schluss an Bayern fern. Allerdings ge-hörten diesem „Kleinthüringen“ diepreußischen Gebiete noch nicht an.

Lief der Prozess der Landesbildung1918/20 unter weitgehender Überein-stimmung der politischen Lager ab, wardies bei der inneren Ausgestaltung ganzanders. Die erste Regierung aus SPDund linksliberalen Demokraten (1920/21), auf gesellschaftlichen Ausgleichsetzend, scheiterte rasch. Ein sich imKapp-Putsch vom März 1920 blutig zu-spitzender Bürgerkrieg schuf zwischensozialistischer Arbeiterschaft und bür-gerlich-konservativen Bevölkerungs-schichten kaum zu überwindende Grä-ben. Folge war eine ausgeprägte Lager-bildung im Landtag, die die radikalenFlügelparteien begünstigte. Zunächstblieb die 1921–23 amtierende sozialde-mokratische Regierung August Frölichvon den Kommunisten abhängig, was

in der gemeinsamen „Volksfrontregie-rung“ vom Herbst 1923 gipfelte. Sie bil-dete den Höhepunkt des umstrittenen„roten Thüringens“, das zum Zentrumvon Reformbemühungen („GreilscheSchulreform“) und moderner Kultur(Bauhaus Weimar 1919 –24) wurde. Un-ter den bürgerlich-konservativen Regie-rungen 1924–29 erfolgte die Rückgän-gigmachung der meisten Reformen.Nun waren es die Völkischen bzw. dieNSDAP, die als „Zünglein an der Waage“im Landtag Einfluss auf die Landespo-litik gewannen. Thüringen wurde so zueiner frühen Hochburg des Nationalso-zialismus.

Diese Entwicklung gipfelte 1930/31 inder Regierungsbeteiligung der NSDAP –der ersten in einem Land der Weima-rer Republik. Unter Innen- und Volksbi-ldungsminister Wilhelm Frick konntendie Nationalsozialisten im „Probelauffür die Machtergreifung“ wichtige Er-fahrungen sammeln. Im August 1932kam es sogar zur „vorgezogenen Macht-ergreifung“, als die NSDAP unter ihremGauleiter Fritz Sauckel die Regierungs-gewalt übernahm. Nach der „Machter-greifung“ Hitlers 1933 gelang es Sau-ckel, Thüringen zum „Mustergau“ imDritten Reich zu profilieren. Weimarwurde im pompösen NS-Stil zur Gau-Machtzentrale ausgebaut und in seinerNachbarschaft das KonzentrationslagerBuchenwald (1937–1945) errichtet, indem über 50.000 Menschen den Todfanden. Zugleich konnte Sauckel seineMacht zunehmend auf ganz Thüringenausdehnen. 1944 wurden ihm die Be-fugnisse eines Oberpräsidenten für denRegierungsbezirk Erfurt übertragen.

Page 8: THÜRINGEN · meiergeschlecht der Karolinger, seit 751 Könige im Frankenreich, beschleu-nigte sich die im 6. Jh. einsetzende Christianisierung. Sie fand mit der Grün - ... begann

Herausgeber: Landeszentrale für politische Bildung

THÜRINGENRegierungsstraße 73, 99084 Erfurt

www.lzt.thueringen.deAutor: Dr. Steffen Raßloff

2. überarbeitete Auflage 2011 (40)

Literatur:

Steffen Raßloff: Geschichte Thüringens (C.H.Beck-Wissen 2616). München 2010.

Reinhard Jonscher/Willy Schilling: Kleine thüringi-sche Geschichte. Jena 42005.

Erst mit dem Ende des Zweiten Welt-krieges 1945 kam es zur Bildung einesLandes Thüringen einschließlich derehemals preußischen Gebiete, das terri-torial weitgehend dem heutigen ent-sprach. Nach kurzer amerikanischerBesatzung gehörte es gemäß alliierterVereinbarungen seit Juli 1945 zur Sow-jetischen Besatzungszone bzw. zur 1949gegründeten DDR. Mit der Einführungdes „demokratischen Zentralismus“ wur-de es jedoch schon 1952 in die BezirkeErfurt, Gera und Suhl aufgeteilt. Derrigide „Aufbau des Sozialismus“, nurkurz gebremst durch den Volksaufstandvom 17. Juni 1953 mit Schwerpunkt inOstthüringen (Jena, Gera, Wismut-Re-gion), führte zur Umgestaltung nahezualler Bereiche von Staat, Gesellschaftund Wirtschaft. Nach dem Mauerbau1961 entwickelte sich Thüringen zu ei-nem Zentrum der DDR-Hochtechnologie(Carl Zeiss Jena, Mikroelektronik Er-furt). Ende der 80er Jahre zeigte sichjedoch der Niedergang des „real existie-renden Sozialismus“ immer deutlicher.

Die friedliche Revolution und Wie-dervereinigung Deutschlands 1989/90brachten den endgültigen Zusammen-schluss Thüringens. Aus den drei Be-zirken zuzüglich der Kreise Altenburg,Schmölln und Artern entstand 1990 einBundesland von 16.171 km2 Fläche und2,7 Mio. Einwohnern, das unter den 16Ländern der Bundesrepublik an 11.bzw. 10. Stelle rangiert; seine Hauptstadtwurde Erfurt. Seit der Verabschiedungeiner Landesverfassung 1993 trägt es in

Anknüpfung an 1920 die Bezeichnung„Freistaat Thüringen“. Nach einer ers-ten Koalitionsregierung von CDU undFDP (1990 – 94), einer großen Koalitionvon CDU und SPD (1994–99) sowiezwei CDU-Alleinregierungen (1999 –2009) wird das Land seit 2009 erneutvon einer großen Koalition geführt (Mi-nisterpräsidenten: 1990 – 92 Josef Du-chac, 1992-2003 Bernhard Vogel, 2003–09 Dieter Althaus, seit 2009 ChristineLieberknecht).

Blieb es auch von den Problemen deswirtschaftlich-sozialen Umbruchs nichtverschont (Deindustrialisierung, Arbeits-losigkeit, Bevölkerungsrückgang), stehtThüringen heute doch in vielen Be-reichen unter den „neuen“ Ländern mitganz vorn. Die Kulturlandschaft vonWeltgeltung übt zusammen mit dennatürlichen Reizen des „Grünen HerzenDeutschlands“ eine hohe touristischeAnziehungskraft aus. Und Thüringenverfügt über eine tiefe Heimatverbun-denheit seiner Bewohner. Der Vielfaltder Staatsgebilde stand immer das Be-wusstsein einer übergeordneten Ein-heit gegenüber, die sich insbesondereauf die Landgrafschaft Thüringen beru-fen konnte. Das heutige Landeswappengreift diese historische „Einheit in derVielfalt“ symbolisch auf, indem es denrot-silber gestreiften ludowingischen„Thüringer Löwen“ auf blauem Grundmit acht silbernen Sternen umgibt, diefür die ehemaligen Kleinstaaten undpreußischen Gebiete stehen.

Steffen Raßloff

^