Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen · Leseprobe Professor Dr. Richard...

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Leseprobe Professor Dr. Richard David Precht Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen »Fazit: eine gute und gut lesbare Übersicht mit einer erfrischend realistischen Perspektive.« Philosophie Magazin Bestellen Sie mit einem Klick für 22,99 € Seiten: 512 Erscheinungstermin: 17. Oktober 2016 Mehr Informationen zum Buch gibt es auf www.penguinrandomhouse.de

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Leseprobe

Professor Dr Richard David

Precht

Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen

raquoFazit eine gute und gut lesbare Uumlbersicht mit einer erfrischend realistischen Perspektivelaquo Philosophie

Magazin

Bestellen Sie mit einem Klick fuumlr 2299 euro

Seiten 512

Erscheinungstermin 17 Oktober 2016

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Zum Buch Basierend auf dem 1997 erschienenen Titel bdquoNoahs Erbeldquo ndash von

den Lesern lange erwartet

Wie sollen wir mit Tieren umgehen Wir lieben und wir hassen wir

verzaumlrteln und wir essen sie Doch ist unser Umgang mit Tieren richtig

und moralisch vertretbar Richard David Precht untersucht mit Scharfsinn

Witz und Kenntnisreichtum quer durch alle Disziplinen die Strukturen

unserer Denkmodelle Ist der Mensch nicht auch ein Tier ndash und was trennt

ihn dann von anderen Tieren Welche Konsequenzen hat das fuumlr uns

Precht schlaumlgt einen groszligen Bogen von der Evolution und

Verhaltensforschung uumlber Religion und Philosophie bis zur Rechtsprechung

und zu unserem Verhalten im Alltag Duumlrfen wir Tiere jagen und essen sie

in Kaumlfige sperren und fuumlr Experimente benutzen Am Ende dieses

Streifzugs steht eine aufruumlttelnde Bilanz Ein Buch das uns dazu anregt

Tiere neu zu denken und unser Verhalten zu aumlndern

Autor

Professor Dr Richard David Precht Richard David Precht geboren 1964 ist Philosoph

Publizist und Autor und einer der profiliertesten

Intellektuellen im deutschsprachigen Raum Er ist

Honorarprofessor fuumlr Philosophie an der Leuphana

Universitaumlt Luumlneburg sowie Honorarprofessor fuumlr

Philosophie und Aumlsthetik an der Hochschule fuumlr

Richard David Precht

Tiere denkenVom Recht der Tiere

und den Grenzen des Menschen

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Richard David Precht

Tiere denkenVom Recht der Tiere

und den Grenzen des Menschen

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Fuumlr Paul und Ha gen El vi ra Ast erix amp Kriem hild die di cke Nol pa Frank-Wal ter amp An ge la

und all die an de ren die un ter mei nen un sach kun di gen Haumln den leb ten und

hof fent lich we nig ha ben lei den muumls sen Und na tuumlr lich fuumlr Ar tus

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 59783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 5 10082021 10493310082021 104933

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In halt

Vor wort 11

Ein lei tung 17

Das Men schen tierDie Ord nung der Schoumlp fung

Wie mensch lich ist die Evo lu ti on 29

Der Pri matWas ist ein Mensch 47

Der auf rech te AffeWas macht den Men schen zum Men schen 60

Sinn und Sinn lich keitWas trennt Mensch und Affe 78

Eins Kom ma sechs Pro zentSind Men schen af fen Men schen 96

Die Tuuml cke des Sub jektsUumlber die Schwierigkeit Tie re zu den ken 110

Das Tier im Auge des Men schenDie Tund ra des Ge wis sens

Wie die Re li gi on un se re Na bel schnur kapp te 127

raquoIch habe kein Tier miss han deltlaquoDas Tier im Al ten Aumlgyp ten 138

Hir ten und Herr scherDas Tier im al ten Ju den tum 153

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Das ver lo re ne Pa ra diesDas Tier in der An ti ke 168

raquoKuumlm mert sich Gott etwa um die Och senlaquoDas Tier in Chris ten tum und Is lam 182

Schein hei li ge KuumlheDas Tier bei Hin dus und Bud dhis ten 198

Die Den ker und das lie be ViehDas Tier im Ba rock und in der Auf klauml rung 213

raquoKoumln nen sie lei denlaquoDie Ruumlck kehr des Mit leids 228

Eine neue Tier ethikDas ei ser ne Tor

Wege zu ei ner modernen Tier ethik 249

Schutz oder RechtDie Ethik der Be frei ung 267

Eine art ge rech te Mo ralMen schen ndash Tie re ndash Ethik 280

Gut bes ser am bes tenDie Ethik des Nicht wis sens 296

Was tunLie ben ndash Has sen ndash Es sen

Un ser all taumlg li ches Cha os im Um gang mit Tie ren 313

Ein kur zer Text uumlber das Touml tenDas Tier und das Ge setz 326

Na tur schutz oder Lust mordDuumlr fen wir Tie re ja gen 343

Jen seits von Wurst und KaumlseDuumlr fen wir Tie re es sen 361

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Das Tier als Dum mySind Tier ver su che le gi tim 380

Al cat raz oder Psycho topVom Nut zen und Nach teil der Tier gaumlr ten fuumlr das Tier le ben 399

Das Zeit al ter der Ein sam keitDie Ethik der Be wah rung 416

Das un ver soumlhn li che Tri um vi ratTier schutz Tier recht und Ar ten schutz 432

Scho pen hau ers Trep peDie Prag ma tik des Nicht wis sens 450

An hangAn mer kun gen 465

Aus ge waumlhl te Li te ra tur 475

Dank 499

Per so nen re gis ter 501

Zitatnach weis 509

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Meer schwein chen be ka men Ko li ken die Ei dech sen leb ten nicht lan ge und die Fi sche haus ten in viel zu vie len Ar ten in ei nem viel zu klei nen Aqua ri um Mei ne Fas zi na ti on paar te sich mit ei-nem schlech ten Ge wis sen Sie um schlan gen ei nan der sehr eng und wa ren sel ten zu tren nen

Ich wur de kein Zoo di rek tor Der schlech te Bi o lo gie un ter richt in der Schu le zer stoumlr te mir mei nen Traum Viel leicht war es auch gut so Der fruuml he re Koumll ner Zoo di rek tor Gun ther No gge sag te zu mir raquoSei en Sie froh dass Sie es nicht ge wor den sindlaquo So er hielt ich mir mei ne Fas zi na ti on fuumlr Tie re aber auch mein schlech tes Ge wis sen

Bei des war noch wach als in der Mit te der Neun zi ger jah re der BSE-Skan dal und gleich da rauf das Klon schaf Dolly die Be-voumll ke rung auf schreck ten Ich schrieb ei nen Es say uumlber Tier ethik und ein Dos si er uumlber Zo o lo gi sche Gaumlr ten fuumlr Die Zeit die Poe sie des Her zens die nur das Bes te fuumlr alle Tie re woll te hier die Pro-sa der Ver haumllt nis se ei nes bar ba ri schen und prob le ma ti schen Um-gangs mit dem Tier in der Ge sell schaft dort

Im Feb ru ar 1997 ver schlug mich der Zu fall nach Braun-schweig zu ei nem Kon gress uumlber raquoTie re ndash Rech te ndash Ethiklaquo Fuumlr mich war es eine Art in tel lek tu el les Wood stock ei ner neu en Be-we gung Men schen aus dem gan zen Bun des ge biet wa ren an ge-reist und auch die Braun schwei ger Be voumll ke rung nahm sehr re-gen An teil Ich lern te Ma nu e la Lin ne mann ken nen die Ge hei me Rauml tin der Tier rechts be we gung die den Kon gress glaumln zend or ga-ni siert hat te Der Schrift stel ler Hans Woll schlauml ger pre dig te in der St-And re as-Kir che ful mi nan te Wor te uumlber den Pa ra dies gar ten und die ab truumln ni ge Mensch heit Der sym pa thi sche Schwei zer Phi lo soph Jean-Claude Wolf ge houmlr te be reits zu den ver sier te ren Den kern auf die sem Ge biet der Phi lo soph Mi cha el Haus kel ler eben so jung wie ich noch zu den Neu e ren Mit dem Bi o lo gen und Phi lo so phen Hans Wer ner In gen siep ei nem der span nends-ten Den ker die mir je be geg net sind und sei ner Le bens ge faumlhr-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 129783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 12 10082021 10493310082021 104933

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tin der Theo lo gin Hei ke Bar anzke ver bin det mich seit dem eine lan ge Freund schaft Auch die Front kaumlmp fer fehl ten nicht Die Tier rechts or ga ni sa ti on Ani mal Peace er leb te ge ra de ei nen Boom an Spen dern und der Tier recht ler Hel mut Kap lan be feu er te die Ak ti vis ten mit ra di ka len Schrif ten und kuumlh nen Spruuml chen

Die Ge dan ken die wir in Vor trauml gen und Ge sprauml chen ver kuumln-de ten dis ku tier ten und uumlber dach ten hat ten da mals noch et was sehr Neu es Zwar hat te der aust ra li sche Phi lo soph Pe ter Sin ger be reits 1975 sein be ruumlhm tes Buch uumlber Die Be frei ung der Tie re ge schrie ben Aber eine Tier rechts be we gung ent stand an ders als in Eng land und den USA in Deutsch land erst lang sam in den spauml ten Acht zi ger jah ren Nun in der Mit te der Neun zi ger jah re war das The ma end lich ge sell schaft lich re le vant ge wor den Koumln-nen wir un se ren all taumlg li chen Um gang mit Tie ren wei ter hin mo-ra lisch recht fer ti gen Die Mas sen me di en grif fen das The ma auf Der Jour na list Man fred Kar re mann dreh te Fil me uumlber Mas sen-tier hal tung Schlacht haumlu ser und Tier trans por te und brach te das Elend der Tie re da mit in die deut schen Wohn zim mer Die in zwi-schen ein ge stell te Zei tung Die Wo che nahm da ge gen den ra di-ka len Fluuml gel der Be we gung ins Vi sier Sie be rich te te uumlber an ge-saumlg te Hoch sit ze ein ge schla ge ne Schau fens ter von Metz ge rei en und warn te auf ei ner Dop pel sei te vor raquoTier schutz ter ro ris muslaquo

In die sem Kli ma er schien im Herbst 1997 mein Buch No ahs Erbe Sei ne Zu stim mung und Ab leh nung ver lief wie ich es mir er hofft hat te oft quer zu den etab lier ten Freund-Feind-Li ni en zwi schen Tier schuumlt zern Ar ten schuumlt zern und Tier recht lern Be-dau ert habe ich da bei ei gent lich nur jene Kri ti ken die mir von ei nem pa tho lo gi schen Men schen bild bis hin zu ei ner raquooumlko fa-schis ti schenlaquo Ge sin nung so ziem lich al les un ter stell ten wo von ich selbst in den fins ters ten Win keln mei nes Wir bel tier ge hirns nie mals ge traumlumt hat te

Seit dem ist viel und we nig ge sche hen Seit No vem ber 1999 er-freu en sich die Men schen af fen in Neu see land und wa ren es da-

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mals auch nur acht an der Zahl ei nes un an tast ba ren Rechts auf Le ben Der Tier schutz wur de 2002 als Staats ziel im deut schen Grund ge setz ver an kert Die gra vie rend ste Ver aumln de rung aber sind ohne Zwei fel die vie len Men schen die sich feisch los oder ve-gan er naumlh ren Das Wort raquove ganlaquo in den Neun zi gern noch et-was houmlchst Obs ku res das nur von we ni gen selt sam blut lee ren Bio-Vam pi ren be trie ben wur de ist heu te in al ler Mun de Ein vega nes Koch buch er reich te juumlngst eine Mil li o nen auf a ge Und na he zu je der kennt ei nen Vega ner oder haumlu fi ger eine Ve gan erin Nach ei ner Um fra ge des Al len sba cher Ins ti tuts aus dem Jahr 2015 gibt es in Deutsch land in zwi schen 78 Mil li o nen Ve ge ta-rier und 900 000 Vega ner1

In den west li chen In dust rie na ti o nen steigt die Sen si bi li taumlt im Um gang mit Tie ren un auf halt sam an ins be son de re bei jun gen Frau en Doch die se Hal tung hat zu gleich et was sehr Pri va tes Schoumln heit Fit ness Ge sund heit und Tier lie be sind meist auf ei-nen Nah ho ri zont be schraumlnkt Wa ren der Kampf fuumlr Tier rech te und die veg ane Er naumlh rung fruuml her fast un trenn bar mit ei nan der ver bun den ge we sen so hat sich das eine heu te vom an de ren ge-loumlst In West eu ro pa gibt es in zwi schen mehr Mas sen tier hal tung mehr Le ge bat te ri en und mehr in dust ri el les Tier elend als je zu-vor Gut ver steckt vor der Oumlf fent lich keit ar bei tet die se Ma schi-ne rie trotz ge le gent li chen Pro tes ten hef ti ger denn je Noch nie war die Kluft so groszlig die das was Men schen im Um gang mit Tie ren fuumlr rich tig hal ten und das was tat saumlch lich prak ti ziert wird von ei nan der trennt So lan ge wir un se re Er naumlh rung und un ser per soumln li ches Ver haumllt nis zu Tie ren als Pri vat sa che auf fas-sen so lan ge wird die mil li o nen fa che Grau sam keit ge gen Tie re wei ter hin ge sell schaft lich ak zep tiert

In die ser Lage stel len sich man che Fra gen die in No ahs Erbe be han delt wur den an ders und neu Auch vie le Zah len sind wie koumlnn te es auch an ders sein ver al tet In den Wis sen schaf ten wie der Pal aumlo anth ro po lo gie der Prim atolo gie und der Ver hal tens-1

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 149783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 14 10082021 10493310082021 104933

oumlko lo gie ist in den letz ten bei den Jahr zehn ten ei ni ges ge sche-hen das es zu be ruumlck sich ti gen gilt Die his to ri sche For schung uumlber das Ver haumllt nis von Mensch und Tier hat man ches Neue zu ta ge ge foumlr dert eben so in den Re li gi o nen wie in der Phi lo so-phie Die aka de mi sche De bat te uumlber eine an ge mes se ne raquoTier-ethiklaquo hat stark an Fahrt auf ge nom men Und nicht zu letzt hat mei ne ei ge ne Be schaumlf ti gung mit dem We sen und den Spiel re geln mo ra li schen Han delns zu man cher neu en Ein schaumlt zung und Be-wer tung ge fuumlhrt Man ches von dem was Men schen tun oder las sen er scheint mir mit uumlber fuumlnf zig in ei nem an de ren Licht als mit An fang drei szligig hellip

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Be lan ge re gelt eben so wie jene des Maul wurfs das Tier schutz-ge setz Maul wuumlr fe und Schim pan sen sind kei ne Rechts sub jek-te Man darf sie in enge Kauml fi ge ein pfer chen man darf sie mit Elektro schocks fol tern mit toumld li chen Kei men in fi zie ren sie am le ben di gen Leib ver aumlt zen sie ver stuumlm meln und ver gif ten

Das ver nuumlnf ti ge und sitt li che Le ben und das un ver nuumlnf ti ge rohe Le ben tei len die Welt in zwei Herr schafts be rei che Ei ner da von be sitzt ein mo ra li sches Sie gel Der an de re da ge gen ist ein na he zu un be schrie be nes Blatt Fast hun dert sech zig Jah re ist es her dass der bri ti sche Na tur for scher Charles Dar win den ge-mein sa men Ur sprung die fie szligen den Uumlber gaumln ge und zar ten Ver-aumls te lun gen al len Le bens be wies Doch Men schen gel ten we der all tags sprach lich noch recht lich als Tie re Eine alte Ge wohn heit trennt den Men schen von sei nen ani ma li schen Ver wand ten Es ge houmlrt zu den ei gen tuumlm li chen Fol gen der Dar win rsquoschen Wen de dass sie mit ei ni gen klei ne ren Kor rek tu ren das anth ro po zent ri-sche Welt bild un an ge tas tet lieszlig Kaum je mand duumlrf te sich als je-ner Tro cken na sen pri mat in der Ver wandt schaft von Men schen-af fen Meer kat zen und Pa vi a nen se hen als den uns die Zo o lo gie klas si fi ziert Statt des sen de fi nie ren wir uns als Men schen und ge-ben uns alle Muumlhe un se re ani ma li sche Na tur zu ver ges sen und zu ver ber gen

Das Band zu den an de ren Tie ren ha ben wir vor lan ger Zeit zer schnit ten Vor etwa 10 000 Jah ren hat der Mensch ge lernt die Roh stoff re ser ve raquoTierlaquo plan mauml szligig zu zuumlch ten Er haumllt sie von nun an in Form ei nes le ben den Ver sor gungs vor rats zum ei-ge nen Nut zen und From men In den An faumln gen der Tier zucht leg ten man che sess haft ge wor de nen Jauml ger ge stor be ne Hun de in da fuumlr vor ge se he ne Gru ben und be stat te ten so gar Mut ter Kind und Rin der ge mein sam Wel ten klaf fen zwi schen dem ani mis ti-schen Glau ben der ers ten Vieh zuumlch ter und der ma te ri a lis ti schen Mas sen tier hal tung der mo der nen Ge sell schaft Mit dem Ende der Kon kur renz schwand die Not wen dig keit sich mit dem Tier

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als ei nem Le be we sen aus ei nan der zu set zen Heu te nut zen wir die Res sour ce raquoTierlaquo voumll lig frag los fuumlr die An spruuml che des Men schen Das Ge mein sa me von Tier und Mensch trat in den Hin ter grund Zwar leb te das Tier noch im mer in der kul tu rel len Fan ta sie fort als ma gi sche oder fan tas ti sche Ge stalt als Freund Ge faumlhr te oder Be dro hung Doch die Be deu tung in der All tags welt er mat te te auf Schwund stu fen der Na tur wie Schoszlig hund Zier gup py Le ge hen-ne und Zir kus pferd Gren zen los uumlber le gen und un ab haumln gig ge-gen uumlber den Tie ren sei ner Um welt ent wi ckel te sich im mensch-li chen Be wusst sein ein voumll lig ent frem de tes Ver haumllt nis Nicht nur ra di ka le Aus nut zung und Sa dis mus auch falsch ver stan de ne Lie-be De na tu rie rung und un frei wil li ge Quauml le rei be stim men seit her den mensch li chen Um gang mit dem Tier

Bis ins fruuml he Mit tel al ter uumlber wog die Zahl der wil den Tie re die An zahl der Nutz- und Haus tie re die der Mensch in sei nen Dienst ge stellt hat te Doch spauml tes tens mit dem Sie ges zug des Ka pi ta lis mus in West eu ro pa und Nord a me ri ka ver schwan den die Res te der Ehr furcht in die Maumlr chen buuml cher und Zir kus dar-bie tun gen Mo der ne Agrar un ter neh men In dust rie met ro po len Au to bah nen und Hoch span nungs mas ten bil den das Or na ment un se rer Um welt die wir seit meh re ren hun dert Jah ren raquoLand-schaftlaquo nen nen Nir gend wo in der All tags welt ei nes Men schen der west li chen Zi vi li sa ti on be geg net uns das Tier noch als Kon-kur rent nicht bei der Er naumlh rung nicht im Kampf um den Le-bens raum und nicht als Fress feind des sen Zaumlh ne und Klau en ernst haft Furcht er re gen koumlnn ten Das ein zig Be droh li che das heu te bleibt sind aus ge rech net ein paar klei ne Tie re etwa Rat-ten und Maumlu se die letz ten ge faumlhr li chen Fress kon kur ren ten des Men schen Dazu kom men In sek ten Mik ro ben und Vi ren

Das Band zwi schen uns und den an de ren Tie ren wuchs auch nicht da durch wie der zu sam men dass wir die Tie re uumlber die Wis-sen schaft als Ver wand te wie der ent deck ten Seit mehr als zwei-tau send Jah ren sieht sich der Mensch als le gi ti mer Herr scher

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 199783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 19 10082021 10493310082021 104933

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uumlber eine be herrsch ba re Um welt dazu ge schaf fen sie zu nut zen und aus zu beu ten Un se re Evo lu ti on hat sich da bei ra sant be-schleu nigt Laumlngst fin det sie kaum noch in un se rem Koumlr per statt son dern vor al lem in un se rer Tech nik und Kul tur Und schon lan ge dient sie nicht mehr dazu sich der Na tur an zu pas sen Sie dient ei ner im mer wie der neu ge schaf fe nen mensch li chen Kul-tur An pas sung be deu tet heu te sich an den ei ge nen Fort schritt an zu pas sen mit all den be kann ten Fol gen fuumlr un se re Um welt Dra ma ti sche Kli ma wech sel die Zer stouml rung der schuumlt zen den Ozon schicht die Ver step pung wei ter Land stri che auf al len Suumld-kon ti nen ten und die Ver gif tung der Mee re ver nich ten nicht nur die nicht mensch li che Tier welt sie be tref fen mehr und mehr den Men schen selbst

In atem be rau ben dem Tem po be schleu nig te das in dust ri a li sier-te 20 Jahr hun dert die Be herr schung und Aus beu tung der Na-tur und mit ihr die der Tie re Schon in den ver gan ge nen Jahr-tau sen den hat te Homo sap iens den ge sam ten Pla ne ten in Be sitz ge nom men Kein grouml szlige res Wir bel tier be sitzt ein sol ches Ver brei-tungs ge biet be wohnt Wuumls ten Re gen waumll der und Po lar re gi o nen glei cher ma szligen Und kein grouml szlige res Wir bel tier hat sich zu Mil li ar-den ver mehrt Ruumlck sichts lo se Pluumln de rung der Roh stof fe und ein un ge heu res Be voumll ke rungs wachs tum der Spe zi es Homo sap iens schaf fen ei nen erd ge schicht li chen Aus nah me zu stand

Der Mensch be herrscht heu te den Pla ne ten aber of fen sicht-lich nicht sich selbst Es koumlnn te da ran lie gen dass es raquoden Men-schenlaquo gar nicht gibt Statt des sen gibt es mehr als sie ben Mil li-ar den un ter schied li che In di vi du en Und nie mand da von ist fuumlr die Mensch heit zu staumln dig Sie ist eine Ge mein de der an zu ge houml-ren nicht dazu ver pfich tet sich um das Gan ze zu sor gen und zu kuumlm mern

Zu herr schen be deu tet Ord nun gen zu etab lie ren und Re geln da fuumlr auf zu stel len was wich tig ist und un wich tig rich tig oder falsch Jahr hun der te lang sah die Mo ral der abend laumln di schen

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 209783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 20 10082021 10493410082021 104934

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Zivi li sa ti on in der Aus rot tung der Wild tie re und Aus beu tung der Nutz tie re na he zu kein Pro blem Eine kla re Grenz zie hung er-laub te je den Um gang mit dem Tier von der Lie be bis zur Fol ter von der Zucht bis zur Touml tung Das Ar gu ment war schlicht Der Mensch ist eine Son der an fer ti gung Got tes und mit dem Tier ge-ra de mal durch den lo sen Fa den der goumltt li chen Schoumlp fung stat ver bun den So kam in den Wor ten des deutsch-fran zouml si schen The o lo gen und Arz tes Al bert Schweit zer raquodie An sicht auf dass es wert lo ses Le ben gaumlbe des sen Schauml di gung und Ver nich tung nichts auf sich habe Un ter wert lo sem Le ben wer den dann je nach den Um staumln den Ar ten von In sek ten oder pri mi ti ve Voumll ker ver stan denlaquo2 (Eine Kli en tel die sich uumlber dies noch um Frau en er wei tern lie szlige)

Die se Gren ze wur de und wird in der abend laumln di schen Kul-tur ge schich te va ri an ten reich ver tei digt Doch je ge nau er wir sie be trach ten umso selt sa mer er scheint sie uns Denn sie laumlsst sich im mer schlech ter be gruumln den und zwar so wohl phi lo so phisch als auch bi o lo gisch Seit etwa vier zig Jah ren be steht in der Ge-sell schaft eine De bat te die un se ren Um gang mit Tie ren grund-saumltz lich in fra ge stellt Tier e thi ker wie Pe ter Sin ger und sein US-ame ri ka ni scher Phi lo so phen kol le ge Tom Re gan for dern Rech te auch fuumlr Tie re Der Aus schluss der Tie re aus der Ethik sei ein mo ra li scher Skan dal Das Tier heu te mo ra lisch drau szligen vor der Tuumlr zu las sen sei das Erbe ei nes re li gi ouml sen Aber glau bens Da der Mensch kei ne Son der an fer ti gung Got tes sei son dern ein in tel-li gen tes Tier muumlss ten wir die Reich wei te der Mo ral eben so auf die raquoan de ren Tie relaquo aus deh nen Ha ben wir nicht nach und nach ge lernt die Skla ve rei zu aumlch ten und Frau en als gleich be rech tig-te Men schen zu ach ten Und ist es nun nicht an der Zeit neu uumlber Tie re nach zu den ken und sie mo ra lisch an ge mes sen zu be-ur tei len

Doch wie koumlnn te ein sol cher an ge mes se ner Um gang mit den an de ren Tie ren aus se hen Den Men schen als ein Tier un ter an-2

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de ren an zu se hen koumlnn te ja auch be deu ten ihn ab zu wer ten statt die Tie re mo ra lisch erns ter zu neh men Das Un heil des So zi-al dar wi nis mus und der bar ba ri schen Ras sen the o rie ste ht uns mah nend vor Au gen Und was ist uumlber haupt das Kri te ri um da-fuumlr Tie re mo ra lisch zu ach ten Ist es ihre Lei dens fauml hig keit ihr Le bens wil le oder ihre In tel li genz Ha ben klu ge Tie re ein houml he-res Le bens recht als duumlm me re Das Ver haumllt nis des Men schen zu den an de ren Tie ren neu zu be wer ten ist eine gro szlige und schwie-ri ge Auf ga be

Ich moumlch te in die sem Buch ver su chen die se Fra gen neu zu stel len und zu durch den ken Da bei be trach te ich den Men schen als ein be son de res Tier un ter vie len auf an de re Wei se be son de ren Tie ren Ich moumlch te mich nicht da rauf fest le gen den Men schen all ge mein uumlber be stimm te Ei gen schaf ten zu de fi nie ren die ihn ethisch wert voll ma chen sol len Ich moumlch te ihm aber auch nicht im Um kehr schluss alle ge mein hin als raquomensch lichlaquo be zeich ne ten Ei gen schaf ten ab spre chen weil nicht alle Men schen Trauml ger all die ser Ei gen schaf ten sind Viel leicht ist be reits das Su chen nach sol chen ex klu si ven Ei gen schaf ten der fal sche Weg Der Denk-feh ler koumlnn te be reits da rin lie gen ei gen staumln di ge Dis zip li nen wie raquoAnth ro po lo gielaquo oder raquoMo ral phi lo so phielaquo be trei ben zu wol len die eine sol che enge De fi ni ti on des Men schen vo raus set zen Waumlre es nicht bes ser die Enge des Be griffs zu spren gen Statt Anth-ro po lo gie zu be trei ben soll te man sich lie ber mit ei ner Anthroshyzo o lo gie be schaumlf ti gen ndash eine Leh re vom Men schen tier und den an de ren Tie ren

Der Be griff ist neu er wur de erst vor we ni gen Jah ren un ter an de rem von dem US-ame ri ka ni schen Psy cho lo gen Hal Her zog ein ge fuumlhrt3 Die neue Dis zip lin der Hu manshyAni mal Stu dies kon-zent riert sich weit rei chend da rauf was Men schen und an de re Tie re ver bin det Da bei ver wen de ich den Be griff raquoAn thro zo o-lo gielaquo al ler dings et was an ders als Her zog und die Ver tre ter der Hu man-Ani mal Stu dies Es ist ein et was ein touml ni ger Sport al les 3

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 229783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 22 10082021 10493410082021 104934

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was ge mein hin als raquomensch lichlaquo be trach tet wird als My thos zu ent zau bern Ich moumlch te es lie ber an ders ein bet ten und be wer ten Denn ich mei ne dass die Ver tre ter der Hu man-Ani mal Stu dies ihre De fi ni ti on des Men schen als ein Tier un ter Tie ren nicht ganz zu Ende den ken Denn waumlre der Mensch durch nichts Mensch-li ches grund saumltz lich vom Tier un ter schie den wie sie an neh men so lieszlige sich auch nicht ein for dern dass Men schen sich aus vershynuumlnf ti ger Ein sicht an ge mes sen ge gen uumlber Tie ren ver hal ten sol len

Um mensch li ches Han deln zu ver ste hen muumls sen wir ver ste-hen in wel chem Rah men Men schen die Welt se hen sich ori en-tie ren und han deln Die bei den ers ten Tei le des Bu ches skiz zie-ren die sen bi o lo gi schen und den kul tu rel len Rah men In ih nen moumlch te ich zei gen auf wel che Art und Wei se Men schen sich un-ter Tie ren ver hiel ten und ver hal ten Da bei be schaumlf tigt sich der ers te Teil mit der Fra ge was fuumlr ein spe zi el les Tier der Mensch ei gent lich ist Wie ist sei ne Rol le in der Evo lu ti on Und nach wel chen Denk mus tern ha ben Men schen die se Chro nik un se rer selbst seit der An ti ke ge schrie ben (Die Ord nung der Schoumlpshyfung) Wel che Stel lung hat sich Homo sap iens in der Na tur da-durch ge si chert dass er sie sich zu schrieb (Der Pri mat)

In je der mensch li chen Wis sen schaft vom Le ben be steht bis heu te still schwei gend oder laut hals ver kuumln det zwi schen Mensch und Tier eine Gren ze Doch weiszlig we der die E vo lu ti ons bi o lo-gie noch die Pal aumlo anth ro po lo gie mit Ge wiss heit zu sa gen an wel chem Punkt sich nur ani ma li sches von mensch li chem Le ben schei det Was ha ben Pal aumlo anth ro po lo gen in den letz ten hun dert Jah ren da ruuml ber ge glaubt Und was den ken sie heu te (Der aufshyrech te Affe) Da bei wer den wir se hen dass es mit der Gren ze zwi schen dem Men schen und den an de ren Tie ren eine aumlu szligerst komp li zier te Sa che ist Seit Jahr zehn ten mes sen und ver glei chen Ver hal tens for scher die kog ni ti ven Leis tun gen von Tie ren mit je-nen des Men schen mit dem uumlber ra schen den Er geb nis dass Tie re in na he zu al len raquowich ti genlaquo Punk ten un ter le gen sind bei Kul tur-

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leis tun gen wie Werk zeug ge brauch und Re li gi on eben so wie beim Er werb der mensch li chen Spra che Doch ha ben wir bei sol chen Mes sun gen tat saumlch lich den rich ti gen den fai ren Maszlig stab Ist es sinn voll die In tel li genz von Men schen af fen mit uns zu ver glei-chen (Sinn und Sinn lich keit)

Die Mo le ku lar ge ne tik zeigt uns dass Men schen bi o lo gisch Schim pan sen sind Wel che Kon se quen zen zie hen wir da raus (Eins Kom ma sechs Pro zent) Nach dem wir den Men schen auf die se Wei se bi o lo gisch ein ge kreist ha ben wer fen wir noch ei nen Blick da rauf wie ob jek tiv un ser Wis sen vom Men schen und den an de ren Tie ren ist Was koumln nen wir uumlber haupt uumlber das Be wusst-sein an de rer Tie re wis sen Stellt es nicht eine so gro szlige Bar ri e re dar dass wir zu ge ben muumls sen nichts De fi ni ti ves sa gen zu koumln-nen (Die Tuuml cke des Sub jekts)

Im zwei ten Teil wer fe ich ei nen Blick in die Kul tur ge schich te des Mensch-Tier-Ver haumllt nis ses Was ha ben Men schen zu wel cher Zeit uumlber Tie re ge dacht und wa rum Wie hat man sie be han delt Und wel che Sen si bi li taumlt oder Kaumll te setz te sich wa rum durch Was wis sen wir da ruuml ber aus der Jung stein zeit (Die Tund ra des Ge wis sens) Was glaub ten und dach ten die al ten Aumlgyp ter (raquoIch habe kein Tier miss han deltlaquo) Und wa rum ent zau ber te das alte Ju den tum die Tie re (Hir ten und Herr scher)

In der abend laumln di schen Phi lo so phie gibt es seit der An ti ke sehr un ter schied li che Deu tun gen von Tie ren Mal se hen die Den ker eine gro szlige spi ri tu el le oder na tur ge schicht li che Naumlhe mal er he-ben sie den Menschen qua sei ner Ver nunft zum un ein ge schraumlnk-ten Wel ten herr scher (Das ver lo re ne Pa ra dies) In der christ li chen Re li gi on da ge gen wer den Men schen und Tie re deut lich von ei-nan der ge schie den eine Son der an fer ti gung hier eine Drein ga-be dort Das Chris ten tum ent fernt die tier freund li chen Mo men-te der juuml di schen Re li gi on aus den Glau bens leh ren (raquoKuumlm mert sich Gott etwa um die Och senlaquo) An ders ver laumluft der Weg in In di en Chi na und Suumld ost a si en Das Welt bild und die Tier ethik

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von Hin dus und Bud dhis ten un ter schei den sich von der un se-ren (Schein hei li ge Kuumlhe) Im Abend land da ge gen do mi niert in der Nach fol ge des fran zouml si schen Phi lo so phen Reneacute Des car tes eine raquora ti o na lis ti schelaquo kal te Pers pek ti ve auf das Tier Tie re weil sie nicht ver nunft fauml hig sei en wer den kaum noch als Le be we sen wahr ge nom men ndash eine Po si ti on die im 18 Jahr hun dert al ler-dings ziem lich kont ro vers dis ku tiert wird (Die Den ker und das lie be Vieh) Nach und nach ent ste hen im spauml ten 18 Jahr hun dert eine neue Mit leids ethik und so gar ers te For de run gen nach Rech-ten fuumlr Tie re (raquoKoumln nen sie lei denlaquo)

Im drit ten Teil moumlch te ich eine ei ge ne ethi sche Hal tung ent-wi ckeln Zu naumlchst wer den The o ri en von Phi lo so phen des 20 Jahr hun derts vor ge stellt die wie Al bert Schweit zer raquoEhr furcht vor dem Le benlaquo ver lan gen oder Tie ren ei nen ho hen mo ra li schen Sta tus zu spre chen wie Pe ter Sin ger und Tom Re gan (Das ei sershyne Tor) Die se Po si ti o nen zwin gen dazu grund saumltz li cher da ruuml-ber nach zu den ken was das raquoTier rechtlaquo vom raquoTier schutzlaquo un-ter schei den soll (Schutz oder Recht) An schlie szligend moumlch te ich die Schwach stel len der gaumln gi gen Tier rechts phi lo so phi en he raus-ar bei ten und zei gen wa rum ich sie we der dem Men schen fuumlr an-ge mes sen hal te noch fuumlr all ge mein prak ti ka bel (Eine art ge rech te Mo ral) Da ran schlie szligen sich mei ne Uumlber le gun gen an was ein an ge mes se ner Um gang mit Tie ren sein koumlnn te (Gut besser am besten)

Sol cher ma szligen ge ruumls tet koumln nen wir uns im vier ten Teil mit den vie len Prob le men be fas sen die sich im All tag stel len Das ers te die ser Ka pi tel bi lan ziert das all taumlg li che Cha os im Um gang mit Tie ren (Lie ben ndash Has sen ndash Es sen) Da nach wen den wir den Blick auf die recht li che Si tu a ti on und un ter zie hen die Lo gik un-se res Tier schutz ge set zes ei ner ge nau e ren Pruuml fung (Ein kur zer Text uumlber das Touml ten) Das naumlchs te Ka pi tel gilt der Jagd Ist Ja gen art ty pi sches Ver hal ten des Men schen oder eine staat lich le gi ti-mier te Per ver si on (Na tur schutz oder Lust mord) Und wie sieht

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es mit un se rer Er naumlh rung aus Wel che Ar gu men te spre chen da-fuumlr dass Men schen in un se ren heu ti gen west li chen Ge sell schaf-ten noch Tie re touml ten duumlr fen um sich von ih nen zu er naumlh ren Und wel che Ar gu men te spre chen da ge gen Viel leicht gibt es so gar schon in Kuumlr ze ei nen Aus weg der uns end lich hilft die Mas sen-tier hal tung zu be sei ti gen (Jen seits von Wurst und Kaumlse) Eben so stellt sich die Fra ge un ter wel chen Um staumln den Tier ver su che zu-kuumlnf tig er laubt sein soll ten und un ter wel chen nicht (Das Tier als Dum my) Ist es mo ra lisch ver tret bar Tie re in Zo o lo gi schen Gaumlr ten zu hal ten Und wenn ja wel che und wel che nicht (Alshycat raz oder Psycho top) Zoos ver ste hen sich heu te als raquoNa tur-schutz zent renlaquo die Tie re er hal ten die in ih ren Hei mat laumln dern vom Aus ster ben be droht sind Wie ist dies zu be wer ten (Das Zeit al ter der Ein sam keit) Da bei sto szligen wir auf die Schwie rig-keit dass Tier schutz Tier recht und Ar ten schutz kei ne na tuumlr li-chen Ver buumln de ten sind son dern sich in ih rer Phi lo so phie ih rer Welt an schau ung und ih ren Ziel set zun gen stark un ter schei den (Das un ver soumlhn li che Tri um vi rat) Das Schluss wort bi lan ziert die se Er kennt nis se und fragt was wir aus al le dem prag ma tisch fol gern soll ten und in wel chen Schrit ten es ge sche hen koumlnn te (Scho pen hau ers Trep pe)

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Das Men schen tier

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Wahr heit zu hal ten Aber die ses Bild hat sich schon oft ver aumln-dert und es wird sich ge wiss noch wei ter ver aumln dern

Men schen nei gen dazu die Welt in der sie le ben auf zu raumlu-men Es ist eine ziem lich art ty pi sche Ver hal tens wei se Wir sor tie-ren die all taumlg li chen Din ge un se res Le bens und eben so sor tie ren wir die Ge dan ken uumlber die Welt die uns um gibt Jede Ord nung auch die der Na tur ist also ein mensch li cher Ent wurf Und al-lem An schein nach ent stand das Be duumlrf nis die Welt zu ord nen in un se rer Ent wick lungs ge schich te pa ral lel zur Ent wick lung der Spra che Denn ohne die kuumlnst li che Auf raumlum ar beit der Spra che waumlre die Vor stel lung von ei ner raquoOrd nung der Schoumlp funglaquo oder der raquoNa turlaquo nicht moumlg lich

Wer auf die Ord nung an ge wie sen ist be wegt sich gern in den si che ren Gren zen ei nes Sys tems Nur in ner halb ei nes sol chen Ord nungs ge fuuml ges fragt man nach Wahr heit und Gel tung Rich-tig keit Me tho de und Be deu tung Zu leicht uumlber sieht der Ord ner dann die kuumlnst li che Be hau sung und die selbst ge zim mer ten Re-ga le in die er die Welt so sorg faumll tig hi nein sor tiert Sel ten ge lingt ihm ein Blick aus dem Fens ter in die un ge wis se Land schaft die ihn um gibt Und nur ein ge wal ti ger Sturm ein Blitz schlag oder eine Er schuumlt te rung zwingt den Ver wal ter der Welt die si che re Wohn statt zu ver las sen und sich ein an de res Haus zu bau en das den An fein dun gen des neu en Kli mas wi der steht

Erst im Ruumlck blick auf die vie len Irr tuuml mer der Ver gan gen heit er ken nen wir dann un se re ei ge ne Un zu laumlng lich keit beim Auf-raumlu men In der Ge gen wart er scheint uns die je wei li ge Ord nung meis tens so selbst ver staumlnd lich dass wir gern uumlber jede Moumlg-lich keit der Ver aumln de rung lauml cheln So ha ben Men schen mit voumll li-ger Ge wiss heit an ge nom men dass die Erde eine Schei be ist und dass Frau en und Skla ven kei ne Rech te zu ste hen Und mit ei nem eben sol chen Lauml cheln be trach ten wir heu te die Gruumln de mit de-nen Men schen sich im Lau fe der Jahr hun der te von den Tie ren zu un ter schei den glaub ten

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Schon die al ten Grie chen ins be son de re Aris to te les (384 v Chr ndash 322 v Chr) ha ben sich fuumlr die Ge schich te und das in vie len De tails ver bor ge ne Sys tem der Na tur in te res siert Er teilt die Tie re in Klas sen ein ver sucht zu er gruumln den was Le ben ist und schafft da mit die Grund la gen der Zo o lo gie Aber Aris to te-les kennt nur we ni ge hun dert Tie re Eine raquovoll staumln di ge Na tur-ge schich telaquo wird das ers te Mal im 18 Jahr hun dert ge schrie-ben ndash und auch sie ist aumlu szligerst un voll staumln dig Seit dem ver fuuml gen wir nicht nur uumlber ei nen rei chen Vor rat an ge dach ten Ord nun-gen von den Schoumlp fungs my then bis hin zur Mo le ku lar bi o lo gie Wir ken nen auch eine Wis sen schaft die sich raquoTax ono mielaquo nennt und jede Pfan ze und je des Tier sys te ma tisch in eine In ven tar liste der Na tur ein traumlgt

Da bei ver ra ten die Denk sche ma ta der Na tur for scher nicht nur et was uumlber die klas si fi zier te Na tur selbst son dern eben so uumlber das Ord nungs be duumlrf nis und die Pfif fig keit des mensch li-chen Geis tes Das 18 Jahr hun dert ist eine Zeit in der das Buumlr-ger tum an die Macht draumlngt und sich zu neh mend ge gen den Adel auf ehnt Sei ne schaumlrfs te Waf fe ist et was das man raquoVer nunftlaquo oder raquoRa ti o na li taumltlaquo nennt und das man ge gen den Glau ben ins Feld fuumlhrt Fuumlr die Phi lo so phen der Ra ti o na li taumlt ist die Welt kei-ne vor ge fun de ne Schoumlp fung mit fes ter Ord nung son dern et was dass man geis tig durch drin gen und auf sei ne Lo gik und Wi der-spruuml che un ter su chen kann Da bei ge ben zu naumlchst die Phy sik und die Ma the ma tik das Sche ma vor nach dem alle Er kennt nis auch jene von Pfan zen und Tie ren funk ti o nie ren soll Die Sys te ma ti-ker der Na tur ge schich te su chen nach un ver ruumlck ba ren Kri te ri en ob jek ti ven Ge setz mauml szligig kei ten und lo gi schen Ver bin dun gen um die un uuml ber sicht li che Welt der Le be we sen ih rer raquowah ren An ord-nunglaquo ge maumlszlig ein zu tei len Aber nicht alle Na tur for scher glau-ben dass ein sol ches Vor ha ben tat saumlch lich ge lin gen kann Man-che hal ten die Na tur fuumlr zu reich hal tig um sie auf die se Wei se zu klas si fi zie ren Welt an schau un gen tref fen auf ei nan der auf der

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 319783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 31 10082021 10493410082021 104934

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ei nen Sei te der Glau be an ein vom Men schen prin zi pi ell voumll lig durch schau ba res Na tur sys tem auf der an de ren Sei te eine un er-gruumlnd li che Schoumlp fung in der der Mensch sich im mer nur tas-tend fort be wegt

Die ers te Va ri an te gilt im 18 Jahr hun dert als der mo der ne-re An satz Man ori en tiert sich da bei an ei nem Ra ti o na lis mus den Reneacute Des car tes (1596 ndash 1650) schon hun dert Jah re zu vor neu be gruumln det hat Die ser Ra ti o na lis mus ori en tiert sich an der Me cha nik Die Schoumlp fung Got tes er scheint als eine ein zi ge klug aus ge tuumlf tel te Ma schi ne die der Mensch Stuumlck fuumlr Stuumlck zu be-herr schen lernt Und das Uni ver sum be steht aus Ma te rie in Be-we gung or ga ni siert nach ma the ma ti schen Ge set zen Ob gleich das 18 Jahr hun dert zent ra le Spe ku la ti o nen des Phi lo so phen wi-der legt ori en tiert es sich in vie lem an Des car tesrsquo me cha nis ti scher Denk wei se Sie tut dies vor zugs wei se in je nen Dis zip li nen de-ren Er kennt nis fort schritt zu naumlchst ge ring bleibt Und nir gend-wo trifft dies in ei nem sol chen Maszlig zu wie bei der Er for schung der bi o lo gi schen Na tur

Doch die ses Welt bild hat prob le ma ti sche Fol gen Wer die Welt kon se quent nach me cha nis ti schen Grund saumlt zen be trach tet hat fuumlr den Be reich der nicht mensch li chen Na tur we nig Ver staumlnd nis Fuumlr Des car tes sind Tie re nichts als Ma schi nen Es macht kei nen Un ter schied ob eine Ma schi ne die aumlu szlige re Ge stalt und die in ne-ren Or ga ne ei nes Af fen hat oder ob es sich da bei tat saumlch lich um ein le ben des Tier han delt Denn relevantes Le ben kommt fuumlr den Den ker nicht durch zir ku lie ren des Blut und Reizempfindungen in den Koumlrper Son dern bedeutsames Le ben ga ran tie ren ein zig und al lein der er leuch te te Geist und sei ne Spra che

Des car tesrsquo Zeit kennt we der den Be griff des raquoOr ga nis muslaquo die Be son der heit des Le bens noch die Evo lu ti on son dern eben nur die Me cha nik Trotz dem ist sei ne The o rie von den Tie ren als see len lo se Au to ma ten im 17 und 18 Jahr hun dert aumlu szligerst um-strit ten Fran zouml si sche Phi lo so phen schrei ben Buch um Buch uumlber

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 329783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 32 10082021 10493410082021 104934

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die Tier-Fra ge und be feh den sich da bei uumlber mehr als hun dert Jah re Noch weiszlig man nichts von ei ner raquoBi o lo gielaquo Man be treibt eine neue Dis zip lin die sich raquoNa tur ge schich telaquo nennt und da-mit auf raumlumt die Ge schich te von Le be we sen als eine wahl lo se Samm lung von Er zaumlh lun gen an zu se hen Bis her schrie ben Au to-ren um stands los von der Fang wei se der Tie re ih rer Ana to mie ih rer bib li schen und al le go ri schen Be deu tung ih rem prak ti schen Ge brauch ih rer Ver meh rung ih ren Stim men und Spra chen ih-ren Be we gun gen ih rem Al ter und von der Sym pa thie oder An-ti pa thie des Ver fas sers Auch Koch re zep te wur den von Fall zu Fall hin zu ge fuumlgt

Ein zo o lo gi sches Sys tem ist zu An fang des 18 Jahr hun derts weit ge hend un be kannt die Ver wandt schafts ver haumllt nis se der Pfan zen und Tie re sind dif fus ge ahnt und wer den eher nach Le-bens raumlu men be stimmt als nach koumlr per li chen Merk ma len Tie re die nachts ja gen ste hen da bei eben so in ei nem Ord nungs ge fuuml ge wie Tie re die fie gen koumln nen im Wald oder in ei nem See le ben Be reits die Pries ter schrift der bib li schen Ge ne sis hat te die Welt der Tie re und Pfan zen nicht nach ana to mi schen Merk ma len un-ter teilt son dern in Be zug auf den Le bens raum Pfan zen und Tie re des Mee res der Luft und der Erde Uumlber mehr als tau send Jah re kann ten auch der Is lam und die Hin dus Ord nungs sys teme die Tie re in ih rem Oumlko sys tem ver an ker ten

In der hin du is ti schen Samk hya-Tra di ti on exis tie ren vier zehn Klas sen un ter schied li cher Le be we sen ein ge teilt in acht For men himm li scher und sechs ir di scher Le be we sen zu de nen auch der Mensch ge houmlrt Als wei te res Un ter schei dungs merk mal dient die Art und Wei se der Ge burt Im gro szligen in di schen Na ti o nal epos aus dem 4 Jahr hun dert dem Ma hab har ata heiszligt es raquoAuf die ser Erde gibt es zwei Ar ten von Le be we sen die Be weg li chen und die Un be weg li chen Die Be weg li chen ha ben ei nen drei fa chen Schoszlig Sie sind aus dem Ei aus feuch ter Hit ze und Le ben dig-Ge bo re ne Von al len be weg li chen Le be we sen wie de rum sind die je ni gen die

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 339783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 33 10082021 10493410082021 104934

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le ben dig ge bo ren sind hellip die bes ten Die bes ten un ter den le ben-dig Ge bo re nen sind die die zum Men schen ge schlecht ge houml ren und die Nutz tie relaquo4

Die neu en Sys te me des 18 Jahr hun derts be frei en die Na tur-ge schich te von al lem was sich mit den Me tho den der Zeit nicht wis sen schaft lich exakt be schrei ben laumlsst Koch re zep te fal len so-wie so un ter den Tisch aber auch man che Ver hal tens be ob ach-tun gen und vor mals wich ti ge Ei gen schaf ten wie zum Bei spiel der Ge ruch Ge forscht wird mit Lupe und Mik ros kop Li ne al und Pin zet te Der wich tigs te Mann auf die sem Ge biet ist der schwe-di sche Na tur for scher Carl von Linneacute (1707 ndash 1778) Er ori en-tiert sich an Aris to te les den er be wun dert nicht an Des car tes Ge ra de zu re vo lu ti o naumlr de mo kra tisch ent wi ckelt der auf ge klaumlr te Schwe de im 18 Jahr hun dert ein be schrei ben des Sys tem der Na-tur frei vom the o lo gi schen Fir le fanz sei ner Zeit Mit der Ak ri bie ei nes Brief mar ken samm lers dem Voll staumln dig keit mehr be deu tet als das Be stau nen ein zel ner Wer te ord net er die be leb te Na tur nach Ar ten Gat tun gen Ord nun gen und Klas sen Vier Va ri ab len die Form der Ele men te ihre An zahl die raumlum li che An ord nung der Ele men te und ihre re la ti ve Grouml szlige be stimm ten von nun an den Platz im Sys tem

Un ter der Leit dis zip lin der Bo ta nik wan delt sich die Na tur ge-schich te in eine ge ord ne te Welt aus Li ni en und Flauml chen Ent schei-dend sind die sicht ba ren Un ter schei dungs merk ma le wie Bluuml ten und Staub ge fauml szlige Blaumlt ter und Fruumlch te Fuumlszlige und Hufe Fe dern und Flos sen So setzt Linneacute fuumlr jede Pfan zen- und Tier klas se jede Ord nung und Gat tung be stimm te Merk ma le fest die er als die wich ti ge ren er ach te t Denn nur un ter der An nah me sol cher pri vi-le gier ter Struk tu ren ist es ihm moumlg lich die ver schie de nen Spe zi es im Ge samt sys tem un miss ver staumlnd lich zu ras tern Der mensch li che Ord ner be schreibt also nicht ein fach die be leb te Na tur Er fuumlgt ihr auch et was hin zu die Ent schei dung naumlm lich was in der For men-viel falt der Le be we sen wich ti ge Merk ma le sind und was nicht4

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 349783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 34 10082021 10493410082021 104934

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Wie alle da ma li gen Na tur for scher nimmt Linneacute an dass die Ein tei lun gen die der mensch li che Ver stand macht tat saumlch lich ei ner ob jek ti ven Ord nung der Na tur ent spre chen Doch Lin neacutes Sys tem ist wie er selbst weiszlig nicht raquona tuumlr lichlaquo Sei ne Struk tu ren sind kei ne die er in der Na tur als Un ter schei dungs kri te ri en vor-fin det Denn was sich am Schreib tisch nun muumlh sam in Ord nun-gen pres sen laumlsst liegt wie der fran zouml si sche Na tur for scher Mishychel Adan son (1727 ndash 1806) fest stellt in der Wild nis wie Kraut und Ruuml ben durch ei nan der raquohellip eine kon fu se Mi schung aus We-sen hellip die der Zu fall ei nan der an ge nauml hert zu ha ben scheint Hier wird das Gold mit ei nem an de ren Me tall mit ei nem Stein oder mit Erde ge mischt Dort waumlchst die Ei che ne ben dem Veil chen Un ter die sen Pfan zen ir ren eben falls der Vier fuumlszlig ler das Rep til und das In sekt um her Die Fi sche mi schen sich so zu sa gen mit dem waumlss ri gen Ele ment in dem sie schwim men und mit den Pfan zen die auf dem Grun de der Ge waumls ser wach sen hellip Die se Mi schung ist so gar so all ge mein und so viel faumll tig dass sie ei nes der Na tur ge set ze zu sein scheintlaquo5

Der Wi der spruch zwi schen ei ner tax ono mi schen und ei ner oumlko lo gi schen Ord nung der Na tur ist of fen sicht lich Er fin det sich noch heu te in der Dis kus si on um die Aumls the tik von Zoo an la gen Soll man die Tie re nach Ver wandt schafts ver haumllt nis sen sam meln also in Raub tier haumlu sern An ti lo pen haumlu sern und Hirsch an la gen so dass der Be su cher zwi schen den ana to mi schen Be son der hei-ten der Ar ten ndash mit un ter so gar den ge o gra fi schen Va ri an ten ei ner ein zi gen Art ndash zu un ter schei den lernt Oder ge waumlhrt die Nach-ge stal tung ei nes Na tur bi o tops ei ner af ri ka ni schen Sa van ne oder ei nes al pi nen Pa no ra mas den wich ti ge ren Ein blick in die Ord-nung der Na tur

Zwar steht fuumlr Linneacute und sei ne Kol le gen fest dass die raquowah-re Ord nunglaquo der Na tur sich an den koumlr per li chen Merk ma len zu ori en tie ren hat doch muss eine Er klauml rung da fuumlr ge fun den wer-den wa rum die se Ord nung in der frei en Na tur nicht von al lein 5

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sicht bar wird Ohne Zwei fel ist das Sys tem der Na tur kei ne zeit-lo se Schoumlp fung son dern durch Ver aumln de run gen ge kenn zeich net die sich in der Erd ge schich te er eig net ha ben Pa ral lel meh ren sich die Fun de von Fos si li en also von Tie ren die mut maszlig lich aus-ge stor ben sind Es hat al lem An schein nach grouml szlige re ge o lo gi sche Ka tast ro phen in un be kann ter Zahl ge ge ben de nen vie le Ar ten zum Op fer ge fal len sind Doch ha ben die se De sas ter auch zur Ent ste hung von neu en For men ge fuumlhrt

Um den Fak tor der Zeit und sei ne Fol gen fuumlr das Sys tem der Na tur ein zu schaumlt zen gibt es vie le Moumlg lich kei ten Die ein fachs te und mensch lichs te al ler zeit li chen Ord nungs vor stel lun gen ist die Idee al les fol ge ei nem Plan und sei auf ein Ziel hin aus ge rich-tet (Te le o lo gie) Re li gi o nen Phi lo so phi en und Ide o lo gi en funk-ti o nie ren na he zu al le samt ziel ge rich tet Es geht um ein bes se res Le ben auf Er den im Jen seits in ei nem ge rech ten Staat um die Herr schaft uumlber die an de ren uumlber die Pro duk ti ons mit tel oder das Boumlse Selbst un ser All tag ge stal tet sich weit ge hend te le o lo-gisch durch traumlnkt von zu kuumlnf ti ger Er war tung Mo tor jed we-der Te le o lo gie ist der Fort schritts ge dan ke Sein ima gi nauml res Ziel ist der voll kom me ne Zu stand So glau ben christ lich-abend laumln-di sche Ge sell schaf ten gern an eine staumln di ge Ver bes se rung durch An stren gung eine Tu gend die nach cal vi nis ti scher Tra di ti on im Him mel wie auf Er den von Gott ma te ri ell ent lohnt wird Wie na he lie gend also auch in der Na tur die Ent ste hung raquohouml he rerlaquo Le bens for men durch Fort schritt er ken nen zu wol len mit dem End ziel des Men schen

Die Un ord nung der Schoumlp fung mit ei nem goumltt li chen Fort-schritts plan in Ein klang zu brin gen ist das Le bens werk des Schwei zer Na tur for schers und Phi lo so phen Charles Bon net (1720 ndash 1793) Fuumlr Bon net ist die Zahl der Ar ten und ihre aumlu-szlige re Ge stalt von Gott ein fuumlr al le Mal fest ge legt Doch kann sich ein je des Le be we sen per fek ti o nie ren Der Weg vom simp-len Ge muumlt zur ge ni a li schen Leis tung ist vom Schoumlp fer vor ge-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 369783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 36 10082021 10493410082021 104934

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zeich net Und alle Tie re be schrei ten ihn zeit lich ver setzt nach dem glei chen Mus ter das der Mensch ih nen vor ge lebt hat raquoEs wird ei nen mehr oder we ni ger lang sa men und kon ti nu ier li chen Fort schritt al ler Ar ten zu ei ner houml he ren Ver voll komm nung ge-ben so dass alle Gra de der Stu fen lei ter in ei ner de ter mi nie ren den und kons tan ten Be zie hung fort ge setzt va ri a bel sein wer den hellip Es wird un ter den Af fen Leu te wie New ton und un ter Bi bern wie (den Fes tungs bau meis ter RDP) Vau ban ge ben Die Aus-tern und die Po ly pen wer den in Be zie hung zu den houmlchs ten Ar-ten das sein was die Vouml gel fuumlr die Vier fuumlszlig ler im Ver haumllt nis zum Men schen sindlaquo6

Seit Bon net ist die Vor stel lung von der raquoLei ter der Na turlaquo der Sca la nat urae ein wich ti ges In ven tar des na tur ge schicht-li chen Den kens Fort schritt Ver voll komm nung und goumltt li cher Plan ndash die se drei Grouml szligen be stim men die Vor stel lung vom Wer-den der Na tur vom 18 Jahr hun dert bis in die Ge gen wart hi nein Das Prin zip nach dem die Evo lu ti on Le ben her vor bringt sei un ver meid lich und von An fang an vor her be stimmt Nicht we-ni ge E vo lu ti ons the o re ti ker ha ben dies eben falls ge glaubt und zwar mit be acht li cher Kon ti nu i taumlt Der eng li sche Na tur for scher Alf red Rus sel Wall ace (1823 ndash 1913) der ge mein sam mit Dar win die The o rie der na tuumlr li chen Se lek ti on ent wi ckelt hat te hielt nicht nur den mensch li chen Geist und sein Mo ral emp fin den son dern zu dem auch die wei che nack te emp find sa me Haut des Men-schen fuumlr das Re sul tat ei ner not wen di gen Ent wick lung

Doch schon im 18 Jahr hun dert reg ten sich zu gleich vor sich-ti ge Zwei fel an der Stim mig keit ei ner sol chen Vor ge formt heit Denn wie soll te man Na tur ka tast ro phen be wer ten Waumlh rend die meis ten Na tur for scher sie als Teil des goumltt li chen Schoumlp-fungs plans in ter pre tier ten zo gen an de re ver gleichs wei se fins te-re Schluumls se Und so wur de tat saumlch lich ein gro szliges Erd be ben zum in di rek ten Aus louml ser der Evo lu ti ons the o rie naumlm lich je nes von Lis sa bon im Jahr 1755 Wer uumlber die Ka tast ro phe nach dach te 6

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 379783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 37 10082021 10493410082021 104934

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konn te star ken Zwei fel da ran he gen dass die Welt ord nung aus-ge kluuml gelt und har mo nisch sei

Die wei test rei chen den Schluss fol ge run gen zog der eng li-sche Pfar rer und Na ti o nal oumlko nom Tho mas Ro bert Malt hus (1766 ndash 1834) Nicht nur die ge o lo gi sche Na tur und ihr Ge-fah ren ri si ko son dern auch die Ver meh rung der Be voumll ke rung wur de nun als Uumlbel er kannt Im Jahr 1798 pub li zier te Malt-hus sei nen Es say on the Princi ple of Po pu la ti on (Das Be voumllshyke rungs ge setz) die ers te Mahn schrift vor den Ge fah ren ei ner Be voumll ke rungs ex plo si on Bei ei ner Ver dop pe lungs ra te der Welt-be voumll ke rung in ner halb von fuumlnf und zwan zig Jah ren er rech ne-te Malt hus wer de ihr exponent iel les An wach sen auf grund der von der Um welt ge setz ten Gren zen not wen dig zu Ar mut Ka-tast ro phen und Tod fuumlh ren Der bib li sche Auf trag raquoSeid frucht-bar und meh ret euchlaquo er schien mit ei nem Mal als ein Fluch Ein gna den lo ser raquoKampf ums Da seinlaquo (strugg le for life) war ent fes selt Das Ein zi ge was blieb war die Hoff nung die ka-tast ro pha len Fol gen der goumltt li chen An wei sung so weit wie moumlg lich ein daumlm men zu koumln nen

In ei ner Zeit als die Ge sell schafts the o rie noch der Bi o lo-gie den Leuch ter vo ran und nicht wie heu te die Schlep pe hin-terh er traumlgt be geis tert sich vor al lem ein eng li scher Dorf pfar rer Charles Dar win (1809 ndash 1882) fuumlr die Malt hus rsquoschen Ge set ze Denn wenn es rich tig ist dass sich ein Tier mit ei ner so ge rin-gen Ver meh rungs ra te wie der Mensch ge gen uumlber sei nen Art ge-nos sen durch setz te so gab es sicht lich an de re Kri te ri en fuumlr die Uumlber le bens fauml hig keit ei ner Po pu la ti on als die Zahl ih rer Ge bur-ten Der Maszlig stab fuumlr den Er folg ei ner Spe zi es war ihr Durch set-zungs ver mouml gen oder wie Dar win es spauml ter in den Prin zi pi en der Bio logie des jun gen Phi lo so phen Her bert Spen cer (1820 ndash 1903) le sen konn te raquothe sur vi val of the fit testlaquo

Dar wins na tur kund li che Stu di en wa ren ur spruumlng lich von dem Ge dan ken be seelt die nicht a ni ma li sche Iden ti taumlt des Men schen

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zu be wei sen Erst der Sieg des Ent de cker stol zes uumlber das Ent-set zen ver lieh ihm schlieszlig lich den Mut den be ruumlhm ten Satz zu schrei ben raquoUnd ich bin bei na he uumlber zeugt (der Mei nung mit der ich an die Fra ge he ran ge tre ten bin voumll lig ent ge gen ge setzt) dass die Spe zi es (mir ist es als ge staumln de ich ei nen Mord ein) nicht un ver aumln der lich sindlaquo7

Dar wins kuumlh ne Ver mu tung war nicht ganz neu Be reits ein hal bes Jahr hun dert zu vor hat ten der fran zouml si sche Na tur for scher GeorgesshyLou is Lec lerc Comte de Buf fon (1707 ndash 1788) und der Phi lo soph De nis Dide rot (1713 ndash 1784) uumlber eine Ver aumln de-rung der Ar ten spe ku liert Be son ders JeanshyBap tiste de La marck (1744 ndash 1829) be haup te te die all maumlh li che Ent wick lung der Ar-ten aus pri mi ti ve ren Vor for men die so ge nann te Trans mu ta ti on La marck war nicht nur ein Pi o nier der mit Jahr mil li o nen han-tier te als alle Welt die Erde noch ei ni ge tau send bis hun dert tau-send Jah re jung waumlhn te son dern er praumlg te (zur glei chen Zeit wie zwei deut sche Na tur for scher) das Wort Bi o lo gie Bei ihm wan del ten sich die Le be we sen da durch dass sich ihre koumlr per-li chen An stren gun gen auf ihr Erb gut aus wir ken Da bei nahm er al ler dings nicht an dass die Ar ten aus ei nan der her vor ge hen wie Dar win es spauml ter tat La ma rcks The o rie ist nauml her an je ner von Bon net Fuumlr ihn ver voll komm nen die ein zel nen Tier ar ten im Lau fe der Zeit ihre An la gen und ent wi ckeln sich da durch im-mer houml her Be son ders voll kom me ne Tie re wie der Mensch sind dem nach sehr alt denn sie ha ben ei nen wei ten Weg von ei nem pri mi ti ven Or ga nis mus bis hin zur heu ti gen Ge stalt hin ter sich ge las sen An de re wie der pri mi ti ve Suumlszlig was ser po lyp ha ben ihre Rei se durch die Zeit ge ra de erst an ge fan gen

La marck war kein Charis mati ker und die zo o lo gi sche All-macht sei nes Vor ge setz ten am Jar din des Plan tes in Pa ris des Ba rons George Cu vier (1769 ndash 1832) ver hin der te dass man sich all zu sehr mit sei nen The o ri en be schaumlf tig te Cu vier war ein be-deu ten der Mann An die Stel le ei ner nach bo ta ni schem Mus ter 7

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 399783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 39 10082021 10493410082021 104934

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ver fah ren den Zo o lo gie setz te er eine neue Wis sen schaft die sich we ni ger an aumlu szlige ren Merk ma len als am Or ga nis mus der Tie-re ori en tier te Doch was die Trans mu ta ti on an be lang te blieb der Ober auf se her der pro tes tan tisch-the o lo gi schen Fa kul tauml ten Frank reichs beim kon ser va ti ven Mo dell Er ver brei te te wei-ter hin eine Ket te von Na tur ka tast ro phen habe als mo di fi zier-te Sint fu ten gan zen Klas sen von Tie ren den Gar aus ge macht Die se The o rie ist weit ge hend rich tig al ler dings schlieszligt sie die Trans mu ta ti on nicht aus

Das wirk lich Re vo lu ti o nauml re an La marck war die Idee die Ge schich te der Na tur nicht vom Men schen aus bis hi nun ter zur Bak te rie zu schrei ben son dern um ge kehrt von der Bak te rie zum Men schen Aus ei nem Mo dell der raumlum li chen Hie rar chie wur de ein Mo dell der zeit li chen Ent wick lung La marck er kann te zu-dem dass das Be wusst sein ei nes Tie res an die Phy si o lo gie und Neu ro lo gie sei nes Koumlr pers ge bun den ist Dem nach ist je der Geist ers tens be grenzt und zwei tens ver aumln der lich

Die phi lo so phi sche Kon se quenz aus La ma rcks Den ken ist so ra di kal dass sie fast ein hun dert fuumlnf zig Jah re lang von nie man-dem ernst haft in Be tracht ge zo gen wur de Wie kann ein Geist der den Ge set zen der Evo lu ti on un ter wor fen ist sich ei gent lich an ma szligen die Na tur der Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Von die ser Schluss fol ge rung woll te die Bi o lo gie al ler dings bis weit ins 20 Jahr hun dert hi nein nicht viel wis sen

Auch Dar wins The o rie von der na tuumlr li chen Se lek ti on der Le be we sen im Rin gen um ihr Le ben und mit der Um welt ent-wi ckel te sich wei ter Ge witz ten Zeit ge nos sen wie Karl Marx (1818 ndash 1883) war auf ge fal len wie stark Dar wins Den ken dem Zeit geist des Vik to ri a ni schen Zeit al ters ver haf tet war raquoEs ist merk wuumlr dig wie Dar win un ter Bes ti en und Pfan zen sei ne eng li-sche Ge sell schaft mit ih rer Tei lung der Ar beit Kon kur renz Auf-schluss neu er Maumlrk te rsaquoEr fin dun genlsaquo und Malt hus schem rsaquoKampf ums Da seinlsaquo wie der er kenntlaquo8 Die Be to nung des Malt hus rsquoschen 8

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 409783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 40 10082021 10493410082021 104934

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Kamp fes von je dem ge gen je den und auch der Fort schritts glau-be in Dar wins Den ken zei gen ihn stark sei ner Zeit ver haf tet

Eine an de re Kri tik kam aus der Bi o lo gie selbst Dar win hat-te noch nichts von Ge nen ge wusst So konn te er nicht er klauml ren was sich bi o che misch er eig ne te wenn Ar ten sich ver aumln der ten Der raquoDar wi nis muslaquo der Jahr hun dert wen de gab schlieszlig lich die Hoff nung auf die Evo lu ti on lie szlige sich al lein durch die na tuumlr li-che Se lek ti on der Ar ten nach Maszlig ga be ih rer An pas sungs fauml hig-keit an die Um welt be gruumln den Man ent deck te die Rol le der Ge-ne tik und zum neu en Er klauml rungs prin zip wur de das Mo dell der zwei Kons t ruk teu re Das Spiel des Le bens er hielt ei nen Wuumlr fel zu faumll li ge Ver aumln de run gen im Gen ma te ri al also so ge nann te Mu tashyti o nen Im Tri alshyandshyEr ror-Ver fah ren ent ste hen im Erb gut ge le-gent lich Ab wei chun gen die dann er folg reich sind wenn sie sich in der Um welt be waumlh ren Da mit war die Idee vom Tisch dass sich neu er wor be ne Ei gen schaf ten oder raquodie ana to mi schen Aus-wir kun gen koumlr per li cher An stren gun genlaquo wie La marck mein te ver er ben koumlnn ten Noch Dar win hat te dies fuumlr denk bar ge hal ten So ver trau te er Er zaumlh lun gen wo nach bei je nen Volks grup pen zu de ren Ri ten die re gel mauml szligi ge Be schnei dung der Pe nis vor haut ge houmlrt sich die Vor haut all maumlh lich ver kuumlrz te Das haumlt te zwar die Be schnei dung uumlber fuumls sig ge macht aber Dar win hat te ge ra-de an de res Ge wich ti ges zu be den ken als da ruuml ber nach zu sin nen

Die Ver kuumlr zung der Vor haut blieb im Wis sens schatz der Dar wi nis ten bis Au gust Weis mann (1834 ndash 1914) im spauml ten 19 Jahr hun dert nach wies dass ein sol cher In for ma ti ons fuss vom aumlu szlige ren Er schei nungs bild zum Erb ma te ri al nicht moumlg lich sei Uumlber fuumlnf Ge ne ra ti o nen kuumlrz te Weis mann ei nem Stamm von Maumlu sen ihre Schwaumln ze ohne dass eine Nach richt uumlber die sen Ein griff die Keim bah nen der Maumlu se er reich te Denn sie he da Auch die Schwaumln ze der nach fol gen den Maumlu se ge ne ra ti o nen blie-ben gleich lang Da be durf te es schon der Spitz fin dig keit des iri schen Dich ters George Bern ard Shaw (1856 ndash 1950) der Weis-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 419783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 41 10082021 10493410082021 104934

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manns schnei den de Wi der le gung der La marckrsquo schen The o rie leicht fer tig vom Se zier tisch wisch te Die Maumlu se be merk te der Dich ter haumlt ten gar kei ne An stren gun gen un ter nom men ihre Schwaumln ze zu ver lie ren waumlh rend sich die Tie re bei La marck ja da rum be muumlht haumlt ten sich zu ver aumln dern

Im Nach hi n ein also war es der pauml da go gi sche Op ti mis mus der La marck in die Irre ge fuumlhrt ha ben soll te So mach te die Hoff-nung auf ei nen ethisch an spre chen den E vo lu ti ons ver lauf ndash die Er war tung die Mensch heit ent wick le sich qua An pas sung an das so zi a le Mi li eu durch Selbst er zie hung zum Bes se ren ndash nur noch eine et was ab sei ti ge Kar ri e re im staats so zi a lis ti schen Bi o lo gie-un ter richt der Sow jet u ni on Wie kalt da ge gen der uumlber le ge ne raquoKampf ums Da seinlaquo der ja ein Kampf um die Fleisch toumlp fe ist ohne Hoff nung der Mensch wer de den kuumlh nen Geist statt sei-nes ma te ri a lis ti schen Gier hal ses nach Houml he rem stre cken Und ein zig die Kir che be wahr te un ver dros sen ei nen la marc kis ti schen Ge dan ken ndash al ler dings ei nen pes si mis ti schen und kei nen op ti-mis ti schen In bes ter Schuumlt zen hil fe fuumlr den fran zouml si schen Che-va li er ver tei digt sie bis heu te ihr mo le ku lar ge ne tisch be denk li-ches Dog ma Adams Un ge hor sam im Gar ten Eden habe zu ei ner raquoErb suumln delaquo ge fuumlhrt die da rauf hin auf alle zu kuumlnf ti gen Ge ne ra-ti o nen uumlber ge gan gen sei

Im mer hin sind in den bei den letz ten Jahr zehn ten ei ni ge Bi o-lo gen wie der et was of fe ner da fuumlr ge wor den der Ver er bung er-wor be ner Ei gen schaf ten ei nen Platz in der Ge ne tik zu las sen Zwar ver er ben sich psy chi sche und phy si sche Le bens er fah run-gen nicht durch ver aumln der te Gene Aber es koumlnn te doch sein dass jene Schal ter die da ruuml ber be stim men wel che ge ne ti sche In for-ma ti on wei ter ge ge ben wird und wel che nicht durch Um welt-ein fuumls se ver aumln dert wer den Uumlber le gun gen wie die se be schaumlf ti-gen so ge nann te Epi gen eti ker seit ei ni ger Zeit sie ha ben ei nen wach sen den Ein fuss auf un se re Vor stel lung von der Evo lu ti on

Die heu ti ge Leit dis zip lin die uns die Ver wandt schaft des Le-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 429783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 42 10082021 10493410082021 104934

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bens ent schluumls seln soll ist die Ge ne tik Wir un ter su chen die Sum-me al ler ge ne ti schen In for ma ti o nen und re gist rie ren da bei Uumlber-ein stim mun gen und Ab wei chun gen mit an de ren Ar ten Doch der Pro zess die Na tur un se rer Na tur zu er ken nen ist noch lan ge nicht ab ge schlos sen und wird wohl auch nie ab ge schlos sen sein Wir wen den Ord nungs sche ma ta auf The o ri en und The o ri en auf Be ob ach tun gen an Nur so kom men wir zu Kau sa li tauml ten und Ge-set zen Doch ihre Be deu tung ver aumln dert sich in dem Maszlige wie wir den Blick punkt un se rer Auf merk sam keit wie der ver la gern Die ser Vor gang des Ent dec kens und des Ver de ckens durch neue Denk sche ma ta ist prin zi pi ell nicht ab schlieszlig bar denn selbst ge-gen waumlr ti ge Evo lu ti ons the o ri en un ter lie gen wei ter hin der Evo-lu ti on

Er staun li cher wei se hat die mo der ne Evo lu ti ons the o rie nur zu ei ner ge ring fuuml gi gen Kor rek tur al ter Denk sche ma ta ge fuumlhrt Wie fruuml her in der Na tur ge schich te er ken nen wir heu te in der Bi o lo gie uumlber all Re gel haf tigk eit Not wen dig keit und Vor tei-le Doch bei nauml he rer Sicht er weist sich die Evo lu ti on ge ra de zu als Herr schafts ge biet der Aus nah men uumlber die Re geln Sie ist eine raquoZweck mauml szligig keit ohne Zwecklaquo wenn auch al lein fuumlr die 01 Pro zent der heu te noch ndash oder ge ra de ndash exis tie ren den Spe-zi es nicht aber fuumlr die 999 Pro zent die in den Ur fu ten dem Ord ovizium dem Perm der Krei de oder dem Ter ti aumlr das Welt-li che seg ne ten E vo lu ti ons bi o lo gen su chen in der Ge schich te der Na tur uumlber all nach Vor tei len die das Uumlber le ben von Ar ten er-klauml ren sol len Da bei ver men gen sie oft zwei ver schie de ne Vor-teils be grif fe Ein mal geht es um Mu ta ti o nen die si tu a tiv vor teil-haf te Ei gen schaf ten fuumlr eine Tier art her vor ge bracht ha ben sol len Eine grouml szlige re Sta tur ein pom pouml se res Ge weih ein staumlr ke res Ge biss sol len Weib chen be ein dru cken und die Nach kom men schaft er-houml hen Da die se Ei gen schaf ten aber oft nichts nuumlt zen wenn der Zu fall die Spiel re geln der Um welt aumln dert gibt es ei nen zwei ten Vor teils be griff Da nach ist das vor teil haft in der Evo lu ti on was

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 439783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 43 10082021 10493410082021 104934

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vom Ende her be trach tet dazu ge fuumlhrt hat dass eine Art uumlber-lebt Nach die ser Sicht wei se kann der mick rigs te Pa vi an auf dem Fel sen sei ne Gene wei ter ge ben wenn die staumlr ke ren Kon kur ren-ten bei ei nem Erd be ben ums Le ben ge kom men sind

An ge sichts zwei er so un ter schied li cher Be deu tun gen von raquoVor teillaquo fragt es sich ob der Be griff in der Evo lu ti ons the o rie uumlber haupt sinn voll ver wen det wer den kann Tat saumlch lich ist er ein Erbe der The o lo gie des 17 und 18 Jahr hun derts die uumlber-all in der Na tur nach der klu gen Ver nunft Got tes such te Dar win kann te die se Tra di ti on gut Als Stu dent ver ehr te er den The o lo-gen Will iam Pa ley (1743 ndash 1805) der na tur kund lich be schla gen die goumltt li che Vo raus sicht auf den neu es ten Stand ge bracht hat te Als Dar win sich von Gott ver ab schie de te und die na tuumlr li che Se-lek ti on er kann te er setz te er uumlber all wo Pa ley raquoGod doeslaquo ge-schrie ben hat te den Satz durch raquoNat ure doeslaquo An Pa leys Vor-stel lung dass die Na tur zweck mauml szligig ein ge rich tet sei und Vor tei le be loh ne hielt Dar win eben so fest wie vie le spauml te re E vo lu ti ons-the o re ti ker

Die Fra ge ist des halb wich tig weil sie zeigt wie eng un se re Vor stel lung von der Na tur bis hi nein in die mo der ne Evo lu ti-ons the o rie von sehr mensch li chen Vor stel lun gen durch setzt ist Statt Vor tei le zu be nen nen wuumlr de es naumlm lich auch aus rei chen zu sa gen dass al les in der Na tur uumlber le ben kann das fuumlr eine Art kei nen toumld li chen Nach teil hat te Ver mut lich uumlber lebt in der Evo lu ti on nicht nur Zweck mauml szligi ges son dern jede Ver aumln de rung die zu min dest nicht zum Aus ster ben fuumlhr t und moumlg li cher wei se liegt ge ra de hie rin der Grund fuumlr eine gro szlige Ar ten viel falt

Die tra di ti o nell ver eng te Sicht wei se gilt ins be son de re bei der Be trach tung des Men schen E vo lu ti ons bi o lo gen koumln nen zahl-rei che Vor tei le be nen nen die er klauml ren wa rum die mensch li che Art so er folg reich ist Men schen sind aumlu szligerst an pas sungs fauml hig und be sie deln fast alle Le bens raumlu me sie sind Al les fres ser mit ei ner gro szligen Nah rungs band brei te sie ha ben eine fe xib le So zi-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 449783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 44 10082021 10493410082021 104934

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al struk tur und ver fuuml gen uumlber ein Selbst be wusst sein das es ih-nen er moumlg licht ihr Ver hal ten zu kor ri gie ren So ge se hen ist der Mensch gleich sam das op ti mal ste al ler Tie re Doch alldem zum Trotz exis tie ren Men schen der Gat tung Homo sap iens erst seit rund 100 000 Jah ren und ihre lang fris ti gen Zu kunfts chan cen ste hen schlecht Denn mit all den vor teil haf ten Ei gen schaf ten ha-ben Men schen in Re kord zeit ihre Um welt zer stoumlrt und das lang-fris ti ge Uumlber le ben der Spe zi es dra ma tisch in fra ge ge stellt Die mit we ni ger spek ta ku lauml ren Vor tei len aus ge stat te ten Di no sau ri-er exis tier ten auf un se rem Pla ne ten hun dert fuumlnf zig Mil li o nen Jah re ganz zu schwei gen von den seit uumlber vier hun dert Mil li o-nen Jah ren na he zu un ver aumln der ten Nau til iden und Ur schne cken

Ge si chert in der Evo lu ti ons the o rie ist dass kei ne ih rer An nah-men ge si chert ist E vo lu ti ons bi o lo gen die ihre Sa che ernst neh-men muumls sen im mer auch die E vo lu ti ons be dingt heit ih res ei ge-nen Er kennt nis ap pa rats ref ek tie ren also mit hin die Evo lu ti on al ler mensch li chen Er kennt nis raquoLetzt lich istlaquo wie der Neuro bio-lo ge Ger hard Roth schreibt raquoje des Nach den ken uumlber die ob jek-ti ve Re a li taumlt sei es wis sen schaft lich oder nicht an die Be din gun-gen mensch li chen Den kens Spre chens und Han delns ge bun den und muss sich da rin be waumlh renlaquo9

Man muss ref ek tie ren dass die un ver meid li chen Ord nungs-mit tel des Geis tes das Den ken und die Spra che nicht die Wirk-lich keit raquoan sichlaquo auf raumlu men Sie sind Mo del le die die un ver-fuumlg ba re Wirk lich keit nach Maszlig ga be der ei ge nen Spiel re geln er klauml ren Nicht erst seit Er for schung der Evo lu ti on in den letz-ten zwei hun dert Jah ren muumlht sich der mensch li che Geist dem Lauf der Welt ei nen ndash nach mensch li chem Er mes sen ndash raquover nuumlnf-ti genlaquo Sinn zu ge ben Doch das Pa ra do xe der Ge schich te liegt da rin dass der mensch li che Geist selbst Pro dukt evo lu ti o nauml rer Pro zes se ist Er ist Maszlig stab und Ge mes se nes zu gleich

An eine tat saumlch lich ob jek ti ve Er kennt nis der Evo lu ti on waumlre nur halb wegs sinn voll zu den ken wenn die Evo lu ti on des Men-9

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schen ab ge schlos sen ist und da mit die Stu fe der groumlszligt moumlg li chen Voll kom men heit er reicht hat In den Zei ten vor La marck und Dar win ha ben das nicht nur The o lo gen son dern auch die Na tur-for scher fast al le samt ge glaubt Das mensch li che Be wusst sein sei die un uuml ber trof fe ne Spit zen leis tung des Schoumlp fer got tes ge schaf-fen die Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Sei nen schoumlns-ten Aus druck fand die se Sicht in ei nem Aus spruch des jun gen Phi lo so phen Fried rich Wil helm Jo seph Schel ling (1775 ndash 1854) Er mein te dass der Mensch je nes We sen sei raquoin dem die Na tur das Auge auf schlaumlgtlaquo und sich da mit ih rer selbst be wusst wird Ein huumlb scher Satz aber doch viel zu pa the tisch for mu liert Von der vol len Er kennt nis der Na tur und un se rer selbst sind wir noch im mer weit ent fernt Aber wir koumln nen da ruuml ber stau nen dass die Evo lu ti on mit uns ein Le be we sen her vor ge bracht hat in dem die Na tur sich fuumlr sich selbst fa szi nier bar ge macht hat Wie hat te es dazu kom men koumln nen

bull Der Pri mat Was ist ein Mensch

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 469783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 46 10082021 10493410082021 104934

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ver waist sein Die Mensch heit wird er wacht sein und die Welt je-nes Ge sicht er hal ten ha ben das uns ge gen waumlr tig er scheint Doch wie sah das aus als die Na tur das ers te Mal in ei nem af fen aumlhn-li chen We sen die Au gen auf schlug War es auf ei ner Wald wie-se in ei nem Hain an ei nem Berg hang oder auf ei ner Lich tung War das er leuch te te We sen ein Maumlnn chen oder ein Weib chen Ging es den gan zen Tag auf recht oder saszlig es noch ger ne in der Ho cke eng ge kau ert an sei ne Bruuml der und Schwes tern Und war es eine Ein ge bung ein Blitz schlag als das Selbst be wusst sein das ers te Mal die Fes seln des Pri ma ten ge hirns spreng te

Wir wis sen nicht wo ran Schel ling dach te als er mein te die Na tur habe im Men schen ihr Auge auf ge schla gen Si cher dach te er nicht an ei nen ein zi gen Mo ment dem Mil li o nen an de re folg-ten Er dach te an den raquoMen schen an sichlaquo Und er wuss te nichts vom ost af ri ka ni schen Great Rift Val ley und von haa ri gen Vor-men schen die dort einst haus ten Er leb te in Jena und in Muumln-chen und ei nen Men schen af fen hat te Schel ling nie ge se hen Der ein zig ar ti ge Mo ment in dem die Na tur sich ih rer selbst be wusst wird bleibt eine Me ta pher

Doch wie wur de der Mensch nun tat saumlch lich zum Men-schen Die For mu lie rung ist dop pel deu tig Denn wie der Mensch zum Men schen wur de ndash das ist nicht ein evo lu ti o nauml rer Pro-zess auf der lee ren Welt buumlh ne son dern ein Spiel von Be ob ach-ter und Be ob ach te tem Schau spie ler und Zu schau er Ge schich-te auch Ent wick lungs ge schich te ist nichts Vor ge fun de nes Der Mensch schrieb der fran zouml si sche Phi lo soph JeanshyPaul Sart re (1905 ndash 1980) macht sich selbst wie der Ro man schrift stel ler sei ne Fi gu ren Er ist ge fer tigt aus bi o lo gi schen (ana to mi schen neu ro lo gi schen und phy si o lo gi schen) Be stand tei len zu al ler meist je doch durch jene we nig bi o lo gi schen Weis hei ten mit de nen sich die se Subs tan zen selbst zum raquoMen schenlaquo er ko ren

Das Glei che gilt fuumlr die mensch li che Stam mes ge schich te Auch sie ist zu naumlchst ein mal eine Ge schich te Ihre Ur spruumln ge lie gen im

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 489783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 48 10082021 10493510082021 104935

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al ten Grie chen land als Aris to te les den Men schen und den Af-fen ver wandt schaft lich na he ruumlckt raquoMan che Tie re ste hen zwi-schen Mensch und Vier fuumlszlig ler in ih rem We sen wie Af fen Meer-kat zen und Pa vi a ne hellip Ihr Ge sicht hat vie le Aumlhn lich kei ten mit dem des Men schen Nase und Oh ren glei chen den sei nen und Zaumlh ne hat er auch wie ein Mensch die Vor der zaumlh ne wie die Ba cken zaumlhnelaquo10 Auch Aris to te lesrsquo Schuuml ler The oph rast (ca 370 v Chr ndash ca 288 v Chr) be steht auf der Aumlhn lich keit zwi schen Men schen und Tie ren Er lehnt es so gar ab Fleisch zu es sen oder Tie re zu op fern da man sei ne Ver wand ten nicht ver spei se

Aris to te les und The oph rast stell ten den Men schen zwar ne-ben den Af fen ndash Men schen af fen kann te man noch nicht ndash aber die al ten Grie chen hat ten ihn nur sehr un ge faumlhr zu ei nem Tier un ter Tie ren er klaumlrt Den naumlchs ten Schritt mach te mehr als zwei-tau send Jah re spauml ter Carl von Linneacute An der Zu ge houml rig keit des Men schen zu den Saumlu ge tie ren be stand fuumlr den Schwe den kein Zwei fel die Be haa rung und das Stil len der Jun gen be lehr ten un-miss ver staumlnd lich da ruuml ber Auch die Ver wandt schaft mit Af fen und Men schen af fen stand au szliger Fra ge Hier wa ren es die fa chen Fin ger- und Fuszlig nauml gel statt der Klau en der ab ge spreiz te Dau-men die Greif haumln de die zwei Zit zen der Weib chen und der frei he run ter haumln gen de statt am Un ter leib an lie gen de Pe nis ndash Merk-ma le die groumlszlig ten teils auch schon Aris to te les auf ge fal len wa ren

Doch Linneacute zouml ger te vor der Kon se quenz Haumln de rin gend such-te der got tes fuumlrch ti ge Ana tom nach ei nem Un ter schied zwi schen dem Men schen und den uumlb ri gen von ihm so ge nann ten raquoPri ma-tenlaquo raquoIch ver lan gelaquo schrieb er 1747 sei nem deut schen Freund Jo hann Ge org Gme lin raquovon Ih nen und von der gan zen Welt dass Sie mir ein Gat tungs merk mal zei gen hellip auf grund des sen man zwi schen Mensch und Affe un ter schei den kann Ich weiszlig selbst mit aumlu szligers ter Ge wiss heit von kei nemlaquo11

Nach sei nen Kri te ri en haumlt te Linneacute den Men schen zu min dest mit dem Schim pan sen ge mein sam in die sel be Gat tung ein ord-10

11

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nen muumls sen Der Ge dan ke schweb te zeit gleich auch dem Phi lo so-phen JeanshyJacques Rous seau (1712 ndash 1778) vor als er Schim pan-sen Orang-Ut ans und Men schen so gar als Ver tre ter der Spe zi es Mensch an sah Rous seau hat te nie ei nen Men schen af fen ge se-hen Aber die Be rich te die er von Ex pe di ti o nen nach Af ri ka und Suumld ost a si en las lie szligen in ihm kei nen Zwei fel dass die da rin be schrie be nen Men schen af fen raquowe der Tie re noch Goumlt ter son-dern Men schenlaquo sei en12 Fuumlr den Auf klauml rer wa ren Men schen af-fen edle Wil de die von kei ner Zi vi li sa ti on in ih rem fried fer ti gen We sen zer stoumlrt sei en an ders als die Men schen in Eu ro pa Eben-so dach te we nig spauml ter der schot ti sche Sprach for scher James Bur nett Lord Mon boddo (1714 ndash 1799) Auch er be trach te te den Orang-Utan als ei nen Men schen naumlm lich als ei nen raquosprach-losen Wil denlaquo

In ter pre ta ti o nen wie Rous seau sie in Pa ris und Bur nett bald da rauf in Kin card ines hire wag ten wa ren Linneacute im schwe di schen Upp sa la fremd Den Men schen ins Tier reich ein zu ord nen war in den Au gen der stren gen pro tes tan ti schen Kir che Suumln de ge nug und Linneacute zouml ger te den letz ten Schritt zu tun In sei ner Not sor-tier te er 1758 ach sel zu ckend Mensch und Schim pan se in un ter-schied li che Gat tun gen zu sam men ge fasst in der Ord nung der Pri ma ten in der sie auch heu te noch mehr schlecht als recht huumlbsch ge trennt ne ben ei nan der ho cken Homo sap iens der raquoin-tel ligi ble Menschlaquo und Pan trog lody tes der raquohoumlh len be woh nen-de Faunlaquo

So weit so schoumln Der Mensch wur de der obers te Pri mat das houmlchs te raquoHer ren tierlaquo Linneacute be kam kei nen Aumlr ger mit der Kir-che und die Na tur wis sen schaft den gro szligen Wurf des Linneacute rsquoschen Sys tems Wenn nur die se Nach barn nicht wauml ren Seit Be kannt-wer den der Men schen af fen be muumlh ten sich Wis sen schaft ler und The o lo gen im mer wie der um den Ver such den klei nen Gra ben mit gro szligen Was sern zu fuumll len der Homo sap iens und Pan troshyglody tes bei ih rer ord nungs ge mauml szligen Ver ge sell schaf tung auf der 12

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 509783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 50 10082021 10493510082021 104935

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Af fen in sel trennt Sie eva ku ier ten den Men schen vom Pri ma ten-fel sen und schu fen ihm eine ei ge ne Ord nung

In die ser Vor stel lungs welt wuchs auch der The o lo gie stu dent Charles Dar win auf Das fruuml he 19 Jahr hun dert war eine got-tes fuumlrch ti ge bie der mei er li che Zeit Doch je mehr er sich mit der Ver aumln de rung der Ar ten be schaumlf tig te umso deut li cher wur de Dar win dass es mit der of fi zi ell be kun de ten Son der stel lung des Men schen im Uni ver sum nicht weit her sein konn te So no tier te er schon er staun lich fruumlh in sein Ta ge buch raquoDer Mensch haumllt sich in sei ner Ar ro ganz fuumlr ein groszlig ar ti ges Werk des be son de ren Ein grei fens ei ner Gott heit wuumlr dig Es duumlrf te be schei de ner und wie ich glau be auch rich tig sein ihn als aus den Tie ren ent stan-den an zu se henlaquo13

Dar win hat te den noch zwoumllf Jah re ge zouml gert bis er sich schlieszlig lich ge trau te nach der all ge mei nen Dar stel lung ei ner Evo-lu ti ons the o rie im Jahr 1859 sei ne Schluss fol ge run gen in Be zug auf den Men schen in Druck zu ge ben Die Ab stam mung des Men schen aus dem Jahr 1871 ist ein ge maumlch li ches Buch in ver-soumlhn li chem Ton fall Der Na tur for scher er zaumlhlt da rin wie ein gu-ter al ter Groszlig va ter wo her die Pfan zen die Tie re und die Eng-laumln der kom men Die raquoAb wer tunglaquo des Men schen geht da bei ein her mit ei ner kon ti nu ier li chen raquoAuf wer tunglaquo der Tie re raquoWir ha ben ge se henlaquo schreibt Dar win raquodass die Emp fin dun gen und Ein druuml cke die ver schie de nen Er re gun gen und Fauml hig kei ten wie Lie be Ge daumlcht nis Auf merk sam keit Neu gier de Nach ah mung Ver stand usw de ren sich der Mensch ruumlhmt in ei nem be gin nen-den oder zu wei len selbst in ei nem gut ent wi ckel ten Zu stand bei den nie de ren Tie ren ge fun den wer denlaquo14

La marck und Dar win wa ren die Ers ten die mit Mit teln der mo der nen Na tur wis sen schaft be haup te ten was vie le Kul tu ren und Zei ten schon zu vor re li gi oumls ge ahnt hat ten raquoNa tuumlr lichlaquo ist es ab surd eine Tei lung des Tier reichs in zwei Ka te go ri en vor zu-neh men ndash in eine mensch li che und eine nicht mensch li che Ka-13

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Inhalte

Buch lesen

Mehr zum Autor

Zum Buch Basierend auf dem 1997 erschienenen Titel bdquoNoahs Erbeldquo ndash von

den Lesern lange erwartet

Wie sollen wir mit Tieren umgehen Wir lieben und wir hassen wir

verzaumlrteln und wir essen sie Doch ist unser Umgang mit Tieren richtig

und moralisch vertretbar Richard David Precht untersucht mit Scharfsinn

Witz und Kenntnisreichtum quer durch alle Disziplinen die Strukturen

unserer Denkmodelle Ist der Mensch nicht auch ein Tier ndash und was trennt

ihn dann von anderen Tieren Welche Konsequenzen hat das fuumlr uns

Precht schlaumlgt einen groszligen Bogen von der Evolution und

Verhaltensforschung uumlber Religion und Philosophie bis zur Rechtsprechung

und zu unserem Verhalten im Alltag Duumlrfen wir Tiere jagen und essen sie

in Kaumlfige sperren und fuumlr Experimente benutzen Am Ende dieses

Streifzugs steht eine aufruumlttelnde Bilanz Ein Buch das uns dazu anregt

Tiere neu zu denken und unser Verhalten zu aumlndern

Autor

Professor Dr Richard David Precht Richard David Precht geboren 1964 ist Philosoph

Publizist und Autor und einer der profiliertesten

Intellektuellen im deutschsprachigen Raum Er ist

Honorarprofessor fuumlr Philosophie an der Leuphana

Universitaumlt Luumlneburg sowie Honorarprofessor fuumlr

Philosophie und Aumlsthetik an der Hochschule fuumlr

Richard David Precht

Tiere denkenVom Recht der Tiere

und den Grenzen des Menschen

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Richard David Precht

Tiere denkenVom Recht der Tiere

und den Grenzen des Menschen

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Fuumlr Paul und Ha gen El vi ra Ast erix amp Kriem hild die di cke Nol pa Frank-Wal ter amp An ge la

und all die an de ren die un ter mei nen un sach kun di gen Haumln den leb ten und

hof fent lich we nig ha ben lei den muumls sen Und na tuumlr lich fuumlr Ar tus

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 59783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 5 10082021 10493310082021 104933

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In halt

Vor wort 11

Ein lei tung 17

Das Men schen tierDie Ord nung der Schoumlp fung

Wie mensch lich ist die Evo lu ti on 29

Der Pri matWas ist ein Mensch 47

Der auf rech te AffeWas macht den Men schen zum Men schen 60

Sinn und Sinn lich keitWas trennt Mensch und Affe 78

Eins Kom ma sechs Pro zentSind Men schen af fen Men schen 96

Die Tuuml cke des Sub jektsUumlber die Schwierigkeit Tie re zu den ken 110

Das Tier im Auge des Men schenDie Tund ra des Ge wis sens

Wie die Re li gi on un se re Na bel schnur kapp te 127

raquoIch habe kein Tier miss han deltlaquoDas Tier im Al ten Aumlgyp ten 138

Hir ten und Herr scherDas Tier im al ten Ju den tum 153

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 79783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 7 10082021 10493310082021 104933

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Das ver lo re ne Pa ra diesDas Tier in der An ti ke 168

raquoKuumlm mert sich Gott etwa um die Och senlaquoDas Tier in Chris ten tum und Is lam 182

Schein hei li ge KuumlheDas Tier bei Hin dus und Bud dhis ten 198

Die Den ker und das lie be ViehDas Tier im Ba rock und in der Auf klauml rung 213

raquoKoumln nen sie lei denlaquoDie Ruumlck kehr des Mit leids 228

Eine neue Tier ethikDas ei ser ne Tor

Wege zu ei ner modernen Tier ethik 249

Schutz oder RechtDie Ethik der Be frei ung 267

Eine art ge rech te Mo ralMen schen ndash Tie re ndash Ethik 280

Gut bes ser am bes tenDie Ethik des Nicht wis sens 296

Was tunLie ben ndash Has sen ndash Es sen

Un ser all taumlg li ches Cha os im Um gang mit Tie ren 313

Ein kur zer Text uumlber das Touml tenDas Tier und das Ge setz 326

Na tur schutz oder Lust mordDuumlr fen wir Tie re ja gen 343

Jen seits von Wurst und KaumlseDuumlr fen wir Tie re es sen 361

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Das Tier als Dum mySind Tier ver su che le gi tim 380

Al cat raz oder Psycho topVom Nut zen und Nach teil der Tier gaumlr ten fuumlr das Tier le ben 399

Das Zeit al ter der Ein sam keitDie Ethik der Be wah rung 416

Das un ver soumlhn li che Tri um vi ratTier schutz Tier recht und Ar ten schutz 432

Scho pen hau ers Trep peDie Prag ma tik des Nicht wis sens 450

An hangAn mer kun gen 465

Aus ge waumlhl te Li te ra tur 475

Dank 499

Per so nen re gis ter 501

Zitatnach weis 509

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Meer schwein chen be ka men Ko li ken die Ei dech sen leb ten nicht lan ge und die Fi sche haus ten in viel zu vie len Ar ten in ei nem viel zu klei nen Aqua ri um Mei ne Fas zi na ti on paar te sich mit ei-nem schlech ten Ge wis sen Sie um schlan gen ei nan der sehr eng und wa ren sel ten zu tren nen

Ich wur de kein Zoo di rek tor Der schlech te Bi o lo gie un ter richt in der Schu le zer stoumlr te mir mei nen Traum Viel leicht war es auch gut so Der fruuml he re Koumll ner Zoo di rek tor Gun ther No gge sag te zu mir raquoSei en Sie froh dass Sie es nicht ge wor den sindlaquo So er hielt ich mir mei ne Fas zi na ti on fuumlr Tie re aber auch mein schlech tes Ge wis sen

Bei des war noch wach als in der Mit te der Neun zi ger jah re der BSE-Skan dal und gleich da rauf das Klon schaf Dolly die Be-voumll ke rung auf schreck ten Ich schrieb ei nen Es say uumlber Tier ethik und ein Dos si er uumlber Zo o lo gi sche Gaumlr ten fuumlr Die Zeit die Poe sie des Her zens die nur das Bes te fuumlr alle Tie re woll te hier die Pro-sa der Ver haumllt nis se ei nes bar ba ri schen und prob le ma ti schen Um-gangs mit dem Tier in der Ge sell schaft dort

Im Feb ru ar 1997 ver schlug mich der Zu fall nach Braun-schweig zu ei nem Kon gress uumlber raquoTie re ndash Rech te ndash Ethiklaquo Fuumlr mich war es eine Art in tel lek tu el les Wood stock ei ner neu en Be-we gung Men schen aus dem gan zen Bun des ge biet wa ren an ge-reist und auch die Braun schwei ger Be voumll ke rung nahm sehr re-gen An teil Ich lern te Ma nu e la Lin ne mann ken nen die Ge hei me Rauml tin der Tier rechts be we gung die den Kon gress glaumln zend or ga-ni siert hat te Der Schrift stel ler Hans Woll schlauml ger pre dig te in der St-And re as-Kir che ful mi nan te Wor te uumlber den Pa ra dies gar ten und die ab truumln ni ge Mensch heit Der sym pa thi sche Schwei zer Phi lo soph Jean-Claude Wolf ge houmlr te be reits zu den ver sier te ren Den kern auf die sem Ge biet der Phi lo soph Mi cha el Haus kel ler eben so jung wie ich noch zu den Neu e ren Mit dem Bi o lo gen und Phi lo so phen Hans Wer ner In gen siep ei nem der span nends-ten Den ker die mir je be geg net sind und sei ner Le bens ge faumlhr-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 129783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 12 10082021 10493310082021 104933

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tin der Theo lo gin Hei ke Bar anzke ver bin det mich seit dem eine lan ge Freund schaft Auch die Front kaumlmp fer fehl ten nicht Die Tier rechts or ga ni sa ti on Ani mal Peace er leb te ge ra de ei nen Boom an Spen dern und der Tier recht ler Hel mut Kap lan be feu er te die Ak ti vis ten mit ra di ka len Schrif ten und kuumlh nen Spruuml chen

Die Ge dan ken die wir in Vor trauml gen und Ge sprauml chen ver kuumln-de ten dis ku tier ten und uumlber dach ten hat ten da mals noch et was sehr Neu es Zwar hat te der aust ra li sche Phi lo soph Pe ter Sin ger be reits 1975 sein be ruumlhm tes Buch uumlber Die Be frei ung der Tie re ge schrie ben Aber eine Tier rechts be we gung ent stand an ders als in Eng land und den USA in Deutsch land erst lang sam in den spauml ten Acht zi ger jah ren Nun in der Mit te der Neun zi ger jah re war das The ma end lich ge sell schaft lich re le vant ge wor den Koumln-nen wir un se ren all taumlg li chen Um gang mit Tie ren wei ter hin mo-ra lisch recht fer ti gen Die Mas sen me di en grif fen das The ma auf Der Jour na list Man fred Kar re mann dreh te Fil me uumlber Mas sen-tier hal tung Schlacht haumlu ser und Tier trans por te und brach te das Elend der Tie re da mit in die deut schen Wohn zim mer Die in zwi-schen ein ge stell te Zei tung Die Wo che nahm da ge gen den ra di-ka len Fluuml gel der Be we gung ins Vi sier Sie be rich te te uumlber an ge-saumlg te Hoch sit ze ein ge schla ge ne Schau fens ter von Metz ge rei en und warn te auf ei ner Dop pel sei te vor raquoTier schutz ter ro ris muslaquo

In die sem Kli ma er schien im Herbst 1997 mein Buch No ahs Erbe Sei ne Zu stim mung und Ab leh nung ver lief wie ich es mir er hofft hat te oft quer zu den etab lier ten Freund-Feind-Li ni en zwi schen Tier schuumlt zern Ar ten schuumlt zern und Tier recht lern Be-dau ert habe ich da bei ei gent lich nur jene Kri ti ken die mir von ei nem pa tho lo gi schen Men schen bild bis hin zu ei ner raquooumlko fa-schis ti schenlaquo Ge sin nung so ziem lich al les un ter stell ten wo von ich selbst in den fins ters ten Win keln mei nes Wir bel tier ge hirns nie mals ge traumlumt hat te

Seit dem ist viel und we nig ge sche hen Seit No vem ber 1999 er-freu en sich die Men schen af fen in Neu see land und wa ren es da-

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mals auch nur acht an der Zahl ei nes un an tast ba ren Rechts auf Le ben Der Tier schutz wur de 2002 als Staats ziel im deut schen Grund ge setz ver an kert Die gra vie rend ste Ver aumln de rung aber sind ohne Zwei fel die vie len Men schen die sich feisch los oder ve-gan er naumlh ren Das Wort raquove ganlaquo in den Neun zi gern noch et-was houmlchst Obs ku res das nur von we ni gen selt sam blut lee ren Bio-Vam pi ren be trie ben wur de ist heu te in al ler Mun de Ein vega nes Koch buch er reich te juumlngst eine Mil li o nen auf a ge Und na he zu je der kennt ei nen Vega ner oder haumlu fi ger eine Ve gan erin Nach ei ner Um fra ge des Al len sba cher Ins ti tuts aus dem Jahr 2015 gibt es in Deutsch land in zwi schen 78 Mil li o nen Ve ge ta-rier und 900 000 Vega ner1

In den west li chen In dust rie na ti o nen steigt die Sen si bi li taumlt im Um gang mit Tie ren un auf halt sam an ins be son de re bei jun gen Frau en Doch die se Hal tung hat zu gleich et was sehr Pri va tes Schoumln heit Fit ness Ge sund heit und Tier lie be sind meist auf ei-nen Nah ho ri zont be schraumlnkt Wa ren der Kampf fuumlr Tier rech te und die veg ane Er naumlh rung fruuml her fast un trenn bar mit ei nan der ver bun den ge we sen so hat sich das eine heu te vom an de ren ge-loumlst In West eu ro pa gibt es in zwi schen mehr Mas sen tier hal tung mehr Le ge bat te ri en und mehr in dust ri el les Tier elend als je zu-vor Gut ver steckt vor der Oumlf fent lich keit ar bei tet die se Ma schi-ne rie trotz ge le gent li chen Pro tes ten hef ti ger denn je Noch nie war die Kluft so groszlig die das was Men schen im Um gang mit Tie ren fuumlr rich tig hal ten und das was tat saumlch lich prak ti ziert wird von ei nan der trennt So lan ge wir un se re Er naumlh rung und un ser per soumln li ches Ver haumllt nis zu Tie ren als Pri vat sa che auf fas-sen so lan ge wird die mil li o nen fa che Grau sam keit ge gen Tie re wei ter hin ge sell schaft lich ak zep tiert

In die ser Lage stel len sich man che Fra gen die in No ahs Erbe be han delt wur den an ders und neu Auch vie le Zah len sind wie koumlnn te es auch an ders sein ver al tet In den Wis sen schaf ten wie der Pal aumlo anth ro po lo gie der Prim atolo gie und der Ver hal tens-1

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oumlko lo gie ist in den letz ten bei den Jahr zehn ten ei ni ges ge sche-hen das es zu be ruumlck sich ti gen gilt Die his to ri sche For schung uumlber das Ver haumllt nis von Mensch und Tier hat man ches Neue zu ta ge ge foumlr dert eben so in den Re li gi o nen wie in der Phi lo so-phie Die aka de mi sche De bat te uumlber eine an ge mes se ne raquoTier-ethiklaquo hat stark an Fahrt auf ge nom men Und nicht zu letzt hat mei ne ei ge ne Be schaumlf ti gung mit dem We sen und den Spiel re geln mo ra li schen Han delns zu man cher neu en Ein schaumlt zung und Be-wer tung ge fuumlhrt Man ches von dem was Men schen tun oder las sen er scheint mir mit uumlber fuumlnf zig in ei nem an de ren Licht als mit An fang drei szligig hellip

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Be lan ge re gelt eben so wie jene des Maul wurfs das Tier schutz-ge setz Maul wuumlr fe und Schim pan sen sind kei ne Rechts sub jek-te Man darf sie in enge Kauml fi ge ein pfer chen man darf sie mit Elektro schocks fol tern mit toumld li chen Kei men in fi zie ren sie am le ben di gen Leib ver aumlt zen sie ver stuumlm meln und ver gif ten

Das ver nuumlnf ti ge und sitt li che Le ben und das un ver nuumlnf ti ge rohe Le ben tei len die Welt in zwei Herr schafts be rei che Ei ner da von be sitzt ein mo ra li sches Sie gel Der an de re da ge gen ist ein na he zu un be schrie be nes Blatt Fast hun dert sech zig Jah re ist es her dass der bri ti sche Na tur for scher Charles Dar win den ge-mein sa men Ur sprung die fie szligen den Uumlber gaumln ge und zar ten Ver-aumls te lun gen al len Le bens be wies Doch Men schen gel ten we der all tags sprach lich noch recht lich als Tie re Eine alte Ge wohn heit trennt den Men schen von sei nen ani ma li schen Ver wand ten Es ge houmlrt zu den ei gen tuumlm li chen Fol gen der Dar win rsquoschen Wen de dass sie mit ei ni gen klei ne ren Kor rek tu ren das anth ro po zent ri-sche Welt bild un an ge tas tet lieszlig Kaum je mand duumlrf te sich als je-ner Tro cken na sen pri mat in der Ver wandt schaft von Men schen-af fen Meer kat zen und Pa vi a nen se hen als den uns die Zo o lo gie klas si fi ziert Statt des sen de fi nie ren wir uns als Men schen und ge-ben uns alle Muumlhe un se re ani ma li sche Na tur zu ver ges sen und zu ver ber gen

Das Band zu den an de ren Tie ren ha ben wir vor lan ger Zeit zer schnit ten Vor etwa 10 000 Jah ren hat der Mensch ge lernt die Roh stoff re ser ve raquoTierlaquo plan mauml szligig zu zuumlch ten Er haumllt sie von nun an in Form ei nes le ben den Ver sor gungs vor rats zum ei-ge nen Nut zen und From men In den An faumln gen der Tier zucht leg ten man che sess haft ge wor de nen Jauml ger ge stor be ne Hun de in da fuumlr vor ge se he ne Gru ben und be stat te ten so gar Mut ter Kind und Rin der ge mein sam Wel ten klaf fen zwi schen dem ani mis ti-schen Glau ben der ers ten Vieh zuumlch ter und der ma te ri a lis ti schen Mas sen tier hal tung der mo der nen Ge sell schaft Mit dem Ende der Kon kur renz schwand die Not wen dig keit sich mit dem Tier

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als ei nem Le be we sen aus ei nan der zu set zen Heu te nut zen wir die Res sour ce raquoTierlaquo voumll lig frag los fuumlr die An spruuml che des Men schen Das Ge mein sa me von Tier und Mensch trat in den Hin ter grund Zwar leb te das Tier noch im mer in der kul tu rel len Fan ta sie fort als ma gi sche oder fan tas ti sche Ge stalt als Freund Ge faumlhr te oder Be dro hung Doch die Be deu tung in der All tags welt er mat te te auf Schwund stu fen der Na tur wie Schoszlig hund Zier gup py Le ge hen-ne und Zir kus pferd Gren zen los uumlber le gen und un ab haumln gig ge-gen uumlber den Tie ren sei ner Um welt ent wi ckel te sich im mensch-li chen Be wusst sein ein voumll lig ent frem de tes Ver haumllt nis Nicht nur ra di ka le Aus nut zung und Sa dis mus auch falsch ver stan de ne Lie-be De na tu rie rung und un frei wil li ge Quauml le rei be stim men seit her den mensch li chen Um gang mit dem Tier

Bis ins fruuml he Mit tel al ter uumlber wog die Zahl der wil den Tie re die An zahl der Nutz- und Haus tie re die der Mensch in sei nen Dienst ge stellt hat te Doch spauml tes tens mit dem Sie ges zug des Ka pi ta lis mus in West eu ro pa und Nord a me ri ka ver schwan den die Res te der Ehr furcht in die Maumlr chen buuml cher und Zir kus dar-bie tun gen Mo der ne Agrar un ter neh men In dust rie met ro po len Au to bah nen und Hoch span nungs mas ten bil den das Or na ment un se rer Um welt die wir seit meh re ren hun dert Jah ren raquoLand-schaftlaquo nen nen Nir gend wo in der All tags welt ei nes Men schen der west li chen Zi vi li sa ti on be geg net uns das Tier noch als Kon-kur rent nicht bei der Er naumlh rung nicht im Kampf um den Le-bens raum und nicht als Fress feind des sen Zaumlh ne und Klau en ernst haft Furcht er re gen koumlnn ten Das ein zig Be droh li che das heu te bleibt sind aus ge rech net ein paar klei ne Tie re etwa Rat-ten und Maumlu se die letz ten ge faumlhr li chen Fress kon kur ren ten des Men schen Dazu kom men In sek ten Mik ro ben und Vi ren

Das Band zwi schen uns und den an de ren Tie ren wuchs auch nicht da durch wie der zu sam men dass wir die Tie re uumlber die Wis-sen schaft als Ver wand te wie der ent deck ten Seit mehr als zwei-tau send Jah ren sieht sich der Mensch als le gi ti mer Herr scher

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uumlber eine be herrsch ba re Um welt dazu ge schaf fen sie zu nut zen und aus zu beu ten Un se re Evo lu ti on hat sich da bei ra sant be-schleu nigt Laumlngst fin det sie kaum noch in un se rem Koumlr per statt son dern vor al lem in un se rer Tech nik und Kul tur Und schon lan ge dient sie nicht mehr dazu sich der Na tur an zu pas sen Sie dient ei ner im mer wie der neu ge schaf fe nen mensch li chen Kul-tur An pas sung be deu tet heu te sich an den ei ge nen Fort schritt an zu pas sen mit all den be kann ten Fol gen fuumlr un se re Um welt Dra ma ti sche Kli ma wech sel die Zer stouml rung der schuumlt zen den Ozon schicht die Ver step pung wei ter Land stri che auf al len Suumld-kon ti nen ten und die Ver gif tung der Mee re ver nich ten nicht nur die nicht mensch li che Tier welt sie be tref fen mehr und mehr den Men schen selbst

In atem be rau ben dem Tem po be schleu nig te das in dust ri a li sier-te 20 Jahr hun dert die Be herr schung und Aus beu tung der Na-tur und mit ihr die der Tie re Schon in den ver gan ge nen Jahr-tau sen den hat te Homo sap iens den ge sam ten Pla ne ten in Be sitz ge nom men Kein grouml szlige res Wir bel tier be sitzt ein sol ches Ver brei-tungs ge biet be wohnt Wuumls ten Re gen waumll der und Po lar re gi o nen glei cher ma szligen Und kein grouml szlige res Wir bel tier hat sich zu Mil li ar-den ver mehrt Ruumlck sichts lo se Pluumln de rung der Roh stof fe und ein un ge heu res Be voumll ke rungs wachs tum der Spe zi es Homo sap iens schaf fen ei nen erd ge schicht li chen Aus nah me zu stand

Der Mensch be herrscht heu te den Pla ne ten aber of fen sicht-lich nicht sich selbst Es koumlnn te da ran lie gen dass es raquoden Men-schenlaquo gar nicht gibt Statt des sen gibt es mehr als sie ben Mil li-ar den un ter schied li che In di vi du en Und nie mand da von ist fuumlr die Mensch heit zu staumln dig Sie ist eine Ge mein de der an zu ge houml-ren nicht dazu ver pfich tet sich um das Gan ze zu sor gen und zu kuumlm mern

Zu herr schen be deu tet Ord nun gen zu etab lie ren und Re geln da fuumlr auf zu stel len was wich tig ist und un wich tig rich tig oder falsch Jahr hun der te lang sah die Mo ral der abend laumln di schen

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Zivi li sa ti on in der Aus rot tung der Wild tie re und Aus beu tung der Nutz tie re na he zu kein Pro blem Eine kla re Grenz zie hung er-laub te je den Um gang mit dem Tier von der Lie be bis zur Fol ter von der Zucht bis zur Touml tung Das Ar gu ment war schlicht Der Mensch ist eine Son der an fer ti gung Got tes und mit dem Tier ge-ra de mal durch den lo sen Fa den der goumltt li chen Schoumlp fung stat ver bun den So kam in den Wor ten des deutsch-fran zouml si schen The o lo gen und Arz tes Al bert Schweit zer raquodie An sicht auf dass es wert lo ses Le ben gaumlbe des sen Schauml di gung und Ver nich tung nichts auf sich habe Un ter wert lo sem Le ben wer den dann je nach den Um staumln den Ar ten von In sek ten oder pri mi ti ve Voumll ker ver stan denlaquo2 (Eine Kli en tel die sich uumlber dies noch um Frau en er wei tern lie szlige)

Die se Gren ze wur de und wird in der abend laumln di schen Kul-tur ge schich te va ri an ten reich ver tei digt Doch je ge nau er wir sie be trach ten umso selt sa mer er scheint sie uns Denn sie laumlsst sich im mer schlech ter be gruumln den und zwar so wohl phi lo so phisch als auch bi o lo gisch Seit etwa vier zig Jah ren be steht in der Ge-sell schaft eine De bat te die un se ren Um gang mit Tie ren grund-saumltz lich in fra ge stellt Tier e thi ker wie Pe ter Sin ger und sein US-ame ri ka ni scher Phi lo so phen kol le ge Tom Re gan for dern Rech te auch fuumlr Tie re Der Aus schluss der Tie re aus der Ethik sei ein mo ra li scher Skan dal Das Tier heu te mo ra lisch drau szligen vor der Tuumlr zu las sen sei das Erbe ei nes re li gi ouml sen Aber glau bens Da der Mensch kei ne Son der an fer ti gung Got tes sei son dern ein in tel-li gen tes Tier muumlss ten wir die Reich wei te der Mo ral eben so auf die raquoan de ren Tie relaquo aus deh nen Ha ben wir nicht nach und nach ge lernt die Skla ve rei zu aumlch ten und Frau en als gleich be rech tig-te Men schen zu ach ten Und ist es nun nicht an der Zeit neu uumlber Tie re nach zu den ken und sie mo ra lisch an ge mes sen zu be-ur tei len

Doch wie koumlnn te ein sol cher an ge mes se ner Um gang mit den an de ren Tie ren aus se hen Den Men schen als ein Tier un ter an-2

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de ren an zu se hen koumlnn te ja auch be deu ten ihn ab zu wer ten statt die Tie re mo ra lisch erns ter zu neh men Das Un heil des So zi-al dar wi nis mus und der bar ba ri schen Ras sen the o rie ste ht uns mah nend vor Au gen Und was ist uumlber haupt das Kri te ri um da-fuumlr Tie re mo ra lisch zu ach ten Ist es ihre Lei dens fauml hig keit ihr Le bens wil le oder ihre In tel li genz Ha ben klu ge Tie re ein houml he-res Le bens recht als duumlm me re Das Ver haumllt nis des Men schen zu den an de ren Tie ren neu zu be wer ten ist eine gro szlige und schwie-ri ge Auf ga be

Ich moumlch te in die sem Buch ver su chen die se Fra gen neu zu stel len und zu durch den ken Da bei be trach te ich den Men schen als ein be son de res Tier un ter vie len auf an de re Wei se be son de ren Tie ren Ich moumlch te mich nicht da rauf fest le gen den Men schen all ge mein uumlber be stimm te Ei gen schaf ten zu de fi nie ren die ihn ethisch wert voll ma chen sol len Ich moumlch te ihm aber auch nicht im Um kehr schluss alle ge mein hin als raquomensch lichlaquo be zeich ne ten Ei gen schaf ten ab spre chen weil nicht alle Men schen Trauml ger all die ser Ei gen schaf ten sind Viel leicht ist be reits das Su chen nach sol chen ex klu si ven Ei gen schaf ten der fal sche Weg Der Denk-feh ler koumlnn te be reits da rin lie gen ei gen staumln di ge Dis zip li nen wie raquoAnth ro po lo gielaquo oder raquoMo ral phi lo so phielaquo be trei ben zu wol len die eine sol che enge De fi ni ti on des Men schen vo raus set zen Waumlre es nicht bes ser die Enge des Be griffs zu spren gen Statt Anth-ro po lo gie zu be trei ben soll te man sich lie ber mit ei ner Anthroshyzo o lo gie be schaumlf ti gen ndash eine Leh re vom Men schen tier und den an de ren Tie ren

Der Be griff ist neu er wur de erst vor we ni gen Jah ren un ter an de rem von dem US-ame ri ka ni schen Psy cho lo gen Hal Her zog ein ge fuumlhrt3 Die neue Dis zip lin der Hu manshyAni mal Stu dies kon-zent riert sich weit rei chend da rauf was Men schen und an de re Tie re ver bin det Da bei ver wen de ich den Be griff raquoAn thro zo o-lo gielaquo al ler dings et was an ders als Her zog und die Ver tre ter der Hu man-Ani mal Stu dies Es ist ein et was ein touml ni ger Sport al les 3

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was ge mein hin als raquomensch lichlaquo be trach tet wird als My thos zu ent zau bern Ich moumlch te es lie ber an ders ein bet ten und be wer ten Denn ich mei ne dass die Ver tre ter der Hu man-Ani mal Stu dies ihre De fi ni ti on des Men schen als ein Tier un ter Tie ren nicht ganz zu Ende den ken Denn waumlre der Mensch durch nichts Mensch-li ches grund saumltz lich vom Tier un ter schie den wie sie an neh men so lieszlige sich auch nicht ein for dern dass Men schen sich aus vershynuumlnf ti ger Ein sicht an ge mes sen ge gen uumlber Tie ren ver hal ten sol len

Um mensch li ches Han deln zu ver ste hen muumls sen wir ver ste-hen in wel chem Rah men Men schen die Welt se hen sich ori en-tie ren und han deln Die bei den ers ten Tei le des Bu ches skiz zie-ren die sen bi o lo gi schen und den kul tu rel len Rah men In ih nen moumlch te ich zei gen auf wel che Art und Wei se Men schen sich un-ter Tie ren ver hiel ten und ver hal ten Da bei be schaumlf tigt sich der ers te Teil mit der Fra ge was fuumlr ein spe zi el les Tier der Mensch ei gent lich ist Wie ist sei ne Rol le in der Evo lu ti on Und nach wel chen Denk mus tern ha ben Men schen die se Chro nik un se rer selbst seit der An ti ke ge schrie ben (Die Ord nung der Schoumlpshyfung) Wel che Stel lung hat sich Homo sap iens in der Na tur da-durch ge si chert dass er sie sich zu schrieb (Der Pri mat)

In je der mensch li chen Wis sen schaft vom Le ben be steht bis heu te still schwei gend oder laut hals ver kuumln det zwi schen Mensch und Tier eine Gren ze Doch weiszlig we der die E vo lu ti ons bi o lo-gie noch die Pal aumlo anth ro po lo gie mit Ge wiss heit zu sa gen an wel chem Punkt sich nur ani ma li sches von mensch li chem Le ben schei det Was ha ben Pal aumlo anth ro po lo gen in den letz ten hun dert Jah ren da ruuml ber ge glaubt Und was den ken sie heu te (Der aufshyrech te Affe) Da bei wer den wir se hen dass es mit der Gren ze zwi schen dem Men schen und den an de ren Tie ren eine aumlu szligerst komp li zier te Sa che ist Seit Jahr zehn ten mes sen und ver glei chen Ver hal tens for scher die kog ni ti ven Leis tun gen von Tie ren mit je-nen des Men schen mit dem uumlber ra schen den Er geb nis dass Tie re in na he zu al len raquowich ti genlaquo Punk ten un ter le gen sind bei Kul tur-

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leis tun gen wie Werk zeug ge brauch und Re li gi on eben so wie beim Er werb der mensch li chen Spra che Doch ha ben wir bei sol chen Mes sun gen tat saumlch lich den rich ti gen den fai ren Maszlig stab Ist es sinn voll die In tel li genz von Men schen af fen mit uns zu ver glei-chen (Sinn und Sinn lich keit)

Die Mo le ku lar ge ne tik zeigt uns dass Men schen bi o lo gisch Schim pan sen sind Wel che Kon se quen zen zie hen wir da raus (Eins Kom ma sechs Pro zent) Nach dem wir den Men schen auf die se Wei se bi o lo gisch ein ge kreist ha ben wer fen wir noch ei nen Blick da rauf wie ob jek tiv un ser Wis sen vom Men schen und den an de ren Tie ren ist Was koumln nen wir uumlber haupt uumlber das Be wusst-sein an de rer Tie re wis sen Stellt es nicht eine so gro szlige Bar ri e re dar dass wir zu ge ben muumls sen nichts De fi ni ti ves sa gen zu koumln-nen (Die Tuuml cke des Sub jekts)

Im zwei ten Teil wer fe ich ei nen Blick in die Kul tur ge schich te des Mensch-Tier-Ver haumllt nis ses Was ha ben Men schen zu wel cher Zeit uumlber Tie re ge dacht und wa rum Wie hat man sie be han delt Und wel che Sen si bi li taumlt oder Kaumll te setz te sich wa rum durch Was wis sen wir da ruuml ber aus der Jung stein zeit (Die Tund ra des Ge wis sens) Was glaub ten und dach ten die al ten Aumlgyp ter (raquoIch habe kein Tier miss han deltlaquo) Und wa rum ent zau ber te das alte Ju den tum die Tie re (Hir ten und Herr scher)

In der abend laumln di schen Phi lo so phie gibt es seit der An ti ke sehr un ter schied li che Deu tun gen von Tie ren Mal se hen die Den ker eine gro szlige spi ri tu el le oder na tur ge schicht li che Naumlhe mal er he-ben sie den Menschen qua sei ner Ver nunft zum un ein ge schraumlnk-ten Wel ten herr scher (Das ver lo re ne Pa ra dies) In der christ li chen Re li gi on da ge gen wer den Men schen und Tie re deut lich von ei-nan der ge schie den eine Son der an fer ti gung hier eine Drein ga-be dort Das Chris ten tum ent fernt die tier freund li chen Mo men-te der juuml di schen Re li gi on aus den Glau bens leh ren (raquoKuumlm mert sich Gott etwa um die Och senlaquo) An ders ver laumluft der Weg in In di en Chi na und Suumld ost a si en Das Welt bild und die Tier ethik

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von Hin dus und Bud dhis ten un ter schei den sich von der un se-ren (Schein hei li ge Kuumlhe) Im Abend land da ge gen do mi niert in der Nach fol ge des fran zouml si schen Phi lo so phen Reneacute Des car tes eine raquora ti o na lis ti schelaquo kal te Pers pek ti ve auf das Tier Tie re weil sie nicht ver nunft fauml hig sei en wer den kaum noch als Le be we sen wahr ge nom men ndash eine Po si ti on die im 18 Jahr hun dert al ler-dings ziem lich kont ro vers dis ku tiert wird (Die Den ker und das lie be Vieh) Nach und nach ent ste hen im spauml ten 18 Jahr hun dert eine neue Mit leids ethik und so gar ers te For de run gen nach Rech-ten fuumlr Tie re (raquoKoumln nen sie lei denlaquo)

Im drit ten Teil moumlch te ich eine ei ge ne ethi sche Hal tung ent-wi ckeln Zu naumlchst wer den The o ri en von Phi lo so phen des 20 Jahr hun derts vor ge stellt die wie Al bert Schweit zer raquoEhr furcht vor dem Le benlaquo ver lan gen oder Tie ren ei nen ho hen mo ra li schen Sta tus zu spre chen wie Pe ter Sin ger und Tom Re gan (Das ei sershyne Tor) Die se Po si ti o nen zwin gen dazu grund saumltz li cher da ruuml-ber nach zu den ken was das raquoTier rechtlaquo vom raquoTier schutzlaquo un-ter schei den soll (Schutz oder Recht) An schlie szligend moumlch te ich die Schwach stel len der gaumln gi gen Tier rechts phi lo so phi en he raus-ar bei ten und zei gen wa rum ich sie we der dem Men schen fuumlr an-ge mes sen hal te noch fuumlr all ge mein prak ti ka bel (Eine art ge rech te Mo ral) Da ran schlie szligen sich mei ne Uumlber le gun gen an was ein an ge mes se ner Um gang mit Tie ren sein koumlnn te (Gut besser am besten)

Sol cher ma szligen ge ruumls tet koumln nen wir uns im vier ten Teil mit den vie len Prob le men be fas sen die sich im All tag stel len Das ers te die ser Ka pi tel bi lan ziert das all taumlg li che Cha os im Um gang mit Tie ren (Lie ben ndash Has sen ndash Es sen) Da nach wen den wir den Blick auf die recht li che Si tu a ti on und un ter zie hen die Lo gik un-se res Tier schutz ge set zes ei ner ge nau e ren Pruuml fung (Ein kur zer Text uumlber das Touml ten) Das naumlchs te Ka pi tel gilt der Jagd Ist Ja gen art ty pi sches Ver hal ten des Men schen oder eine staat lich le gi ti-mier te Per ver si on (Na tur schutz oder Lust mord) Und wie sieht

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es mit un se rer Er naumlh rung aus Wel che Ar gu men te spre chen da-fuumlr dass Men schen in un se ren heu ti gen west li chen Ge sell schaf-ten noch Tie re touml ten duumlr fen um sich von ih nen zu er naumlh ren Und wel che Ar gu men te spre chen da ge gen Viel leicht gibt es so gar schon in Kuumlr ze ei nen Aus weg der uns end lich hilft die Mas sen-tier hal tung zu be sei ti gen (Jen seits von Wurst und Kaumlse) Eben so stellt sich die Fra ge un ter wel chen Um staumln den Tier ver su che zu-kuumlnf tig er laubt sein soll ten und un ter wel chen nicht (Das Tier als Dum my) Ist es mo ra lisch ver tret bar Tie re in Zo o lo gi schen Gaumlr ten zu hal ten Und wenn ja wel che und wel che nicht (Alshycat raz oder Psycho top) Zoos ver ste hen sich heu te als raquoNa tur-schutz zent renlaquo die Tie re er hal ten die in ih ren Hei mat laumln dern vom Aus ster ben be droht sind Wie ist dies zu be wer ten (Das Zeit al ter der Ein sam keit) Da bei sto szligen wir auf die Schwie rig-keit dass Tier schutz Tier recht und Ar ten schutz kei ne na tuumlr li-chen Ver buumln de ten sind son dern sich in ih rer Phi lo so phie ih rer Welt an schau ung und ih ren Ziel set zun gen stark un ter schei den (Das un ver soumlhn li che Tri um vi rat) Das Schluss wort bi lan ziert die se Er kennt nis se und fragt was wir aus al le dem prag ma tisch fol gern soll ten und in wel chen Schrit ten es ge sche hen koumlnn te (Scho pen hau ers Trep pe)

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Das Men schen tier

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Wahr heit zu hal ten Aber die ses Bild hat sich schon oft ver aumln-dert und es wird sich ge wiss noch wei ter ver aumln dern

Men schen nei gen dazu die Welt in der sie le ben auf zu raumlu-men Es ist eine ziem lich art ty pi sche Ver hal tens wei se Wir sor tie-ren die all taumlg li chen Din ge un se res Le bens und eben so sor tie ren wir die Ge dan ken uumlber die Welt die uns um gibt Jede Ord nung auch die der Na tur ist also ein mensch li cher Ent wurf Und al-lem An schein nach ent stand das Be duumlrf nis die Welt zu ord nen in un se rer Ent wick lungs ge schich te pa ral lel zur Ent wick lung der Spra che Denn ohne die kuumlnst li che Auf raumlum ar beit der Spra che waumlre die Vor stel lung von ei ner raquoOrd nung der Schoumlp funglaquo oder der raquoNa turlaquo nicht moumlg lich

Wer auf die Ord nung an ge wie sen ist be wegt sich gern in den si che ren Gren zen ei nes Sys tems Nur in ner halb ei nes sol chen Ord nungs ge fuuml ges fragt man nach Wahr heit und Gel tung Rich-tig keit Me tho de und Be deu tung Zu leicht uumlber sieht der Ord ner dann die kuumlnst li che Be hau sung und die selbst ge zim mer ten Re-ga le in die er die Welt so sorg faumll tig hi nein sor tiert Sel ten ge lingt ihm ein Blick aus dem Fens ter in die un ge wis se Land schaft die ihn um gibt Und nur ein ge wal ti ger Sturm ein Blitz schlag oder eine Er schuumlt te rung zwingt den Ver wal ter der Welt die si che re Wohn statt zu ver las sen und sich ein an de res Haus zu bau en das den An fein dun gen des neu en Kli mas wi der steht

Erst im Ruumlck blick auf die vie len Irr tuuml mer der Ver gan gen heit er ken nen wir dann un se re ei ge ne Un zu laumlng lich keit beim Auf-raumlu men In der Ge gen wart er scheint uns die je wei li ge Ord nung meis tens so selbst ver staumlnd lich dass wir gern uumlber jede Moumlg-lich keit der Ver aumln de rung lauml cheln So ha ben Men schen mit voumll li-ger Ge wiss heit an ge nom men dass die Erde eine Schei be ist und dass Frau en und Skla ven kei ne Rech te zu ste hen Und mit ei nem eben sol chen Lauml cheln be trach ten wir heu te die Gruumln de mit de-nen Men schen sich im Lau fe der Jahr hun der te von den Tie ren zu un ter schei den glaub ten

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Schon die al ten Grie chen ins be son de re Aris to te les (384 v Chr ndash 322 v Chr) ha ben sich fuumlr die Ge schich te und das in vie len De tails ver bor ge ne Sys tem der Na tur in te res siert Er teilt die Tie re in Klas sen ein ver sucht zu er gruumln den was Le ben ist und schafft da mit die Grund la gen der Zo o lo gie Aber Aris to te-les kennt nur we ni ge hun dert Tie re Eine raquovoll staumln di ge Na tur-ge schich telaquo wird das ers te Mal im 18 Jahr hun dert ge schrie-ben ndash und auch sie ist aumlu szligerst un voll staumln dig Seit dem ver fuuml gen wir nicht nur uumlber ei nen rei chen Vor rat an ge dach ten Ord nun-gen von den Schoumlp fungs my then bis hin zur Mo le ku lar bi o lo gie Wir ken nen auch eine Wis sen schaft die sich raquoTax ono mielaquo nennt und jede Pfan ze und je des Tier sys te ma tisch in eine In ven tar liste der Na tur ein traumlgt

Da bei ver ra ten die Denk sche ma ta der Na tur for scher nicht nur et was uumlber die klas si fi zier te Na tur selbst son dern eben so uumlber das Ord nungs be duumlrf nis und die Pfif fig keit des mensch li-chen Geis tes Das 18 Jahr hun dert ist eine Zeit in der das Buumlr-ger tum an die Macht draumlngt und sich zu neh mend ge gen den Adel auf ehnt Sei ne schaumlrfs te Waf fe ist et was das man raquoVer nunftlaquo oder raquoRa ti o na li taumltlaquo nennt und das man ge gen den Glau ben ins Feld fuumlhrt Fuumlr die Phi lo so phen der Ra ti o na li taumlt ist die Welt kei-ne vor ge fun de ne Schoumlp fung mit fes ter Ord nung son dern et was dass man geis tig durch drin gen und auf sei ne Lo gik und Wi der-spruuml che un ter su chen kann Da bei ge ben zu naumlchst die Phy sik und die Ma the ma tik das Sche ma vor nach dem alle Er kennt nis auch jene von Pfan zen und Tie ren funk ti o nie ren soll Die Sys te ma ti-ker der Na tur ge schich te su chen nach un ver ruumlck ba ren Kri te ri en ob jek ti ven Ge setz mauml szligig kei ten und lo gi schen Ver bin dun gen um die un uuml ber sicht li che Welt der Le be we sen ih rer raquowah ren An ord-nunglaquo ge maumlszlig ein zu tei len Aber nicht alle Na tur for scher glau-ben dass ein sol ches Vor ha ben tat saumlch lich ge lin gen kann Man-che hal ten die Na tur fuumlr zu reich hal tig um sie auf die se Wei se zu klas si fi zie ren Welt an schau un gen tref fen auf ei nan der auf der

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 319783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 31 10082021 10493410082021 104934

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ei nen Sei te der Glau be an ein vom Men schen prin zi pi ell voumll lig durch schau ba res Na tur sys tem auf der an de ren Sei te eine un er-gruumlnd li che Schoumlp fung in der der Mensch sich im mer nur tas-tend fort be wegt

Die ers te Va ri an te gilt im 18 Jahr hun dert als der mo der ne-re An satz Man ori en tiert sich da bei an ei nem Ra ti o na lis mus den Reneacute Des car tes (1596 ndash 1650) schon hun dert Jah re zu vor neu be gruumln det hat Die ser Ra ti o na lis mus ori en tiert sich an der Me cha nik Die Schoumlp fung Got tes er scheint als eine ein zi ge klug aus ge tuumlf tel te Ma schi ne die der Mensch Stuumlck fuumlr Stuumlck zu be-herr schen lernt Und das Uni ver sum be steht aus Ma te rie in Be-we gung or ga ni siert nach ma the ma ti schen Ge set zen Ob gleich das 18 Jahr hun dert zent ra le Spe ku la ti o nen des Phi lo so phen wi-der legt ori en tiert es sich in vie lem an Des car tesrsquo me cha nis ti scher Denk wei se Sie tut dies vor zugs wei se in je nen Dis zip li nen de-ren Er kennt nis fort schritt zu naumlchst ge ring bleibt Und nir gend-wo trifft dies in ei nem sol chen Maszlig zu wie bei der Er for schung der bi o lo gi schen Na tur

Doch die ses Welt bild hat prob le ma ti sche Fol gen Wer die Welt kon se quent nach me cha nis ti schen Grund saumlt zen be trach tet hat fuumlr den Be reich der nicht mensch li chen Na tur we nig Ver staumlnd nis Fuumlr Des car tes sind Tie re nichts als Ma schi nen Es macht kei nen Un ter schied ob eine Ma schi ne die aumlu szlige re Ge stalt und die in ne-ren Or ga ne ei nes Af fen hat oder ob es sich da bei tat saumlch lich um ein le ben des Tier han delt Denn relevantes Le ben kommt fuumlr den Den ker nicht durch zir ku lie ren des Blut und Reizempfindungen in den Koumlrper Son dern bedeutsames Le ben ga ran tie ren ein zig und al lein der er leuch te te Geist und sei ne Spra che

Des car tesrsquo Zeit kennt we der den Be griff des raquoOr ga nis muslaquo die Be son der heit des Le bens noch die Evo lu ti on son dern eben nur die Me cha nik Trotz dem ist sei ne The o rie von den Tie ren als see len lo se Au to ma ten im 17 und 18 Jahr hun dert aumlu szligerst um-strit ten Fran zouml si sche Phi lo so phen schrei ben Buch um Buch uumlber

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die Tier-Fra ge und be feh den sich da bei uumlber mehr als hun dert Jah re Noch weiszlig man nichts von ei ner raquoBi o lo gielaquo Man be treibt eine neue Dis zip lin die sich raquoNa tur ge schich telaquo nennt und da-mit auf raumlumt die Ge schich te von Le be we sen als eine wahl lo se Samm lung von Er zaumlh lun gen an zu se hen Bis her schrie ben Au to-ren um stands los von der Fang wei se der Tie re ih rer Ana to mie ih rer bib li schen und al le go ri schen Be deu tung ih rem prak ti schen Ge brauch ih rer Ver meh rung ih ren Stim men und Spra chen ih-ren Be we gun gen ih rem Al ter und von der Sym pa thie oder An-ti pa thie des Ver fas sers Auch Koch re zep te wur den von Fall zu Fall hin zu ge fuumlgt

Ein zo o lo gi sches Sys tem ist zu An fang des 18 Jahr hun derts weit ge hend un be kannt die Ver wandt schafts ver haumllt nis se der Pfan zen und Tie re sind dif fus ge ahnt und wer den eher nach Le-bens raumlu men be stimmt als nach koumlr per li chen Merk ma len Tie re die nachts ja gen ste hen da bei eben so in ei nem Ord nungs ge fuuml ge wie Tie re die fie gen koumln nen im Wald oder in ei nem See le ben Be reits die Pries ter schrift der bib li schen Ge ne sis hat te die Welt der Tie re und Pfan zen nicht nach ana to mi schen Merk ma len un-ter teilt son dern in Be zug auf den Le bens raum Pfan zen und Tie re des Mee res der Luft und der Erde Uumlber mehr als tau send Jah re kann ten auch der Is lam und die Hin dus Ord nungs sys teme die Tie re in ih rem Oumlko sys tem ver an ker ten

In der hin du is ti schen Samk hya-Tra di ti on exis tie ren vier zehn Klas sen un ter schied li cher Le be we sen ein ge teilt in acht For men himm li scher und sechs ir di scher Le be we sen zu de nen auch der Mensch ge houmlrt Als wei te res Un ter schei dungs merk mal dient die Art und Wei se der Ge burt Im gro szligen in di schen Na ti o nal epos aus dem 4 Jahr hun dert dem Ma hab har ata heiszligt es raquoAuf die ser Erde gibt es zwei Ar ten von Le be we sen die Be weg li chen und die Un be weg li chen Die Be weg li chen ha ben ei nen drei fa chen Schoszlig Sie sind aus dem Ei aus feuch ter Hit ze und Le ben dig-Ge bo re ne Von al len be weg li chen Le be we sen wie de rum sind die je ni gen die

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 339783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 33 10082021 10493410082021 104934

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le ben dig ge bo ren sind hellip die bes ten Die bes ten un ter den le ben-dig Ge bo re nen sind die die zum Men schen ge schlecht ge houml ren und die Nutz tie relaquo4

Die neu en Sys te me des 18 Jahr hun derts be frei en die Na tur-ge schich te von al lem was sich mit den Me tho den der Zeit nicht wis sen schaft lich exakt be schrei ben laumlsst Koch re zep te fal len so-wie so un ter den Tisch aber auch man che Ver hal tens be ob ach-tun gen und vor mals wich ti ge Ei gen schaf ten wie zum Bei spiel der Ge ruch Ge forscht wird mit Lupe und Mik ros kop Li ne al und Pin zet te Der wich tigs te Mann auf die sem Ge biet ist der schwe-di sche Na tur for scher Carl von Linneacute (1707 ndash 1778) Er ori en-tiert sich an Aris to te les den er be wun dert nicht an Des car tes Ge ra de zu re vo lu ti o naumlr de mo kra tisch ent wi ckelt der auf ge klaumlr te Schwe de im 18 Jahr hun dert ein be schrei ben des Sys tem der Na-tur frei vom the o lo gi schen Fir le fanz sei ner Zeit Mit der Ak ri bie ei nes Brief mar ken samm lers dem Voll staumln dig keit mehr be deu tet als das Be stau nen ein zel ner Wer te ord net er die be leb te Na tur nach Ar ten Gat tun gen Ord nun gen und Klas sen Vier Va ri ab len die Form der Ele men te ihre An zahl die raumlum li che An ord nung der Ele men te und ihre re la ti ve Grouml szlige be stimm ten von nun an den Platz im Sys tem

Un ter der Leit dis zip lin der Bo ta nik wan delt sich die Na tur ge-schich te in eine ge ord ne te Welt aus Li ni en und Flauml chen Ent schei-dend sind die sicht ba ren Un ter schei dungs merk ma le wie Bluuml ten und Staub ge fauml szlige Blaumlt ter und Fruumlch te Fuumlszlige und Hufe Fe dern und Flos sen So setzt Linneacute fuumlr jede Pfan zen- und Tier klas se jede Ord nung und Gat tung be stimm te Merk ma le fest die er als die wich ti ge ren er ach te t Denn nur un ter der An nah me sol cher pri vi-le gier ter Struk tu ren ist es ihm moumlg lich die ver schie de nen Spe zi es im Ge samt sys tem un miss ver staumlnd lich zu ras tern Der mensch li che Ord ner be schreibt also nicht ein fach die be leb te Na tur Er fuumlgt ihr auch et was hin zu die Ent schei dung naumlm lich was in der For men-viel falt der Le be we sen wich ti ge Merk ma le sind und was nicht4

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 349783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 34 10082021 10493410082021 104934

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Wie alle da ma li gen Na tur for scher nimmt Linneacute an dass die Ein tei lun gen die der mensch li che Ver stand macht tat saumlch lich ei ner ob jek ti ven Ord nung der Na tur ent spre chen Doch Lin neacutes Sys tem ist wie er selbst weiszlig nicht raquona tuumlr lichlaquo Sei ne Struk tu ren sind kei ne die er in der Na tur als Un ter schei dungs kri te ri en vor-fin det Denn was sich am Schreib tisch nun muumlh sam in Ord nun-gen pres sen laumlsst liegt wie der fran zouml si sche Na tur for scher Mishychel Adan son (1727 ndash 1806) fest stellt in der Wild nis wie Kraut und Ruuml ben durch ei nan der raquohellip eine kon fu se Mi schung aus We-sen hellip die der Zu fall ei nan der an ge nauml hert zu ha ben scheint Hier wird das Gold mit ei nem an de ren Me tall mit ei nem Stein oder mit Erde ge mischt Dort waumlchst die Ei che ne ben dem Veil chen Un ter die sen Pfan zen ir ren eben falls der Vier fuumlszlig ler das Rep til und das In sekt um her Die Fi sche mi schen sich so zu sa gen mit dem waumlss ri gen Ele ment in dem sie schwim men und mit den Pfan zen die auf dem Grun de der Ge waumls ser wach sen hellip Die se Mi schung ist so gar so all ge mein und so viel faumll tig dass sie ei nes der Na tur ge set ze zu sein scheintlaquo5

Der Wi der spruch zwi schen ei ner tax ono mi schen und ei ner oumlko lo gi schen Ord nung der Na tur ist of fen sicht lich Er fin det sich noch heu te in der Dis kus si on um die Aumls the tik von Zoo an la gen Soll man die Tie re nach Ver wandt schafts ver haumllt nis sen sam meln also in Raub tier haumlu sern An ti lo pen haumlu sern und Hirsch an la gen so dass der Be su cher zwi schen den ana to mi schen Be son der hei-ten der Ar ten ndash mit un ter so gar den ge o gra fi schen Va ri an ten ei ner ein zi gen Art ndash zu un ter schei den lernt Oder ge waumlhrt die Nach-ge stal tung ei nes Na tur bi o tops ei ner af ri ka ni schen Sa van ne oder ei nes al pi nen Pa no ra mas den wich ti ge ren Ein blick in die Ord-nung der Na tur

Zwar steht fuumlr Linneacute und sei ne Kol le gen fest dass die raquowah-re Ord nunglaquo der Na tur sich an den koumlr per li chen Merk ma len zu ori en tie ren hat doch muss eine Er klauml rung da fuumlr ge fun den wer-den wa rum die se Ord nung in der frei en Na tur nicht von al lein 5

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sicht bar wird Ohne Zwei fel ist das Sys tem der Na tur kei ne zeit-lo se Schoumlp fung son dern durch Ver aumln de run gen ge kenn zeich net die sich in der Erd ge schich te er eig net ha ben Pa ral lel meh ren sich die Fun de von Fos si li en also von Tie ren die mut maszlig lich aus-ge stor ben sind Es hat al lem An schein nach grouml szlige re ge o lo gi sche Ka tast ro phen in un be kann ter Zahl ge ge ben de nen vie le Ar ten zum Op fer ge fal len sind Doch ha ben die se De sas ter auch zur Ent ste hung von neu en For men ge fuumlhrt

Um den Fak tor der Zeit und sei ne Fol gen fuumlr das Sys tem der Na tur ein zu schaumlt zen gibt es vie le Moumlg lich kei ten Die ein fachs te und mensch lichs te al ler zeit li chen Ord nungs vor stel lun gen ist die Idee al les fol ge ei nem Plan und sei auf ein Ziel hin aus ge rich-tet (Te le o lo gie) Re li gi o nen Phi lo so phi en und Ide o lo gi en funk-ti o nie ren na he zu al le samt ziel ge rich tet Es geht um ein bes se res Le ben auf Er den im Jen seits in ei nem ge rech ten Staat um die Herr schaft uumlber die an de ren uumlber die Pro duk ti ons mit tel oder das Boumlse Selbst un ser All tag ge stal tet sich weit ge hend te le o lo-gisch durch traumlnkt von zu kuumlnf ti ger Er war tung Mo tor jed we-der Te le o lo gie ist der Fort schritts ge dan ke Sein ima gi nauml res Ziel ist der voll kom me ne Zu stand So glau ben christ lich-abend laumln-di sche Ge sell schaf ten gern an eine staumln di ge Ver bes se rung durch An stren gung eine Tu gend die nach cal vi nis ti scher Tra di ti on im Him mel wie auf Er den von Gott ma te ri ell ent lohnt wird Wie na he lie gend also auch in der Na tur die Ent ste hung raquohouml he rerlaquo Le bens for men durch Fort schritt er ken nen zu wol len mit dem End ziel des Men schen

Die Un ord nung der Schoumlp fung mit ei nem goumltt li chen Fort-schritts plan in Ein klang zu brin gen ist das Le bens werk des Schwei zer Na tur for schers und Phi lo so phen Charles Bon net (1720 ndash 1793) Fuumlr Bon net ist die Zahl der Ar ten und ihre aumlu-szlige re Ge stalt von Gott ein fuumlr al le Mal fest ge legt Doch kann sich ein je des Le be we sen per fek ti o nie ren Der Weg vom simp-len Ge muumlt zur ge ni a li schen Leis tung ist vom Schoumlp fer vor ge-

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zeich net Und alle Tie re be schrei ten ihn zeit lich ver setzt nach dem glei chen Mus ter das der Mensch ih nen vor ge lebt hat raquoEs wird ei nen mehr oder we ni ger lang sa men und kon ti nu ier li chen Fort schritt al ler Ar ten zu ei ner houml he ren Ver voll komm nung ge-ben so dass alle Gra de der Stu fen lei ter in ei ner de ter mi nie ren den und kons tan ten Be zie hung fort ge setzt va ri a bel sein wer den hellip Es wird un ter den Af fen Leu te wie New ton und un ter Bi bern wie (den Fes tungs bau meis ter RDP) Vau ban ge ben Die Aus-tern und die Po ly pen wer den in Be zie hung zu den houmlchs ten Ar-ten das sein was die Vouml gel fuumlr die Vier fuumlszlig ler im Ver haumllt nis zum Men schen sindlaquo6

Seit Bon net ist die Vor stel lung von der raquoLei ter der Na turlaquo der Sca la nat urae ein wich ti ges In ven tar des na tur ge schicht-li chen Den kens Fort schritt Ver voll komm nung und goumltt li cher Plan ndash die se drei Grouml szligen be stim men die Vor stel lung vom Wer-den der Na tur vom 18 Jahr hun dert bis in die Ge gen wart hi nein Das Prin zip nach dem die Evo lu ti on Le ben her vor bringt sei un ver meid lich und von An fang an vor her be stimmt Nicht we-ni ge E vo lu ti ons the o re ti ker ha ben dies eben falls ge glaubt und zwar mit be acht li cher Kon ti nu i taumlt Der eng li sche Na tur for scher Alf red Rus sel Wall ace (1823 ndash 1913) der ge mein sam mit Dar win die The o rie der na tuumlr li chen Se lek ti on ent wi ckelt hat te hielt nicht nur den mensch li chen Geist und sein Mo ral emp fin den son dern zu dem auch die wei che nack te emp find sa me Haut des Men-schen fuumlr das Re sul tat ei ner not wen di gen Ent wick lung

Doch schon im 18 Jahr hun dert reg ten sich zu gleich vor sich-ti ge Zwei fel an der Stim mig keit ei ner sol chen Vor ge formt heit Denn wie soll te man Na tur ka tast ro phen be wer ten Waumlh rend die meis ten Na tur for scher sie als Teil des goumltt li chen Schoumlp-fungs plans in ter pre tier ten zo gen an de re ver gleichs wei se fins te-re Schluumls se Und so wur de tat saumlch lich ein gro szliges Erd be ben zum in di rek ten Aus louml ser der Evo lu ti ons the o rie naumlm lich je nes von Lis sa bon im Jahr 1755 Wer uumlber die Ka tast ro phe nach dach te 6

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konn te star ken Zwei fel da ran he gen dass die Welt ord nung aus-ge kluuml gelt und har mo nisch sei

Die wei test rei chen den Schluss fol ge run gen zog der eng li-sche Pfar rer und Na ti o nal oumlko nom Tho mas Ro bert Malt hus (1766 ndash 1834) Nicht nur die ge o lo gi sche Na tur und ihr Ge-fah ren ri si ko son dern auch die Ver meh rung der Be voumll ke rung wur de nun als Uumlbel er kannt Im Jahr 1798 pub li zier te Malt-hus sei nen Es say on the Princi ple of Po pu la ti on (Das Be voumllshyke rungs ge setz) die ers te Mahn schrift vor den Ge fah ren ei ner Be voumll ke rungs ex plo si on Bei ei ner Ver dop pe lungs ra te der Welt-be voumll ke rung in ner halb von fuumlnf und zwan zig Jah ren er rech ne-te Malt hus wer de ihr exponent iel les An wach sen auf grund der von der Um welt ge setz ten Gren zen not wen dig zu Ar mut Ka-tast ro phen und Tod fuumlh ren Der bib li sche Auf trag raquoSeid frucht-bar und meh ret euchlaquo er schien mit ei nem Mal als ein Fluch Ein gna den lo ser raquoKampf ums Da seinlaquo (strugg le for life) war ent fes selt Das Ein zi ge was blieb war die Hoff nung die ka-tast ro pha len Fol gen der goumltt li chen An wei sung so weit wie moumlg lich ein daumlm men zu koumln nen

In ei ner Zeit als die Ge sell schafts the o rie noch der Bi o lo-gie den Leuch ter vo ran und nicht wie heu te die Schlep pe hin-terh er traumlgt be geis tert sich vor al lem ein eng li scher Dorf pfar rer Charles Dar win (1809 ndash 1882) fuumlr die Malt hus rsquoschen Ge set ze Denn wenn es rich tig ist dass sich ein Tier mit ei ner so ge rin-gen Ver meh rungs ra te wie der Mensch ge gen uumlber sei nen Art ge-nos sen durch setz te so gab es sicht lich an de re Kri te ri en fuumlr die Uumlber le bens fauml hig keit ei ner Po pu la ti on als die Zahl ih rer Ge bur-ten Der Maszlig stab fuumlr den Er folg ei ner Spe zi es war ihr Durch set-zungs ver mouml gen oder wie Dar win es spauml ter in den Prin zi pi en der Bio logie des jun gen Phi lo so phen Her bert Spen cer (1820 ndash 1903) le sen konn te raquothe sur vi val of the fit testlaquo

Dar wins na tur kund li che Stu di en wa ren ur spruumlng lich von dem Ge dan ken be seelt die nicht a ni ma li sche Iden ti taumlt des Men schen

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zu be wei sen Erst der Sieg des Ent de cker stol zes uumlber das Ent-set zen ver lieh ihm schlieszlig lich den Mut den be ruumlhm ten Satz zu schrei ben raquoUnd ich bin bei na he uumlber zeugt (der Mei nung mit der ich an die Fra ge he ran ge tre ten bin voumll lig ent ge gen ge setzt) dass die Spe zi es (mir ist es als ge staumln de ich ei nen Mord ein) nicht un ver aumln der lich sindlaquo7

Dar wins kuumlh ne Ver mu tung war nicht ganz neu Be reits ein hal bes Jahr hun dert zu vor hat ten der fran zouml si sche Na tur for scher GeorgesshyLou is Lec lerc Comte de Buf fon (1707 ndash 1788) und der Phi lo soph De nis Dide rot (1713 ndash 1784) uumlber eine Ver aumln de-rung der Ar ten spe ku liert Be son ders JeanshyBap tiste de La marck (1744 ndash 1829) be haup te te die all maumlh li che Ent wick lung der Ar-ten aus pri mi ti ve ren Vor for men die so ge nann te Trans mu ta ti on La marck war nicht nur ein Pi o nier der mit Jahr mil li o nen han-tier te als alle Welt die Erde noch ei ni ge tau send bis hun dert tau-send Jah re jung waumlhn te son dern er praumlg te (zur glei chen Zeit wie zwei deut sche Na tur for scher) das Wort Bi o lo gie Bei ihm wan del ten sich die Le be we sen da durch dass sich ihre koumlr per-li chen An stren gun gen auf ihr Erb gut aus wir ken Da bei nahm er al ler dings nicht an dass die Ar ten aus ei nan der her vor ge hen wie Dar win es spauml ter tat La ma rcks The o rie ist nauml her an je ner von Bon net Fuumlr ihn ver voll komm nen die ein zel nen Tier ar ten im Lau fe der Zeit ihre An la gen und ent wi ckeln sich da durch im-mer houml her Be son ders voll kom me ne Tie re wie der Mensch sind dem nach sehr alt denn sie ha ben ei nen wei ten Weg von ei nem pri mi ti ven Or ga nis mus bis hin zur heu ti gen Ge stalt hin ter sich ge las sen An de re wie der pri mi ti ve Suumlszlig was ser po lyp ha ben ihre Rei se durch die Zeit ge ra de erst an ge fan gen

La marck war kein Charis mati ker und die zo o lo gi sche All-macht sei nes Vor ge setz ten am Jar din des Plan tes in Pa ris des Ba rons George Cu vier (1769 ndash 1832) ver hin der te dass man sich all zu sehr mit sei nen The o ri en be schaumlf tig te Cu vier war ein be-deu ten der Mann An die Stel le ei ner nach bo ta ni schem Mus ter 7

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 399783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 39 10082021 10493410082021 104934

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ver fah ren den Zo o lo gie setz te er eine neue Wis sen schaft die sich we ni ger an aumlu szlige ren Merk ma len als am Or ga nis mus der Tie-re ori en tier te Doch was die Trans mu ta ti on an be lang te blieb der Ober auf se her der pro tes tan tisch-the o lo gi schen Fa kul tauml ten Frank reichs beim kon ser va ti ven Mo dell Er ver brei te te wei-ter hin eine Ket te von Na tur ka tast ro phen habe als mo di fi zier-te Sint fu ten gan zen Klas sen von Tie ren den Gar aus ge macht Die se The o rie ist weit ge hend rich tig al ler dings schlieszligt sie die Trans mu ta ti on nicht aus

Das wirk lich Re vo lu ti o nauml re an La marck war die Idee die Ge schich te der Na tur nicht vom Men schen aus bis hi nun ter zur Bak te rie zu schrei ben son dern um ge kehrt von der Bak te rie zum Men schen Aus ei nem Mo dell der raumlum li chen Hie rar chie wur de ein Mo dell der zeit li chen Ent wick lung La marck er kann te zu-dem dass das Be wusst sein ei nes Tie res an die Phy si o lo gie und Neu ro lo gie sei nes Koumlr pers ge bun den ist Dem nach ist je der Geist ers tens be grenzt und zwei tens ver aumln der lich

Die phi lo so phi sche Kon se quenz aus La ma rcks Den ken ist so ra di kal dass sie fast ein hun dert fuumlnf zig Jah re lang von nie man-dem ernst haft in Be tracht ge zo gen wur de Wie kann ein Geist der den Ge set zen der Evo lu ti on un ter wor fen ist sich ei gent lich an ma szligen die Na tur der Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Von die ser Schluss fol ge rung woll te die Bi o lo gie al ler dings bis weit ins 20 Jahr hun dert hi nein nicht viel wis sen

Auch Dar wins The o rie von der na tuumlr li chen Se lek ti on der Le be we sen im Rin gen um ihr Le ben und mit der Um welt ent-wi ckel te sich wei ter Ge witz ten Zeit ge nos sen wie Karl Marx (1818 ndash 1883) war auf ge fal len wie stark Dar wins Den ken dem Zeit geist des Vik to ri a ni schen Zeit al ters ver haf tet war raquoEs ist merk wuumlr dig wie Dar win un ter Bes ti en und Pfan zen sei ne eng li-sche Ge sell schaft mit ih rer Tei lung der Ar beit Kon kur renz Auf-schluss neu er Maumlrk te rsaquoEr fin dun genlsaquo und Malt hus schem rsaquoKampf ums Da seinlsaquo wie der er kenntlaquo8 Die Be to nung des Malt hus rsquoschen 8

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 409783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 40 10082021 10493410082021 104934

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Kamp fes von je dem ge gen je den und auch der Fort schritts glau-be in Dar wins Den ken zei gen ihn stark sei ner Zeit ver haf tet

Eine an de re Kri tik kam aus der Bi o lo gie selbst Dar win hat-te noch nichts von Ge nen ge wusst So konn te er nicht er klauml ren was sich bi o che misch er eig ne te wenn Ar ten sich ver aumln der ten Der raquoDar wi nis muslaquo der Jahr hun dert wen de gab schlieszlig lich die Hoff nung auf die Evo lu ti on lie szlige sich al lein durch die na tuumlr li-che Se lek ti on der Ar ten nach Maszlig ga be ih rer An pas sungs fauml hig-keit an die Um welt be gruumln den Man ent deck te die Rol le der Ge-ne tik und zum neu en Er klauml rungs prin zip wur de das Mo dell der zwei Kons t ruk teu re Das Spiel des Le bens er hielt ei nen Wuumlr fel zu faumll li ge Ver aumln de run gen im Gen ma te ri al also so ge nann te Mu tashyti o nen Im Tri alshyandshyEr ror-Ver fah ren ent ste hen im Erb gut ge le-gent lich Ab wei chun gen die dann er folg reich sind wenn sie sich in der Um welt be waumlh ren Da mit war die Idee vom Tisch dass sich neu er wor be ne Ei gen schaf ten oder raquodie ana to mi schen Aus-wir kun gen koumlr per li cher An stren gun genlaquo wie La marck mein te ver er ben koumlnn ten Noch Dar win hat te dies fuumlr denk bar ge hal ten So ver trau te er Er zaumlh lun gen wo nach bei je nen Volks grup pen zu de ren Ri ten die re gel mauml szligi ge Be schnei dung der Pe nis vor haut ge houmlrt sich die Vor haut all maumlh lich ver kuumlrz te Das haumlt te zwar die Be schnei dung uumlber fuumls sig ge macht aber Dar win hat te ge ra-de an de res Ge wich ti ges zu be den ken als da ruuml ber nach zu sin nen

Die Ver kuumlr zung der Vor haut blieb im Wis sens schatz der Dar wi nis ten bis Au gust Weis mann (1834 ndash 1914) im spauml ten 19 Jahr hun dert nach wies dass ein sol cher In for ma ti ons fuss vom aumlu szlige ren Er schei nungs bild zum Erb ma te ri al nicht moumlg lich sei Uumlber fuumlnf Ge ne ra ti o nen kuumlrz te Weis mann ei nem Stamm von Maumlu sen ihre Schwaumln ze ohne dass eine Nach richt uumlber die sen Ein griff die Keim bah nen der Maumlu se er reich te Denn sie he da Auch die Schwaumln ze der nach fol gen den Maumlu se ge ne ra ti o nen blie-ben gleich lang Da be durf te es schon der Spitz fin dig keit des iri schen Dich ters George Bern ard Shaw (1856 ndash 1950) der Weis-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 419783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 41 10082021 10493410082021 104934

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manns schnei den de Wi der le gung der La marckrsquo schen The o rie leicht fer tig vom Se zier tisch wisch te Die Maumlu se be merk te der Dich ter haumlt ten gar kei ne An stren gun gen un ter nom men ihre Schwaumln ze zu ver lie ren waumlh rend sich die Tie re bei La marck ja da rum be muumlht haumlt ten sich zu ver aumln dern

Im Nach hi n ein also war es der pauml da go gi sche Op ti mis mus der La marck in die Irre ge fuumlhrt ha ben soll te So mach te die Hoff-nung auf ei nen ethisch an spre chen den E vo lu ti ons ver lauf ndash die Er war tung die Mensch heit ent wick le sich qua An pas sung an das so zi a le Mi li eu durch Selbst er zie hung zum Bes se ren ndash nur noch eine et was ab sei ti ge Kar ri e re im staats so zi a lis ti schen Bi o lo gie-un ter richt der Sow jet u ni on Wie kalt da ge gen der uumlber le ge ne raquoKampf ums Da seinlaquo der ja ein Kampf um die Fleisch toumlp fe ist ohne Hoff nung der Mensch wer de den kuumlh nen Geist statt sei-nes ma te ri a lis ti schen Gier hal ses nach Houml he rem stre cken Und ein zig die Kir che be wahr te un ver dros sen ei nen la marc kis ti schen Ge dan ken ndash al ler dings ei nen pes si mis ti schen und kei nen op ti-mis ti schen In bes ter Schuumlt zen hil fe fuumlr den fran zouml si schen Che-va li er ver tei digt sie bis heu te ihr mo le ku lar ge ne tisch be denk li-ches Dog ma Adams Un ge hor sam im Gar ten Eden habe zu ei ner raquoErb suumln delaquo ge fuumlhrt die da rauf hin auf alle zu kuumlnf ti gen Ge ne ra-ti o nen uumlber ge gan gen sei

Im mer hin sind in den bei den letz ten Jahr zehn ten ei ni ge Bi o-lo gen wie der et was of fe ner da fuumlr ge wor den der Ver er bung er-wor be ner Ei gen schaf ten ei nen Platz in der Ge ne tik zu las sen Zwar ver er ben sich psy chi sche und phy si sche Le bens er fah run-gen nicht durch ver aumln der te Gene Aber es koumlnn te doch sein dass jene Schal ter die da ruuml ber be stim men wel che ge ne ti sche In for-ma ti on wei ter ge ge ben wird und wel che nicht durch Um welt-ein fuumls se ver aumln dert wer den Uumlber le gun gen wie die se be schaumlf ti-gen so ge nann te Epi gen eti ker seit ei ni ger Zeit sie ha ben ei nen wach sen den Ein fuss auf un se re Vor stel lung von der Evo lu ti on

Die heu ti ge Leit dis zip lin die uns die Ver wandt schaft des Le-

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bens ent schluumls seln soll ist die Ge ne tik Wir un ter su chen die Sum-me al ler ge ne ti schen In for ma ti o nen und re gist rie ren da bei Uumlber-ein stim mun gen und Ab wei chun gen mit an de ren Ar ten Doch der Pro zess die Na tur un se rer Na tur zu er ken nen ist noch lan ge nicht ab ge schlos sen und wird wohl auch nie ab ge schlos sen sein Wir wen den Ord nungs sche ma ta auf The o ri en und The o ri en auf Be ob ach tun gen an Nur so kom men wir zu Kau sa li tauml ten und Ge-set zen Doch ihre Be deu tung ver aumln dert sich in dem Maszlige wie wir den Blick punkt un se rer Auf merk sam keit wie der ver la gern Die ser Vor gang des Ent dec kens und des Ver de ckens durch neue Denk sche ma ta ist prin zi pi ell nicht ab schlieszlig bar denn selbst ge-gen waumlr ti ge Evo lu ti ons the o ri en un ter lie gen wei ter hin der Evo-lu ti on

Er staun li cher wei se hat die mo der ne Evo lu ti ons the o rie nur zu ei ner ge ring fuuml gi gen Kor rek tur al ter Denk sche ma ta ge fuumlhrt Wie fruuml her in der Na tur ge schich te er ken nen wir heu te in der Bi o lo gie uumlber all Re gel haf tigk eit Not wen dig keit und Vor tei-le Doch bei nauml he rer Sicht er weist sich die Evo lu ti on ge ra de zu als Herr schafts ge biet der Aus nah men uumlber die Re geln Sie ist eine raquoZweck mauml szligig keit ohne Zwecklaquo wenn auch al lein fuumlr die 01 Pro zent der heu te noch ndash oder ge ra de ndash exis tie ren den Spe-zi es nicht aber fuumlr die 999 Pro zent die in den Ur fu ten dem Ord ovizium dem Perm der Krei de oder dem Ter ti aumlr das Welt-li che seg ne ten E vo lu ti ons bi o lo gen su chen in der Ge schich te der Na tur uumlber all nach Vor tei len die das Uumlber le ben von Ar ten er-klauml ren sol len Da bei ver men gen sie oft zwei ver schie de ne Vor-teils be grif fe Ein mal geht es um Mu ta ti o nen die si tu a tiv vor teil-haf te Ei gen schaf ten fuumlr eine Tier art her vor ge bracht ha ben sol len Eine grouml szlige re Sta tur ein pom pouml se res Ge weih ein staumlr ke res Ge biss sol len Weib chen be ein dru cken und die Nach kom men schaft er-houml hen Da die se Ei gen schaf ten aber oft nichts nuumlt zen wenn der Zu fall die Spiel re geln der Um welt aumln dert gibt es ei nen zwei ten Vor teils be griff Da nach ist das vor teil haft in der Evo lu ti on was

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 439783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 43 10082021 10493410082021 104934

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vom Ende her be trach tet dazu ge fuumlhrt hat dass eine Art uumlber-lebt Nach die ser Sicht wei se kann der mick rigs te Pa vi an auf dem Fel sen sei ne Gene wei ter ge ben wenn die staumlr ke ren Kon kur ren-ten bei ei nem Erd be ben ums Le ben ge kom men sind

An ge sichts zwei er so un ter schied li cher Be deu tun gen von raquoVor teillaquo fragt es sich ob der Be griff in der Evo lu ti ons the o rie uumlber haupt sinn voll ver wen det wer den kann Tat saumlch lich ist er ein Erbe der The o lo gie des 17 und 18 Jahr hun derts die uumlber-all in der Na tur nach der klu gen Ver nunft Got tes such te Dar win kann te die se Tra di ti on gut Als Stu dent ver ehr te er den The o lo-gen Will iam Pa ley (1743 ndash 1805) der na tur kund lich be schla gen die goumltt li che Vo raus sicht auf den neu es ten Stand ge bracht hat te Als Dar win sich von Gott ver ab schie de te und die na tuumlr li che Se-lek ti on er kann te er setz te er uumlber all wo Pa ley raquoGod doeslaquo ge-schrie ben hat te den Satz durch raquoNat ure doeslaquo An Pa leys Vor-stel lung dass die Na tur zweck mauml szligig ein ge rich tet sei und Vor tei le be loh ne hielt Dar win eben so fest wie vie le spauml te re E vo lu ti ons-the o re ti ker

Die Fra ge ist des halb wich tig weil sie zeigt wie eng un se re Vor stel lung von der Na tur bis hi nein in die mo der ne Evo lu ti-ons the o rie von sehr mensch li chen Vor stel lun gen durch setzt ist Statt Vor tei le zu be nen nen wuumlr de es naumlm lich auch aus rei chen zu sa gen dass al les in der Na tur uumlber le ben kann das fuumlr eine Art kei nen toumld li chen Nach teil hat te Ver mut lich uumlber lebt in der Evo lu ti on nicht nur Zweck mauml szligi ges son dern jede Ver aumln de rung die zu min dest nicht zum Aus ster ben fuumlhr t und moumlg li cher wei se liegt ge ra de hie rin der Grund fuumlr eine gro szlige Ar ten viel falt

Die tra di ti o nell ver eng te Sicht wei se gilt ins be son de re bei der Be trach tung des Men schen E vo lu ti ons bi o lo gen koumln nen zahl-rei che Vor tei le be nen nen die er klauml ren wa rum die mensch li che Art so er folg reich ist Men schen sind aumlu szligerst an pas sungs fauml hig und be sie deln fast alle Le bens raumlu me sie sind Al les fres ser mit ei ner gro szligen Nah rungs band brei te sie ha ben eine fe xib le So zi-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 449783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 44 10082021 10493410082021 104934

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al struk tur und ver fuuml gen uumlber ein Selbst be wusst sein das es ih-nen er moumlg licht ihr Ver hal ten zu kor ri gie ren So ge se hen ist der Mensch gleich sam das op ti mal ste al ler Tie re Doch alldem zum Trotz exis tie ren Men schen der Gat tung Homo sap iens erst seit rund 100 000 Jah ren und ihre lang fris ti gen Zu kunfts chan cen ste hen schlecht Denn mit all den vor teil haf ten Ei gen schaf ten ha-ben Men schen in Re kord zeit ihre Um welt zer stoumlrt und das lang-fris ti ge Uumlber le ben der Spe zi es dra ma tisch in fra ge ge stellt Die mit we ni ger spek ta ku lauml ren Vor tei len aus ge stat te ten Di no sau ri-er exis tier ten auf un se rem Pla ne ten hun dert fuumlnf zig Mil li o nen Jah re ganz zu schwei gen von den seit uumlber vier hun dert Mil li o-nen Jah ren na he zu un ver aumln der ten Nau til iden und Ur schne cken

Ge si chert in der Evo lu ti ons the o rie ist dass kei ne ih rer An nah-men ge si chert ist E vo lu ti ons bi o lo gen die ihre Sa che ernst neh-men muumls sen im mer auch die E vo lu ti ons be dingt heit ih res ei ge-nen Er kennt nis ap pa rats ref ek tie ren also mit hin die Evo lu ti on al ler mensch li chen Er kennt nis raquoLetzt lich istlaquo wie der Neuro bio-lo ge Ger hard Roth schreibt raquoje des Nach den ken uumlber die ob jek-ti ve Re a li taumlt sei es wis sen schaft lich oder nicht an die Be din gun-gen mensch li chen Den kens Spre chens und Han delns ge bun den und muss sich da rin be waumlh renlaquo9

Man muss ref ek tie ren dass die un ver meid li chen Ord nungs-mit tel des Geis tes das Den ken und die Spra che nicht die Wirk-lich keit raquoan sichlaquo auf raumlu men Sie sind Mo del le die die un ver-fuumlg ba re Wirk lich keit nach Maszlig ga be der ei ge nen Spiel re geln er klauml ren Nicht erst seit Er for schung der Evo lu ti on in den letz-ten zwei hun dert Jah ren muumlht sich der mensch li che Geist dem Lauf der Welt ei nen ndash nach mensch li chem Er mes sen ndash raquover nuumlnf-ti genlaquo Sinn zu ge ben Doch das Pa ra do xe der Ge schich te liegt da rin dass der mensch li che Geist selbst Pro dukt evo lu ti o nauml rer Pro zes se ist Er ist Maszlig stab und Ge mes se nes zu gleich

An eine tat saumlch lich ob jek ti ve Er kennt nis der Evo lu ti on waumlre nur halb wegs sinn voll zu den ken wenn die Evo lu ti on des Men-9

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 459783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 45 10082021 10493410082021 104934

schen ab ge schlos sen ist und da mit die Stu fe der groumlszligt moumlg li chen Voll kom men heit er reicht hat In den Zei ten vor La marck und Dar win ha ben das nicht nur The o lo gen son dern auch die Na tur-for scher fast al le samt ge glaubt Das mensch li che Be wusst sein sei die un uuml ber trof fe ne Spit zen leis tung des Schoumlp fer got tes ge schaf-fen die Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Sei nen schoumlns-ten Aus druck fand die se Sicht in ei nem Aus spruch des jun gen Phi lo so phen Fried rich Wil helm Jo seph Schel ling (1775 ndash 1854) Er mein te dass der Mensch je nes We sen sei raquoin dem die Na tur das Auge auf schlaumlgtlaquo und sich da mit ih rer selbst be wusst wird Ein huumlb scher Satz aber doch viel zu pa the tisch for mu liert Von der vol len Er kennt nis der Na tur und un se rer selbst sind wir noch im mer weit ent fernt Aber wir koumln nen da ruuml ber stau nen dass die Evo lu ti on mit uns ein Le be we sen her vor ge bracht hat in dem die Na tur sich fuumlr sich selbst fa szi nier bar ge macht hat Wie hat te es dazu kom men koumln nen

bull Der Pri mat Was ist ein Mensch

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 469783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 46 10082021 10493410082021 104934

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ver waist sein Die Mensch heit wird er wacht sein und die Welt je-nes Ge sicht er hal ten ha ben das uns ge gen waumlr tig er scheint Doch wie sah das aus als die Na tur das ers te Mal in ei nem af fen aumlhn-li chen We sen die Au gen auf schlug War es auf ei ner Wald wie-se in ei nem Hain an ei nem Berg hang oder auf ei ner Lich tung War das er leuch te te We sen ein Maumlnn chen oder ein Weib chen Ging es den gan zen Tag auf recht oder saszlig es noch ger ne in der Ho cke eng ge kau ert an sei ne Bruuml der und Schwes tern Und war es eine Ein ge bung ein Blitz schlag als das Selbst be wusst sein das ers te Mal die Fes seln des Pri ma ten ge hirns spreng te

Wir wis sen nicht wo ran Schel ling dach te als er mein te die Na tur habe im Men schen ihr Auge auf ge schla gen Si cher dach te er nicht an ei nen ein zi gen Mo ment dem Mil li o nen an de re folg-ten Er dach te an den raquoMen schen an sichlaquo Und er wuss te nichts vom ost af ri ka ni schen Great Rift Val ley und von haa ri gen Vor-men schen die dort einst haus ten Er leb te in Jena und in Muumln-chen und ei nen Men schen af fen hat te Schel ling nie ge se hen Der ein zig ar ti ge Mo ment in dem die Na tur sich ih rer selbst be wusst wird bleibt eine Me ta pher

Doch wie wur de der Mensch nun tat saumlch lich zum Men-schen Die For mu lie rung ist dop pel deu tig Denn wie der Mensch zum Men schen wur de ndash das ist nicht ein evo lu ti o nauml rer Pro-zess auf der lee ren Welt buumlh ne son dern ein Spiel von Be ob ach-ter und Be ob ach te tem Schau spie ler und Zu schau er Ge schich-te auch Ent wick lungs ge schich te ist nichts Vor ge fun de nes Der Mensch schrieb der fran zouml si sche Phi lo soph JeanshyPaul Sart re (1905 ndash 1980) macht sich selbst wie der Ro man schrift stel ler sei ne Fi gu ren Er ist ge fer tigt aus bi o lo gi schen (ana to mi schen neu ro lo gi schen und phy si o lo gi schen) Be stand tei len zu al ler meist je doch durch jene we nig bi o lo gi schen Weis hei ten mit de nen sich die se Subs tan zen selbst zum raquoMen schenlaquo er ko ren

Das Glei che gilt fuumlr die mensch li che Stam mes ge schich te Auch sie ist zu naumlchst ein mal eine Ge schich te Ihre Ur spruumln ge lie gen im

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al ten Grie chen land als Aris to te les den Men schen und den Af-fen ver wandt schaft lich na he ruumlckt raquoMan che Tie re ste hen zwi-schen Mensch und Vier fuumlszlig ler in ih rem We sen wie Af fen Meer-kat zen und Pa vi a ne hellip Ihr Ge sicht hat vie le Aumlhn lich kei ten mit dem des Men schen Nase und Oh ren glei chen den sei nen und Zaumlh ne hat er auch wie ein Mensch die Vor der zaumlh ne wie die Ba cken zaumlhnelaquo10 Auch Aris to te lesrsquo Schuuml ler The oph rast (ca 370 v Chr ndash ca 288 v Chr) be steht auf der Aumlhn lich keit zwi schen Men schen und Tie ren Er lehnt es so gar ab Fleisch zu es sen oder Tie re zu op fern da man sei ne Ver wand ten nicht ver spei se

Aris to te les und The oph rast stell ten den Men schen zwar ne-ben den Af fen ndash Men schen af fen kann te man noch nicht ndash aber die al ten Grie chen hat ten ihn nur sehr un ge faumlhr zu ei nem Tier un ter Tie ren er klaumlrt Den naumlchs ten Schritt mach te mehr als zwei-tau send Jah re spauml ter Carl von Linneacute An der Zu ge houml rig keit des Men schen zu den Saumlu ge tie ren be stand fuumlr den Schwe den kein Zwei fel die Be haa rung und das Stil len der Jun gen be lehr ten un-miss ver staumlnd lich da ruuml ber Auch die Ver wandt schaft mit Af fen und Men schen af fen stand au szliger Fra ge Hier wa ren es die fa chen Fin ger- und Fuszlig nauml gel statt der Klau en der ab ge spreiz te Dau-men die Greif haumln de die zwei Zit zen der Weib chen und der frei he run ter haumln gen de statt am Un ter leib an lie gen de Pe nis ndash Merk-ma le die groumlszlig ten teils auch schon Aris to te les auf ge fal len wa ren

Doch Linneacute zouml ger te vor der Kon se quenz Haumln de rin gend such-te der got tes fuumlrch ti ge Ana tom nach ei nem Un ter schied zwi schen dem Men schen und den uumlb ri gen von ihm so ge nann ten raquoPri ma-tenlaquo raquoIch ver lan gelaquo schrieb er 1747 sei nem deut schen Freund Jo hann Ge org Gme lin raquovon Ih nen und von der gan zen Welt dass Sie mir ein Gat tungs merk mal zei gen hellip auf grund des sen man zwi schen Mensch und Affe un ter schei den kann Ich weiszlig selbst mit aumlu szligers ter Ge wiss heit von kei nemlaquo11

Nach sei nen Kri te ri en haumlt te Linneacute den Men schen zu min dest mit dem Schim pan sen ge mein sam in die sel be Gat tung ein ord-10

11

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nen muumls sen Der Ge dan ke schweb te zeit gleich auch dem Phi lo so-phen JeanshyJacques Rous seau (1712 ndash 1778) vor als er Schim pan-sen Orang-Ut ans und Men schen so gar als Ver tre ter der Spe zi es Mensch an sah Rous seau hat te nie ei nen Men schen af fen ge se-hen Aber die Be rich te die er von Ex pe di ti o nen nach Af ri ka und Suumld ost a si en las lie szligen in ihm kei nen Zwei fel dass die da rin be schrie be nen Men schen af fen raquowe der Tie re noch Goumlt ter son-dern Men schenlaquo sei en12 Fuumlr den Auf klauml rer wa ren Men schen af-fen edle Wil de die von kei ner Zi vi li sa ti on in ih rem fried fer ti gen We sen zer stoumlrt sei en an ders als die Men schen in Eu ro pa Eben-so dach te we nig spauml ter der schot ti sche Sprach for scher James Bur nett Lord Mon boddo (1714 ndash 1799) Auch er be trach te te den Orang-Utan als ei nen Men schen naumlm lich als ei nen raquosprach-losen Wil denlaquo

In ter pre ta ti o nen wie Rous seau sie in Pa ris und Bur nett bald da rauf in Kin card ines hire wag ten wa ren Linneacute im schwe di schen Upp sa la fremd Den Men schen ins Tier reich ein zu ord nen war in den Au gen der stren gen pro tes tan ti schen Kir che Suumln de ge nug und Linneacute zouml ger te den letz ten Schritt zu tun In sei ner Not sor-tier te er 1758 ach sel zu ckend Mensch und Schim pan se in un ter-schied li che Gat tun gen zu sam men ge fasst in der Ord nung der Pri ma ten in der sie auch heu te noch mehr schlecht als recht huumlbsch ge trennt ne ben ei nan der ho cken Homo sap iens der raquoin-tel ligi ble Menschlaquo und Pan trog lody tes der raquohoumlh len be woh nen-de Faunlaquo

So weit so schoumln Der Mensch wur de der obers te Pri mat das houmlchs te raquoHer ren tierlaquo Linneacute be kam kei nen Aumlr ger mit der Kir-che und die Na tur wis sen schaft den gro szligen Wurf des Linneacute rsquoschen Sys tems Wenn nur die se Nach barn nicht wauml ren Seit Be kannt-wer den der Men schen af fen be muumlh ten sich Wis sen schaft ler und The o lo gen im mer wie der um den Ver such den klei nen Gra ben mit gro szligen Was sern zu fuumll len der Homo sap iens und Pan troshyglody tes bei ih rer ord nungs ge mauml szligen Ver ge sell schaf tung auf der 12

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 509783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 50 10082021 10493510082021 104935

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Af fen in sel trennt Sie eva ku ier ten den Men schen vom Pri ma ten-fel sen und schu fen ihm eine ei ge ne Ord nung

In die ser Vor stel lungs welt wuchs auch der The o lo gie stu dent Charles Dar win auf Das fruuml he 19 Jahr hun dert war eine got-tes fuumlrch ti ge bie der mei er li che Zeit Doch je mehr er sich mit der Ver aumln de rung der Ar ten be schaumlf tig te umso deut li cher wur de Dar win dass es mit der of fi zi ell be kun de ten Son der stel lung des Men schen im Uni ver sum nicht weit her sein konn te So no tier te er schon er staun lich fruumlh in sein Ta ge buch raquoDer Mensch haumllt sich in sei ner Ar ro ganz fuumlr ein groszlig ar ti ges Werk des be son de ren Ein grei fens ei ner Gott heit wuumlr dig Es duumlrf te be schei de ner und wie ich glau be auch rich tig sein ihn als aus den Tie ren ent stan-den an zu se henlaquo13

Dar win hat te den noch zwoumllf Jah re ge zouml gert bis er sich schlieszlig lich ge trau te nach der all ge mei nen Dar stel lung ei ner Evo-lu ti ons the o rie im Jahr 1859 sei ne Schluss fol ge run gen in Be zug auf den Men schen in Druck zu ge ben Die Ab stam mung des Men schen aus dem Jahr 1871 ist ein ge maumlch li ches Buch in ver-soumlhn li chem Ton fall Der Na tur for scher er zaumlhlt da rin wie ein gu-ter al ter Groszlig va ter wo her die Pfan zen die Tie re und die Eng-laumln der kom men Die raquoAb wer tunglaquo des Men schen geht da bei ein her mit ei ner kon ti nu ier li chen raquoAuf wer tunglaquo der Tie re raquoWir ha ben ge se henlaquo schreibt Dar win raquodass die Emp fin dun gen und Ein druuml cke die ver schie de nen Er re gun gen und Fauml hig kei ten wie Lie be Ge daumlcht nis Auf merk sam keit Neu gier de Nach ah mung Ver stand usw de ren sich der Mensch ruumlhmt in ei nem be gin nen-den oder zu wei len selbst in ei nem gut ent wi ckel ten Zu stand bei den nie de ren Tie ren ge fun den wer denlaquo14

La marck und Dar win wa ren die Ers ten die mit Mit teln der mo der nen Na tur wis sen schaft be haup te ten was vie le Kul tu ren und Zei ten schon zu vor re li gi oumls ge ahnt hat ten raquoNa tuumlr lichlaquo ist es ab surd eine Tei lung des Tier reichs in zwei Ka te go ri en vor zu-neh men ndash in eine mensch li che und eine nicht mensch li che Ka-13

14

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 519783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 51 10082021 10493510082021 104935

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Richard David Precht

Tiere denkenVom Recht der Tiere

und den Grenzen des Menschen

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Richard David Precht

Tiere denkenVom Recht der Tiere

und den Grenzen des Menschen

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Fuumlr Paul und Ha gen El vi ra Ast erix amp Kriem hild die di cke Nol pa Frank-Wal ter amp An ge la

und all die an de ren die un ter mei nen un sach kun di gen Haumln den leb ten und

hof fent lich we nig ha ben lei den muumls sen Und na tuumlr lich fuumlr Ar tus

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 59783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 5 10082021 10493310082021 104933

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In halt

Vor wort 11

Ein lei tung 17

Das Men schen tierDie Ord nung der Schoumlp fung

Wie mensch lich ist die Evo lu ti on 29

Der Pri matWas ist ein Mensch 47

Der auf rech te AffeWas macht den Men schen zum Men schen 60

Sinn und Sinn lich keitWas trennt Mensch und Affe 78

Eins Kom ma sechs Pro zentSind Men schen af fen Men schen 96

Die Tuuml cke des Sub jektsUumlber die Schwierigkeit Tie re zu den ken 110

Das Tier im Auge des Men schenDie Tund ra des Ge wis sens

Wie die Re li gi on un se re Na bel schnur kapp te 127

raquoIch habe kein Tier miss han deltlaquoDas Tier im Al ten Aumlgyp ten 138

Hir ten und Herr scherDas Tier im al ten Ju den tum 153

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 79783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 7 10082021 10493310082021 104933

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Das ver lo re ne Pa ra diesDas Tier in der An ti ke 168

raquoKuumlm mert sich Gott etwa um die Och senlaquoDas Tier in Chris ten tum und Is lam 182

Schein hei li ge KuumlheDas Tier bei Hin dus und Bud dhis ten 198

Die Den ker und das lie be ViehDas Tier im Ba rock und in der Auf klauml rung 213

raquoKoumln nen sie lei denlaquoDie Ruumlck kehr des Mit leids 228

Eine neue Tier ethikDas ei ser ne Tor

Wege zu ei ner modernen Tier ethik 249

Schutz oder RechtDie Ethik der Be frei ung 267

Eine art ge rech te Mo ralMen schen ndash Tie re ndash Ethik 280

Gut bes ser am bes tenDie Ethik des Nicht wis sens 296

Was tunLie ben ndash Has sen ndash Es sen

Un ser all taumlg li ches Cha os im Um gang mit Tie ren 313

Ein kur zer Text uumlber das Touml tenDas Tier und das Ge setz 326

Na tur schutz oder Lust mordDuumlr fen wir Tie re ja gen 343

Jen seits von Wurst und KaumlseDuumlr fen wir Tie re es sen 361

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 89783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 8 10082021 10493310082021 104933

Das Tier als Dum mySind Tier ver su che le gi tim 380

Al cat raz oder Psycho topVom Nut zen und Nach teil der Tier gaumlr ten fuumlr das Tier le ben 399

Das Zeit al ter der Ein sam keitDie Ethik der Be wah rung 416

Das un ver soumlhn li che Tri um vi ratTier schutz Tier recht und Ar ten schutz 432

Scho pen hau ers Trep peDie Prag ma tik des Nicht wis sens 450

An hangAn mer kun gen 465

Aus ge waumlhl te Li te ra tur 475

Dank 499

Per so nen re gis ter 501

Zitatnach weis 509

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 99783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 9 10082021 10493310082021 104933

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Meer schwein chen be ka men Ko li ken die Ei dech sen leb ten nicht lan ge und die Fi sche haus ten in viel zu vie len Ar ten in ei nem viel zu klei nen Aqua ri um Mei ne Fas zi na ti on paar te sich mit ei-nem schlech ten Ge wis sen Sie um schlan gen ei nan der sehr eng und wa ren sel ten zu tren nen

Ich wur de kein Zoo di rek tor Der schlech te Bi o lo gie un ter richt in der Schu le zer stoumlr te mir mei nen Traum Viel leicht war es auch gut so Der fruuml he re Koumll ner Zoo di rek tor Gun ther No gge sag te zu mir raquoSei en Sie froh dass Sie es nicht ge wor den sindlaquo So er hielt ich mir mei ne Fas zi na ti on fuumlr Tie re aber auch mein schlech tes Ge wis sen

Bei des war noch wach als in der Mit te der Neun zi ger jah re der BSE-Skan dal und gleich da rauf das Klon schaf Dolly die Be-voumll ke rung auf schreck ten Ich schrieb ei nen Es say uumlber Tier ethik und ein Dos si er uumlber Zo o lo gi sche Gaumlr ten fuumlr Die Zeit die Poe sie des Her zens die nur das Bes te fuumlr alle Tie re woll te hier die Pro-sa der Ver haumllt nis se ei nes bar ba ri schen und prob le ma ti schen Um-gangs mit dem Tier in der Ge sell schaft dort

Im Feb ru ar 1997 ver schlug mich der Zu fall nach Braun-schweig zu ei nem Kon gress uumlber raquoTie re ndash Rech te ndash Ethiklaquo Fuumlr mich war es eine Art in tel lek tu el les Wood stock ei ner neu en Be-we gung Men schen aus dem gan zen Bun des ge biet wa ren an ge-reist und auch die Braun schwei ger Be voumll ke rung nahm sehr re-gen An teil Ich lern te Ma nu e la Lin ne mann ken nen die Ge hei me Rauml tin der Tier rechts be we gung die den Kon gress glaumln zend or ga-ni siert hat te Der Schrift stel ler Hans Woll schlauml ger pre dig te in der St-And re as-Kir che ful mi nan te Wor te uumlber den Pa ra dies gar ten und die ab truumln ni ge Mensch heit Der sym pa thi sche Schwei zer Phi lo soph Jean-Claude Wolf ge houmlr te be reits zu den ver sier te ren Den kern auf die sem Ge biet der Phi lo soph Mi cha el Haus kel ler eben so jung wie ich noch zu den Neu e ren Mit dem Bi o lo gen und Phi lo so phen Hans Wer ner In gen siep ei nem der span nends-ten Den ker die mir je be geg net sind und sei ner Le bens ge faumlhr-

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tin der Theo lo gin Hei ke Bar anzke ver bin det mich seit dem eine lan ge Freund schaft Auch die Front kaumlmp fer fehl ten nicht Die Tier rechts or ga ni sa ti on Ani mal Peace er leb te ge ra de ei nen Boom an Spen dern und der Tier recht ler Hel mut Kap lan be feu er te die Ak ti vis ten mit ra di ka len Schrif ten und kuumlh nen Spruuml chen

Die Ge dan ken die wir in Vor trauml gen und Ge sprauml chen ver kuumln-de ten dis ku tier ten und uumlber dach ten hat ten da mals noch et was sehr Neu es Zwar hat te der aust ra li sche Phi lo soph Pe ter Sin ger be reits 1975 sein be ruumlhm tes Buch uumlber Die Be frei ung der Tie re ge schrie ben Aber eine Tier rechts be we gung ent stand an ders als in Eng land und den USA in Deutsch land erst lang sam in den spauml ten Acht zi ger jah ren Nun in der Mit te der Neun zi ger jah re war das The ma end lich ge sell schaft lich re le vant ge wor den Koumln-nen wir un se ren all taumlg li chen Um gang mit Tie ren wei ter hin mo-ra lisch recht fer ti gen Die Mas sen me di en grif fen das The ma auf Der Jour na list Man fred Kar re mann dreh te Fil me uumlber Mas sen-tier hal tung Schlacht haumlu ser und Tier trans por te und brach te das Elend der Tie re da mit in die deut schen Wohn zim mer Die in zwi-schen ein ge stell te Zei tung Die Wo che nahm da ge gen den ra di-ka len Fluuml gel der Be we gung ins Vi sier Sie be rich te te uumlber an ge-saumlg te Hoch sit ze ein ge schla ge ne Schau fens ter von Metz ge rei en und warn te auf ei ner Dop pel sei te vor raquoTier schutz ter ro ris muslaquo

In die sem Kli ma er schien im Herbst 1997 mein Buch No ahs Erbe Sei ne Zu stim mung und Ab leh nung ver lief wie ich es mir er hofft hat te oft quer zu den etab lier ten Freund-Feind-Li ni en zwi schen Tier schuumlt zern Ar ten schuumlt zern und Tier recht lern Be-dau ert habe ich da bei ei gent lich nur jene Kri ti ken die mir von ei nem pa tho lo gi schen Men schen bild bis hin zu ei ner raquooumlko fa-schis ti schenlaquo Ge sin nung so ziem lich al les un ter stell ten wo von ich selbst in den fins ters ten Win keln mei nes Wir bel tier ge hirns nie mals ge traumlumt hat te

Seit dem ist viel und we nig ge sche hen Seit No vem ber 1999 er-freu en sich die Men schen af fen in Neu see land und wa ren es da-

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mals auch nur acht an der Zahl ei nes un an tast ba ren Rechts auf Le ben Der Tier schutz wur de 2002 als Staats ziel im deut schen Grund ge setz ver an kert Die gra vie rend ste Ver aumln de rung aber sind ohne Zwei fel die vie len Men schen die sich feisch los oder ve-gan er naumlh ren Das Wort raquove ganlaquo in den Neun zi gern noch et-was houmlchst Obs ku res das nur von we ni gen selt sam blut lee ren Bio-Vam pi ren be trie ben wur de ist heu te in al ler Mun de Ein vega nes Koch buch er reich te juumlngst eine Mil li o nen auf a ge Und na he zu je der kennt ei nen Vega ner oder haumlu fi ger eine Ve gan erin Nach ei ner Um fra ge des Al len sba cher Ins ti tuts aus dem Jahr 2015 gibt es in Deutsch land in zwi schen 78 Mil li o nen Ve ge ta-rier und 900 000 Vega ner1

In den west li chen In dust rie na ti o nen steigt die Sen si bi li taumlt im Um gang mit Tie ren un auf halt sam an ins be son de re bei jun gen Frau en Doch die se Hal tung hat zu gleich et was sehr Pri va tes Schoumln heit Fit ness Ge sund heit und Tier lie be sind meist auf ei-nen Nah ho ri zont be schraumlnkt Wa ren der Kampf fuumlr Tier rech te und die veg ane Er naumlh rung fruuml her fast un trenn bar mit ei nan der ver bun den ge we sen so hat sich das eine heu te vom an de ren ge-loumlst In West eu ro pa gibt es in zwi schen mehr Mas sen tier hal tung mehr Le ge bat te ri en und mehr in dust ri el les Tier elend als je zu-vor Gut ver steckt vor der Oumlf fent lich keit ar bei tet die se Ma schi-ne rie trotz ge le gent li chen Pro tes ten hef ti ger denn je Noch nie war die Kluft so groszlig die das was Men schen im Um gang mit Tie ren fuumlr rich tig hal ten und das was tat saumlch lich prak ti ziert wird von ei nan der trennt So lan ge wir un se re Er naumlh rung und un ser per soumln li ches Ver haumllt nis zu Tie ren als Pri vat sa che auf fas-sen so lan ge wird die mil li o nen fa che Grau sam keit ge gen Tie re wei ter hin ge sell schaft lich ak zep tiert

In die ser Lage stel len sich man che Fra gen die in No ahs Erbe be han delt wur den an ders und neu Auch vie le Zah len sind wie koumlnn te es auch an ders sein ver al tet In den Wis sen schaf ten wie der Pal aumlo anth ro po lo gie der Prim atolo gie und der Ver hal tens-1

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oumlko lo gie ist in den letz ten bei den Jahr zehn ten ei ni ges ge sche-hen das es zu be ruumlck sich ti gen gilt Die his to ri sche For schung uumlber das Ver haumllt nis von Mensch und Tier hat man ches Neue zu ta ge ge foumlr dert eben so in den Re li gi o nen wie in der Phi lo so-phie Die aka de mi sche De bat te uumlber eine an ge mes se ne raquoTier-ethiklaquo hat stark an Fahrt auf ge nom men Und nicht zu letzt hat mei ne ei ge ne Be schaumlf ti gung mit dem We sen und den Spiel re geln mo ra li schen Han delns zu man cher neu en Ein schaumlt zung und Be-wer tung ge fuumlhrt Man ches von dem was Men schen tun oder las sen er scheint mir mit uumlber fuumlnf zig in ei nem an de ren Licht als mit An fang drei szligig hellip

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Be lan ge re gelt eben so wie jene des Maul wurfs das Tier schutz-ge setz Maul wuumlr fe und Schim pan sen sind kei ne Rechts sub jek-te Man darf sie in enge Kauml fi ge ein pfer chen man darf sie mit Elektro schocks fol tern mit toumld li chen Kei men in fi zie ren sie am le ben di gen Leib ver aumlt zen sie ver stuumlm meln und ver gif ten

Das ver nuumlnf ti ge und sitt li che Le ben und das un ver nuumlnf ti ge rohe Le ben tei len die Welt in zwei Herr schafts be rei che Ei ner da von be sitzt ein mo ra li sches Sie gel Der an de re da ge gen ist ein na he zu un be schrie be nes Blatt Fast hun dert sech zig Jah re ist es her dass der bri ti sche Na tur for scher Charles Dar win den ge-mein sa men Ur sprung die fie szligen den Uumlber gaumln ge und zar ten Ver-aumls te lun gen al len Le bens be wies Doch Men schen gel ten we der all tags sprach lich noch recht lich als Tie re Eine alte Ge wohn heit trennt den Men schen von sei nen ani ma li schen Ver wand ten Es ge houmlrt zu den ei gen tuumlm li chen Fol gen der Dar win rsquoschen Wen de dass sie mit ei ni gen klei ne ren Kor rek tu ren das anth ro po zent ri-sche Welt bild un an ge tas tet lieszlig Kaum je mand duumlrf te sich als je-ner Tro cken na sen pri mat in der Ver wandt schaft von Men schen-af fen Meer kat zen und Pa vi a nen se hen als den uns die Zo o lo gie klas si fi ziert Statt des sen de fi nie ren wir uns als Men schen und ge-ben uns alle Muumlhe un se re ani ma li sche Na tur zu ver ges sen und zu ver ber gen

Das Band zu den an de ren Tie ren ha ben wir vor lan ger Zeit zer schnit ten Vor etwa 10 000 Jah ren hat der Mensch ge lernt die Roh stoff re ser ve raquoTierlaquo plan mauml szligig zu zuumlch ten Er haumllt sie von nun an in Form ei nes le ben den Ver sor gungs vor rats zum ei-ge nen Nut zen und From men In den An faumln gen der Tier zucht leg ten man che sess haft ge wor de nen Jauml ger ge stor be ne Hun de in da fuumlr vor ge se he ne Gru ben und be stat te ten so gar Mut ter Kind und Rin der ge mein sam Wel ten klaf fen zwi schen dem ani mis ti-schen Glau ben der ers ten Vieh zuumlch ter und der ma te ri a lis ti schen Mas sen tier hal tung der mo der nen Ge sell schaft Mit dem Ende der Kon kur renz schwand die Not wen dig keit sich mit dem Tier

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als ei nem Le be we sen aus ei nan der zu set zen Heu te nut zen wir die Res sour ce raquoTierlaquo voumll lig frag los fuumlr die An spruuml che des Men schen Das Ge mein sa me von Tier und Mensch trat in den Hin ter grund Zwar leb te das Tier noch im mer in der kul tu rel len Fan ta sie fort als ma gi sche oder fan tas ti sche Ge stalt als Freund Ge faumlhr te oder Be dro hung Doch die Be deu tung in der All tags welt er mat te te auf Schwund stu fen der Na tur wie Schoszlig hund Zier gup py Le ge hen-ne und Zir kus pferd Gren zen los uumlber le gen und un ab haumln gig ge-gen uumlber den Tie ren sei ner Um welt ent wi ckel te sich im mensch-li chen Be wusst sein ein voumll lig ent frem de tes Ver haumllt nis Nicht nur ra di ka le Aus nut zung und Sa dis mus auch falsch ver stan de ne Lie-be De na tu rie rung und un frei wil li ge Quauml le rei be stim men seit her den mensch li chen Um gang mit dem Tier

Bis ins fruuml he Mit tel al ter uumlber wog die Zahl der wil den Tie re die An zahl der Nutz- und Haus tie re die der Mensch in sei nen Dienst ge stellt hat te Doch spauml tes tens mit dem Sie ges zug des Ka pi ta lis mus in West eu ro pa und Nord a me ri ka ver schwan den die Res te der Ehr furcht in die Maumlr chen buuml cher und Zir kus dar-bie tun gen Mo der ne Agrar un ter neh men In dust rie met ro po len Au to bah nen und Hoch span nungs mas ten bil den das Or na ment un se rer Um welt die wir seit meh re ren hun dert Jah ren raquoLand-schaftlaquo nen nen Nir gend wo in der All tags welt ei nes Men schen der west li chen Zi vi li sa ti on be geg net uns das Tier noch als Kon-kur rent nicht bei der Er naumlh rung nicht im Kampf um den Le-bens raum und nicht als Fress feind des sen Zaumlh ne und Klau en ernst haft Furcht er re gen koumlnn ten Das ein zig Be droh li che das heu te bleibt sind aus ge rech net ein paar klei ne Tie re etwa Rat-ten und Maumlu se die letz ten ge faumlhr li chen Fress kon kur ren ten des Men schen Dazu kom men In sek ten Mik ro ben und Vi ren

Das Band zwi schen uns und den an de ren Tie ren wuchs auch nicht da durch wie der zu sam men dass wir die Tie re uumlber die Wis-sen schaft als Ver wand te wie der ent deck ten Seit mehr als zwei-tau send Jah ren sieht sich der Mensch als le gi ti mer Herr scher

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uumlber eine be herrsch ba re Um welt dazu ge schaf fen sie zu nut zen und aus zu beu ten Un se re Evo lu ti on hat sich da bei ra sant be-schleu nigt Laumlngst fin det sie kaum noch in un se rem Koumlr per statt son dern vor al lem in un se rer Tech nik und Kul tur Und schon lan ge dient sie nicht mehr dazu sich der Na tur an zu pas sen Sie dient ei ner im mer wie der neu ge schaf fe nen mensch li chen Kul-tur An pas sung be deu tet heu te sich an den ei ge nen Fort schritt an zu pas sen mit all den be kann ten Fol gen fuumlr un se re Um welt Dra ma ti sche Kli ma wech sel die Zer stouml rung der schuumlt zen den Ozon schicht die Ver step pung wei ter Land stri che auf al len Suumld-kon ti nen ten und die Ver gif tung der Mee re ver nich ten nicht nur die nicht mensch li che Tier welt sie be tref fen mehr und mehr den Men schen selbst

In atem be rau ben dem Tem po be schleu nig te das in dust ri a li sier-te 20 Jahr hun dert die Be herr schung und Aus beu tung der Na-tur und mit ihr die der Tie re Schon in den ver gan ge nen Jahr-tau sen den hat te Homo sap iens den ge sam ten Pla ne ten in Be sitz ge nom men Kein grouml szlige res Wir bel tier be sitzt ein sol ches Ver brei-tungs ge biet be wohnt Wuumls ten Re gen waumll der und Po lar re gi o nen glei cher ma szligen Und kein grouml szlige res Wir bel tier hat sich zu Mil li ar-den ver mehrt Ruumlck sichts lo se Pluumln de rung der Roh stof fe und ein un ge heu res Be voumll ke rungs wachs tum der Spe zi es Homo sap iens schaf fen ei nen erd ge schicht li chen Aus nah me zu stand

Der Mensch be herrscht heu te den Pla ne ten aber of fen sicht-lich nicht sich selbst Es koumlnn te da ran lie gen dass es raquoden Men-schenlaquo gar nicht gibt Statt des sen gibt es mehr als sie ben Mil li-ar den un ter schied li che In di vi du en Und nie mand da von ist fuumlr die Mensch heit zu staumln dig Sie ist eine Ge mein de der an zu ge houml-ren nicht dazu ver pfich tet sich um das Gan ze zu sor gen und zu kuumlm mern

Zu herr schen be deu tet Ord nun gen zu etab lie ren und Re geln da fuumlr auf zu stel len was wich tig ist und un wich tig rich tig oder falsch Jahr hun der te lang sah die Mo ral der abend laumln di schen

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Zivi li sa ti on in der Aus rot tung der Wild tie re und Aus beu tung der Nutz tie re na he zu kein Pro blem Eine kla re Grenz zie hung er-laub te je den Um gang mit dem Tier von der Lie be bis zur Fol ter von der Zucht bis zur Touml tung Das Ar gu ment war schlicht Der Mensch ist eine Son der an fer ti gung Got tes und mit dem Tier ge-ra de mal durch den lo sen Fa den der goumltt li chen Schoumlp fung stat ver bun den So kam in den Wor ten des deutsch-fran zouml si schen The o lo gen und Arz tes Al bert Schweit zer raquodie An sicht auf dass es wert lo ses Le ben gaumlbe des sen Schauml di gung und Ver nich tung nichts auf sich habe Un ter wert lo sem Le ben wer den dann je nach den Um staumln den Ar ten von In sek ten oder pri mi ti ve Voumll ker ver stan denlaquo2 (Eine Kli en tel die sich uumlber dies noch um Frau en er wei tern lie szlige)

Die se Gren ze wur de und wird in der abend laumln di schen Kul-tur ge schich te va ri an ten reich ver tei digt Doch je ge nau er wir sie be trach ten umso selt sa mer er scheint sie uns Denn sie laumlsst sich im mer schlech ter be gruumln den und zwar so wohl phi lo so phisch als auch bi o lo gisch Seit etwa vier zig Jah ren be steht in der Ge-sell schaft eine De bat te die un se ren Um gang mit Tie ren grund-saumltz lich in fra ge stellt Tier e thi ker wie Pe ter Sin ger und sein US-ame ri ka ni scher Phi lo so phen kol le ge Tom Re gan for dern Rech te auch fuumlr Tie re Der Aus schluss der Tie re aus der Ethik sei ein mo ra li scher Skan dal Das Tier heu te mo ra lisch drau szligen vor der Tuumlr zu las sen sei das Erbe ei nes re li gi ouml sen Aber glau bens Da der Mensch kei ne Son der an fer ti gung Got tes sei son dern ein in tel-li gen tes Tier muumlss ten wir die Reich wei te der Mo ral eben so auf die raquoan de ren Tie relaquo aus deh nen Ha ben wir nicht nach und nach ge lernt die Skla ve rei zu aumlch ten und Frau en als gleich be rech tig-te Men schen zu ach ten Und ist es nun nicht an der Zeit neu uumlber Tie re nach zu den ken und sie mo ra lisch an ge mes sen zu be-ur tei len

Doch wie koumlnn te ein sol cher an ge mes se ner Um gang mit den an de ren Tie ren aus se hen Den Men schen als ein Tier un ter an-2

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de ren an zu se hen koumlnn te ja auch be deu ten ihn ab zu wer ten statt die Tie re mo ra lisch erns ter zu neh men Das Un heil des So zi-al dar wi nis mus und der bar ba ri schen Ras sen the o rie ste ht uns mah nend vor Au gen Und was ist uumlber haupt das Kri te ri um da-fuumlr Tie re mo ra lisch zu ach ten Ist es ihre Lei dens fauml hig keit ihr Le bens wil le oder ihre In tel li genz Ha ben klu ge Tie re ein houml he-res Le bens recht als duumlm me re Das Ver haumllt nis des Men schen zu den an de ren Tie ren neu zu be wer ten ist eine gro szlige und schwie-ri ge Auf ga be

Ich moumlch te in die sem Buch ver su chen die se Fra gen neu zu stel len und zu durch den ken Da bei be trach te ich den Men schen als ein be son de res Tier un ter vie len auf an de re Wei se be son de ren Tie ren Ich moumlch te mich nicht da rauf fest le gen den Men schen all ge mein uumlber be stimm te Ei gen schaf ten zu de fi nie ren die ihn ethisch wert voll ma chen sol len Ich moumlch te ihm aber auch nicht im Um kehr schluss alle ge mein hin als raquomensch lichlaquo be zeich ne ten Ei gen schaf ten ab spre chen weil nicht alle Men schen Trauml ger all die ser Ei gen schaf ten sind Viel leicht ist be reits das Su chen nach sol chen ex klu si ven Ei gen schaf ten der fal sche Weg Der Denk-feh ler koumlnn te be reits da rin lie gen ei gen staumln di ge Dis zip li nen wie raquoAnth ro po lo gielaquo oder raquoMo ral phi lo so phielaquo be trei ben zu wol len die eine sol che enge De fi ni ti on des Men schen vo raus set zen Waumlre es nicht bes ser die Enge des Be griffs zu spren gen Statt Anth-ro po lo gie zu be trei ben soll te man sich lie ber mit ei ner Anthroshyzo o lo gie be schaumlf ti gen ndash eine Leh re vom Men schen tier und den an de ren Tie ren

Der Be griff ist neu er wur de erst vor we ni gen Jah ren un ter an de rem von dem US-ame ri ka ni schen Psy cho lo gen Hal Her zog ein ge fuumlhrt3 Die neue Dis zip lin der Hu manshyAni mal Stu dies kon-zent riert sich weit rei chend da rauf was Men schen und an de re Tie re ver bin det Da bei ver wen de ich den Be griff raquoAn thro zo o-lo gielaquo al ler dings et was an ders als Her zog und die Ver tre ter der Hu man-Ani mal Stu dies Es ist ein et was ein touml ni ger Sport al les 3

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was ge mein hin als raquomensch lichlaquo be trach tet wird als My thos zu ent zau bern Ich moumlch te es lie ber an ders ein bet ten und be wer ten Denn ich mei ne dass die Ver tre ter der Hu man-Ani mal Stu dies ihre De fi ni ti on des Men schen als ein Tier un ter Tie ren nicht ganz zu Ende den ken Denn waumlre der Mensch durch nichts Mensch-li ches grund saumltz lich vom Tier un ter schie den wie sie an neh men so lieszlige sich auch nicht ein for dern dass Men schen sich aus vershynuumlnf ti ger Ein sicht an ge mes sen ge gen uumlber Tie ren ver hal ten sol len

Um mensch li ches Han deln zu ver ste hen muumls sen wir ver ste-hen in wel chem Rah men Men schen die Welt se hen sich ori en-tie ren und han deln Die bei den ers ten Tei le des Bu ches skiz zie-ren die sen bi o lo gi schen und den kul tu rel len Rah men In ih nen moumlch te ich zei gen auf wel che Art und Wei se Men schen sich un-ter Tie ren ver hiel ten und ver hal ten Da bei be schaumlf tigt sich der ers te Teil mit der Fra ge was fuumlr ein spe zi el les Tier der Mensch ei gent lich ist Wie ist sei ne Rol le in der Evo lu ti on Und nach wel chen Denk mus tern ha ben Men schen die se Chro nik un se rer selbst seit der An ti ke ge schrie ben (Die Ord nung der Schoumlpshyfung) Wel che Stel lung hat sich Homo sap iens in der Na tur da-durch ge si chert dass er sie sich zu schrieb (Der Pri mat)

In je der mensch li chen Wis sen schaft vom Le ben be steht bis heu te still schwei gend oder laut hals ver kuumln det zwi schen Mensch und Tier eine Gren ze Doch weiszlig we der die E vo lu ti ons bi o lo-gie noch die Pal aumlo anth ro po lo gie mit Ge wiss heit zu sa gen an wel chem Punkt sich nur ani ma li sches von mensch li chem Le ben schei det Was ha ben Pal aumlo anth ro po lo gen in den letz ten hun dert Jah ren da ruuml ber ge glaubt Und was den ken sie heu te (Der aufshyrech te Affe) Da bei wer den wir se hen dass es mit der Gren ze zwi schen dem Men schen und den an de ren Tie ren eine aumlu szligerst komp li zier te Sa che ist Seit Jahr zehn ten mes sen und ver glei chen Ver hal tens for scher die kog ni ti ven Leis tun gen von Tie ren mit je-nen des Men schen mit dem uumlber ra schen den Er geb nis dass Tie re in na he zu al len raquowich ti genlaquo Punk ten un ter le gen sind bei Kul tur-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 239783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 23 10082021 10493410082021 104934

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leis tun gen wie Werk zeug ge brauch und Re li gi on eben so wie beim Er werb der mensch li chen Spra che Doch ha ben wir bei sol chen Mes sun gen tat saumlch lich den rich ti gen den fai ren Maszlig stab Ist es sinn voll die In tel li genz von Men schen af fen mit uns zu ver glei-chen (Sinn und Sinn lich keit)

Die Mo le ku lar ge ne tik zeigt uns dass Men schen bi o lo gisch Schim pan sen sind Wel che Kon se quen zen zie hen wir da raus (Eins Kom ma sechs Pro zent) Nach dem wir den Men schen auf die se Wei se bi o lo gisch ein ge kreist ha ben wer fen wir noch ei nen Blick da rauf wie ob jek tiv un ser Wis sen vom Men schen und den an de ren Tie ren ist Was koumln nen wir uumlber haupt uumlber das Be wusst-sein an de rer Tie re wis sen Stellt es nicht eine so gro szlige Bar ri e re dar dass wir zu ge ben muumls sen nichts De fi ni ti ves sa gen zu koumln-nen (Die Tuuml cke des Sub jekts)

Im zwei ten Teil wer fe ich ei nen Blick in die Kul tur ge schich te des Mensch-Tier-Ver haumllt nis ses Was ha ben Men schen zu wel cher Zeit uumlber Tie re ge dacht und wa rum Wie hat man sie be han delt Und wel che Sen si bi li taumlt oder Kaumll te setz te sich wa rum durch Was wis sen wir da ruuml ber aus der Jung stein zeit (Die Tund ra des Ge wis sens) Was glaub ten und dach ten die al ten Aumlgyp ter (raquoIch habe kein Tier miss han deltlaquo) Und wa rum ent zau ber te das alte Ju den tum die Tie re (Hir ten und Herr scher)

In der abend laumln di schen Phi lo so phie gibt es seit der An ti ke sehr un ter schied li che Deu tun gen von Tie ren Mal se hen die Den ker eine gro szlige spi ri tu el le oder na tur ge schicht li che Naumlhe mal er he-ben sie den Menschen qua sei ner Ver nunft zum un ein ge schraumlnk-ten Wel ten herr scher (Das ver lo re ne Pa ra dies) In der christ li chen Re li gi on da ge gen wer den Men schen und Tie re deut lich von ei-nan der ge schie den eine Son der an fer ti gung hier eine Drein ga-be dort Das Chris ten tum ent fernt die tier freund li chen Mo men-te der juuml di schen Re li gi on aus den Glau bens leh ren (raquoKuumlm mert sich Gott etwa um die Och senlaquo) An ders ver laumluft der Weg in In di en Chi na und Suumld ost a si en Das Welt bild und die Tier ethik

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 249783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 24 10082021 10493410082021 104934

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von Hin dus und Bud dhis ten un ter schei den sich von der un se-ren (Schein hei li ge Kuumlhe) Im Abend land da ge gen do mi niert in der Nach fol ge des fran zouml si schen Phi lo so phen Reneacute Des car tes eine raquora ti o na lis ti schelaquo kal te Pers pek ti ve auf das Tier Tie re weil sie nicht ver nunft fauml hig sei en wer den kaum noch als Le be we sen wahr ge nom men ndash eine Po si ti on die im 18 Jahr hun dert al ler-dings ziem lich kont ro vers dis ku tiert wird (Die Den ker und das lie be Vieh) Nach und nach ent ste hen im spauml ten 18 Jahr hun dert eine neue Mit leids ethik und so gar ers te For de run gen nach Rech-ten fuumlr Tie re (raquoKoumln nen sie lei denlaquo)

Im drit ten Teil moumlch te ich eine ei ge ne ethi sche Hal tung ent-wi ckeln Zu naumlchst wer den The o ri en von Phi lo so phen des 20 Jahr hun derts vor ge stellt die wie Al bert Schweit zer raquoEhr furcht vor dem Le benlaquo ver lan gen oder Tie ren ei nen ho hen mo ra li schen Sta tus zu spre chen wie Pe ter Sin ger und Tom Re gan (Das ei sershyne Tor) Die se Po si ti o nen zwin gen dazu grund saumltz li cher da ruuml-ber nach zu den ken was das raquoTier rechtlaquo vom raquoTier schutzlaquo un-ter schei den soll (Schutz oder Recht) An schlie szligend moumlch te ich die Schwach stel len der gaumln gi gen Tier rechts phi lo so phi en he raus-ar bei ten und zei gen wa rum ich sie we der dem Men schen fuumlr an-ge mes sen hal te noch fuumlr all ge mein prak ti ka bel (Eine art ge rech te Mo ral) Da ran schlie szligen sich mei ne Uumlber le gun gen an was ein an ge mes se ner Um gang mit Tie ren sein koumlnn te (Gut besser am besten)

Sol cher ma szligen ge ruumls tet koumln nen wir uns im vier ten Teil mit den vie len Prob le men be fas sen die sich im All tag stel len Das ers te die ser Ka pi tel bi lan ziert das all taumlg li che Cha os im Um gang mit Tie ren (Lie ben ndash Has sen ndash Es sen) Da nach wen den wir den Blick auf die recht li che Si tu a ti on und un ter zie hen die Lo gik un-se res Tier schutz ge set zes ei ner ge nau e ren Pruuml fung (Ein kur zer Text uumlber das Touml ten) Das naumlchs te Ka pi tel gilt der Jagd Ist Ja gen art ty pi sches Ver hal ten des Men schen oder eine staat lich le gi ti-mier te Per ver si on (Na tur schutz oder Lust mord) Und wie sieht

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es mit un se rer Er naumlh rung aus Wel che Ar gu men te spre chen da-fuumlr dass Men schen in un se ren heu ti gen west li chen Ge sell schaf-ten noch Tie re touml ten duumlr fen um sich von ih nen zu er naumlh ren Und wel che Ar gu men te spre chen da ge gen Viel leicht gibt es so gar schon in Kuumlr ze ei nen Aus weg der uns end lich hilft die Mas sen-tier hal tung zu be sei ti gen (Jen seits von Wurst und Kaumlse) Eben so stellt sich die Fra ge un ter wel chen Um staumln den Tier ver su che zu-kuumlnf tig er laubt sein soll ten und un ter wel chen nicht (Das Tier als Dum my) Ist es mo ra lisch ver tret bar Tie re in Zo o lo gi schen Gaumlr ten zu hal ten Und wenn ja wel che und wel che nicht (Alshycat raz oder Psycho top) Zoos ver ste hen sich heu te als raquoNa tur-schutz zent renlaquo die Tie re er hal ten die in ih ren Hei mat laumln dern vom Aus ster ben be droht sind Wie ist dies zu be wer ten (Das Zeit al ter der Ein sam keit) Da bei sto szligen wir auf die Schwie rig-keit dass Tier schutz Tier recht und Ar ten schutz kei ne na tuumlr li-chen Ver buumln de ten sind son dern sich in ih rer Phi lo so phie ih rer Welt an schau ung und ih ren Ziel set zun gen stark un ter schei den (Das un ver soumlhn li che Tri um vi rat) Das Schluss wort bi lan ziert die se Er kennt nis se und fragt was wir aus al le dem prag ma tisch fol gern soll ten und in wel chen Schrit ten es ge sche hen koumlnn te (Scho pen hau ers Trep pe)

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Das Men schen tier

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Wahr heit zu hal ten Aber die ses Bild hat sich schon oft ver aumln-dert und es wird sich ge wiss noch wei ter ver aumln dern

Men schen nei gen dazu die Welt in der sie le ben auf zu raumlu-men Es ist eine ziem lich art ty pi sche Ver hal tens wei se Wir sor tie-ren die all taumlg li chen Din ge un se res Le bens und eben so sor tie ren wir die Ge dan ken uumlber die Welt die uns um gibt Jede Ord nung auch die der Na tur ist also ein mensch li cher Ent wurf Und al-lem An schein nach ent stand das Be duumlrf nis die Welt zu ord nen in un se rer Ent wick lungs ge schich te pa ral lel zur Ent wick lung der Spra che Denn ohne die kuumlnst li che Auf raumlum ar beit der Spra che waumlre die Vor stel lung von ei ner raquoOrd nung der Schoumlp funglaquo oder der raquoNa turlaquo nicht moumlg lich

Wer auf die Ord nung an ge wie sen ist be wegt sich gern in den si che ren Gren zen ei nes Sys tems Nur in ner halb ei nes sol chen Ord nungs ge fuuml ges fragt man nach Wahr heit und Gel tung Rich-tig keit Me tho de und Be deu tung Zu leicht uumlber sieht der Ord ner dann die kuumlnst li che Be hau sung und die selbst ge zim mer ten Re-ga le in die er die Welt so sorg faumll tig hi nein sor tiert Sel ten ge lingt ihm ein Blick aus dem Fens ter in die un ge wis se Land schaft die ihn um gibt Und nur ein ge wal ti ger Sturm ein Blitz schlag oder eine Er schuumlt te rung zwingt den Ver wal ter der Welt die si che re Wohn statt zu ver las sen und sich ein an de res Haus zu bau en das den An fein dun gen des neu en Kli mas wi der steht

Erst im Ruumlck blick auf die vie len Irr tuuml mer der Ver gan gen heit er ken nen wir dann un se re ei ge ne Un zu laumlng lich keit beim Auf-raumlu men In der Ge gen wart er scheint uns die je wei li ge Ord nung meis tens so selbst ver staumlnd lich dass wir gern uumlber jede Moumlg-lich keit der Ver aumln de rung lauml cheln So ha ben Men schen mit voumll li-ger Ge wiss heit an ge nom men dass die Erde eine Schei be ist und dass Frau en und Skla ven kei ne Rech te zu ste hen Und mit ei nem eben sol chen Lauml cheln be trach ten wir heu te die Gruumln de mit de-nen Men schen sich im Lau fe der Jahr hun der te von den Tie ren zu un ter schei den glaub ten

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Schon die al ten Grie chen ins be son de re Aris to te les (384 v Chr ndash 322 v Chr) ha ben sich fuumlr die Ge schich te und das in vie len De tails ver bor ge ne Sys tem der Na tur in te res siert Er teilt die Tie re in Klas sen ein ver sucht zu er gruumln den was Le ben ist und schafft da mit die Grund la gen der Zo o lo gie Aber Aris to te-les kennt nur we ni ge hun dert Tie re Eine raquovoll staumln di ge Na tur-ge schich telaquo wird das ers te Mal im 18 Jahr hun dert ge schrie-ben ndash und auch sie ist aumlu szligerst un voll staumln dig Seit dem ver fuuml gen wir nicht nur uumlber ei nen rei chen Vor rat an ge dach ten Ord nun-gen von den Schoumlp fungs my then bis hin zur Mo le ku lar bi o lo gie Wir ken nen auch eine Wis sen schaft die sich raquoTax ono mielaquo nennt und jede Pfan ze und je des Tier sys te ma tisch in eine In ven tar liste der Na tur ein traumlgt

Da bei ver ra ten die Denk sche ma ta der Na tur for scher nicht nur et was uumlber die klas si fi zier te Na tur selbst son dern eben so uumlber das Ord nungs be duumlrf nis und die Pfif fig keit des mensch li-chen Geis tes Das 18 Jahr hun dert ist eine Zeit in der das Buumlr-ger tum an die Macht draumlngt und sich zu neh mend ge gen den Adel auf ehnt Sei ne schaumlrfs te Waf fe ist et was das man raquoVer nunftlaquo oder raquoRa ti o na li taumltlaquo nennt und das man ge gen den Glau ben ins Feld fuumlhrt Fuumlr die Phi lo so phen der Ra ti o na li taumlt ist die Welt kei-ne vor ge fun de ne Schoumlp fung mit fes ter Ord nung son dern et was dass man geis tig durch drin gen und auf sei ne Lo gik und Wi der-spruuml che un ter su chen kann Da bei ge ben zu naumlchst die Phy sik und die Ma the ma tik das Sche ma vor nach dem alle Er kennt nis auch jene von Pfan zen und Tie ren funk ti o nie ren soll Die Sys te ma ti-ker der Na tur ge schich te su chen nach un ver ruumlck ba ren Kri te ri en ob jek ti ven Ge setz mauml szligig kei ten und lo gi schen Ver bin dun gen um die un uuml ber sicht li che Welt der Le be we sen ih rer raquowah ren An ord-nunglaquo ge maumlszlig ein zu tei len Aber nicht alle Na tur for scher glau-ben dass ein sol ches Vor ha ben tat saumlch lich ge lin gen kann Man-che hal ten die Na tur fuumlr zu reich hal tig um sie auf die se Wei se zu klas si fi zie ren Welt an schau un gen tref fen auf ei nan der auf der

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ei nen Sei te der Glau be an ein vom Men schen prin zi pi ell voumll lig durch schau ba res Na tur sys tem auf der an de ren Sei te eine un er-gruumlnd li che Schoumlp fung in der der Mensch sich im mer nur tas-tend fort be wegt

Die ers te Va ri an te gilt im 18 Jahr hun dert als der mo der ne-re An satz Man ori en tiert sich da bei an ei nem Ra ti o na lis mus den Reneacute Des car tes (1596 ndash 1650) schon hun dert Jah re zu vor neu be gruumln det hat Die ser Ra ti o na lis mus ori en tiert sich an der Me cha nik Die Schoumlp fung Got tes er scheint als eine ein zi ge klug aus ge tuumlf tel te Ma schi ne die der Mensch Stuumlck fuumlr Stuumlck zu be-herr schen lernt Und das Uni ver sum be steht aus Ma te rie in Be-we gung or ga ni siert nach ma the ma ti schen Ge set zen Ob gleich das 18 Jahr hun dert zent ra le Spe ku la ti o nen des Phi lo so phen wi-der legt ori en tiert es sich in vie lem an Des car tesrsquo me cha nis ti scher Denk wei se Sie tut dies vor zugs wei se in je nen Dis zip li nen de-ren Er kennt nis fort schritt zu naumlchst ge ring bleibt Und nir gend-wo trifft dies in ei nem sol chen Maszlig zu wie bei der Er for schung der bi o lo gi schen Na tur

Doch die ses Welt bild hat prob le ma ti sche Fol gen Wer die Welt kon se quent nach me cha nis ti schen Grund saumlt zen be trach tet hat fuumlr den Be reich der nicht mensch li chen Na tur we nig Ver staumlnd nis Fuumlr Des car tes sind Tie re nichts als Ma schi nen Es macht kei nen Un ter schied ob eine Ma schi ne die aumlu szlige re Ge stalt und die in ne-ren Or ga ne ei nes Af fen hat oder ob es sich da bei tat saumlch lich um ein le ben des Tier han delt Denn relevantes Le ben kommt fuumlr den Den ker nicht durch zir ku lie ren des Blut und Reizempfindungen in den Koumlrper Son dern bedeutsames Le ben ga ran tie ren ein zig und al lein der er leuch te te Geist und sei ne Spra che

Des car tesrsquo Zeit kennt we der den Be griff des raquoOr ga nis muslaquo die Be son der heit des Le bens noch die Evo lu ti on son dern eben nur die Me cha nik Trotz dem ist sei ne The o rie von den Tie ren als see len lo se Au to ma ten im 17 und 18 Jahr hun dert aumlu szligerst um-strit ten Fran zouml si sche Phi lo so phen schrei ben Buch um Buch uumlber

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die Tier-Fra ge und be feh den sich da bei uumlber mehr als hun dert Jah re Noch weiszlig man nichts von ei ner raquoBi o lo gielaquo Man be treibt eine neue Dis zip lin die sich raquoNa tur ge schich telaquo nennt und da-mit auf raumlumt die Ge schich te von Le be we sen als eine wahl lo se Samm lung von Er zaumlh lun gen an zu se hen Bis her schrie ben Au to-ren um stands los von der Fang wei se der Tie re ih rer Ana to mie ih rer bib li schen und al le go ri schen Be deu tung ih rem prak ti schen Ge brauch ih rer Ver meh rung ih ren Stim men und Spra chen ih-ren Be we gun gen ih rem Al ter und von der Sym pa thie oder An-ti pa thie des Ver fas sers Auch Koch re zep te wur den von Fall zu Fall hin zu ge fuumlgt

Ein zo o lo gi sches Sys tem ist zu An fang des 18 Jahr hun derts weit ge hend un be kannt die Ver wandt schafts ver haumllt nis se der Pfan zen und Tie re sind dif fus ge ahnt und wer den eher nach Le-bens raumlu men be stimmt als nach koumlr per li chen Merk ma len Tie re die nachts ja gen ste hen da bei eben so in ei nem Ord nungs ge fuuml ge wie Tie re die fie gen koumln nen im Wald oder in ei nem See le ben Be reits die Pries ter schrift der bib li schen Ge ne sis hat te die Welt der Tie re und Pfan zen nicht nach ana to mi schen Merk ma len un-ter teilt son dern in Be zug auf den Le bens raum Pfan zen und Tie re des Mee res der Luft und der Erde Uumlber mehr als tau send Jah re kann ten auch der Is lam und die Hin dus Ord nungs sys teme die Tie re in ih rem Oumlko sys tem ver an ker ten

In der hin du is ti schen Samk hya-Tra di ti on exis tie ren vier zehn Klas sen un ter schied li cher Le be we sen ein ge teilt in acht For men himm li scher und sechs ir di scher Le be we sen zu de nen auch der Mensch ge houmlrt Als wei te res Un ter schei dungs merk mal dient die Art und Wei se der Ge burt Im gro szligen in di schen Na ti o nal epos aus dem 4 Jahr hun dert dem Ma hab har ata heiszligt es raquoAuf die ser Erde gibt es zwei Ar ten von Le be we sen die Be weg li chen und die Un be weg li chen Die Be weg li chen ha ben ei nen drei fa chen Schoszlig Sie sind aus dem Ei aus feuch ter Hit ze und Le ben dig-Ge bo re ne Von al len be weg li chen Le be we sen wie de rum sind die je ni gen die

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le ben dig ge bo ren sind hellip die bes ten Die bes ten un ter den le ben-dig Ge bo re nen sind die die zum Men schen ge schlecht ge houml ren und die Nutz tie relaquo4

Die neu en Sys te me des 18 Jahr hun derts be frei en die Na tur-ge schich te von al lem was sich mit den Me tho den der Zeit nicht wis sen schaft lich exakt be schrei ben laumlsst Koch re zep te fal len so-wie so un ter den Tisch aber auch man che Ver hal tens be ob ach-tun gen und vor mals wich ti ge Ei gen schaf ten wie zum Bei spiel der Ge ruch Ge forscht wird mit Lupe und Mik ros kop Li ne al und Pin zet te Der wich tigs te Mann auf die sem Ge biet ist der schwe-di sche Na tur for scher Carl von Linneacute (1707 ndash 1778) Er ori en-tiert sich an Aris to te les den er be wun dert nicht an Des car tes Ge ra de zu re vo lu ti o naumlr de mo kra tisch ent wi ckelt der auf ge klaumlr te Schwe de im 18 Jahr hun dert ein be schrei ben des Sys tem der Na-tur frei vom the o lo gi schen Fir le fanz sei ner Zeit Mit der Ak ri bie ei nes Brief mar ken samm lers dem Voll staumln dig keit mehr be deu tet als das Be stau nen ein zel ner Wer te ord net er die be leb te Na tur nach Ar ten Gat tun gen Ord nun gen und Klas sen Vier Va ri ab len die Form der Ele men te ihre An zahl die raumlum li che An ord nung der Ele men te und ihre re la ti ve Grouml szlige be stimm ten von nun an den Platz im Sys tem

Un ter der Leit dis zip lin der Bo ta nik wan delt sich die Na tur ge-schich te in eine ge ord ne te Welt aus Li ni en und Flauml chen Ent schei-dend sind die sicht ba ren Un ter schei dungs merk ma le wie Bluuml ten und Staub ge fauml szlige Blaumlt ter und Fruumlch te Fuumlszlige und Hufe Fe dern und Flos sen So setzt Linneacute fuumlr jede Pfan zen- und Tier klas se jede Ord nung und Gat tung be stimm te Merk ma le fest die er als die wich ti ge ren er ach te t Denn nur un ter der An nah me sol cher pri vi-le gier ter Struk tu ren ist es ihm moumlg lich die ver schie de nen Spe zi es im Ge samt sys tem un miss ver staumlnd lich zu ras tern Der mensch li che Ord ner be schreibt also nicht ein fach die be leb te Na tur Er fuumlgt ihr auch et was hin zu die Ent schei dung naumlm lich was in der For men-viel falt der Le be we sen wich ti ge Merk ma le sind und was nicht4

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Wie alle da ma li gen Na tur for scher nimmt Linneacute an dass die Ein tei lun gen die der mensch li che Ver stand macht tat saumlch lich ei ner ob jek ti ven Ord nung der Na tur ent spre chen Doch Lin neacutes Sys tem ist wie er selbst weiszlig nicht raquona tuumlr lichlaquo Sei ne Struk tu ren sind kei ne die er in der Na tur als Un ter schei dungs kri te ri en vor-fin det Denn was sich am Schreib tisch nun muumlh sam in Ord nun-gen pres sen laumlsst liegt wie der fran zouml si sche Na tur for scher Mishychel Adan son (1727 ndash 1806) fest stellt in der Wild nis wie Kraut und Ruuml ben durch ei nan der raquohellip eine kon fu se Mi schung aus We-sen hellip die der Zu fall ei nan der an ge nauml hert zu ha ben scheint Hier wird das Gold mit ei nem an de ren Me tall mit ei nem Stein oder mit Erde ge mischt Dort waumlchst die Ei che ne ben dem Veil chen Un ter die sen Pfan zen ir ren eben falls der Vier fuumlszlig ler das Rep til und das In sekt um her Die Fi sche mi schen sich so zu sa gen mit dem waumlss ri gen Ele ment in dem sie schwim men und mit den Pfan zen die auf dem Grun de der Ge waumls ser wach sen hellip Die se Mi schung ist so gar so all ge mein und so viel faumll tig dass sie ei nes der Na tur ge set ze zu sein scheintlaquo5

Der Wi der spruch zwi schen ei ner tax ono mi schen und ei ner oumlko lo gi schen Ord nung der Na tur ist of fen sicht lich Er fin det sich noch heu te in der Dis kus si on um die Aumls the tik von Zoo an la gen Soll man die Tie re nach Ver wandt schafts ver haumllt nis sen sam meln also in Raub tier haumlu sern An ti lo pen haumlu sern und Hirsch an la gen so dass der Be su cher zwi schen den ana to mi schen Be son der hei-ten der Ar ten ndash mit un ter so gar den ge o gra fi schen Va ri an ten ei ner ein zi gen Art ndash zu un ter schei den lernt Oder ge waumlhrt die Nach-ge stal tung ei nes Na tur bi o tops ei ner af ri ka ni schen Sa van ne oder ei nes al pi nen Pa no ra mas den wich ti ge ren Ein blick in die Ord-nung der Na tur

Zwar steht fuumlr Linneacute und sei ne Kol le gen fest dass die raquowah-re Ord nunglaquo der Na tur sich an den koumlr per li chen Merk ma len zu ori en tie ren hat doch muss eine Er klauml rung da fuumlr ge fun den wer-den wa rum die se Ord nung in der frei en Na tur nicht von al lein 5

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sicht bar wird Ohne Zwei fel ist das Sys tem der Na tur kei ne zeit-lo se Schoumlp fung son dern durch Ver aumln de run gen ge kenn zeich net die sich in der Erd ge schich te er eig net ha ben Pa ral lel meh ren sich die Fun de von Fos si li en also von Tie ren die mut maszlig lich aus-ge stor ben sind Es hat al lem An schein nach grouml szlige re ge o lo gi sche Ka tast ro phen in un be kann ter Zahl ge ge ben de nen vie le Ar ten zum Op fer ge fal len sind Doch ha ben die se De sas ter auch zur Ent ste hung von neu en For men ge fuumlhrt

Um den Fak tor der Zeit und sei ne Fol gen fuumlr das Sys tem der Na tur ein zu schaumlt zen gibt es vie le Moumlg lich kei ten Die ein fachs te und mensch lichs te al ler zeit li chen Ord nungs vor stel lun gen ist die Idee al les fol ge ei nem Plan und sei auf ein Ziel hin aus ge rich-tet (Te le o lo gie) Re li gi o nen Phi lo so phi en und Ide o lo gi en funk-ti o nie ren na he zu al le samt ziel ge rich tet Es geht um ein bes se res Le ben auf Er den im Jen seits in ei nem ge rech ten Staat um die Herr schaft uumlber die an de ren uumlber die Pro duk ti ons mit tel oder das Boumlse Selbst un ser All tag ge stal tet sich weit ge hend te le o lo-gisch durch traumlnkt von zu kuumlnf ti ger Er war tung Mo tor jed we-der Te le o lo gie ist der Fort schritts ge dan ke Sein ima gi nauml res Ziel ist der voll kom me ne Zu stand So glau ben christ lich-abend laumln-di sche Ge sell schaf ten gern an eine staumln di ge Ver bes se rung durch An stren gung eine Tu gend die nach cal vi nis ti scher Tra di ti on im Him mel wie auf Er den von Gott ma te ri ell ent lohnt wird Wie na he lie gend also auch in der Na tur die Ent ste hung raquohouml he rerlaquo Le bens for men durch Fort schritt er ken nen zu wol len mit dem End ziel des Men schen

Die Un ord nung der Schoumlp fung mit ei nem goumltt li chen Fort-schritts plan in Ein klang zu brin gen ist das Le bens werk des Schwei zer Na tur for schers und Phi lo so phen Charles Bon net (1720 ndash 1793) Fuumlr Bon net ist die Zahl der Ar ten und ihre aumlu-szlige re Ge stalt von Gott ein fuumlr al le Mal fest ge legt Doch kann sich ein je des Le be we sen per fek ti o nie ren Der Weg vom simp-len Ge muumlt zur ge ni a li schen Leis tung ist vom Schoumlp fer vor ge-

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zeich net Und alle Tie re be schrei ten ihn zeit lich ver setzt nach dem glei chen Mus ter das der Mensch ih nen vor ge lebt hat raquoEs wird ei nen mehr oder we ni ger lang sa men und kon ti nu ier li chen Fort schritt al ler Ar ten zu ei ner houml he ren Ver voll komm nung ge-ben so dass alle Gra de der Stu fen lei ter in ei ner de ter mi nie ren den und kons tan ten Be zie hung fort ge setzt va ri a bel sein wer den hellip Es wird un ter den Af fen Leu te wie New ton und un ter Bi bern wie (den Fes tungs bau meis ter RDP) Vau ban ge ben Die Aus-tern und die Po ly pen wer den in Be zie hung zu den houmlchs ten Ar-ten das sein was die Vouml gel fuumlr die Vier fuumlszlig ler im Ver haumllt nis zum Men schen sindlaquo6

Seit Bon net ist die Vor stel lung von der raquoLei ter der Na turlaquo der Sca la nat urae ein wich ti ges In ven tar des na tur ge schicht-li chen Den kens Fort schritt Ver voll komm nung und goumltt li cher Plan ndash die se drei Grouml szligen be stim men die Vor stel lung vom Wer-den der Na tur vom 18 Jahr hun dert bis in die Ge gen wart hi nein Das Prin zip nach dem die Evo lu ti on Le ben her vor bringt sei un ver meid lich und von An fang an vor her be stimmt Nicht we-ni ge E vo lu ti ons the o re ti ker ha ben dies eben falls ge glaubt und zwar mit be acht li cher Kon ti nu i taumlt Der eng li sche Na tur for scher Alf red Rus sel Wall ace (1823 ndash 1913) der ge mein sam mit Dar win die The o rie der na tuumlr li chen Se lek ti on ent wi ckelt hat te hielt nicht nur den mensch li chen Geist und sein Mo ral emp fin den son dern zu dem auch die wei che nack te emp find sa me Haut des Men-schen fuumlr das Re sul tat ei ner not wen di gen Ent wick lung

Doch schon im 18 Jahr hun dert reg ten sich zu gleich vor sich-ti ge Zwei fel an der Stim mig keit ei ner sol chen Vor ge formt heit Denn wie soll te man Na tur ka tast ro phen be wer ten Waumlh rend die meis ten Na tur for scher sie als Teil des goumltt li chen Schoumlp-fungs plans in ter pre tier ten zo gen an de re ver gleichs wei se fins te-re Schluumls se Und so wur de tat saumlch lich ein gro szliges Erd be ben zum in di rek ten Aus louml ser der Evo lu ti ons the o rie naumlm lich je nes von Lis sa bon im Jahr 1755 Wer uumlber die Ka tast ro phe nach dach te 6

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konn te star ken Zwei fel da ran he gen dass die Welt ord nung aus-ge kluuml gelt und har mo nisch sei

Die wei test rei chen den Schluss fol ge run gen zog der eng li-sche Pfar rer und Na ti o nal oumlko nom Tho mas Ro bert Malt hus (1766 ndash 1834) Nicht nur die ge o lo gi sche Na tur und ihr Ge-fah ren ri si ko son dern auch die Ver meh rung der Be voumll ke rung wur de nun als Uumlbel er kannt Im Jahr 1798 pub li zier te Malt-hus sei nen Es say on the Princi ple of Po pu la ti on (Das Be voumllshyke rungs ge setz) die ers te Mahn schrift vor den Ge fah ren ei ner Be voumll ke rungs ex plo si on Bei ei ner Ver dop pe lungs ra te der Welt-be voumll ke rung in ner halb von fuumlnf und zwan zig Jah ren er rech ne-te Malt hus wer de ihr exponent iel les An wach sen auf grund der von der Um welt ge setz ten Gren zen not wen dig zu Ar mut Ka-tast ro phen und Tod fuumlh ren Der bib li sche Auf trag raquoSeid frucht-bar und meh ret euchlaquo er schien mit ei nem Mal als ein Fluch Ein gna den lo ser raquoKampf ums Da seinlaquo (strugg le for life) war ent fes selt Das Ein zi ge was blieb war die Hoff nung die ka-tast ro pha len Fol gen der goumltt li chen An wei sung so weit wie moumlg lich ein daumlm men zu koumln nen

In ei ner Zeit als die Ge sell schafts the o rie noch der Bi o lo-gie den Leuch ter vo ran und nicht wie heu te die Schlep pe hin-terh er traumlgt be geis tert sich vor al lem ein eng li scher Dorf pfar rer Charles Dar win (1809 ndash 1882) fuumlr die Malt hus rsquoschen Ge set ze Denn wenn es rich tig ist dass sich ein Tier mit ei ner so ge rin-gen Ver meh rungs ra te wie der Mensch ge gen uumlber sei nen Art ge-nos sen durch setz te so gab es sicht lich an de re Kri te ri en fuumlr die Uumlber le bens fauml hig keit ei ner Po pu la ti on als die Zahl ih rer Ge bur-ten Der Maszlig stab fuumlr den Er folg ei ner Spe zi es war ihr Durch set-zungs ver mouml gen oder wie Dar win es spauml ter in den Prin zi pi en der Bio logie des jun gen Phi lo so phen Her bert Spen cer (1820 ndash 1903) le sen konn te raquothe sur vi val of the fit testlaquo

Dar wins na tur kund li che Stu di en wa ren ur spruumlng lich von dem Ge dan ken be seelt die nicht a ni ma li sche Iden ti taumlt des Men schen

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zu be wei sen Erst der Sieg des Ent de cker stol zes uumlber das Ent-set zen ver lieh ihm schlieszlig lich den Mut den be ruumlhm ten Satz zu schrei ben raquoUnd ich bin bei na he uumlber zeugt (der Mei nung mit der ich an die Fra ge he ran ge tre ten bin voumll lig ent ge gen ge setzt) dass die Spe zi es (mir ist es als ge staumln de ich ei nen Mord ein) nicht un ver aumln der lich sindlaquo7

Dar wins kuumlh ne Ver mu tung war nicht ganz neu Be reits ein hal bes Jahr hun dert zu vor hat ten der fran zouml si sche Na tur for scher GeorgesshyLou is Lec lerc Comte de Buf fon (1707 ndash 1788) und der Phi lo soph De nis Dide rot (1713 ndash 1784) uumlber eine Ver aumln de-rung der Ar ten spe ku liert Be son ders JeanshyBap tiste de La marck (1744 ndash 1829) be haup te te die all maumlh li che Ent wick lung der Ar-ten aus pri mi ti ve ren Vor for men die so ge nann te Trans mu ta ti on La marck war nicht nur ein Pi o nier der mit Jahr mil li o nen han-tier te als alle Welt die Erde noch ei ni ge tau send bis hun dert tau-send Jah re jung waumlhn te son dern er praumlg te (zur glei chen Zeit wie zwei deut sche Na tur for scher) das Wort Bi o lo gie Bei ihm wan del ten sich die Le be we sen da durch dass sich ihre koumlr per-li chen An stren gun gen auf ihr Erb gut aus wir ken Da bei nahm er al ler dings nicht an dass die Ar ten aus ei nan der her vor ge hen wie Dar win es spauml ter tat La ma rcks The o rie ist nauml her an je ner von Bon net Fuumlr ihn ver voll komm nen die ein zel nen Tier ar ten im Lau fe der Zeit ihre An la gen und ent wi ckeln sich da durch im-mer houml her Be son ders voll kom me ne Tie re wie der Mensch sind dem nach sehr alt denn sie ha ben ei nen wei ten Weg von ei nem pri mi ti ven Or ga nis mus bis hin zur heu ti gen Ge stalt hin ter sich ge las sen An de re wie der pri mi ti ve Suumlszlig was ser po lyp ha ben ihre Rei se durch die Zeit ge ra de erst an ge fan gen

La marck war kein Charis mati ker und die zo o lo gi sche All-macht sei nes Vor ge setz ten am Jar din des Plan tes in Pa ris des Ba rons George Cu vier (1769 ndash 1832) ver hin der te dass man sich all zu sehr mit sei nen The o ri en be schaumlf tig te Cu vier war ein be-deu ten der Mann An die Stel le ei ner nach bo ta ni schem Mus ter 7

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 399783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 39 10082021 10493410082021 104934

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ver fah ren den Zo o lo gie setz te er eine neue Wis sen schaft die sich we ni ger an aumlu szlige ren Merk ma len als am Or ga nis mus der Tie-re ori en tier te Doch was die Trans mu ta ti on an be lang te blieb der Ober auf se her der pro tes tan tisch-the o lo gi schen Fa kul tauml ten Frank reichs beim kon ser va ti ven Mo dell Er ver brei te te wei-ter hin eine Ket te von Na tur ka tast ro phen habe als mo di fi zier-te Sint fu ten gan zen Klas sen von Tie ren den Gar aus ge macht Die se The o rie ist weit ge hend rich tig al ler dings schlieszligt sie die Trans mu ta ti on nicht aus

Das wirk lich Re vo lu ti o nauml re an La marck war die Idee die Ge schich te der Na tur nicht vom Men schen aus bis hi nun ter zur Bak te rie zu schrei ben son dern um ge kehrt von der Bak te rie zum Men schen Aus ei nem Mo dell der raumlum li chen Hie rar chie wur de ein Mo dell der zeit li chen Ent wick lung La marck er kann te zu-dem dass das Be wusst sein ei nes Tie res an die Phy si o lo gie und Neu ro lo gie sei nes Koumlr pers ge bun den ist Dem nach ist je der Geist ers tens be grenzt und zwei tens ver aumln der lich

Die phi lo so phi sche Kon se quenz aus La ma rcks Den ken ist so ra di kal dass sie fast ein hun dert fuumlnf zig Jah re lang von nie man-dem ernst haft in Be tracht ge zo gen wur de Wie kann ein Geist der den Ge set zen der Evo lu ti on un ter wor fen ist sich ei gent lich an ma szligen die Na tur der Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Von die ser Schluss fol ge rung woll te die Bi o lo gie al ler dings bis weit ins 20 Jahr hun dert hi nein nicht viel wis sen

Auch Dar wins The o rie von der na tuumlr li chen Se lek ti on der Le be we sen im Rin gen um ihr Le ben und mit der Um welt ent-wi ckel te sich wei ter Ge witz ten Zeit ge nos sen wie Karl Marx (1818 ndash 1883) war auf ge fal len wie stark Dar wins Den ken dem Zeit geist des Vik to ri a ni schen Zeit al ters ver haf tet war raquoEs ist merk wuumlr dig wie Dar win un ter Bes ti en und Pfan zen sei ne eng li-sche Ge sell schaft mit ih rer Tei lung der Ar beit Kon kur renz Auf-schluss neu er Maumlrk te rsaquoEr fin dun genlsaquo und Malt hus schem rsaquoKampf ums Da seinlsaquo wie der er kenntlaquo8 Die Be to nung des Malt hus rsquoschen 8

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 409783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 40 10082021 10493410082021 104934

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Kamp fes von je dem ge gen je den und auch der Fort schritts glau-be in Dar wins Den ken zei gen ihn stark sei ner Zeit ver haf tet

Eine an de re Kri tik kam aus der Bi o lo gie selbst Dar win hat-te noch nichts von Ge nen ge wusst So konn te er nicht er klauml ren was sich bi o che misch er eig ne te wenn Ar ten sich ver aumln der ten Der raquoDar wi nis muslaquo der Jahr hun dert wen de gab schlieszlig lich die Hoff nung auf die Evo lu ti on lie szlige sich al lein durch die na tuumlr li-che Se lek ti on der Ar ten nach Maszlig ga be ih rer An pas sungs fauml hig-keit an die Um welt be gruumln den Man ent deck te die Rol le der Ge-ne tik und zum neu en Er klauml rungs prin zip wur de das Mo dell der zwei Kons t ruk teu re Das Spiel des Le bens er hielt ei nen Wuumlr fel zu faumll li ge Ver aumln de run gen im Gen ma te ri al also so ge nann te Mu tashyti o nen Im Tri alshyandshyEr ror-Ver fah ren ent ste hen im Erb gut ge le-gent lich Ab wei chun gen die dann er folg reich sind wenn sie sich in der Um welt be waumlh ren Da mit war die Idee vom Tisch dass sich neu er wor be ne Ei gen schaf ten oder raquodie ana to mi schen Aus-wir kun gen koumlr per li cher An stren gun genlaquo wie La marck mein te ver er ben koumlnn ten Noch Dar win hat te dies fuumlr denk bar ge hal ten So ver trau te er Er zaumlh lun gen wo nach bei je nen Volks grup pen zu de ren Ri ten die re gel mauml szligi ge Be schnei dung der Pe nis vor haut ge houmlrt sich die Vor haut all maumlh lich ver kuumlrz te Das haumlt te zwar die Be schnei dung uumlber fuumls sig ge macht aber Dar win hat te ge ra-de an de res Ge wich ti ges zu be den ken als da ruuml ber nach zu sin nen

Die Ver kuumlr zung der Vor haut blieb im Wis sens schatz der Dar wi nis ten bis Au gust Weis mann (1834 ndash 1914) im spauml ten 19 Jahr hun dert nach wies dass ein sol cher In for ma ti ons fuss vom aumlu szlige ren Er schei nungs bild zum Erb ma te ri al nicht moumlg lich sei Uumlber fuumlnf Ge ne ra ti o nen kuumlrz te Weis mann ei nem Stamm von Maumlu sen ihre Schwaumln ze ohne dass eine Nach richt uumlber die sen Ein griff die Keim bah nen der Maumlu se er reich te Denn sie he da Auch die Schwaumln ze der nach fol gen den Maumlu se ge ne ra ti o nen blie-ben gleich lang Da be durf te es schon der Spitz fin dig keit des iri schen Dich ters George Bern ard Shaw (1856 ndash 1950) der Weis-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 419783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 41 10082021 10493410082021 104934

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manns schnei den de Wi der le gung der La marckrsquo schen The o rie leicht fer tig vom Se zier tisch wisch te Die Maumlu se be merk te der Dich ter haumlt ten gar kei ne An stren gun gen un ter nom men ihre Schwaumln ze zu ver lie ren waumlh rend sich die Tie re bei La marck ja da rum be muumlht haumlt ten sich zu ver aumln dern

Im Nach hi n ein also war es der pauml da go gi sche Op ti mis mus der La marck in die Irre ge fuumlhrt ha ben soll te So mach te die Hoff-nung auf ei nen ethisch an spre chen den E vo lu ti ons ver lauf ndash die Er war tung die Mensch heit ent wick le sich qua An pas sung an das so zi a le Mi li eu durch Selbst er zie hung zum Bes se ren ndash nur noch eine et was ab sei ti ge Kar ri e re im staats so zi a lis ti schen Bi o lo gie-un ter richt der Sow jet u ni on Wie kalt da ge gen der uumlber le ge ne raquoKampf ums Da seinlaquo der ja ein Kampf um die Fleisch toumlp fe ist ohne Hoff nung der Mensch wer de den kuumlh nen Geist statt sei-nes ma te ri a lis ti schen Gier hal ses nach Houml he rem stre cken Und ein zig die Kir che be wahr te un ver dros sen ei nen la marc kis ti schen Ge dan ken ndash al ler dings ei nen pes si mis ti schen und kei nen op ti-mis ti schen In bes ter Schuumlt zen hil fe fuumlr den fran zouml si schen Che-va li er ver tei digt sie bis heu te ihr mo le ku lar ge ne tisch be denk li-ches Dog ma Adams Un ge hor sam im Gar ten Eden habe zu ei ner raquoErb suumln delaquo ge fuumlhrt die da rauf hin auf alle zu kuumlnf ti gen Ge ne ra-ti o nen uumlber ge gan gen sei

Im mer hin sind in den bei den letz ten Jahr zehn ten ei ni ge Bi o-lo gen wie der et was of fe ner da fuumlr ge wor den der Ver er bung er-wor be ner Ei gen schaf ten ei nen Platz in der Ge ne tik zu las sen Zwar ver er ben sich psy chi sche und phy si sche Le bens er fah run-gen nicht durch ver aumln der te Gene Aber es koumlnn te doch sein dass jene Schal ter die da ruuml ber be stim men wel che ge ne ti sche In for-ma ti on wei ter ge ge ben wird und wel che nicht durch Um welt-ein fuumls se ver aumln dert wer den Uumlber le gun gen wie die se be schaumlf ti-gen so ge nann te Epi gen eti ker seit ei ni ger Zeit sie ha ben ei nen wach sen den Ein fuss auf un se re Vor stel lung von der Evo lu ti on

Die heu ti ge Leit dis zip lin die uns die Ver wandt schaft des Le-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 429783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 42 10082021 10493410082021 104934

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bens ent schluumls seln soll ist die Ge ne tik Wir un ter su chen die Sum-me al ler ge ne ti schen In for ma ti o nen und re gist rie ren da bei Uumlber-ein stim mun gen und Ab wei chun gen mit an de ren Ar ten Doch der Pro zess die Na tur un se rer Na tur zu er ken nen ist noch lan ge nicht ab ge schlos sen und wird wohl auch nie ab ge schlos sen sein Wir wen den Ord nungs sche ma ta auf The o ri en und The o ri en auf Be ob ach tun gen an Nur so kom men wir zu Kau sa li tauml ten und Ge-set zen Doch ihre Be deu tung ver aumln dert sich in dem Maszlige wie wir den Blick punkt un se rer Auf merk sam keit wie der ver la gern Die ser Vor gang des Ent dec kens und des Ver de ckens durch neue Denk sche ma ta ist prin zi pi ell nicht ab schlieszlig bar denn selbst ge-gen waumlr ti ge Evo lu ti ons the o ri en un ter lie gen wei ter hin der Evo-lu ti on

Er staun li cher wei se hat die mo der ne Evo lu ti ons the o rie nur zu ei ner ge ring fuuml gi gen Kor rek tur al ter Denk sche ma ta ge fuumlhrt Wie fruuml her in der Na tur ge schich te er ken nen wir heu te in der Bi o lo gie uumlber all Re gel haf tigk eit Not wen dig keit und Vor tei-le Doch bei nauml he rer Sicht er weist sich die Evo lu ti on ge ra de zu als Herr schafts ge biet der Aus nah men uumlber die Re geln Sie ist eine raquoZweck mauml szligig keit ohne Zwecklaquo wenn auch al lein fuumlr die 01 Pro zent der heu te noch ndash oder ge ra de ndash exis tie ren den Spe-zi es nicht aber fuumlr die 999 Pro zent die in den Ur fu ten dem Ord ovizium dem Perm der Krei de oder dem Ter ti aumlr das Welt-li che seg ne ten E vo lu ti ons bi o lo gen su chen in der Ge schich te der Na tur uumlber all nach Vor tei len die das Uumlber le ben von Ar ten er-klauml ren sol len Da bei ver men gen sie oft zwei ver schie de ne Vor-teils be grif fe Ein mal geht es um Mu ta ti o nen die si tu a tiv vor teil-haf te Ei gen schaf ten fuumlr eine Tier art her vor ge bracht ha ben sol len Eine grouml szlige re Sta tur ein pom pouml se res Ge weih ein staumlr ke res Ge biss sol len Weib chen be ein dru cken und die Nach kom men schaft er-houml hen Da die se Ei gen schaf ten aber oft nichts nuumlt zen wenn der Zu fall die Spiel re geln der Um welt aumln dert gibt es ei nen zwei ten Vor teils be griff Da nach ist das vor teil haft in der Evo lu ti on was

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 439783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 43 10082021 10493410082021 104934

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vom Ende her be trach tet dazu ge fuumlhrt hat dass eine Art uumlber-lebt Nach die ser Sicht wei se kann der mick rigs te Pa vi an auf dem Fel sen sei ne Gene wei ter ge ben wenn die staumlr ke ren Kon kur ren-ten bei ei nem Erd be ben ums Le ben ge kom men sind

An ge sichts zwei er so un ter schied li cher Be deu tun gen von raquoVor teillaquo fragt es sich ob der Be griff in der Evo lu ti ons the o rie uumlber haupt sinn voll ver wen det wer den kann Tat saumlch lich ist er ein Erbe der The o lo gie des 17 und 18 Jahr hun derts die uumlber-all in der Na tur nach der klu gen Ver nunft Got tes such te Dar win kann te die se Tra di ti on gut Als Stu dent ver ehr te er den The o lo-gen Will iam Pa ley (1743 ndash 1805) der na tur kund lich be schla gen die goumltt li che Vo raus sicht auf den neu es ten Stand ge bracht hat te Als Dar win sich von Gott ver ab schie de te und die na tuumlr li che Se-lek ti on er kann te er setz te er uumlber all wo Pa ley raquoGod doeslaquo ge-schrie ben hat te den Satz durch raquoNat ure doeslaquo An Pa leys Vor-stel lung dass die Na tur zweck mauml szligig ein ge rich tet sei und Vor tei le be loh ne hielt Dar win eben so fest wie vie le spauml te re E vo lu ti ons-the o re ti ker

Die Fra ge ist des halb wich tig weil sie zeigt wie eng un se re Vor stel lung von der Na tur bis hi nein in die mo der ne Evo lu ti-ons the o rie von sehr mensch li chen Vor stel lun gen durch setzt ist Statt Vor tei le zu be nen nen wuumlr de es naumlm lich auch aus rei chen zu sa gen dass al les in der Na tur uumlber le ben kann das fuumlr eine Art kei nen toumld li chen Nach teil hat te Ver mut lich uumlber lebt in der Evo lu ti on nicht nur Zweck mauml szligi ges son dern jede Ver aumln de rung die zu min dest nicht zum Aus ster ben fuumlhr t und moumlg li cher wei se liegt ge ra de hie rin der Grund fuumlr eine gro szlige Ar ten viel falt

Die tra di ti o nell ver eng te Sicht wei se gilt ins be son de re bei der Be trach tung des Men schen E vo lu ti ons bi o lo gen koumln nen zahl-rei che Vor tei le be nen nen die er klauml ren wa rum die mensch li che Art so er folg reich ist Men schen sind aumlu szligerst an pas sungs fauml hig und be sie deln fast alle Le bens raumlu me sie sind Al les fres ser mit ei ner gro szligen Nah rungs band brei te sie ha ben eine fe xib le So zi-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 449783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 44 10082021 10493410082021 104934

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al struk tur und ver fuuml gen uumlber ein Selbst be wusst sein das es ih-nen er moumlg licht ihr Ver hal ten zu kor ri gie ren So ge se hen ist der Mensch gleich sam das op ti mal ste al ler Tie re Doch alldem zum Trotz exis tie ren Men schen der Gat tung Homo sap iens erst seit rund 100 000 Jah ren und ihre lang fris ti gen Zu kunfts chan cen ste hen schlecht Denn mit all den vor teil haf ten Ei gen schaf ten ha-ben Men schen in Re kord zeit ihre Um welt zer stoumlrt und das lang-fris ti ge Uumlber le ben der Spe zi es dra ma tisch in fra ge ge stellt Die mit we ni ger spek ta ku lauml ren Vor tei len aus ge stat te ten Di no sau ri-er exis tier ten auf un se rem Pla ne ten hun dert fuumlnf zig Mil li o nen Jah re ganz zu schwei gen von den seit uumlber vier hun dert Mil li o-nen Jah ren na he zu un ver aumln der ten Nau til iden und Ur schne cken

Ge si chert in der Evo lu ti ons the o rie ist dass kei ne ih rer An nah-men ge si chert ist E vo lu ti ons bi o lo gen die ihre Sa che ernst neh-men muumls sen im mer auch die E vo lu ti ons be dingt heit ih res ei ge-nen Er kennt nis ap pa rats ref ek tie ren also mit hin die Evo lu ti on al ler mensch li chen Er kennt nis raquoLetzt lich istlaquo wie der Neuro bio-lo ge Ger hard Roth schreibt raquoje des Nach den ken uumlber die ob jek-ti ve Re a li taumlt sei es wis sen schaft lich oder nicht an die Be din gun-gen mensch li chen Den kens Spre chens und Han delns ge bun den und muss sich da rin be waumlh renlaquo9

Man muss ref ek tie ren dass die un ver meid li chen Ord nungs-mit tel des Geis tes das Den ken und die Spra che nicht die Wirk-lich keit raquoan sichlaquo auf raumlu men Sie sind Mo del le die die un ver-fuumlg ba re Wirk lich keit nach Maszlig ga be der ei ge nen Spiel re geln er klauml ren Nicht erst seit Er for schung der Evo lu ti on in den letz-ten zwei hun dert Jah ren muumlht sich der mensch li che Geist dem Lauf der Welt ei nen ndash nach mensch li chem Er mes sen ndash raquover nuumlnf-ti genlaquo Sinn zu ge ben Doch das Pa ra do xe der Ge schich te liegt da rin dass der mensch li che Geist selbst Pro dukt evo lu ti o nauml rer Pro zes se ist Er ist Maszlig stab und Ge mes se nes zu gleich

An eine tat saumlch lich ob jek ti ve Er kennt nis der Evo lu ti on waumlre nur halb wegs sinn voll zu den ken wenn die Evo lu ti on des Men-9

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 459783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 45 10082021 10493410082021 104934

schen ab ge schlos sen ist und da mit die Stu fe der groumlszligt moumlg li chen Voll kom men heit er reicht hat In den Zei ten vor La marck und Dar win ha ben das nicht nur The o lo gen son dern auch die Na tur-for scher fast al le samt ge glaubt Das mensch li che Be wusst sein sei die un uuml ber trof fe ne Spit zen leis tung des Schoumlp fer got tes ge schaf-fen die Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Sei nen schoumlns-ten Aus druck fand die se Sicht in ei nem Aus spruch des jun gen Phi lo so phen Fried rich Wil helm Jo seph Schel ling (1775 ndash 1854) Er mein te dass der Mensch je nes We sen sei raquoin dem die Na tur das Auge auf schlaumlgtlaquo und sich da mit ih rer selbst be wusst wird Ein huumlb scher Satz aber doch viel zu pa the tisch for mu liert Von der vol len Er kennt nis der Na tur und un se rer selbst sind wir noch im mer weit ent fernt Aber wir koumln nen da ruuml ber stau nen dass die Evo lu ti on mit uns ein Le be we sen her vor ge bracht hat in dem die Na tur sich fuumlr sich selbst fa szi nier bar ge macht hat Wie hat te es dazu kom men koumln nen

bull Der Pri mat Was ist ein Mensch

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 469783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 46 10082021 10493410082021 104934

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ver waist sein Die Mensch heit wird er wacht sein und die Welt je-nes Ge sicht er hal ten ha ben das uns ge gen waumlr tig er scheint Doch wie sah das aus als die Na tur das ers te Mal in ei nem af fen aumlhn-li chen We sen die Au gen auf schlug War es auf ei ner Wald wie-se in ei nem Hain an ei nem Berg hang oder auf ei ner Lich tung War das er leuch te te We sen ein Maumlnn chen oder ein Weib chen Ging es den gan zen Tag auf recht oder saszlig es noch ger ne in der Ho cke eng ge kau ert an sei ne Bruuml der und Schwes tern Und war es eine Ein ge bung ein Blitz schlag als das Selbst be wusst sein das ers te Mal die Fes seln des Pri ma ten ge hirns spreng te

Wir wis sen nicht wo ran Schel ling dach te als er mein te die Na tur habe im Men schen ihr Auge auf ge schla gen Si cher dach te er nicht an ei nen ein zi gen Mo ment dem Mil li o nen an de re folg-ten Er dach te an den raquoMen schen an sichlaquo Und er wuss te nichts vom ost af ri ka ni schen Great Rift Val ley und von haa ri gen Vor-men schen die dort einst haus ten Er leb te in Jena und in Muumln-chen und ei nen Men schen af fen hat te Schel ling nie ge se hen Der ein zig ar ti ge Mo ment in dem die Na tur sich ih rer selbst be wusst wird bleibt eine Me ta pher

Doch wie wur de der Mensch nun tat saumlch lich zum Men-schen Die For mu lie rung ist dop pel deu tig Denn wie der Mensch zum Men schen wur de ndash das ist nicht ein evo lu ti o nauml rer Pro-zess auf der lee ren Welt buumlh ne son dern ein Spiel von Be ob ach-ter und Be ob ach te tem Schau spie ler und Zu schau er Ge schich-te auch Ent wick lungs ge schich te ist nichts Vor ge fun de nes Der Mensch schrieb der fran zouml si sche Phi lo soph JeanshyPaul Sart re (1905 ndash 1980) macht sich selbst wie der Ro man schrift stel ler sei ne Fi gu ren Er ist ge fer tigt aus bi o lo gi schen (ana to mi schen neu ro lo gi schen und phy si o lo gi schen) Be stand tei len zu al ler meist je doch durch jene we nig bi o lo gi schen Weis hei ten mit de nen sich die se Subs tan zen selbst zum raquoMen schenlaquo er ko ren

Das Glei che gilt fuumlr die mensch li che Stam mes ge schich te Auch sie ist zu naumlchst ein mal eine Ge schich te Ihre Ur spruumln ge lie gen im

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 489783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 48 10082021 10493510082021 104935

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al ten Grie chen land als Aris to te les den Men schen und den Af-fen ver wandt schaft lich na he ruumlckt raquoMan che Tie re ste hen zwi-schen Mensch und Vier fuumlszlig ler in ih rem We sen wie Af fen Meer-kat zen und Pa vi a ne hellip Ihr Ge sicht hat vie le Aumlhn lich kei ten mit dem des Men schen Nase und Oh ren glei chen den sei nen und Zaumlh ne hat er auch wie ein Mensch die Vor der zaumlh ne wie die Ba cken zaumlhnelaquo10 Auch Aris to te lesrsquo Schuuml ler The oph rast (ca 370 v Chr ndash ca 288 v Chr) be steht auf der Aumlhn lich keit zwi schen Men schen und Tie ren Er lehnt es so gar ab Fleisch zu es sen oder Tie re zu op fern da man sei ne Ver wand ten nicht ver spei se

Aris to te les und The oph rast stell ten den Men schen zwar ne-ben den Af fen ndash Men schen af fen kann te man noch nicht ndash aber die al ten Grie chen hat ten ihn nur sehr un ge faumlhr zu ei nem Tier un ter Tie ren er klaumlrt Den naumlchs ten Schritt mach te mehr als zwei-tau send Jah re spauml ter Carl von Linneacute An der Zu ge houml rig keit des Men schen zu den Saumlu ge tie ren be stand fuumlr den Schwe den kein Zwei fel die Be haa rung und das Stil len der Jun gen be lehr ten un-miss ver staumlnd lich da ruuml ber Auch die Ver wandt schaft mit Af fen und Men schen af fen stand au szliger Fra ge Hier wa ren es die fa chen Fin ger- und Fuszlig nauml gel statt der Klau en der ab ge spreiz te Dau-men die Greif haumln de die zwei Zit zen der Weib chen und der frei he run ter haumln gen de statt am Un ter leib an lie gen de Pe nis ndash Merk-ma le die groumlszlig ten teils auch schon Aris to te les auf ge fal len wa ren

Doch Linneacute zouml ger te vor der Kon se quenz Haumln de rin gend such-te der got tes fuumlrch ti ge Ana tom nach ei nem Un ter schied zwi schen dem Men schen und den uumlb ri gen von ihm so ge nann ten raquoPri ma-tenlaquo raquoIch ver lan gelaquo schrieb er 1747 sei nem deut schen Freund Jo hann Ge org Gme lin raquovon Ih nen und von der gan zen Welt dass Sie mir ein Gat tungs merk mal zei gen hellip auf grund des sen man zwi schen Mensch und Affe un ter schei den kann Ich weiszlig selbst mit aumlu szligers ter Ge wiss heit von kei nemlaquo11

Nach sei nen Kri te ri en haumlt te Linneacute den Men schen zu min dest mit dem Schim pan sen ge mein sam in die sel be Gat tung ein ord-10

11

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 499783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 49 10082021 10493510082021 104935

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nen muumls sen Der Ge dan ke schweb te zeit gleich auch dem Phi lo so-phen JeanshyJacques Rous seau (1712 ndash 1778) vor als er Schim pan-sen Orang-Ut ans und Men schen so gar als Ver tre ter der Spe zi es Mensch an sah Rous seau hat te nie ei nen Men schen af fen ge se-hen Aber die Be rich te die er von Ex pe di ti o nen nach Af ri ka und Suumld ost a si en las lie szligen in ihm kei nen Zwei fel dass die da rin be schrie be nen Men schen af fen raquowe der Tie re noch Goumlt ter son-dern Men schenlaquo sei en12 Fuumlr den Auf klauml rer wa ren Men schen af-fen edle Wil de die von kei ner Zi vi li sa ti on in ih rem fried fer ti gen We sen zer stoumlrt sei en an ders als die Men schen in Eu ro pa Eben-so dach te we nig spauml ter der schot ti sche Sprach for scher James Bur nett Lord Mon boddo (1714 ndash 1799) Auch er be trach te te den Orang-Utan als ei nen Men schen naumlm lich als ei nen raquosprach-losen Wil denlaquo

In ter pre ta ti o nen wie Rous seau sie in Pa ris und Bur nett bald da rauf in Kin card ines hire wag ten wa ren Linneacute im schwe di schen Upp sa la fremd Den Men schen ins Tier reich ein zu ord nen war in den Au gen der stren gen pro tes tan ti schen Kir che Suumln de ge nug und Linneacute zouml ger te den letz ten Schritt zu tun In sei ner Not sor-tier te er 1758 ach sel zu ckend Mensch und Schim pan se in un ter-schied li che Gat tun gen zu sam men ge fasst in der Ord nung der Pri ma ten in der sie auch heu te noch mehr schlecht als recht huumlbsch ge trennt ne ben ei nan der ho cken Homo sap iens der raquoin-tel ligi ble Menschlaquo und Pan trog lody tes der raquohoumlh len be woh nen-de Faunlaquo

So weit so schoumln Der Mensch wur de der obers te Pri mat das houmlchs te raquoHer ren tierlaquo Linneacute be kam kei nen Aumlr ger mit der Kir-che und die Na tur wis sen schaft den gro szligen Wurf des Linneacute rsquoschen Sys tems Wenn nur die se Nach barn nicht wauml ren Seit Be kannt-wer den der Men schen af fen be muumlh ten sich Wis sen schaft ler und The o lo gen im mer wie der um den Ver such den klei nen Gra ben mit gro szligen Was sern zu fuumll len der Homo sap iens und Pan troshyglody tes bei ih rer ord nungs ge mauml szligen Ver ge sell schaf tung auf der 12

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 509783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 50 10082021 10493510082021 104935

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Af fen in sel trennt Sie eva ku ier ten den Men schen vom Pri ma ten-fel sen und schu fen ihm eine ei ge ne Ord nung

In die ser Vor stel lungs welt wuchs auch der The o lo gie stu dent Charles Dar win auf Das fruuml he 19 Jahr hun dert war eine got-tes fuumlrch ti ge bie der mei er li che Zeit Doch je mehr er sich mit der Ver aumln de rung der Ar ten be schaumlf tig te umso deut li cher wur de Dar win dass es mit der of fi zi ell be kun de ten Son der stel lung des Men schen im Uni ver sum nicht weit her sein konn te So no tier te er schon er staun lich fruumlh in sein Ta ge buch raquoDer Mensch haumllt sich in sei ner Ar ro ganz fuumlr ein groszlig ar ti ges Werk des be son de ren Ein grei fens ei ner Gott heit wuumlr dig Es duumlrf te be schei de ner und wie ich glau be auch rich tig sein ihn als aus den Tie ren ent stan-den an zu se henlaquo13

Dar win hat te den noch zwoumllf Jah re ge zouml gert bis er sich schlieszlig lich ge trau te nach der all ge mei nen Dar stel lung ei ner Evo-lu ti ons the o rie im Jahr 1859 sei ne Schluss fol ge run gen in Be zug auf den Men schen in Druck zu ge ben Die Ab stam mung des Men schen aus dem Jahr 1871 ist ein ge maumlch li ches Buch in ver-soumlhn li chem Ton fall Der Na tur for scher er zaumlhlt da rin wie ein gu-ter al ter Groszlig va ter wo her die Pfan zen die Tie re und die Eng-laumln der kom men Die raquoAb wer tunglaquo des Men schen geht da bei ein her mit ei ner kon ti nu ier li chen raquoAuf wer tunglaquo der Tie re raquoWir ha ben ge se henlaquo schreibt Dar win raquodass die Emp fin dun gen und Ein druuml cke die ver schie de nen Er re gun gen und Fauml hig kei ten wie Lie be Ge daumlcht nis Auf merk sam keit Neu gier de Nach ah mung Ver stand usw de ren sich der Mensch ruumlhmt in ei nem be gin nen-den oder zu wei len selbst in ei nem gut ent wi ckel ten Zu stand bei den nie de ren Tie ren ge fun den wer denlaquo14

La marck und Dar win wa ren die Ers ten die mit Mit teln der mo der nen Na tur wis sen schaft be haup te ten was vie le Kul tu ren und Zei ten schon zu vor re li gi oumls ge ahnt hat ten raquoNa tuumlr lichlaquo ist es ab surd eine Tei lung des Tier reichs in zwei Ka te go ri en vor zu-neh men ndash in eine mensch li che und eine nicht mensch li che Ka-13

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9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 519783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 51 10082021 10493510082021 104935

Page 4: Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen · Leseprobe Professor Dr. Richard David Precht Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen »Fazit:

Richard David Precht

Tiere denkenVom Recht der Tiere

und den Grenzen des Menschen

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 39783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 3 10082021 10493310082021 104933

Fuumlr Paul und Ha gen El vi ra Ast erix amp Kriem hild die di cke Nol pa Frank-Wal ter amp An ge la

und all die an de ren die un ter mei nen un sach kun di gen Haumln den leb ten und

hof fent lich we nig ha ben lei den muumls sen Und na tuumlr lich fuumlr Ar tus

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 59783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 5 10082021 10493310082021 104933

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In halt

Vor wort 11

Ein lei tung 17

Das Men schen tierDie Ord nung der Schoumlp fung

Wie mensch lich ist die Evo lu ti on 29

Der Pri matWas ist ein Mensch 47

Der auf rech te AffeWas macht den Men schen zum Men schen 60

Sinn und Sinn lich keitWas trennt Mensch und Affe 78

Eins Kom ma sechs Pro zentSind Men schen af fen Men schen 96

Die Tuuml cke des Sub jektsUumlber die Schwierigkeit Tie re zu den ken 110

Das Tier im Auge des Men schenDie Tund ra des Ge wis sens

Wie die Re li gi on un se re Na bel schnur kapp te 127

raquoIch habe kein Tier miss han deltlaquoDas Tier im Al ten Aumlgyp ten 138

Hir ten und Herr scherDas Tier im al ten Ju den tum 153

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 79783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 7 10082021 10493310082021 104933

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Das ver lo re ne Pa ra diesDas Tier in der An ti ke 168

raquoKuumlm mert sich Gott etwa um die Och senlaquoDas Tier in Chris ten tum und Is lam 182

Schein hei li ge KuumlheDas Tier bei Hin dus und Bud dhis ten 198

Die Den ker und das lie be ViehDas Tier im Ba rock und in der Auf klauml rung 213

raquoKoumln nen sie lei denlaquoDie Ruumlck kehr des Mit leids 228

Eine neue Tier ethikDas ei ser ne Tor

Wege zu ei ner modernen Tier ethik 249

Schutz oder RechtDie Ethik der Be frei ung 267

Eine art ge rech te Mo ralMen schen ndash Tie re ndash Ethik 280

Gut bes ser am bes tenDie Ethik des Nicht wis sens 296

Was tunLie ben ndash Has sen ndash Es sen

Un ser all taumlg li ches Cha os im Um gang mit Tie ren 313

Ein kur zer Text uumlber das Touml tenDas Tier und das Ge setz 326

Na tur schutz oder Lust mordDuumlr fen wir Tie re ja gen 343

Jen seits von Wurst und KaumlseDuumlr fen wir Tie re es sen 361

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Das Tier als Dum mySind Tier ver su che le gi tim 380

Al cat raz oder Psycho topVom Nut zen und Nach teil der Tier gaumlr ten fuumlr das Tier le ben 399

Das Zeit al ter der Ein sam keitDie Ethik der Be wah rung 416

Das un ver soumlhn li che Tri um vi ratTier schutz Tier recht und Ar ten schutz 432

Scho pen hau ers Trep peDie Prag ma tik des Nicht wis sens 450

An hangAn mer kun gen 465

Aus ge waumlhl te Li te ra tur 475

Dank 499

Per so nen re gis ter 501

Zitatnach weis 509

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Meer schwein chen be ka men Ko li ken die Ei dech sen leb ten nicht lan ge und die Fi sche haus ten in viel zu vie len Ar ten in ei nem viel zu klei nen Aqua ri um Mei ne Fas zi na ti on paar te sich mit ei-nem schlech ten Ge wis sen Sie um schlan gen ei nan der sehr eng und wa ren sel ten zu tren nen

Ich wur de kein Zoo di rek tor Der schlech te Bi o lo gie un ter richt in der Schu le zer stoumlr te mir mei nen Traum Viel leicht war es auch gut so Der fruuml he re Koumll ner Zoo di rek tor Gun ther No gge sag te zu mir raquoSei en Sie froh dass Sie es nicht ge wor den sindlaquo So er hielt ich mir mei ne Fas zi na ti on fuumlr Tie re aber auch mein schlech tes Ge wis sen

Bei des war noch wach als in der Mit te der Neun zi ger jah re der BSE-Skan dal und gleich da rauf das Klon schaf Dolly die Be-voumll ke rung auf schreck ten Ich schrieb ei nen Es say uumlber Tier ethik und ein Dos si er uumlber Zo o lo gi sche Gaumlr ten fuumlr Die Zeit die Poe sie des Her zens die nur das Bes te fuumlr alle Tie re woll te hier die Pro-sa der Ver haumllt nis se ei nes bar ba ri schen und prob le ma ti schen Um-gangs mit dem Tier in der Ge sell schaft dort

Im Feb ru ar 1997 ver schlug mich der Zu fall nach Braun-schweig zu ei nem Kon gress uumlber raquoTie re ndash Rech te ndash Ethiklaquo Fuumlr mich war es eine Art in tel lek tu el les Wood stock ei ner neu en Be-we gung Men schen aus dem gan zen Bun des ge biet wa ren an ge-reist und auch die Braun schwei ger Be voumll ke rung nahm sehr re-gen An teil Ich lern te Ma nu e la Lin ne mann ken nen die Ge hei me Rauml tin der Tier rechts be we gung die den Kon gress glaumln zend or ga-ni siert hat te Der Schrift stel ler Hans Woll schlauml ger pre dig te in der St-And re as-Kir che ful mi nan te Wor te uumlber den Pa ra dies gar ten und die ab truumln ni ge Mensch heit Der sym pa thi sche Schwei zer Phi lo soph Jean-Claude Wolf ge houmlr te be reits zu den ver sier te ren Den kern auf die sem Ge biet der Phi lo soph Mi cha el Haus kel ler eben so jung wie ich noch zu den Neu e ren Mit dem Bi o lo gen und Phi lo so phen Hans Wer ner In gen siep ei nem der span nends-ten Den ker die mir je be geg net sind und sei ner Le bens ge faumlhr-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 129783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 12 10082021 10493310082021 104933

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tin der Theo lo gin Hei ke Bar anzke ver bin det mich seit dem eine lan ge Freund schaft Auch die Front kaumlmp fer fehl ten nicht Die Tier rechts or ga ni sa ti on Ani mal Peace er leb te ge ra de ei nen Boom an Spen dern und der Tier recht ler Hel mut Kap lan be feu er te die Ak ti vis ten mit ra di ka len Schrif ten und kuumlh nen Spruuml chen

Die Ge dan ken die wir in Vor trauml gen und Ge sprauml chen ver kuumln-de ten dis ku tier ten und uumlber dach ten hat ten da mals noch et was sehr Neu es Zwar hat te der aust ra li sche Phi lo soph Pe ter Sin ger be reits 1975 sein be ruumlhm tes Buch uumlber Die Be frei ung der Tie re ge schrie ben Aber eine Tier rechts be we gung ent stand an ders als in Eng land und den USA in Deutsch land erst lang sam in den spauml ten Acht zi ger jah ren Nun in der Mit te der Neun zi ger jah re war das The ma end lich ge sell schaft lich re le vant ge wor den Koumln-nen wir un se ren all taumlg li chen Um gang mit Tie ren wei ter hin mo-ra lisch recht fer ti gen Die Mas sen me di en grif fen das The ma auf Der Jour na list Man fred Kar re mann dreh te Fil me uumlber Mas sen-tier hal tung Schlacht haumlu ser und Tier trans por te und brach te das Elend der Tie re da mit in die deut schen Wohn zim mer Die in zwi-schen ein ge stell te Zei tung Die Wo che nahm da ge gen den ra di-ka len Fluuml gel der Be we gung ins Vi sier Sie be rich te te uumlber an ge-saumlg te Hoch sit ze ein ge schla ge ne Schau fens ter von Metz ge rei en und warn te auf ei ner Dop pel sei te vor raquoTier schutz ter ro ris muslaquo

In die sem Kli ma er schien im Herbst 1997 mein Buch No ahs Erbe Sei ne Zu stim mung und Ab leh nung ver lief wie ich es mir er hofft hat te oft quer zu den etab lier ten Freund-Feind-Li ni en zwi schen Tier schuumlt zern Ar ten schuumlt zern und Tier recht lern Be-dau ert habe ich da bei ei gent lich nur jene Kri ti ken die mir von ei nem pa tho lo gi schen Men schen bild bis hin zu ei ner raquooumlko fa-schis ti schenlaquo Ge sin nung so ziem lich al les un ter stell ten wo von ich selbst in den fins ters ten Win keln mei nes Wir bel tier ge hirns nie mals ge traumlumt hat te

Seit dem ist viel und we nig ge sche hen Seit No vem ber 1999 er-freu en sich die Men schen af fen in Neu see land und wa ren es da-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 139783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 13 10082021 10493310082021 104933

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mals auch nur acht an der Zahl ei nes un an tast ba ren Rechts auf Le ben Der Tier schutz wur de 2002 als Staats ziel im deut schen Grund ge setz ver an kert Die gra vie rend ste Ver aumln de rung aber sind ohne Zwei fel die vie len Men schen die sich feisch los oder ve-gan er naumlh ren Das Wort raquove ganlaquo in den Neun zi gern noch et-was houmlchst Obs ku res das nur von we ni gen selt sam blut lee ren Bio-Vam pi ren be trie ben wur de ist heu te in al ler Mun de Ein vega nes Koch buch er reich te juumlngst eine Mil li o nen auf a ge Und na he zu je der kennt ei nen Vega ner oder haumlu fi ger eine Ve gan erin Nach ei ner Um fra ge des Al len sba cher Ins ti tuts aus dem Jahr 2015 gibt es in Deutsch land in zwi schen 78 Mil li o nen Ve ge ta-rier und 900 000 Vega ner1

In den west li chen In dust rie na ti o nen steigt die Sen si bi li taumlt im Um gang mit Tie ren un auf halt sam an ins be son de re bei jun gen Frau en Doch die se Hal tung hat zu gleich et was sehr Pri va tes Schoumln heit Fit ness Ge sund heit und Tier lie be sind meist auf ei-nen Nah ho ri zont be schraumlnkt Wa ren der Kampf fuumlr Tier rech te und die veg ane Er naumlh rung fruuml her fast un trenn bar mit ei nan der ver bun den ge we sen so hat sich das eine heu te vom an de ren ge-loumlst In West eu ro pa gibt es in zwi schen mehr Mas sen tier hal tung mehr Le ge bat te ri en und mehr in dust ri el les Tier elend als je zu-vor Gut ver steckt vor der Oumlf fent lich keit ar bei tet die se Ma schi-ne rie trotz ge le gent li chen Pro tes ten hef ti ger denn je Noch nie war die Kluft so groszlig die das was Men schen im Um gang mit Tie ren fuumlr rich tig hal ten und das was tat saumlch lich prak ti ziert wird von ei nan der trennt So lan ge wir un se re Er naumlh rung und un ser per soumln li ches Ver haumllt nis zu Tie ren als Pri vat sa che auf fas-sen so lan ge wird die mil li o nen fa che Grau sam keit ge gen Tie re wei ter hin ge sell schaft lich ak zep tiert

In die ser Lage stel len sich man che Fra gen die in No ahs Erbe be han delt wur den an ders und neu Auch vie le Zah len sind wie koumlnn te es auch an ders sein ver al tet In den Wis sen schaf ten wie der Pal aumlo anth ro po lo gie der Prim atolo gie und der Ver hal tens-1

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oumlko lo gie ist in den letz ten bei den Jahr zehn ten ei ni ges ge sche-hen das es zu be ruumlck sich ti gen gilt Die his to ri sche For schung uumlber das Ver haumllt nis von Mensch und Tier hat man ches Neue zu ta ge ge foumlr dert eben so in den Re li gi o nen wie in der Phi lo so-phie Die aka de mi sche De bat te uumlber eine an ge mes se ne raquoTier-ethiklaquo hat stark an Fahrt auf ge nom men Und nicht zu letzt hat mei ne ei ge ne Be schaumlf ti gung mit dem We sen und den Spiel re geln mo ra li schen Han delns zu man cher neu en Ein schaumlt zung und Be-wer tung ge fuumlhrt Man ches von dem was Men schen tun oder las sen er scheint mir mit uumlber fuumlnf zig in ei nem an de ren Licht als mit An fang drei szligig hellip

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Be lan ge re gelt eben so wie jene des Maul wurfs das Tier schutz-ge setz Maul wuumlr fe und Schim pan sen sind kei ne Rechts sub jek-te Man darf sie in enge Kauml fi ge ein pfer chen man darf sie mit Elektro schocks fol tern mit toumld li chen Kei men in fi zie ren sie am le ben di gen Leib ver aumlt zen sie ver stuumlm meln und ver gif ten

Das ver nuumlnf ti ge und sitt li che Le ben und das un ver nuumlnf ti ge rohe Le ben tei len die Welt in zwei Herr schafts be rei che Ei ner da von be sitzt ein mo ra li sches Sie gel Der an de re da ge gen ist ein na he zu un be schrie be nes Blatt Fast hun dert sech zig Jah re ist es her dass der bri ti sche Na tur for scher Charles Dar win den ge-mein sa men Ur sprung die fie szligen den Uumlber gaumln ge und zar ten Ver-aumls te lun gen al len Le bens be wies Doch Men schen gel ten we der all tags sprach lich noch recht lich als Tie re Eine alte Ge wohn heit trennt den Men schen von sei nen ani ma li schen Ver wand ten Es ge houmlrt zu den ei gen tuumlm li chen Fol gen der Dar win rsquoschen Wen de dass sie mit ei ni gen klei ne ren Kor rek tu ren das anth ro po zent ri-sche Welt bild un an ge tas tet lieszlig Kaum je mand duumlrf te sich als je-ner Tro cken na sen pri mat in der Ver wandt schaft von Men schen-af fen Meer kat zen und Pa vi a nen se hen als den uns die Zo o lo gie klas si fi ziert Statt des sen de fi nie ren wir uns als Men schen und ge-ben uns alle Muumlhe un se re ani ma li sche Na tur zu ver ges sen und zu ver ber gen

Das Band zu den an de ren Tie ren ha ben wir vor lan ger Zeit zer schnit ten Vor etwa 10 000 Jah ren hat der Mensch ge lernt die Roh stoff re ser ve raquoTierlaquo plan mauml szligig zu zuumlch ten Er haumllt sie von nun an in Form ei nes le ben den Ver sor gungs vor rats zum ei-ge nen Nut zen und From men In den An faumln gen der Tier zucht leg ten man che sess haft ge wor de nen Jauml ger ge stor be ne Hun de in da fuumlr vor ge se he ne Gru ben und be stat te ten so gar Mut ter Kind und Rin der ge mein sam Wel ten klaf fen zwi schen dem ani mis ti-schen Glau ben der ers ten Vieh zuumlch ter und der ma te ri a lis ti schen Mas sen tier hal tung der mo der nen Ge sell schaft Mit dem Ende der Kon kur renz schwand die Not wen dig keit sich mit dem Tier

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als ei nem Le be we sen aus ei nan der zu set zen Heu te nut zen wir die Res sour ce raquoTierlaquo voumll lig frag los fuumlr die An spruuml che des Men schen Das Ge mein sa me von Tier und Mensch trat in den Hin ter grund Zwar leb te das Tier noch im mer in der kul tu rel len Fan ta sie fort als ma gi sche oder fan tas ti sche Ge stalt als Freund Ge faumlhr te oder Be dro hung Doch die Be deu tung in der All tags welt er mat te te auf Schwund stu fen der Na tur wie Schoszlig hund Zier gup py Le ge hen-ne und Zir kus pferd Gren zen los uumlber le gen und un ab haumln gig ge-gen uumlber den Tie ren sei ner Um welt ent wi ckel te sich im mensch-li chen Be wusst sein ein voumll lig ent frem de tes Ver haumllt nis Nicht nur ra di ka le Aus nut zung und Sa dis mus auch falsch ver stan de ne Lie-be De na tu rie rung und un frei wil li ge Quauml le rei be stim men seit her den mensch li chen Um gang mit dem Tier

Bis ins fruuml he Mit tel al ter uumlber wog die Zahl der wil den Tie re die An zahl der Nutz- und Haus tie re die der Mensch in sei nen Dienst ge stellt hat te Doch spauml tes tens mit dem Sie ges zug des Ka pi ta lis mus in West eu ro pa und Nord a me ri ka ver schwan den die Res te der Ehr furcht in die Maumlr chen buuml cher und Zir kus dar-bie tun gen Mo der ne Agrar un ter neh men In dust rie met ro po len Au to bah nen und Hoch span nungs mas ten bil den das Or na ment un se rer Um welt die wir seit meh re ren hun dert Jah ren raquoLand-schaftlaquo nen nen Nir gend wo in der All tags welt ei nes Men schen der west li chen Zi vi li sa ti on be geg net uns das Tier noch als Kon-kur rent nicht bei der Er naumlh rung nicht im Kampf um den Le-bens raum und nicht als Fress feind des sen Zaumlh ne und Klau en ernst haft Furcht er re gen koumlnn ten Das ein zig Be droh li che das heu te bleibt sind aus ge rech net ein paar klei ne Tie re etwa Rat-ten und Maumlu se die letz ten ge faumlhr li chen Fress kon kur ren ten des Men schen Dazu kom men In sek ten Mik ro ben und Vi ren

Das Band zwi schen uns und den an de ren Tie ren wuchs auch nicht da durch wie der zu sam men dass wir die Tie re uumlber die Wis-sen schaft als Ver wand te wie der ent deck ten Seit mehr als zwei-tau send Jah ren sieht sich der Mensch als le gi ti mer Herr scher

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uumlber eine be herrsch ba re Um welt dazu ge schaf fen sie zu nut zen und aus zu beu ten Un se re Evo lu ti on hat sich da bei ra sant be-schleu nigt Laumlngst fin det sie kaum noch in un se rem Koumlr per statt son dern vor al lem in un se rer Tech nik und Kul tur Und schon lan ge dient sie nicht mehr dazu sich der Na tur an zu pas sen Sie dient ei ner im mer wie der neu ge schaf fe nen mensch li chen Kul-tur An pas sung be deu tet heu te sich an den ei ge nen Fort schritt an zu pas sen mit all den be kann ten Fol gen fuumlr un se re Um welt Dra ma ti sche Kli ma wech sel die Zer stouml rung der schuumlt zen den Ozon schicht die Ver step pung wei ter Land stri che auf al len Suumld-kon ti nen ten und die Ver gif tung der Mee re ver nich ten nicht nur die nicht mensch li che Tier welt sie be tref fen mehr und mehr den Men schen selbst

In atem be rau ben dem Tem po be schleu nig te das in dust ri a li sier-te 20 Jahr hun dert die Be herr schung und Aus beu tung der Na-tur und mit ihr die der Tie re Schon in den ver gan ge nen Jahr-tau sen den hat te Homo sap iens den ge sam ten Pla ne ten in Be sitz ge nom men Kein grouml szlige res Wir bel tier be sitzt ein sol ches Ver brei-tungs ge biet be wohnt Wuumls ten Re gen waumll der und Po lar re gi o nen glei cher ma szligen Und kein grouml szlige res Wir bel tier hat sich zu Mil li ar-den ver mehrt Ruumlck sichts lo se Pluumln de rung der Roh stof fe und ein un ge heu res Be voumll ke rungs wachs tum der Spe zi es Homo sap iens schaf fen ei nen erd ge schicht li chen Aus nah me zu stand

Der Mensch be herrscht heu te den Pla ne ten aber of fen sicht-lich nicht sich selbst Es koumlnn te da ran lie gen dass es raquoden Men-schenlaquo gar nicht gibt Statt des sen gibt es mehr als sie ben Mil li-ar den un ter schied li che In di vi du en Und nie mand da von ist fuumlr die Mensch heit zu staumln dig Sie ist eine Ge mein de der an zu ge houml-ren nicht dazu ver pfich tet sich um das Gan ze zu sor gen und zu kuumlm mern

Zu herr schen be deu tet Ord nun gen zu etab lie ren und Re geln da fuumlr auf zu stel len was wich tig ist und un wich tig rich tig oder falsch Jahr hun der te lang sah die Mo ral der abend laumln di schen

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 209783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 20 10082021 10493410082021 104934

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Zivi li sa ti on in der Aus rot tung der Wild tie re und Aus beu tung der Nutz tie re na he zu kein Pro blem Eine kla re Grenz zie hung er-laub te je den Um gang mit dem Tier von der Lie be bis zur Fol ter von der Zucht bis zur Touml tung Das Ar gu ment war schlicht Der Mensch ist eine Son der an fer ti gung Got tes und mit dem Tier ge-ra de mal durch den lo sen Fa den der goumltt li chen Schoumlp fung stat ver bun den So kam in den Wor ten des deutsch-fran zouml si schen The o lo gen und Arz tes Al bert Schweit zer raquodie An sicht auf dass es wert lo ses Le ben gaumlbe des sen Schauml di gung und Ver nich tung nichts auf sich habe Un ter wert lo sem Le ben wer den dann je nach den Um staumln den Ar ten von In sek ten oder pri mi ti ve Voumll ker ver stan denlaquo2 (Eine Kli en tel die sich uumlber dies noch um Frau en er wei tern lie szlige)

Die se Gren ze wur de und wird in der abend laumln di schen Kul-tur ge schich te va ri an ten reich ver tei digt Doch je ge nau er wir sie be trach ten umso selt sa mer er scheint sie uns Denn sie laumlsst sich im mer schlech ter be gruumln den und zwar so wohl phi lo so phisch als auch bi o lo gisch Seit etwa vier zig Jah ren be steht in der Ge-sell schaft eine De bat te die un se ren Um gang mit Tie ren grund-saumltz lich in fra ge stellt Tier e thi ker wie Pe ter Sin ger und sein US-ame ri ka ni scher Phi lo so phen kol le ge Tom Re gan for dern Rech te auch fuumlr Tie re Der Aus schluss der Tie re aus der Ethik sei ein mo ra li scher Skan dal Das Tier heu te mo ra lisch drau szligen vor der Tuumlr zu las sen sei das Erbe ei nes re li gi ouml sen Aber glau bens Da der Mensch kei ne Son der an fer ti gung Got tes sei son dern ein in tel-li gen tes Tier muumlss ten wir die Reich wei te der Mo ral eben so auf die raquoan de ren Tie relaquo aus deh nen Ha ben wir nicht nach und nach ge lernt die Skla ve rei zu aumlch ten und Frau en als gleich be rech tig-te Men schen zu ach ten Und ist es nun nicht an der Zeit neu uumlber Tie re nach zu den ken und sie mo ra lisch an ge mes sen zu be-ur tei len

Doch wie koumlnn te ein sol cher an ge mes se ner Um gang mit den an de ren Tie ren aus se hen Den Men schen als ein Tier un ter an-2

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de ren an zu se hen koumlnn te ja auch be deu ten ihn ab zu wer ten statt die Tie re mo ra lisch erns ter zu neh men Das Un heil des So zi-al dar wi nis mus und der bar ba ri schen Ras sen the o rie ste ht uns mah nend vor Au gen Und was ist uumlber haupt das Kri te ri um da-fuumlr Tie re mo ra lisch zu ach ten Ist es ihre Lei dens fauml hig keit ihr Le bens wil le oder ihre In tel li genz Ha ben klu ge Tie re ein houml he-res Le bens recht als duumlm me re Das Ver haumllt nis des Men schen zu den an de ren Tie ren neu zu be wer ten ist eine gro szlige und schwie-ri ge Auf ga be

Ich moumlch te in die sem Buch ver su chen die se Fra gen neu zu stel len und zu durch den ken Da bei be trach te ich den Men schen als ein be son de res Tier un ter vie len auf an de re Wei se be son de ren Tie ren Ich moumlch te mich nicht da rauf fest le gen den Men schen all ge mein uumlber be stimm te Ei gen schaf ten zu de fi nie ren die ihn ethisch wert voll ma chen sol len Ich moumlch te ihm aber auch nicht im Um kehr schluss alle ge mein hin als raquomensch lichlaquo be zeich ne ten Ei gen schaf ten ab spre chen weil nicht alle Men schen Trauml ger all die ser Ei gen schaf ten sind Viel leicht ist be reits das Su chen nach sol chen ex klu si ven Ei gen schaf ten der fal sche Weg Der Denk-feh ler koumlnn te be reits da rin lie gen ei gen staumln di ge Dis zip li nen wie raquoAnth ro po lo gielaquo oder raquoMo ral phi lo so phielaquo be trei ben zu wol len die eine sol che enge De fi ni ti on des Men schen vo raus set zen Waumlre es nicht bes ser die Enge des Be griffs zu spren gen Statt Anth-ro po lo gie zu be trei ben soll te man sich lie ber mit ei ner Anthroshyzo o lo gie be schaumlf ti gen ndash eine Leh re vom Men schen tier und den an de ren Tie ren

Der Be griff ist neu er wur de erst vor we ni gen Jah ren un ter an de rem von dem US-ame ri ka ni schen Psy cho lo gen Hal Her zog ein ge fuumlhrt3 Die neue Dis zip lin der Hu manshyAni mal Stu dies kon-zent riert sich weit rei chend da rauf was Men schen und an de re Tie re ver bin det Da bei ver wen de ich den Be griff raquoAn thro zo o-lo gielaquo al ler dings et was an ders als Her zog und die Ver tre ter der Hu man-Ani mal Stu dies Es ist ein et was ein touml ni ger Sport al les 3

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was ge mein hin als raquomensch lichlaquo be trach tet wird als My thos zu ent zau bern Ich moumlch te es lie ber an ders ein bet ten und be wer ten Denn ich mei ne dass die Ver tre ter der Hu man-Ani mal Stu dies ihre De fi ni ti on des Men schen als ein Tier un ter Tie ren nicht ganz zu Ende den ken Denn waumlre der Mensch durch nichts Mensch-li ches grund saumltz lich vom Tier un ter schie den wie sie an neh men so lieszlige sich auch nicht ein for dern dass Men schen sich aus vershynuumlnf ti ger Ein sicht an ge mes sen ge gen uumlber Tie ren ver hal ten sol len

Um mensch li ches Han deln zu ver ste hen muumls sen wir ver ste-hen in wel chem Rah men Men schen die Welt se hen sich ori en-tie ren und han deln Die bei den ers ten Tei le des Bu ches skiz zie-ren die sen bi o lo gi schen und den kul tu rel len Rah men In ih nen moumlch te ich zei gen auf wel che Art und Wei se Men schen sich un-ter Tie ren ver hiel ten und ver hal ten Da bei be schaumlf tigt sich der ers te Teil mit der Fra ge was fuumlr ein spe zi el les Tier der Mensch ei gent lich ist Wie ist sei ne Rol le in der Evo lu ti on Und nach wel chen Denk mus tern ha ben Men schen die se Chro nik un se rer selbst seit der An ti ke ge schrie ben (Die Ord nung der Schoumlpshyfung) Wel che Stel lung hat sich Homo sap iens in der Na tur da-durch ge si chert dass er sie sich zu schrieb (Der Pri mat)

In je der mensch li chen Wis sen schaft vom Le ben be steht bis heu te still schwei gend oder laut hals ver kuumln det zwi schen Mensch und Tier eine Gren ze Doch weiszlig we der die E vo lu ti ons bi o lo-gie noch die Pal aumlo anth ro po lo gie mit Ge wiss heit zu sa gen an wel chem Punkt sich nur ani ma li sches von mensch li chem Le ben schei det Was ha ben Pal aumlo anth ro po lo gen in den letz ten hun dert Jah ren da ruuml ber ge glaubt Und was den ken sie heu te (Der aufshyrech te Affe) Da bei wer den wir se hen dass es mit der Gren ze zwi schen dem Men schen und den an de ren Tie ren eine aumlu szligerst komp li zier te Sa che ist Seit Jahr zehn ten mes sen und ver glei chen Ver hal tens for scher die kog ni ti ven Leis tun gen von Tie ren mit je-nen des Men schen mit dem uumlber ra schen den Er geb nis dass Tie re in na he zu al len raquowich ti genlaquo Punk ten un ter le gen sind bei Kul tur-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 239783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 23 10082021 10493410082021 104934

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leis tun gen wie Werk zeug ge brauch und Re li gi on eben so wie beim Er werb der mensch li chen Spra che Doch ha ben wir bei sol chen Mes sun gen tat saumlch lich den rich ti gen den fai ren Maszlig stab Ist es sinn voll die In tel li genz von Men schen af fen mit uns zu ver glei-chen (Sinn und Sinn lich keit)

Die Mo le ku lar ge ne tik zeigt uns dass Men schen bi o lo gisch Schim pan sen sind Wel che Kon se quen zen zie hen wir da raus (Eins Kom ma sechs Pro zent) Nach dem wir den Men schen auf die se Wei se bi o lo gisch ein ge kreist ha ben wer fen wir noch ei nen Blick da rauf wie ob jek tiv un ser Wis sen vom Men schen und den an de ren Tie ren ist Was koumln nen wir uumlber haupt uumlber das Be wusst-sein an de rer Tie re wis sen Stellt es nicht eine so gro szlige Bar ri e re dar dass wir zu ge ben muumls sen nichts De fi ni ti ves sa gen zu koumln-nen (Die Tuuml cke des Sub jekts)

Im zwei ten Teil wer fe ich ei nen Blick in die Kul tur ge schich te des Mensch-Tier-Ver haumllt nis ses Was ha ben Men schen zu wel cher Zeit uumlber Tie re ge dacht und wa rum Wie hat man sie be han delt Und wel che Sen si bi li taumlt oder Kaumll te setz te sich wa rum durch Was wis sen wir da ruuml ber aus der Jung stein zeit (Die Tund ra des Ge wis sens) Was glaub ten und dach ten die al ten Aumlgyp ter (raquoIch habe kein Tier miss han deltlaquo) Und wa rum ent zau ber te das alte Ju den tum die Tie re (Hir ten und Herr scher)

In der abend laumln di schen Phi lo so phie gibt es seit der An ti ke sehr un ter schied li che Deu tun gen von Tie ren Mal se hen die Den ker eine gro szlige spi ri tu el le oder na tur ge schicht li che Naumlhe mal er he-ben sie den Menschen qua sei ner Ver nunft zum un ein ge schraumlnk-ten Wel ten herr scher (Das ver lo re ne Pa ra dies) In der christ li chen Re li gi on da ge gen wer den Men schen und Tie re deut lich von ei-nan der ge schie den eine Son der an fer ti gung hier eine Drein ga-be dort Das Chris ten tum ent fernt die tier freund li chen Mo men-te der juuml di schen Re li gi on aus den Glau bens leh ren (raquoKuumlm mert sich Gott etwa um die Och senlaquo) An ders ver laumluft der Weg in In di en Chi na und Suumld ost a si en Das Welt bild und die Tier ethik

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von Hin dus und Bud dhis ten un ter schei den sich von der un se-ren (Schein hei li ge Kuumlhe) Im Abend land da ge gen do mi niert in der Nach fol ge des fran zouml si schen Phi lo so phen Reneacute Des car tes eine raquora ti o na lis ti schelaquo kal te Pers pek ti ve auf das Tier Tie re weil sie nicht ver nunft fauml hig sei en wer den kaum noch als Le be we sen wahr ge nom men ndash eine Po si ti on die im 18 Jahr hun dert al ler-dings ziem lich kont ro vers dis ku tiert wird (Die Den ker und das lie be Vieh) Nach und nach ent ste hen im spauml ten 18 Jahr hun dert eine neue Mit leids ethik und so gar ers te For de run gen nach Rech-ten fuumlr Tie re (raquoKoumln nen sie lei denlaquo)

Im drit ten Teil moumlch te ich eine ei ge ne ethi sche Hal tung ent-wi ckeln Zu naumlchst wer den The o ri en von Phi lo so phen des 20 Jahr hun derts vor ge stellt die wie Al bert Schweit zer raquoEhr furcht vor dem Le benlaquo ver lan gen oder Tie ren ei nen ho hen mo ra li schen Sta tus zu spre chen wie Pe ter Sin ger und Tom Re gan (Das ei sershyne Tor) Die se Po si ti o nen zwin gen dazu grund saumltz li cher da ruuml-ber nach zu den ken was das raquoTier rechtlaquo vom raquoTier schutzlaquo un-ter schei den soll (Schutz oder Recht) An schlie szligend moumlch te ich die Schwach stel len der gaumln gi gen Tier rechts phi lo so phi en he raus-ar bei ten und zei gen wa rum ich sie we der dem Men schen fuumlr an-ge mes sen hal te noch fuumlr all ge mein prak ti ka bel (Eine art ge rech te Mo ral) Da ran schlie szligen sich mei ne Uumlber le gun gen an was ein an ge mes se ner Um gang mit Tie ren sein koumlnn te (Gut besser am besten)

Sol cher ma szligen ge ruumls tet koumln nen wir uns im vier ten Teil mit den vie len Prob le men be fas sen die sich im All tag stel len Das ers te die ser Ka pi tel bi lan ziert das all taumlg li che Cha os im Um gang mit Tie ren (Lie ben ndash Has sen ndash Es sen) Da nach wen den wir den Blick auf die recht li che Si tu a ti on und un ter zie hen die Lo gik un-se res Tier schutz ge set zes ei ner ge nau e ren Pruuml fung (Ein kur zer Text uumlber das Touml ten) Das naumlchs te Ka pi tel gilt der Jagd Ist Ja gen art ty pi sches Ver hal ten des Men schen oder eine staat lich le gi ti-mier te Per ver si on (Na tur schutz oder Lust mord) Und wie sieht

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es mit un se rer Er naumlh rung aus Wel che Ar gu men te spre chen da-fuumlr dass Men schen in un se ren heu ti gen west li chen Ge sell schaf-ten noch Tie re touml ten duumlr fen um sich von ih nen zu er naumlh ren Und wel che Ar gu men te spre chen da ge gen Viel leicht gibt es so gar schon in Kuumlr ze ei nen Aus weg der uns end lich hilft die Mas sen-tier hal tung zu be sei ti gen (Jen seits von Wurst und Kaumlse) Eben so stellt sich die Fra ge un ter wel chen Um staumln den Tier ver su che zu-kuumlnf tig er laubt sein soll ten und un ter wel chen nicht (Das Tier als Dum my) Ist es mo ra lisch ver tret bar Tie re in Zo o lo gi schen Gaumlr ten zu hal ten Und wenn ja wel che und wel che nicht (Alshycat raz oder Psycho top) Zoos ver ste hen sich heu te als raquoNa tur-schutz zent renlaquo die Tie re er hal ten die in ih ren Hei mat laumln dern vom Aus ster ben be droht sind Wie ist dies zu be wer ten (Das Zeit al ter der Ein sam keit) Da bei sto szligen wir auf die Schwie rig-keit dass Tier schutz Tier recht und Ar ten schutz kei ne na tuumlr li-chen Ver buumln de ten sind son dern sich in ih rer Phi lo so phie ih rer Welt an schau ung und ih ren Ziel set zun gen stark un ter schei den (Das un ver soumlhn li che Tri um vi rat) Das Schluss wort bi lan ziert die se Er kennt nis se und fragt was wir aus al le dem prag ma tisch fol gern soll ten und in wel chen Schrit ten es ge sche hen koumlnn te (Scho pen hau ers Trep pe)

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Das Men schen tier

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Wahr heit zu hal ten Aber die ses Bild hat sich schon oft ver aumln-dert und es wird sich ge wiss noch wei ter ver aumln dern

Men schen nei gen dazu die Welt in der sie le ben auf zu raumlu-men Es ist eine ziem lich art ty pi sche Ver hal tens wei se Wir sor tie-ren die all taumlg li chen Din ge un se res Le bens und eben so sor tie ren wir die Ge dan ken uumlber die Welt die uns um gibt Jede Ord nung auch die der Na tur ist also ein mensch li cher Ent wurf Und al-lem An schein nach ent stand das Be duumlrf nis die Welt zu ord nen in un se rer Ent wick lungs ge schich te pa ral lel zur Ent wick lung der Spra che Denn ohne die kuumlnst li che Auf raumlum ar beit der Spra che waumlre die Vor stel lung von ei ner raquoOrd nung der Schoumlp funglaquo oder der raquoNa turlaquo nicht moumlg lich

Wer auf die Ord nung an ge wie sen ist be wegt sich gern in den si che ren Gren zen ei nes Sys tems Nur in ner halb ei nes sol chen Ord nungs ge fuuml ges fragt man nach Wahr heit und Gel tung Rich-tig keit Me tho de und Be deu tung Zu leicht uumlber sieht der Ord ner dann die kuumlnst li che Be hau sung und die selbst ge zim mer ten Re-ga le in die er die Welt so sorg faumll tig hi nein sor tiert Sel ten ge lingt ihm ein Blick aus dem Fens ter in die un ge wis se Land schaft die ihn um gibt Und nur ein ge wal ti ger Sturm ein Blitz schlag oder eine Er schuumlt te rung zwingt den Ver wal ter der Welt die si che re Wohn statt zu ver las sen und sich ein an de res Haus zu bau en das den An fein dun gen des neu en Kli mas wi der steht

Erst im Ruumlck blick auf die vie len Irr tuuml mer der Ver gan gen heit er ken nen wir dann un se re ei ge ne Un zu laumlng lich keit beim Auf-raumlu men In der Ge gen wart er scheint uns die je wei li ge Ord nung meis tens so selbst ver staumlnd lich dass wir gern uumlber jede Moumlg-lich keit der Ver aumln de rung lauml cheln So ha ben Men schen mit voumll li-ger Ge wiss heit an ge nom men dass die Erde eine Schei be ist und dass Frau en und Skla ven kei ne Rech te zu ste hen Und mit ei nem eben sol chen Lauml cheln be trach ten wir heu te die Gruumln de mit de-nen Men schen sich im Lau fe der Jahr hun der te von den Tie ren zu un ter schei den glaub ten

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Schon die al ten Grie chen ins be son de re Aris to te les (384 v Chr ndash 322 v Chr) ha ben sich fuumlr die Ge schich te und das in vie len De tails ver bor ge ne Sys tem der Na tur in te res siert Er teilt die Tie re in Klas sen ein ver sucht zu er gruumln den was Le ben ist und schafft da mit die Grund la gen der Zo o lo gie Aber Aris to te-les kennt nur we ni ge hun dert Tie re Eine raquovoll staumln di ge Na tur-ge schich telaquo wird das ers te Mal im 18 Jahr hun dert ge schrie-ben ndash und auch sie ist aumlu szligerst un voll staumln dig Seit dem ver fuuml gen wir nicht nur uumlber ei nen rei chen Vor rat an ge dach ten Ord nun-gen von den Schoumlp fungs my then bis hin zur Mo le ku lar bi o lo gie Wir ken nen auch eine Wis sen schaft die sich raquoTax ono mielaquo nennt und jede Pfan ze und je des Tier sys te ma tisch in eine In ven tar liste der Na tur ein traumlgt

Da bei ver ra ten die Denk sche ma ta der Na tur for scher nicht nur et was uumlber die klas si fi zier te Na tur selbst son dern eben so uumlber das Ord nungs be duumlrf nis und die Pfif fig keit des mensch li-chen Geis tes Das 18 Jahr hun dert ist eine Zeit in der das Buumlr-ger tum an die Macht draumlngt und sich zu neh mend ge gen den Adel auf ehnt Sei ne schaumlrfs te Waf fe ist et was das man raquoVer nunftlaquo oder raquoRa ti o na li taumltlaquo nennt und das man ge gen den Glau ben ins Feld fuumlhrt Fuumlr die Phi lo so phen der Ra ti o na li taumlt ist die Welt kei-ne vor ge fun de ne Schoumlp fung mit fes ter Ord nung son dern et was dass man geis tig durch drin gen und auf sei ne Lo gik und Wi der-spruuml che un ter su chen kann Da bei ge ben zu naumlchst die Phy sik und die Ma the ma tik das Sche ma vor nach dem alle Er kennt nis auch jene von Pfan zen und Tie ren funk ti o nie ren soll Die Sys te ma ti-ker der Na tur ge schich te su chen nach un ver ruumlck ba ren Kri te ri en ob jek ti ven Ge setz mauml szligig kei ten und lo gi schen Ver bin dun gen um die un uuml ber sicht li che Welt der Le be we sen ih rer raquowah ren An ord-nunglaquo ge maumlszlig ein zu tei len Aber nicht alle Na tur for scher glau-ben dass ein sol ches Vor ha ben tat saumlch lich ge lin gen kann Man-che hal ten die Na tur fuumlr zu reich hal tig um sie auf die se Wei se zu klas si fi zie ren Welt an schau un gen tref fen auf ei nan der auf der

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ei nen Sei te der Glau be an ein vom Men schen prin zi pi ell voumll lig durch schau ba res Na tur sys tem auf der an de ren Sei te eine un er-gruumlnd li che Schoumlp fung in der der Mensch sich im mer nur tas-tend fort be wegt

Die ers te Va ri an te gilt im 18 Jahr hun dert als der mo der ne-re An satz Man ori en tiert sich da bei an ei nem Ra ti o na lis mus den Reneacute Des car tes (1596 ndash 1650) schon hun dert Jah re zu vor neu be gruumln det hat Die ser Ra ti o na lis mus ori en tiert sich an der Me cha nik Die Schoumlp fung Got tes er scheint als eine ein zi ge klug aus ge tuumlf tel te Ma schi ne die der Mensch Stuumlck fuumlr Stuumlck zu be-herr schen lernt Und das Uni ver sum be steht aus Ma te rie in Be-we gung or ga ni siert nach ma the ma ti schen Ge set zen Ob gleich das 18 Jahr hun dert zent ra le Spe ku la ti o nen des Phi lo so phen wi-der legt ori en tiert es sich in vie lem an Des car tesrsquo me cha nis ti scher Denk wei se Sie tut dies vor zugs wei se in je nen Dis zip li nen de-ren Er kennt nis fort schritt zu naumlchst ge ring bleibt Und nir gend-wo trifft dies in ei nem sol chen Maszlig zu wie bei der Er for schung der bi o lo gi schen Na tur

Doch die ses Welt bild hat prob le ma ti sche Fol gen Wer die Welt kon se quent nach me cha nis ti schen Grund saumlt zen be trach tet hat fuumlr den Be reich der nicht mensch li chen Na tur we nig Ver staumlnd nis Fuumlr Des car tes sind Tie re nichts als Ma schi nen Es macht kei nen Un ter schied ob eine Ma schi ne die aumlu szlige re Ge stalt und die in ne-ren Or ga ne ei nes Af fen hat oder ob es sich da bei tat saumlch lich um ein le ben des Tier han delt Denn relevantes Le ben kommt fuumlr den Den ker nicht durch zir ku lie ren des Blut und Reizempfindungen in den Koumlrper Son dern bedeutsames Le ben ga ran tie ren ein zig und al lein der er leuch te te Geist und sei ne Spra che

Des car tesrsquo Zeit kennt we der den Be griff des raquoOr ga nis muslaquo die Be son der heit des Le bens noch die Evo lu ti on son dern eben nur die Me cha nik Trotz dem ist sei ne The o rie von den Tie ren als see len lo se Au to ma ten im 17 und 18 Jahr hun dert aumlu szligerst um-strit ten Fran zouml si sche Phi lo so phen schrei ben Buch um Buch uumlber

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die Tier-Fra ge und be feh den sich da bei uumlber mehr als hun dert Jah re Noch weiszlig man nichts von ei ner raquoBi o lo gielaquo Man be treibt eine neue Dis zip lin die sich raquoNa tur ge schich telaquo nennt und da-mit auf raumlumt die Ge schich te von Le be we sen als eine wahl lo se Samm lung von Er zaumlh lun gen an zu se hen Bis her schrie ben Au to-ren um stands los von der Fang wei se der Tie re ih rer Ana to mie ih rer bib li schen und al le go ri schen Be deu tung ih rem prak ti schen Ge brauch ih rer Ver meh rung ih ren Stim men und Spra chen ih-ren Be we gun gen ih rem Al ter und von der Sym pa thie oder An-ti pa thie des Ver fas sers Auch Koch re zep te wur den von Fall zu Fall hin zu ge fuumlgt

Ein zo o lo gi sches Sys tem ist zu An fang des 18 Jahr hun derts weit ge hend un be kannt die Ver wandt schafts ver haumllt nis se der Pfan zen und Tie re sind dif fus ge ahnt und wer den eher nach Le-bens raumlu men be stimmt als nach koumlr per li chen Merk ma len Tie re die nachts ja gen ste hen da bei eben so in ei nem Ord nungs ge fuuml ge wie Tie re die fie gen koumln nen im Wald oder in ei nem See le ben Be reits die Pries ter schrift der bib li schen Ge ne sis hat te die Welt der Tie re und Pfan zen nicht nach ana to mi schen Merk ma len un-ter teilt son dern in Be zug auf den Le bens raum Pfan zen und Tie re des Mee res der Luft und der Erde Uumlber mehr als tau send Jah re kann ten auch der Is lam und die Hin dus Ord nungs sys teme die Tie re in ih rem Oumlko sys tem ver an ker ten

In der hin du is ti schen Samk hya-Tra di ti on exis tie ren vier zehn Klas sen un ter schied li cher Le be we sen ein ge teilt in acht For men himm li scher und sechs ir di scher Le be we sen zu de nen auch der Mensch ge houmlrt Als wei te res Un ter schei dungs merk mal dient die Art und Wei se der Ge burt Im gro szligen in di schen Na ti o nal epos aus dem 4 Jahr hun dert dem Ma hab har ata heiszligt es raquoAuf die ser Erde gibt es zwei Ar ten von Le be we sen die Be weg li chen und die Un be weg li chen Die Be weg li chen ha ben ei nen drei fa chen Schoszlig Sie sind aus dem Ei aus feuch ter Hit ze und Le ben dig-Ge bo re ne Von al len be weg li chen Le be we sen wie de rum sind die je ni gen die

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le ben dig ge bo ren sind hellip die bes ten Die bes ten un ter den le ben-dig Ge bo re nen sind die die zum Men schen ge schlecht ge houml ren und die Nutz tie relaquo4

Die neu en Sys te me des 18 Jahr hun derts be frei en die Na tur-ge schich te von al lem was sich mit den Me tho den der Zeit nicht wis sen schaft lich exakt be schrei ben laumlsst Koch re zep te fal len so-wie so un ter den Tisch aber auch man che Ver hal tens be ob ach-tun gen und vor mals wich ti ge Ei gen schaf ten wie zum Bei spiel der Ge ruch Ge forscht wird mit Lupe und Mik ros kop Li ne al und Pin zet te Der wich tigs te Mann auf die sem Ge biet ist der schwe-di sche Na tur for scher Carl von Linneacute (1707 ndash 1778) Er ori en-tiert sich an Aris to te les den er be wun dert nicht an Des car tes Ge ra de zu re vo lu ti o naumlr de mo kra tisch ent wi ckelt der auf ge klaumlr te Schwe de im 18 Jahr hun dert ein be schrei ben des Sys tem der Na-tur frei vom the o lo gi schen Fir le fanz sei ner Zeit Mit der Ak ri bie ei nes Brief mar ken samm lers dem Voll staumln dig keit mehr be deu tet als das Be stau nen ein zel ner Wer te ord net er die be leb te Na tur nach Ar ten Gat tun gen Ord nun gen und Klas sen Vier Va ri ab len die Form der Ele men te ihre An zahl die raumlum li che An ord nung der Ele men te und ihre re la ti ve Grouml szlige be stimm ten von nun an den Platz im Sys tem

Un ter der Leit dis zip lin der Bo ta nik wan delt sich die Na tur ge-schich te in eine ge ord ne te Welt aus Li ni en und Flauml chen Ent schei-dend sind die sicht ba ren Un ter schei dungs merk ma le wie Bluuml ten und Staub ge fauml szlige Blaumlt ter und Fruumlch te Fuumlszlige und Hufe Fe dern und Flos sen So setzt Linneacute fuumlr jede Pfan zen- und Tier klas se jede Ord nung und Gat tung be stimm te Merk ma le fest die er als die wich ti ge ren er ach te t Denn nur un ter der An nah me sol cher pri vi-le gier ter Struk tu ren ist es ihm moumlg lich die ver schie de nen Spe zi es im Ge samt sys tem un miss ver staumlnd lich zu ras tern Der mensch li che Ord ner be schreibt also nicht ein fach die be leb te Na tur Er fuumlgt ihr auch et was hin zu die Ent schei dung naumlm lich was in der For men-viel falt der Le be we sen wich ti ge Merk ma le sind und was nicht4

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 349783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 34 10082021 10493410082021 104934

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Wie alle da ma li gen Na tur for scher nimmt Linneacute an dass die Ein tei lun gen die der mensch li che Ver stand macht tat saumlch lich ei ner ob jek ti ven Ord nung der Na tur ent spre chen Doch Lin neacutes Sys tem ist wie er selbst weiszlig nicht raquona tuumlr lichlaquo Sei ne Struk tu ren sind kei ne die er in der Na tur als Un ter schei dungs kri te ri en vor-fin det Denn was sich am Schreib tisch nun muumlh sam in Ord nun-gen pres sen laumlsst liegt wie der fran zouml si sche Na tur for scher Mishychel Adan son (1727 ndash 1806) fest stellt in der Wild nis wie Kraut und Ruuml ben durch ei nan der raquohellip eine kon fu se Mi schung aus We-sen hellip die der Zu fall ei nan der an ge nauml hert zu ha ben scheint Hier wird das Gold mit ei nem an de ren Me tall mit ei nem Stein oder mit Erde ge mischt Dort waumlchst die Ei che ne ben dem Veil chen Un ter die sen Pfan zen ir ren eben falls der Vier fuumlszlig ler das Rep til und das In sekt um her Die Fi sche mi schen sich so zu sa gen mit dem waumlss ri gen Ele ment in dem sie schwim men und mit den Pfan zen die auf dem Grun de der Ge waumls ser wach sen hellip Die se Mi schung ist so gar so all ge mein und so viel faumll tig dass sie ei nes der Na tur ge set ze zu sein scheintlaquo5

Der Wi der spruch zwi schen ei ner tax ono mi schen und ei ner oumlko lo gi schen Ord nung der Na tur ist of fen sicht lich Er fin det sich noch heu te in der Dis kus si on um die Aumls the tik von Zoo an la gen Soll man die Tie re nach Ver wandt schafts ver haumllt nis sen sam meln also in Raub tier haumlu sern An ti lo pen haumlu sern und Hirsch an la gen so dass der Be su cher zwi schen den ana to mi schen Be son der hei-ten der Ar ten ndash mit un ter so gar den ge o gra fi schen Va ri an ten ei ner ein zi gen Art ndash zu un ter schei den lernt Oder ge waumlhrt die Nach-ge stal tung ei nes Na tur bi o tops ei ner af ri ka ni schen Sa van ne oder ei nes al pi nen Pa no ra mas den wich ti ge ren Ein blick in die Ord-nung der Na tur

Zwar steht fuumlr Linneacute und sei ne Kol le gen fest dass die raquowah-re Ord nunglaquo der Na tur sich an den koumlr per li chen Merk ma len zu ori en tie ren hat doch muss eine Er klauml rung da fuumlr ge fun den wer-den wa rum die se Ord nung in der frei en Na tur nicht von al lein 5

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sicht bar wird Ohne Zwei fel ist das Sys tem der Na tur kei ne zeit-lo se Schoumlp fung son dern durch Ver aumln de run gen ge kenn zeich net die sich in der Erd ge schich te er eig net ha ben Pa ral lel meh ren sich die Fun de von Fos si li en also von Tie ren die mut maszlig lich aus-ge stor ben sind Es hat al lem An schein nach grouml szlige re ge o lo gi sche Ka tast ro phen in un be kann ter Zahl ge ge ben de nen vie le Ar ten zum Op fer ge fal len sind Doch ha ben die se De sas ter auch zur Ent ste hung von neu en For men ge fuumlhrt

Um den Fak tor der Zeit und sei ne Fol gen fuumlr das Sys tem der Na tur ein zu schaumlt zen gibt es vie le Moumlg lich kei ten Die ein fachs te und mensch lichs te al ler zeit li chen Ord nungs vor stel lun gen ist die Idee al les fol ge ei nem Plan und sei auf ein Ziel hin aus ge rich-tet (Te le o lo gie) Re li gi o nen Phi lo so phi en und Ide o lo gi en funk-ti o nie ren na he zu al le samt ziel ge rich tet Es geht um ein bes se res Le ben auf Er den im Jen seits in ei nem ge rech ten Staat um die Herr schaft uumlber die an de ren uumlber die Pro duk ti ons mit tel oder das Boumlse Selbst un ser All tag ge stal tet sich weit ge hend te le o lo-gisch durch traumlnkt von zu kuumlnf ti ger Er war tung Mo tor jed we-der Te le o lo gie ist der Fort schritts ge dan ke Sein ima gi nauml res Ziel ist der voll kom me ne Zu stand So glau ben christ lich-abend laumln-di sche Ge sell schaf ten gern an eine staumln di ge Ver bes se rung durch An stren gung eine Tu gend die nach cal vi nis ti scher Tra di ti on im Him mel wie auf Er den von Gott ma te ri ell ent lohnt wird Wie na he lie gend also auch in der Na tur die Ent ste hung raquohouml he rerlaquo Le bens for men durch Fort schritt er ken nen zu wol len mit dem End ziel des Men schen

Die Un ord nung der Schoumlp fung mit ei nem goumltt li chen Fort-schritts plan in Ein klang zu brin gen ist das Le bens werk des Schwei zer Na tur for schers und Phi lo so phen Charles Bon net (1720 ndash 1793) Fuumlr Bon net ist die Zahl der Ar ten und ihre aumlu-szlige re Ge stalt von Gott ein fuumlr al le Mal fest ge legt Doch kann sich ein je des Le be we sen per fek ti o nie ren Der Weg vom simp-len Ge muumlt zur ge ni a li schen Leis tung ist vom Schoumlp fer vor ge-

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zeich net Und alle Tie re be schrei ten ihn zeit lich ver setzt nach dem glei chen Mus ter das der Mensch ih nen vor ge lebt hat raquoEs wird ei nen mehr oder we ni ger lang sa men und kon ti nu ier li chen Fort schritt al ler Ar ten zu ei ner houml he ren Ver voll komm nung ge-ben so dass alle Gra de der Stu fen lei ter in ei ner de ter mi nie ren den und kons tan ten Be zie hung fort ge setzt va ri a bel sein wer den hellip Es wird un ter den Af fen Leu te wie New ton und un ter Bi bern wie (den Fes tungs bau meis ter RDP) Vau ban ge ben Die Aus-tern und die Po ly pen wer den in Be zie hung zu den houmlchs ten Ar-ten das sein was die Vouml gel fuumlr die Vier fuumlszlig ler im Ver haumllt nis zum Men schen sindlaquo6

Seit Bon net ist die Vor stel lung von der raquoLei ter der Na turlaquo der Sca la nat urae ein wich ti ges In ven tar des na tur ge schicht-li chen Den kens Fort schritt Ver voll komm nung und goumltt li cher Plan ndash die se drei Grouml szligen be stim men die Vor stel lung vom Wer-den der Na tur vom 18 Jahr hun dert bis in die Ge gen wart hi nein Das Prin zip nach dem die Evo lu ti on Le ben her vor bringt sei un ver meid lich und von An fang an vor her be stimmt Nicht we-ni ge E vo lu ti ons the o re ti ker ha ben dies eben falls ge glaubt und zwar mit be acht li cher Kon ti nu i taumlt Der eng li sche Na tur for scher Alf red Rus sel Wall ace (1823 ndash 1913) der ge mein sam mit Dar win die The o rie der na tuumlr li chen Se lek ti on ent wi ckelt hat te hielt nicht nur den mensch li chen Geist und sein Mo ral emp fin den son dern zu dem auch die wei che nack te emp find sa me Haut des Men-schen fuumlr das Re sul tat ei ner not wen di gen Ent wick lung

Doch schon im 18 Jahr hun dert reg ten sich zu gleich vor sich-ti ge Zwei fel an der Stim mig keit ei ner sol chen Vor ge formt heit Denn wie soll te man Na tur ka tast ro phen be wer ten Waumlh rend die meis ten Na tur for scher sie als Teil des goumltt li chen Schoumlp-fungs plans in ter pre tier ten zo gen an de re ver gleichs wei se fins te-re Schluumls se Und so wur de tat saumlch lich ein gro szliges Erd be ben zum in di rek ten Aus louml ser der Evo lu ti ons the o rie naumlm lich je nes von Lis sa bon im Jahr 1755 Wer uumlber die Ka tast ro phe nach dach te 6

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konn te star ken Zwei fel da ran he gen dass die Welt ord nung aus-ge kluuml gelt und har mo nisch sei

Die wei test rei chen den Schluss fol ge run gen zog der eng li-sche Pfar rer und Na ti o nal oumlko nom Tho mas Ro bert Malt hus (1766 ndash 1834) Nicht nur die ge o lo gi sche Na tur und ihr Ge-fah ren ri si ko son dern auch die Ver meh rung der Be voumll ke rung wur de nun als Uumlbel er kannt Im Jahr 1798 pub li zier te Malt-hus sei nen Es say on the Princi ple of Po pu la ti on (Das Be voumllshyke rungs ge setz) die ers te Mahn schrift vor den Ge fah ren ei ner Be voumll ke rungs ex plo si on Bei ei ner Ver dop pe lungs ra te der Welt-be voumll ke rung in ner halb von fuumlnf und zwan zig Jah ren er rech ne-te Malt hus wer de ihr exponent iel les An wach sen auf grund der von der Um welt ge setz ten Gren zen not wen dig zu Ar mut Ka-tast ro phen und Tod fuumlh ren Der bib li sche Auf trag raquoSeid frucht-bar und meh ret euchlaquo er schien mit ei nem Mal als ein Fluch Ein gna den lo ser raquoKampf ums Da seinlaquo (strugg le for life) war ent fes selt Das Ein zi ge was blieb war die Hoff nung die ka-tast ro pha len Fol gen der goumltt li chen An wei sung so weit wie moumlg lich ein daumlm men zu koumln nen

In ei ner Zeit als die Ge sell schafts the o rie noch der Bi o lo-gie den Leuch ter vo ran und nicht wie heu te die Schlep pe hin-terh er traumlgt be geis tert sich vor al lem ein eng li scher Dorf pfar rer Charles Dar win (1809 ndash 1882) fuumlr die Malt hus rsquoschen Ge set ze Denn wenn es rich tig ist dass sich ein Tier mit ei ner so ge rin-gen Ver meh rungs ra te wie der Mensch ge gen uumlber sei nen Art ge-nos sen durch setz te so gab es sicht lich an de re Kri te ri en fuumlr die Uumlber le bens fauml hig keit ei ner Po pu la ti on als die Zahl ih rer Ge bur-ten Der Maszlig stab fuumlr den Er folg ei ner Spe zi es war ihr Durch set-zungs ver mouml gen oder wie Dar win es spauml ter in den Prin zi pi en der Bio logie des jun gen Phi lo so phen Her bert Spen cer (1820 ndash 1903) le sen konn te raquothe sur vi val of the fit testlaquo

Dar wins na tur kund li che Stu di en wa ren ur spruumlng lich von dem Ge dan ken be seelt die nicht a ni ma li sche Iden ti taumlt des Men schen

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 389783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 38 10082021 10493410082021 104934

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zu be wei sen Erst der Sieg des Ent de cker stol zes uumlber das Ent-set zen ver lieh ihm schlieszlig lich den Mut den be ruumlhm ten Satz zu schrei ben raquoUnd ich bin bei na he uumlber zeugt (der Mei nung mit der ich an die Fra ge he ran ge tre ten bin voumll lig ent ge gen ge setzt) dass die Spe zi es (mir ist es als ge staumln de ich ei nen Mord ein) nicht un ver aumln der lich sindlaquo7

Dar wins kuumlh ne Ver mu tung war nicht ganz neu Be reits ein hal bes Jahr hun dert zu vor hat ten der fran zouml si sche Na tur for scher GeorgesshyLou is Lec lerc Comte de Buf fon (1707 ndash 1788) und der Phi lo soph De nis Dide rot (1713 ndash 1784) uumlber eine Ver aumln de-rung der Ar ten spe ku liert Be son ders JeanshyBap tiste de La marck (1744 ndash 1829) be haup te te die all maumlh li che Ent wick lung der Ar-ten aus pri mi ti ve ren Vor for men die so ge nann te Trans mu ta ti on La marck war nicht nur ein Pi o nier der mit Jahr mil li o nen han-tier te als alle Welt die Erde noch ei ni ge tau send bis hun dert tau-send Jah re jung waumlhn te son dern er praumlg te (zur glei chen Zeit wie zwei deut sche Na tur for scher) das Wort Bi o lo gie Bei ihm wan del ten sich die Le be we sen da durch dass sich ihre koumlr per-li chen An stren gun gen auf ihr Erb gut aus wir ken Da bei nahm er al ler dings nicht an dass die Ar ten aus ei nan der her vor ge hen wie Dar win es spauml ter tat La ma rcks The o rie ist nauml her an je ner von Bon net Fuumlr ihn ver voll komm nen die ein zel nen Tier ar ten im Lau fe der Zeit ihre An la gen und ent wi ckeln sich da durch im-mer houml her Be son ders voll kom me ne Tie re wie der Mensch sind dem nach sehr alt denn sie ha ben ei nen wei ten Weg von ei nem pri mi ti ven Or ga nis mus bis hin zur heu ti gen Ge stalt hin ter sich ge las sen An de re wie der pri mi ti ve Suumlszlig was ser po lyp ha ben ihre Rei se durch die Zeit ge ra de erst an ge fan gen

La marck war kein Charis mati ker und die zo o lo gi sche All-macht sei nes Vor ge setz ten am Jar din des Plan tes in Pa ris des Ba rons George Cu vier (1769 ndash 1832) ver hin der te dass man sich all zu sehr mit sei nen The o ri en be schaumlf tig te Cu vier war ein be-deu ten der Mann An die Stel le ei ner nach bo ta ni schem Mus ter 7

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 399783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 39 10082021 10493410082021 104934

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ver fah ren den Zo o lo gie setz te er eine neue Wis sen schaft die sich we ni ger an aumlu szlige ren Merk ma len als am Or ga nis mus der Tie-re ori en tier te Doch was die Trans mu ta ti on an be lang te blieb der Ober auf se her der pro tes tan tisch-the o lo gi schen Fa kul tauml ten Frank reichs beim kon ser va ti ven Mo dell Er ver brei te te wei-ter hin eine Ket te von Na tur ka tast ro phen habe als mo di fi zier-te Sint fu ten gan zen Klas sen von Tie ren den Gar aus ge macht Die se The o rie ist weit ge hend rich tig al ler dings schlieszligt sie die Trans mu ta ti on nicht aus

Das wirk lich Re vo lu ti o nauml re an La marck war die Idee die Ge schich te der Na tur nicht vom Men schen aus bis hi nun ter zur Bak te rie zu schrei ben son dern um ge kehrt von der Bak te rie zum Men schen Aus ei nem Mo dell der raumlum li chen Hie rar chie wur de ein Mo dell der zeit li chen Ent wick lung La marck er kann te zu-dem dass das Be wusst sein ei nes Tie res an die Phy si o lo gie und Neu ro lo gie sei nes Koumlr pers ge bun den ist Dem nach ist je der Geist ers tens be grenzt und zwei tens ver aumln der lich

Die phi lo so phi sche Kon se quenz aus La ma rcks Den ken ist so ra di kal dass sie fast ein hun dert fuumlnf zig Jah re lang von nie man-dem ernst haft in Be tracht ge zo gen wur de Wie kann ein Geist der den Ge set zen der Evo lu ti on un ter wor fen ist sich ei gent lich an ma szligen die Na tur der Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Von die ser Schluss fol ge rung woll te die Bi o lo gie al ler dings bis weit ins 20 Jahr hun dert hi nein nicht viel wis sen

Auch Dar wins The o rie von der na tuumlr li chen Se lek ti on der Le be we sen im Rin gen um ihr Le ben und mit der Um welt ent-wi ckel te sich wei ter Ge witz ten Zeit ge nos sen wie Karl Marx (1818 ndash 1883) war auf ge fal len wie stark Dar wins Den ken dem Zeit geist des Vik to ri a ni schen Zeit al ters ver haf tet war raquoEs ist merk wuumlr dig wie Dar win un ter Bes ti en und Pfan zen sei ne eng li-sche Ge sell schaft mit ih rer Tei lung der Ar beit Kon kur renz Auf-schluss neu er Maumlrk te rsaquoEr fin dun genlsaquo und Malt hus schem rsaquoKampf ums Da seinlsaquo wie der er kenntlaquo8 Die Be to nung des Malt hus rsquoschen 8

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 409783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 40 10082021 10493410082021 104934

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Kamp fes von je dem ge gen je den und auch der Fort schritts glau-be in Dar wins Den ken zei gen ihn stark sei ner Zeit ver haf tet

Eine an de re Kri tik kam aus der Bi o lo gie selbst Dar win hat-te noch nichts von Ge nen ge wusst So konn te er nicht er klauml ren was sich bi o che misch er eig ne te wenn Ar ten sich ver aumln der ten Der raquoDar wi nis muslaquo der Jahr hun dert wen de gab schlieszlig lich die Hoff nung auf die Evo lu ti on lie szlige sich al lein durch die na tuumlr li-che Se lek ti on der Ar ten nach Maszlig ga be ih rer An pas sungs fauml hig-keit an die Um welt be gruumln den Man ent deck te die Rol le der Ge-ne tik und zum neu en Er klauml rungs prin zip wur de das Mo dell der zwei Kons t ruk teu re Das Spiel des Le bens er hielt ei nen Wuumlr fel zu faumll li ge Ver aumln de run gen im Gen ma te ri al also so ge nann te Mu tashyti o nen Im Tri alshyandshyEr ror-Ver fah ren ent ste hen im Erb gut ge le-gent lich Ab wei chun gen die dann er folg reich sind wenn sie sich in der Um welt be waumlh ren Da mit war die Idee vom Tisch dass sich neu er wor be ne Ei gen schaf ten oder raquodie ana to mi schen Aus-wir kun gen koumlr per li cher An stren gun genlaquo wie La marck mein te ver er ben koumlnn ten Noch Dar win hat te dies fuumlr denk bar ge hal ten So ver trau te er Er zaumlh lun gen wo nach bei je nen Volks grup pen zu de ren Ri ten die re gel mauml szligi ge Be schnei dung der Pe nis vor haut ge houmlrt sich die Vor haut all maumlh lich ver kuumlrz te Das haumlt te zwar die Be schnei dung uumlber fuumls sig ge macht aber Dar win hat te ge ra-de an de res Ge wich ti ges zu be den ken als da ruuml ber nach zu sin nen

Die Ver kuumlr zung der Vor haut blieb im Wis sens schatz der Dar wi nis ten bis Au gust Weis mann (1834 ndash 1914) im spauml ten 19 Jahr hun dert nach wies dass ein sol cher In for ma ti ons fuss vom aumlu szlige ren Er schei nungs bild zum Erb ma te ri al nicht moumlg lich sei Uumlber fuumlnf Ge ne ra ti o nen kuumlrz te Weis mann ei nem Stamm von Maumlu sen ihre Schwaumln ze ohne dass eine Nach richt uumlber die sen Ein griff die Keim bah nen der Maumlu se er reich te Denn sie he da Auch die Schwaumln ze der nach fol gen den Maumlu se ge ne ra ti o nen blie-ben gleich lang Da be durf te es schon der Spitz fin dig keit des iri schen Dich ters George Bern ard Shaw (1856 ndash 1950) der Weis-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 419783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 41 10082021 10493410082021 104934

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manns schnei den de Wi der le gung der La marckrsquo schen The o rie leicht fer tig vom Se zier tisch wisch te Die Maumlu se be merk te der Dich ter haumlt ten gar kei ne An stren gun gen un ter nom men ihre Schwaumln ze zu ver lie ren waumlh rend sich die Tie re bei La marck ja da rum be muumlht haumlt ten sich zu ver aumln dern

Im Nach hi n ein also war es der pauml da go gi sche Op ti mis mus der La marck in die Irre ge fuumlhrt ha ben soll te So mach te die Hoff-nung auf ei nen ethisch an spre chen den E vo lu ti ons ver lauf ndash die Er war tung die Mensch heit ent wick le sich qua An pas sung an das so zi a le Mi li eu durch Selbst er zie hung zum Bes se ren ndash nur noch eine et was ab sei ti ge Kar ri e re im staats so zi a lis ti schen Bi o lo gie-un ter richt der Sow jet u ni on Wie kalt da ge gen der uumlber le ge ne raquoKampf ums Da seinlaquo der ja ein Kampf um die Fleisch toumlp fe ist ohne Hoff nung der Mensch wer de den kuumlh nen Geist statt sei-nes ma te ri a lis ti schen Gier hal ses nach Houml he rem stre cken Und ein zig die Kir che be wahr te un ver dros sen ei nen la marc kis ti schen Ge dan ken ndash al ler dings ei nen pes si mis ti schen und kei nen op ti-mis ti schen In bes ter Schuumlt zen hil fe fuumlr den fran zouml si schen Che-va li er ver tei digt sie bis heu te ihr mo le ku lar ge ne tisch be denk li-ches Dog ma Adams Un ge hor sam im Gar ten Eden habe zu ei ner raquoErb suumln delaquo ge fuumlhrt die da rauf hin auf alle zu kuumlnf ti gen Ge ne ra-ti o nen uumlber ge gan gen sei

Im mer hin sind in den bei den letz ten Jahr zehn ten ei ni ge Bi o-lo gen wie der et was of fe ner da fuumlr ge wor den der Ver er bung er-wor be ner Ei gen schaf ten ei nen Platz in der Ge ne tik zu las sen Zwar ver er ben sich psy chi sche und phy si sche Le bens er fah run-gen nicht durch ver aumln der te Gene Aber es koumlnn te doch sein dass jene Schal ter die da ruuml ber be stim men wel che ge ne ti sche In for-ma ti on wei ter ge ge ben wird und wel che nicht durch Um welt-ein fuumls se ver aumln dert wer den Uumlber le gun gen wie die se be schaumlf ti-gen so ge nann te Epi gen eti ker seit ei ni ger Zeit sie ha ben ei nen wach sen den Ein fuss auf un se re Vor stel lung von der Evo lu ti on

Die heu ti ge Leit dis zip lin die uns die Ver wandt schaft des Le-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 429783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 42 10082021 10493410082021 104934

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bens ent schluumls seln soll ist die Ge ne tik Wir un ter su chen die Sum-me al ler ge ne ti schen In for ma ti o nen und re gist rie ren da bei Uumlber-ein stim mun gen und Ab wei chun gen mit an de ren Ar ten Doch der Pro zess die Na tur un se rer Na tur zu er ken nen ist noch lan ge nicht ab ge schlos sen und wird wohl auch nie ab ge schlos sen sein Wir wen den Ord nungs sche ma ta auf The o ri en und The o ri en auf Be ob ach tun gen an Nur so kom men wir zu Kau sa li tauml ten und Ge-set zen Doch ihre Be deu tung ver aumln dert sich in dem Maszlige wie wir den Blick punkt un se rer Auf merk sam keit wie der ver la gern Die ser Vor gang des Ent dec kens und des Ver de ckens durch neue Denk sche ma ta ist prin zi pi ell nicht ab schlieszlig bar denn selbst ge-gen waumlr ti ge Evo lu ti ons the o ri en un ter lie gen wei ter hin der Evo-lu ti on

Er staun li cher wei se hat die mo der ne Evo lu ti ons the o rie nur zu ei ner ge ring fuuml gi gen Kor rek tur al ter Denk sche ma ta ge fuumlhrt Wie fruuml her in der Na tur ge schich te er ken nen wir heu te in der Bi o lo gie uumlber all Re gel haf tigk eit Not wen dig keit und Vor tei-le Doch bei nauml he rer Sicht er weist sich die Evo lu ti on ge ra de zu als Herr schafts ge biet der Aus nah men uumlber die Re geln Sie ist eine raquoZweck mauml szligig keit ohne Zwecklaquo wenn auch al lein fuumlr die 01 Pro zent der heu te noch ndash oder ge ra de ndash exis tie ren den Spe-zi es nicht aber fuumlr die 999 Pro zent die in den Ur fu ten dem Ord ovizium dem Perm der Krei de oder dem Ter ti aumlr das Welt-li che seg ne ten E vo lu ti ons bi o lo gen su chen in der Ge schich te der Na tur uumlber all nach Vor tei len die das Uumlber le ben von Ar ten er-klauml ren sol len Da bei ver men gen sie oft zwei ver schie de ne Vor-teils be grif fe Ein mal geht es um Mu ta ti o nen die si tu a tiv vor teil-haf te Ei gen schaf ten fuumlr eine Tier art her vor ge bracht ha ben sol len Eine grouml szlige re Sta tur ein pom pouml se res Ge weih ein staumlr ke res Ge biss sol len Weib chen be ein dru cken und die Nach kom men schaft er-houml hen Da die se Ei gen schaf ten aber oft nichts nuumlt zen wenn der Zu fall die Spiel re geln der Um welt aumln dert gibt es ei nen zwei ten Vor teils be griff Da nach ist das vor teil haft in der Evo lu ti on was

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 439783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 43 10082021 10493410082021 104934

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vom Ende her be trach tet dazu ge fuumlhrt hat dass eine Art uumlber-lebt Nach die ser Sicht wei se kann der mick rigs te Pa vi an auf dem Fel sen sei ne Gene wei ter ge ben wenn die staumlr ke ren Kon kur ren-ten bei ei nem Erd be ben ums Le ben ge kom men sind

An ge sichts zwei er so un ter schied li cher Be deu tun gen von raquoVor teillaquo fragt es sich ob der Be griff in der Evo lu ti ons the o rie uumlber haupt sinn voll ver wen det wer den kann Tat saumlch lich ist er ein Erbe der The o lo gie des 17 und 18 Jahr hun derts die uumlber-all in der Na tur nach der klu gen Ver nunft Got tes such te Dar win kann te die se Tra di ti on gut Als Stu dent ver ehr te er den The o lo-gen Will iam Pa ley (1743 ndash 1805) der na tur kund lich be schla gen die goumltt li che Vo raus sicht auf den neu es ten Stand ge bracht hat te Als Dar win sich von Gott ver ab schie de te und die na tuumlr li che Se-lek ti on er kann te er setz te er uumlber all wo Pa ley raquoGod doeslaquo ge-schrie ben hat te den Satz durch raquoNat ure doeslaquo An Pa leys Vor-stel lung dass die Na tur zweck mauml szligig ein ge rich tet sei und Vor tei le be loh ne hielt Dar win eben so fest wie vie le spauml te re E vo lu ti ons-the o re ti ker

Die Fra ge ist des halb wich tig weil sie zeigt wie eng un se re Vor stel lung von der Na tur bis hi nein in die mo der ne Evo lu ti-ons the o rie von sehr mensch li chen Vor stel lun gen durch setzt ist Statt Vor tei le zu be nen nen wuumlr de es naumlm lich auch aus rei chen zu sa gen dass al les in der Na tur uumlber le ben kann das fuumlr eine Art kei nen toumld li chen Nach teil hat te Ver mut lich uumlber lebt in der Evo lu ti on nicht nur Zweck mauml szligi ges son dern jede Ver aumln de rung die zu min dest nicht zum Aus ster ben fuumlhr t und moumlg li cher wei se liegt ge ra de hie rin der Grund fuumlr eine gro szlige Ar ten viel falt

Die tra di ti o nell ver eng te Sicht wei se gilt ins be son de re bei der Be trach tung des Men schen E vo lu ti ons bi o lo gen koumln nen zahl-rei che Vor tei le be nen nen die er klauml ren wa rum die mensch li che Art so er folg reich ist Men schen sind aumlu szligerst an pas sungs fauml hig und be sie deln fast alle Le bens raumlu me sie sind Al les fres ser mit ei ner gro szligen Nah rungs band brei te sie ha ben eine fe xib le So zi-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 449783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 44 10082021 10493410082021 104934

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al struk tur und ver fuuml gen uumlber ein Selbst be wusst sein das es ih-nen er moumlg licht ihr Ver hal ten zu kor ri gie ren So ge se hen ist der Mensch gleich sam das op ti mal ste al ler Tie re Doch alldem zum Trotz exis tie ren Men schen der Gat tung Homo sap iens erst seit rund 100 000 Jah ren und ihre lang fris ti gen Zu kunfts chan cen ste hen schlecht Denn mit all den vor teil haf ten Ei gen schaf ten ha-ben Men schen in Re kord zeit ihre Um welt zer stoumlrt und das lang-fris ti ge Uumlber le ben der Spe zi es dra ma tisch in fra ge ge stellt Die mit we ni ger spek ta ku lauml ren Vor tei len aus ge stat te ten Di no sau ri-er exis tier ten auf un se rem Pla ne ten hun dert fuumlnf zig Mil li o nen Jah re ganz zu schwei gen von den seit uumlber vier hun dert Mil li o-nen Jah ren na he zu un ver aumln der ten Nau til iden und Ur schne cken

Ge si chert in der Evo lu ti ons the o rie ist dass kei ne ih rer An nah-men ge si chert ist E vo lu ti ons bi o lo gen die ihre Sa che ernst neh-men muumls sen im mer auch die E vo lu ti ons be dingt heit ih res ei ge-nen Er kennt nis ap pa rats ref ek tie ren also mit hin die Evo lu ti on al ler mensch li chen Er kennt nis raquoLetzt lich istlaquo wie der Neuro bio-lo ge Ger hard Roth schreibt raquoje des Nach den ken uumlber die ob jek-ti ve Re a li taumlt sei es wis sen schaft lich oder nicht an die Be din gun-gen mensch li chen Den kens Spre chens und Han delns ge bun den und muss sich da rin be waumlh renlaquo9

Man muss ref ek tie ren dass die un ver meid li chen Ord nungs-mit tel des Geis tes das Den ken und die Spra che nicht die Wirk-lich keit raquoan sichlaquo auf raumlu men Sie sind Mo del le die die un ver-fuumlg ba re Wirk lich keit nach Maszlig ga be der ei ge nen Spiel re geln er klauml ren Nicht erst seit Er for schung der Evo lu ti on in den letz-ten zwei hun dert Jah ren muumlht sich der mensch li che Geist dem Lauf der Welt ei nen ndash nach mensch li chem Er mes sen ndash raquover nuumlnf-ti genlaquo Sinn zu ge ben Doch das Pa ra do xe der Ge schich te liegt da rin dass der mensch li che Geist selbst Pro dukt evo lu ti o nauml rer Pro zes se ist Er ist Maszlig stab und Ge mes se nes zu gleich

An eine tat saumlch lich ob jek ti ve Er kennt nis der Evo lu ti on waumlre nur halb wegs sinn voll zu den ken wenn die Evo lu ti on des Men-9

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 459783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 45 10082021 10493410082021 104934

schen ab ge schlos sen ist und da mit die Stu fe der groumlszligt moumlg li chen Voll kom men heit er reicht hat In den Zei ten vor La marck und Dar win ha ben das nicht nur The o lo gen son dern auch die Na tur-for scher fast al le samt ge glaubt Das mensch li che Be wusst sein sei die un uuml ber trof fe ne Spit zen leis tung des Schoumlp fer got tes ge schaf-fen die Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Sei nen schoumlns-ten Aus druck fand die se Sicht in ei nem Aus spruch des jun gen Phi lo so phen Fried rich Wil helm Jo seph Schel ling (1775 ndash 1854) Er mein te dass der Mensch je nes We sen sei raquoin dem die Na tur das Auge auf schlaumlgtlaquo und sich da mit ih rer selbst be wusst wird Ein huumlb scher Satz aber doch viel zu pa the tisch for mu liert Von der vol len Er kennt nis der Na tur und un se rer selbst sind wir noch im mer weit ent fernt Aber wir koumln nen da ruuml ber stau nen dass die Evo lu ti on mit uns ein Le be we sen her vor ge bracht hat in dem die Na tur sich fuumlr sich selbst fa szi nier bar ge macht hat Wie hat te es dazu kom men koumln nen

bull Der Pri mat Was ist ein Mensch

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 469783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 46 10082021 10493410082021 104934

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ver waist sein Die Mensch heit wird er wacht sein und die Welt je-nes Ge sicht er hal ten ha ben das uns ge gen waumlr tig er scheint Doch wie sah das aus als die Na tur das ers te Mal in ei nem af fen aumlhn-li chen We sen die Au gen auf schlug War es auf ei ner Wald wie-se in ei nem Hain an ei nem Berg hang oder auf ei ner Lich tung War das er leuch te te We sen ein Maumlnn chen oder ein Weib chen Ging es den gan zen Tag auf recht oder saszlig es noch ger ne in der Ho cke eng ge kau ert an sei ne Bruuml der und Schwes tern Und war es eine Ein ge bung ein Blitz schlag als das Selbst be wusst sein das ers te Mal die Fes seln des Pri ma ten ge hirns spreng te

Wir wis sen nicht wo ran Schel ling dach te als er mein te die Na tur habe im Men schen ihr Auge auf ge schla gen Si cher dach te er nicht an ei nen ein zi gen Mo ment dem Mil li o nen an de re folg-ten Er dach te an den raquoMen schen an sichlaquo Und er wuss te nichts vom ost af ri ka ni schen Great Rift Val ley und von haa ri gen Vor-men schen die dort einst haus ten Er leb te in Jena und in Muumln-chen und ei nen Men schen af fen hat te Schel ling nie ge se hen Der ein zig ar ti ge Mo ment in dem die Na tur sich ih rer selbst be wusst wird bleibt eine Me ta pher

Doch wie wur de der Mensch nun tat saumlch lich zum Men-schen Die For mu lie rung ist dop pel deu tig Denn wie der Mensch zum Men schen wur de ndash das ist nicht ein evo lu ti o nauml rer Pro-zess auf der lee ren Welt buumlh ne son dern ein Spiel von Be ob ach-ter und Be ob ach te tem Schau spie ler und Zu schau er Ge schich-te auch Ent wick lungs ge schich te ist nichts Vor ge fun de nes Der Mensch schrieb der fran zouml si sche Phi lo soph JeanshyPaul Sart re (1905 ndash 1980) macht sich selbst wie der Ro man schrift stel ler sei ne Fi gu ren Er ist ge fer tigt aus bi o lo gi schen (ana to mi schen neu ro lo gi schen und phy si o lo gi schen) Be stand tei len zu al ler meist je doch durch jene we nig bi o lo gi schen Weis hei ten mit de nen sich die se Subs tan zen selbst zum raquoMen schenlaquo er ko ren

Das Glei che gilt fuumlr die mensch li che Stam mes ge schich te Auch sie ist zu naumlchst ein mal eine Ge schich te Ihre Ur spruumln ge lie gen im

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al ten Grie chen land als Aris to te les den Men schen und den Af-fen ver wandt schaft lich na he ruumlckt raquoMan che Tie re ste hen zwi-schen Mensch und Vier fuumlszlig ler in ih rem We sen wie Af fen Meer-kat zen und Pa vi a ne hellip Ihr Ge sicht hat vie le Aumlhn lich kei ten mit dem des Men schen Nase und Oh ren glei chen den sei nen und Zaumlh ne hat er auch wie ein Mensch die Vor der zaumlh ne wie die Ba cken zaumlhnelaquo10 Auch Aris to te lesrsquo Schuuml ler The oph rast (ca 370 v Chr ndash ca 288 v Chr) be steht auf der Aumlhn lich keit zwi schen Men schen und Tie ren Er lehnt es so gar ab Fleisch zu es sen oder Tie re zu op fern da man sei ne Ver wand ten nicht ver spei se

Aris to te les und The oph rast stell ten den Men schen zwar ne-ben den Af fen ndash Men schen af fen kann te man noch nicht ndash aber die al ten Grie chen hat ten ihn nur sehr un ge faumlhr zu ei nem Tier un ter Tie ren er klaumlrt Den naumlchs ten Schritt mach te mehr als zwei-tau send Jah re spauml ter Carl von Linneacute An der Zu ge houml rig keit des Men schen zu den Saumlu ge tie ren be stand fuumlr den Schwe den kein Zwei fel die Be haa rung und das Stil len der Jun gen be lehr ten un-miss ver staumlnd lich da ruuml ber Auch die Ver wandt schaft mit Af fen und Men schen af fen stand au szliger Fra ge Hier wa ren es die fa chen Fin ger- und Fuszlig nauml gel statt der Klau en der ab ge spreiz te Dau-men die Greif haumln de die zwei Zit zen der Weib chen und der frei he run ter haumln gen de statt am Un ter leib an lie gen de Pe nis ndash Merk-ma le die groumlszlig ten teils auch schon Aris to te les auf ge fal len wa ren

Doch Linneacute zouml ger te vor der Kon se quenz Haumln de rin gend such-te der got tes fuumlrch ti ge Ana tom nach ei nem Un ter schied zwi schen dem Men schen und den uumlb ri gen von ihm so ge nann ten raquoPri ma-tenlaquo raquoIch ver lan gelaquo schrieb er 1747 sei nem deut schen Freund Jo hann Ge org Gme lin raquovon Ih nen und von der gan zen Welt dass Sie mir ein Gat tungs merk mal zei gen hellip auf grund des sen man zwi schen Mensch und Affe un ter schei den kann Ich weiszlig selbst mit aumlu szligers ter Ge wiss heit von kei nemlaquo11

Nach sei nen Kri te ri en haumlt te Linneacute den Men schen zu min dest mit dem Schim pan sen ge mein sam in die sel be Gat tung ein ord-10

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9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 499783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 49 10082021 10493510082021 104935

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nen muumls sen Der Ge dan ke schweb te zeit gleich auch dem Phi lo so-phen JeanshyJacques Rous seau (1712 ndash 1778) vor als er Schim pan-sen Orang-Ut ans und Men schen so gar als Ver tre ter der Spe zi es Mensch an sah Rous seau hat te nie ei nen Men schen af fen ge se-hen Aber die Be rich te die er von Ex pe di ti o nen nach Af ri ka und Suumld ost a si en las lie szligen in ihm kei nen Zwei fel dass die da rin be schrie be nen Men schen af fen raquowe der Tie re noch Goumlt ter son-dern Men schenlaquo sei en12 Fuumlr den Auf klauml rer wa ren Men schen af-fen edle Wil de die von kei ner Zi vi li sa ti on in ih rem fried fer ti gen We sen zer stoumlrt sei en an ders als die Men schen in Eu ro pa Eben-so dach te we nig spauml ter der schot ti sche Sprach for scher James Bur nett Lord Mon boddo (1714 ndash 1799) Auch er be trach te te den Orang-Utan als ei nen Men schen naumlm lich als ei nen raquosprach-losen Wil denlaquo

In ter pre ta ti o nen wie Rous seau sie in Pa ris und Bur nett bald da rauf in Kin card ines hire wag ten wa ren Linneacute im schwe di schen Upp sa la fremd Den Men schen ins Tier reich ein zu ord nen war in den Au gen der stren gen pro tes tan ti schen Kir che Suumln de ge nug und Linneacute zouml ger te den letz ten Schritt zu tun In sei ner Not sor-tier te er 1758 ach sel zu ckend Mensch und Schim pan se in un ter-schied li che Gat tun gen zu sam men ge fasst in der Ord nung der Pri ma ten in der sie auch heu te noch mehr schlecht als recht huumlbsch ge trennt ne ben ei nan der ho cken Homo sap iens der raquoin-tel ligi ble Menschlaquo und Pan trog lody tes der raquohoumlh len be woh nen-de Faunlaquo

So weit so schoumln Der Mensch wur de der obers te Pri mat das houmlchs te raquoHer ren tierlaquo Linneacute be kam kei nen Aumlr ger mit der Kir-che und die Na tur wis sen schaft den gro szligen Wurf des Linneacute rsquoschen Sys tems Wenn nur die se Nach barn nicht wauml ren Seit Be kannt-wer den der Men schen af fen be muumlh ten sich Wis sen schaft ler und The o lo gen im mer wie der um den Ver such den klei nen Gra ben mit gro szligen Was sern zu fuumll len der Homo sap iens und Pan troshyglody tes bei ih rer ord nungs ge mauml szligen Ver ge sell schaf tung auf der 12

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 509783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 50 10082021 10493510082021 104935

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Af fen in sel trennt Sie eva ku ier ten den Men schen vom Pri ma ten-fel sen und schu fen ihm eine ei ge ne Ord nung

In die ser Vor stel lungs welt wuchs auch der The o lo gie stu dent Charles Dar win auf Das fruuml he 19 Jahr hun dert war eine got-tes fuumlrch ti ge bie der mei er li che Zeit Doch je mehr er sich mit der Ver aumln de rung der Ar ten be schaumlf tig te umso deut li cher wur de Dar win dass es mit der of fi zi ell be kun de ten Son der stel lung des Men schen im Uni ver sum nicht weit her sein konn te So no tier te er schon er staun lich fruumlh in sein Ta ge buch raquoDer Mensch haumllt sich in sei ner Ar ro ganz fuumlr ein groszlig ar ti ges Werk des be son de ren Ein grei fens ei ner Gott heit wuumlr dig Es duumlrf te be schei de ner und wie ich glau be auch rich tig sein ihn als aus den Tie ren ent stan-den an zu se henlaquo13

Dar win hat te den noch zwoumllf Jah re ge zouml gert bis er sich schlieszlig lich ge trau te nach der all ge mei nen Dar stel lung ei ner Evo-lu ti ons the o rie im Jahr 1859 sei ne Schluss fol ge run gen in Be zug auf den Men schen in Druck zu ge ben Die Ab stam mung des Men schen aus dem Jahr 1871 ist ein ge maumlch li ches Buch in ver-soumlhn li chem Ton fall Der Na tur for scher er zaumlhlt da rin wie ein gu-ter al ter Groszlig va ter wo her die Pfan zen die Tie re und die Eng-laumln der kom men Die raquoAb wer tunglaquo des Men schen geht da bei ein her mit ei ner kon ti nu ier li chen raquoAuf wer tunglaquo der Tie re raquoWir ha ben ge se henlaquo schreibt Dar win raquodass die Emp fin dun gen und Ein druuml cke die ver schie de nen Er re gun gen und Fauml hig kei ten wie Lie be Ge daumlcht nis Auf merk sam keit Neu gier de Nach ah mung Ver stand usw de ren sich der Mensch ruumlhmt in ei nem be gin nen-den oder zu wei len selbst in ei nem gut ent wi ckel ten Zu stand bei den nie de ren Tie ren ge fun den wer denlaquo14

La marck und Dar win wa ren die Ers ten die mit Mit teln der mo der nen Na tur wis sen schaft be haup te ten was vie le Kul tu ren und Zei ten schon zu vor re li gi oumls ge ahnt hat ten raquoNa tuumlr lichlaquo ist es ab surd eine Tei lung des Tier reichs in zwei Ka te go ri en vor zu-neh men ndash in eine mensch li che und eine nicht mensch li che Ka-13

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9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 519783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 51 10082021 10493510082021 104935

Page 5: Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen · Leseprobe Professor Dr. Richard David Precht Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen »Fazit:

Fuumlr Paul und Ha gen El vi ra Ast erix amp Kriem hild die di cke Nol pa Frank-Wal ter amp An ge la

und all die an de ren die un ter mei nen un sach kun di gen Haumln den leb ten und

hof fent lich we nig ha ben lei den muumls sen Und na tuumlr lich fuumlr Ar tus

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 59783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 5 10082021 10493310082021 104933

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In halt

Vor wort 11

Ein lei tung 17

Das Men schen tierDie Ord nung der Schoumlp fung

Wie mensch lich ist die Evo lu ti on 29

Der Pri matWas ist ein Mensch 47

Der auf rech te AffeWas macht den Men schen zum Men schen 60

Sinn und Sinn lich keitWas trennt Mensch und Affe 78

Eins Kom ma sechs Pro zentSind Men schen af fen Men schen 96

Die Tuuml cke des Sub jektsUumlber die Schwierigkeit Tie re zu den ken 110

Das Tier im Auge des Men schenDie Tund ra des Ge wis sens

Wie die Re li gi on un se re Na bel schnur kapp te 127

raquoIch habe kein Tier miss han deltlaquoDas Tier im Al ten Aumlgyp ten 138

Hir ten und Herr scherDas Tier im al ten Ju den tum 153

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 79783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 7 10082021 10493310082021 104933

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Das ver lo re ne Pa ra diesDas Tier in der An ti ke 168

raquoKuumlm mert sich Gott etwa um die Och senlaquoDas Tier in Chris ten tum und Is lam 182

Schein hei li ge KuumlheDas Tier bei Hin dus und Bud dhis ten 198

Die Den ker und das lie be ViehDas Tier im Ba rock und in der Auf klauml rung 213

raquoKoumln nen sie lei denlaquoDie Ruumlck kehr des Mit leids 228

Eine neue Tier ethikDas ei ser ne Tor

Wege zu ei ner modernen Tier ethik 249

Schutz oder RechtDie Ethik der Be frei ung 267

Eine art ge rech te Mo ralMen schen ndash Tie re ndash Ethik 280

Gut bes ser am bes tenDie Ethik des Nicht wis sens 296

Was tunLie ben ndash Has sen ndash Es sen

Un ser all taumlg li ches Cha os im Um gang mit Tie ren 313

Ein kur zer Text uumlber das Touml tenDas Tier und das Ge setz 326

Na tur schutz oder Lust mordDuumlr fen wir Tie re ja gen 343

Jen seits von Wurst und KaumlseDuumlr fen wir Tie re es sen 361

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 89783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 8 10082021 10493310082021 104933

Das Tier als Dum mySind Tier ver su che le gi tim 380

Al cat raz oder Psycho topVom Nut zen und Nach teil der Tier gaumlr ten fuumlr das Tier le ben 399

Das Zeit al ter der Ein sam keitDie Ethik der Be wah rung 416

Das un ver soumlhn li che Tri um vi ratTier schutz Tier recht und Ar ten schutz 432

Scho pen hau ers Trep peDie Prag ma tik des Nicht wis sens 450

An hangAn mer kun gen 465

Aus ge waumlhl te Li te ra tur 475

Dank 499

Per so nen re gis ter 501

Zitatnach weis 509

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Meer schwein chen be ka men Ko li ken die Ei dech sen leb ten nicht lan ge und die Fi sche haus ten in viel zu vie len Ar ten in ei nem viel zu klei nen Aqua ri um Mei ne Fas zi na ti on paar te sich mit ei-nem schlech ten Ge wis sen Sie um schlan gen ei nan der sehr eng und wa ren sel ten zu tren nen

Ich wur de kein Zoo di rek tor Der schlech te Bi o lo gie un ter richt in der Schu le zer stoumlr te mir mei nen Traum Viel leicht war es auch gut so Der fruuml he re Koumll ner Zoo di rek tor Gun ther No gge sag te zu mir raquoSei en Sie froh dass Sie es nicht ge wor den sindlaquo So er hielt ich mir mei ne Fas zi na ti on fuumlr Tie re aber auch mein schlech tes Ge wis sen

Bei des war noch wach als in der Mit te der Neun zi ger jah re der BSE-Skan dal und gleich da rauf das Klon schaf Dolly die Be-voumll ke rung auf schreck ten Ich schrieb ei nen Es say uumlber Tier ethik und ein Dos si er uumlber Zo o lo gi sche Gaumlr ten fuumlr Die Zeit die Poe sie des Her zens die nur das Bes te fuumlr alle Tie re woll te hier die Pro-sa der Ver haumllt nis se ei nes bar ba ri schen und prob le ma ti schen Um-gangs mit dem Tier in der Ge sell schaft dort

Im Feb ru ar 1997 ver schlug mich der Zu fall nach Braun-schweig zu ei nem Kon gress uumlber raquoTie re ndash Rech te ndash Ethiklaquo Fuumlr mich war es eine Art in tel lek tu el les Wood stock ei ner neu en Be-we gung Men schen aus dem gan zen Bun des ge biet wa ren an ge-reist und auch die Braun schwei ger Be voumll ke rung nahm sehr re-gen An teil Ich lern te Ma nu e la Lin ne mann ken nen die Ge hei me Rauml tin der Tier rechts be we gung die den Kon gress glaumln zend or ga-ni siert hat te Der Schrift stel ler Hans Woll schlauml ger pre dig te in der St-And re as-Kir che ful mi nan te Wor te uumlber den Pa ra dies gar ten und die ab truumln ni ge Mensch heit Der sym pa thi sche Schwei zer Phi lo soph Jean-Claude Wolf ge houmlr te be reits zu den ver sier te ren Den kern auf die sem Ge biet der Phi lo soph Mi cha el Haus kel ler eben so jung wie ich noch zu den Neu e ren Mit dem Bi o lo gen und Phi lo so phen Hans Wer ner In gen siep ei nem der span nends-ten Den ker die mir je be geg net sind und sei ner Le bens ge faumlhr-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 129783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 12 10082021 10493310082021 104933

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tin der Theo lo gin Hei ke Bar anzke ver bin det mich seit dem eine lan ge Freund schaft Auch die Front kaumlmp fer fehl ten nicht Die Tier rechts or ga ni sa ti on Ani mal Peace er leb te ge ra de ei nen Boom an Spen dern und der Tier recht ler Hel mut Kap lan be feu er te die Ak ti vis ten mit ra di ka len Schrif ten und kuumlh nen Spruuml chen

Die Ge dan ken die wir in Vor trauml gen und Ge sprauml chen ver kuumln-de ten dis ku tier ten und uumlber dach ten hat ten da mals noch et was sehr Neu es Zwar hat te der aust ra li sche Phi lo soph Pe ter Sin ger be reits 1975 sein be ruumlhm tes Buch uumlber Die Be frei ung der Tie re ge schrie ben Aber eine Tier rechts be we gung ent stand an ders als in Eng land und den USA in Deutsch land erst lang sam in den spauml ten Acht zi ger jah ren Nun in der Mit te der Neun zi ger jah re war das The ma end lich ge sell schaft lich re le vant ge wor den Koumln-nen wir un se ren all taumlg li chen Um gang mit Tie ren wei ter hin mo-ra lisch recht fer ti gen Die Mas sen me di en grif fen das The ma auf Der Jour na list Man fred Kar re mann dreh te Fil me uumlber Mas sen-tier hal tung Schlacht haumlu ser und Tier trans por te und brach te das Elend der Tie re da mit in die deut schen Wohn zim mer Die in zwi-schen ein ge stell te Zei tung Die Wo che nahm da ge gen den ra di-ka len Fluuml gel der Be we gung ins Vi sier Sie be rich te te uumlber an ge-saumlg te Hoch sit ze ein ge schla ge ne Schau fens ter von Metz ge rei en und warn te auf ei ner Dop pel sei te vor raquoTier schutz ter ro ris muslaquo

In die sem Kli ma er schien im Herbst 1997 mein Buch No ahs Erbe Sei ne Zu stim mung und Ab leh nung ver lief wie ich es mir er hofft hat te oft quer zu den etab lier ten Freund-Feind-Li ni en zwi schen Tier schuumlt zern Ar ten schuumlt zern und Tier recht lern Be-dau ert habe ich da bei ei gent lich nur jene Kri ti ken die mir von ei nem pa tho lo gi schen Men schen bild bis hin zu ei ner raquooumlko fa-schis ti schenlaquo Ge sin nung so ziem lich al les un ter stell ten wo von ich selbst in den fins ters ten Win keln mei nes Wir bel tier ge hirns nie mals ge traumlumt hat te

Seit dem ist viel und we nig ge sche hen Seit No vem ber 1999 er-freu en sich die Men schen af fen in Neu see land und wa ren es da-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 139783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 13 10082021 10493310082021 104933

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mals auch nur acht an der Zahl ei nes un an tast ba ren Rechts auf Le ben Der Tier schutz wur de 2002 als Staats ziel im deut schen Grund ge setz ver an kert Die gra vie rend ste Ver aumln de rung aber sind ohne Zwei fel die vie len Men schen die sich feisch los oder ve-gan er naumlh ren Das Wort raquove ganlaquo in den Neun zi gern noch et-was houmlchst Obs ku res das nur von we ni gen selt sam blut lee ren Bio-Vam pi ren be trie ben wur de ist heu te in al ler Mun de Ein vega nes Koch buch er reich te juumlngst eine Mil li o nen auf a ge Und na he zu je der kennt ei nen Vega ner oder haumlu fi ger eine Ve gan erin Nach ei ner Um fra ge des Al len sba cher Ins ti tuts aus dem Jahr 2015 gibt es in Deutsch land in zwi schen 78 Mil li o nen Ve ge ta-rier und 900 000 Vega ner1

In den west li chen In dust rie na ti o nen steigt die Sen si bi li taumlt im Um gang mit Tie ren un auf halt sam an ins be son de re bei jun gen Frau en Doch die se Hal tung hat zu gleich et was sehr Pri va tes Schoumln heit Fit ness Ge sund heit und Tier lie be sind meist auf ei-nen Nah ho ri zont be schraumlnkt Wa ren der Kampf fuumlr Tier rech te und die veg ane Er naumlh rung fruuml her fast un trenn bar mit ei nan der ver bun den ge we sen so hat sich das eine heu te vom an de ren ge-loumlst In West eu ro pa gibt es in zwi schen mehr Mas sen tier hal tung mehr Le ge bat te ri en und mehr in dust ri el les Tier elend als je zu-vor Gut ver steckt vor der Oumlf fent lich keit ar bei tet die se Ma schi-ne rie trotz ge le gent li chen Pro tes ten hef ti ger denn je Noch nie war die Kluft so groszlig die das was Men schen im Um gang mit Tie ren fuumlr rich tig hal ten und das was tat saumlch lich prak ti ziert wird von ei nan der trennt So lan ge wir un se re Er naumlh rung und un ser per soumln li ches Ver haumllt nis zu Tie ren als Pri vat sa che auf fas-sen so lan ge wird die mil li o nen fa che Grau sam keit ge gen Tie re wei ter hin ge sell schaft lich ak zep tiert

In die ser Lage stel len sich man che Fra gen die in No ahs Erbe be han delt wur den an ders und neu Auch vie le Zah len sind wie koumlnn te es auch an ders sein ver al tet In den Wis sen schaf ten wie der Pal aumlo anth ro po lo gie der Prim atolo gie und der Ver hal tens-1

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 149783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 14 10082021 10493310082021 104933

oumlko lo gie ist in den letz ten bei den Jahr zehn ten ei ni ges ge sche-hen das es zu be ruumlck sich ti gen gilt Die his to ri sche For schung uumlber das Ver haumllt nis von Mensch und Tier hat man ches Neue zu ta ge ge foumlr dert eben so in den Re li gi o nen wie in der Phi lo so-phie Die aka de mi sche De bat te uumlber eine an ge mes se ne raquoTier-ethiklaquo hat stark an Fahrt auf ge nom men Und nicht zu letzt hat mei ne ei ge ne Be schaumlf ti gung mit dem We sen und den Spiel re geln mo ra li schen Han delns zu man cher neu en Ein schaumlt zung und Be-wer tung ge fuumlhrt Man ches von dem was Men schen tun oder las sen er scheint mir mit uumlber fuumlnf zig in ei nem an de ren Licht als mit An fang drei szligig hellip

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Be lan ge re gelt eben so wie jene des Maul wurfs das Tier schutz-ge setz Maul wuumlr fe und Schim pan sen sind kei ne Rechts sub jek-te Man darf sie in enge Kauml fi ge ein pfer chen man darf sie mit Elektro schocks fol tern mit toumld li chen Kei men in fi zie ren sie am le ben di gen Leib ver aumlt zen sie ver stuumlm meln und ver gif ten

Das ver nuumlnf ti ge und sitt li che Le ben und das un ver nuumlnf ti ge rohe Le ben tei len die Welt in zwei Herr schafts be rei che Ei ner da von be sitzt ein mo ra li sches Sie gel Der an de re da ge gen ist ein na he zu un be schrie be nes Blatt Fast hun dert sech zig Jah re ist es her dass der bri ti sche Na tur for scher Charles Dar win den ge-mein sa men Ur sprung die fie szligen den Uumlber gaumln ge und zar ten Ver-aumls te lun gen al len Le bens be wies Doch Men schen gel ten we der all tags sprach lich noch recht lich als Tie re Eine alte Ge wohn heit trennt den Men schen von sei nen ani ma li schen Ver wand ten Es ge houmlrt zu den ei gen tuumlm li chen Fol gen der Dar win rsquoschen Wen de dass sie mit ei ni gen klei ne ren Kor rek tu ren das anth ro po zent ri-sche Welt bild un an ge tas tet lieszlig Kaum je mand duumlrf te sich als je-ner Tro cken na sen pri mat in der Ver wandt schaft von Men schen-af fen Meer kat zen und Pa vi a nen se hen als den uns die Zo o lo gie klas si fi ziert Statt des sen de fi nie ren wir uns als Men schen und ge-ben uns alle Muumlhe un se re ani ma li sche Na tur zu ver ges sen und zu ver ber gen

Das Band zu den an de ren Tie ren ha ben wir vor lan ger Zeit zer schnit ten Vor etwa 10 000 Jah ren hat der Mensch ge lernt die Roh stoff re ser ve raquoTierlaquo plan mauml szligig zu zuumlch ten Er haumllt sie von nun an in Form ei nes le ben den Ver sor gungs vor rats zum ei-ge nen Nut zen und From men In den An faumln gen der Tier zucht leg ten man che sess haft ge wor de nen Jauml ger ge stor be ne Hun de in da fuumlr vor ge se he ne Gru ben und be stat te ten so gar Mut ter Kind und Rin der ge mein sam Wel ten klaf fen zwi schen dem ani mis ti-schen Glau ben der ers ten Vieh zuumlch ter und der ma te ri a lis ti schen Mas sen tier hal tung der mo der nen Ge sell schaft Mit dem Ende der Kon kur renz schwand die Not wen dig keit sich mit dem Tier

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als ei nem Le be we sen aus ei nan der zu set zen Heu te nut zen wir die Res sour ce raquoTierlaquo voumll lig frag los fuumlr die An spruuml che des Men schen Das Ge mein sa me von Tier und Mensch trat in den Hin ter grund Zwar leb te das Tier noch im mer in der kul tu rel len Fan ta sie fort als ma gi sche oder fan tas ti sche Ge stalt als Freund Ge faumlhr te oder Be dro hung Doch die Be deu tung in der All tags welt er mat te te auf Schwund stu fen der Na tur wie Schoszlig hund Zier gup py Le ge hen-ne und Zir kus pferd Gren zen los uumlber le gen und un ab haumln gig ge-gen uumlber den Tie ren sei ner Um welt ent wi ckel te sich im mensch-li chen Be wusst sein ein voumll lig ent frem de tes Ver haumllt nis Nicht nur ra di ka le Aus nut zung und Sa dis mus auch falsch ver stan de ne Lie-be De na tu rie rung und un frei wil li ge Quauml le rei be stim men seit her den mensch li chen Um gang mit dem Tier

Bis ins fruuml he Mit tel al ter uumlber wog die Zahl der wil den Tie re die An zahl der Nutz- und Haus tie re die der Mensch in sei nen Dienst ge stellt hat te Doch spauml tes tens mit dem Sie ges zug des Ka pi ta lis mus in West eu ro pa und Nord a me ri ka ver schwan den die Res te der Ehr furcht in die Maumlr chen buuml cher und Zir kus dar-bie tun gen Mo der ne Agrar un ter neh men In dust rie met ro po len Au to bah nen und Hoch span nungs mas ten bil den das Or na ment un se rer Um welt die wir seit meh re ren hun dert Jah ren raquoLand-schaftlaquo nen nen Nir gend wo in der All tags welt ei nes Men schen der west li chen Zi vi li sa ti on be geg net uns das Tier noch als Kon-kur rent nicht bei der Er naumlh rung nicht im Kampf um den Le-bens raum und nicht als Fress feind des sen Zaumlh ne und Klau en ernst haft Furcht er re gen koumlnn ten Das ein zig Be droh li che das heu te bleibt sind aus ge rech net ein paar klei ne Tie re etwa Rat-ten und Maumlu se die letz ten ge faumlhr li chen Fress kon kur ren ten des Men schen Dazu kom men In sek ten Mik ro ben und Vi ren

Das Band zwi schen uns und den an de ren Tie ren wuchs auch nicht da durch wie der zu sam men dass wir die Tie re uumlber die Wis-sen schaft als Ver wand te wie der ent deck ten Seit mehr als zwei-tau send Jah ren sieht sich der Mensch als le gi ti mer Herr scher

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uumlber eine be herrsch ba re Um welt dazu ge schaf fen sie zu nut zen und aus zu beu ten Un se re Evo lu ti on hat sich da bei ra sant be-schleu nigt Laumlngst fin det sie kaum noch in un se rem Koumlr per statt son dern vor al lem in un se rer Tech nik und Kul tur Und schon lan ge dient sie nicht mehr dazu sich der Na tur an zu pas sen Sie dient ei ner im mer wie der neu ge schaf fe nen mensch li chen Kul-tur An pas sung be deu tet heu te sich an den ei ge nen Fort schritt an zu pas sen mit all den be kann ten Fol gen fuumlr un se re Um welt Dra ma ti sche Kli ma wech sel die Zer stouml rung der schuumlt zen den Ozon schicht die Ver step pung wei ter Land stri che auf al len Suumld-kon ti nen ten und die Ver gif tung der Mee re ver nich ten nicht nur die nicht mensch li che Tier welt sie be tref fen mehr und mehr den Men schen selbst

In atem be rau ben dem Tem po be schleu nig te das in dust ri a li sier-te 20 Jahr hun dert die Be herr schung und Aus beu tung der Na-tur und mit ihr die der Tie re Schon in den ver gan ge nen Jahr-tau sen den hat te Homo sap iens den ge sam ten Pla ne ten in Be sitz ge nom men Kein grouml szlige res Wir bel tier be sitzt ein sol ches Ver brei-tungs ge biet be wohnt Wuumls ten Re gen waumll der und Po lar re gi o nen glei cher ma szligen Und kein grouml szlige res Wir bel tier hat sich zu Mil li ar-den ver mehrt Ruumlck sichts lo se Pluumln de rung der Roh stof fe und ein un ge heu res Be voumll ke rungs wachs tum der Spe zi es Homo sap iens schaf fen ei nen erd ge schicht li chen Aus nah me zu stand

Der Mensch be herrscht heu te den Pla ne ten aber of fen sicht-lich nicht sich selbst Es koumlnn te da ran lie gen dass es raquoden Men-schenlaquo gar nicht gibt Statt des sen gibt es mehr als sie ben Mil li-ar den un ter schied li che In di vi du en Und nie mand da von ist fuumlr die Mensch heit zu staumln dig Sie ist eine Ge mein de der an zu ge houml-ren nicht dazu ver pfich tet sich um das Gan ze zu sor gen und zu kuumlm mern

Zu herr schen be deu tet Ord nun gen zu etab lie ren und Re geln da fuumlr auf zu stel len was wich tig ist und un wich tig rich tig oder falsch Jahr hun der te lang sah die Mo ral der abend laumln di schen

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Zivi li sa ti on in der Aus rot tung der Wild tie re und Aus beu tung der Nutz tie re na he zu kein Pro blem Eine kla re Grenz zie hung er-laub te je den Um gang mit dem Tier von der Lie be bis zur Fol ter von der Zucht bis zur Touml tung Das Ar gu ment war schlicht Der Mensch ist eine Son der an fer ti gung Got tes und mit dem Tier ge-ra de mal durch den lo sen Fa den der goumltt li chen Schoumlp fung stat ver bun den So kam in den Wor ten des deutsch-fran zouml si schen The o lo gen und Arz tes Al bert Schweit zer raquodie An sicht auf dass es wert lo ses Le ben gaumlbe des sen Schauml di gung und Ver nich tung nichts auf sich habe Un ter wert lo sem Le ben wer den dann je nach den Um staumln den Ar ten von In sek ten oder pri mi ti ve Voumll ker ver stan denlaquo2 (Eine Kli en tel die sich uumlber dies noch um Frau en er wei tern lie szlige)

Die se Gren ze wur de und wird in der abend laumln di schen Kul-tur ge schich te va ri an ten reich ver tei digt Doch je ge nau er wir sie be trach ten umso selt sa mer er scheint sie uns Denn sie laumlsst sich im mer schlech ter be gruumln den und zwar so wohl phi lo so phisch als auch bi o lo gisch Seit etwa vier zig Jah ren be steht in der Ge-sell schaft eine De bat te die un se ren Um gang mit Tie ren grund-saumltz lich in fra ge stellt Tier e thi ker wie Pe ter Sin ger und sein US-ame ri ka ni scher Phi lo so phen kol le ge Tom Re gan for dern Rech te auch fuumlr Tie re Der Aus schluss der Tie re aus der Ethik sei ein mo ra li scher Skan dal Das Tier heu te mo ra lisch drau szligen vor der Tuumlr zu las sen sei das Erbe ei nes re li gi ouml sen Aber glau bens Da der Mensch kei ne Son der an fer ti gung Got tes sei son dern ein in tel-li gen tes Tier muumlss ten wir die Reich wei te der Mo ral eben so auf die raquoan de ren Tie relaquo aus deh nen Ha ben wir nicht nach und nach ge lernt die Skla ve rei zu aumlch ten und Frau en als gleich be rech tig-te Men schen zu ach ten Und ist es nun nicht an der Zeit neu uumlber Tie re nach zu den ken und sie mo ra lisch an ge mes sen zu be-ur tei len

Doch wie koumlnn te ein sol cher an ge mes se ner Um gang mit den an de ren Tie ren aus se hen Den Men schen als ein Tier un ter an-2

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 219783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 21 10082021 10493410082021 104934

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de ren an zu se hen koumlnn te ja auch be deu ten ihn ab zu wer ten statt die Tie re mo ra lisch erns ter zu neh men Das Un heil des So zi-al dar wi nis mus und der bar ba ri schen Ras sen the o rie ste ht uns mah nend vor Au gen Und was ist uumlber haupt das Kri te ri um da-fuumlr Tie re mo ra lisch zu ach ten Ist es ihre Lei dens fauml hig keit ihr Le bens wil le oder ihre In tel li genz Ha ben klu ge Tie re ein houml he-res Le bens recht als duumlm me re Das Ver haumllt nis des Men schen zu den an de ren Tie ren neu zu be wer ten ist eine gro szlige und schwie-ri ge Auf ga be

Ich moumlch te in die sem Buch ver su chen die se Fra gen neu zu stel len und zu durch den ken Da bei be trach te ich den Men schen als ein be son de res Tier un ter vie len auf an de re Wei se be son de ren Tie ren Ich moumlch te mich nicht da rauf fest le gen den Men schen all ge mein uumlber be stimm te Ei gen schaf ten zu de fi nie ren die ihn ethisch wert voll ma chen sol len Ich moumlch te ihm aber auch nicht im Um kehr schluss alle ge mein hin als raquomensch lichlaquo be zeich ne ten Ei gen schaf ten ab spre chen weil nicht alle Men schen Trauml ger all die ser Ei gen schaf ten sind Viel leicht ist be reits das Su chen nach sol chen ex klu si ven Ei gen schaf ten der fal sche Weg Der Denk-feh ler koumlnn te be reits da rin lie gen ei gen staumln di ge Dis zip li nen wie raquoAnth ro po lo gielaquo oder raquoMo ral phi lo so phielaquo be trei ben zu wol len die eine sol che enge De fi ni ti on des Men schen vo raus set zen Waumlre es nicht bes ser die Enge des Be griffs zu spren gen Statt Anth-ro po lo gie zu be trei ben soll te man sich lie ber mit ei ner Anthroshyzo o lo gie be schaumlf ti gen ndash eine Leh re vom Men schen tier und den an de ren Tie ren

Der Be griff ist neu er wur de erst vor we ni gen Jah ren un ter an de rem von dem US-ame ri ka ni schen Psy cho lo gen Hal Her zog ein ge fuumlhrt3 Die neue Dis zip lin der Hu manshyAni mal Stu dies kon-zent riert sich weit rei chend da rauf was Men schen und an de re Tie re ver bin det Da bei ver wen de ich den Be griff raquoAn thro zo o-lo gielaquo al ler dings et was an ders als Her zog und die Ver tre ter der Hu man-Ani mal Stu dies Es ist ein et was ein touml ni ger Sport al les 3

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 229783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 22 10082021 10493410082021 104934

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was ge mein hin als raquomensch lichlaquo be trach tet wird als My thos zu ent zau bern Ich moumlch te es lie ber an ders ein bet ten und be wer ten Denn ich mei ne dass die Ver tre ter der Hu man-Ani mal Stu dies ihre De fi ni ti on des Men schen als ein Tier un ter Tie ren nicht ganz zu Ende den ken Denn waumlre der Mensch durch nichts Mensch-li ches grund saumltz lich vom Tier un ter schie den wie sie an neh men so lieszlige sich auch nicht ein for dern dass Men schen sich aus vershynuumlnf ti ger Ein sicht an ge mes sen ge gen uumlber Tie ren ver hal ten sol len

Um mensch li ches Han deln zu ver ste hen muumls sen wir ver ste-hen in wel chem Rah men Men schen die Welt se hen sich ori en-tie ren und han deln Die bei den ers ten Tei le des Bu ches skiz zie-ren die sen bi o lo gi schen und den kul tu rel len Rah men In ih nen moumlch te ich zei gen auf wel che Art und Wei se Men schen sich un-ter Tie ren ver hiel ten und ver hal ten Da bei be schaumlf tigt sich der ers te Teil mit der Fra ge was fuumlr ein spe zi el les Tier der Mensch ei gent lich ist Wie ist sei ne Rol le in der Evo lu ti on Und nach wel chen Denk mus tern ha ben Men schen die se Chro nik un se rer selbst seit der An ti ke ge schrie ben (Die Ord nung der Schoumlpshyfung) Wel che Stel lung hat sich Homo sap iens in der Na tur da-durch ge si chert dass er sie sich zu schrieb (Der Pri mat)

In je der mensch li chen Wis sen schaft vom Le ben be steht bis heu te still schwei gend oder laut hals ver kuumln det zwi schen Mensch und Tier eine Gren ze Doch weiszlig we der die E vo lu ti ons bi o lo-gie noch die Pal aumlo anth ro po lo gie mit Ge wiss heit zu sa gen an wel chem Punkt sich nur ani ma li sches von mensch li chem Le ben schei det Was ha ben Pal aumlo anth ro po lo gen in den letz ten hun dert Jah ren da ruuml ber ge glaubt Und was den ken sie heu te (Der aufshyrech te Affe) Da bei wer den wir se hen dass es mit der Gren ze zwi schen dem Men schen und den an de ren Tie ren eine aumlu szligerst komp li zier te Sa che ist Seit Jahr zehn ten mes sen und ver glei chen Ver hal tens for scher die kog ni ti ven Leis tun gen von Tie ren mit je-nen des Men schen mit dem uumlber ra schen den Er geb nis dass Tie re in na he zu al len raquowich ti genlaquo Punk ten un ter le gen sind bei Kul tur-

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leis tun gen wie Werk zeug ge brauch und Re li gi on eben so wie beim Er werb der mensch li chen Spra che Doch ha ben wir bei sol chen Mes sun gen tat saumlch lich den rich ti gen den fai ren Maszlig stab Ist es sinn voll die In tel li genz von Men schen af fen mit uns zu ver glei-chen (Sinn und Sinn lich keit)

Die Mo le ku lar ge ne tik zeigt uns dass Men schen bi o lo gisch Schim pan sen sind Wel che Kon se quen zen zie hen wir da raus (Eins Kom ma sechs Pro zent) Nach dem wir den Men schen auf die se Wei se bi o lo gisch ein ge kreist ha ben wer fen wir noch ei nen Blick da rauf wie ob jek tiv un ser Wis sen vom Men schen und den an de ren Tie ren ist Was koumln nen wir uumlber haupt uumlber das Be wusst-sein an de rer Tie re wis sen Stellt es nicht eine so gro szlige Bar ri e re dar dass wir zu ge ben muumls sen nichts De fi ni ti ves sa gen zu koumln-nen (Die Tuuml cke des Sub jekts)

Im zwei ten Teil wer fe ich ei nen Blick in die Kul tur ge schich te des Mensch-Tier-Ver haumllt nis ses Was ha ben Men schen zu wel cher Zeit uumlber Tie re ge dacht und wa rum Wie hat man sie be han delt Und wel che Sen si bi li taumlt oder Kaumll te setz te sich wa rum durch Was wis sen wir da ruuml ber aus der Jung stein zeit (Die Tund ra des Ge wis sens) Was glaub ten und dach ten die al ten Aumlgyp ter (raquoIch habe kein Tier miss han deltlaquo) Und wa rum ent zau ber te das alte Ju den tum die Tie re (Hir ten und Herr scher)

In der abend laumln di schen Phi lo so phie gibt es seit der An ti ke sehr un ter schied li che Deu tun gen von Tie ren Mal se hen die Den ker eine gro szlige spi ri tu el le oder na tur ge schicht li che Naumlhe mal er he-ben sie den Menschen qua sei ner Ver nunft zum un ein ge schraumlnk-ten Wel ten herr scher (Das ver lo re ne Pa ra dies) In der christ li chen Re li gi on da ge gen wer den Men schen und Tie re deut lich von ei-nan der ge schie den eine Son der an fer ti gung hier eine Drein ga-be dort Das Chris ten tum ent fernt die tier freund li chen Mo men-te der juuml di schen Re li gi on aus den Glau bens leh ren (raquoKuumlm mert sich Gott etwa um die Och senlaquo) An ders ver laumluft der Weg in In di en Chi na und Suumld ost a si en Das Welt bild und die Tier ethik

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 249783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 24 10082021 10493410082021 104934

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von Hin dus und Bud dhis ten un ter schei den sich von der un se-ren (Schein hei li ge Kuumlhe) Im Abend land da ge gen do mi niert in der Nach fol ge des fran zouml si schen Phi lo so phen Reneacute Des car tes eine raquora ti o na lis ti schelaquo kal te Pers pek ti ve auf das Tier Tie re weil sie nicht ver nunft fauml hig sei en wer den kaum noch als Le be we sen wahr ge nom men ndash eine Po si ti on die im 18 Jahr hun dert al ler-dings ziem lich kont ro vers dis ku tiert wird (Die Den ker und das lie be Vieh) Nach und nach ent ste hen im spauml ten 18 Jahr hun dert eine neue Mit leids ethik und so gar ers te For de run gen nach Rech-ten fuumlr Tie re (raquoKoumln nen sie lei denlaquo)

Im drit ten Teil moumlch te ich eine ei ge ne ethi sche Hal tung ent-wi ckeln Zu naumlchst wer den The o ri en von Phi lo so phen des 20 Jahr hun derts vor ge stellt die wie Al bert Schweit zer raquoEhr furcht vor dem Le benlaquo ver lan gen oder Tie ren ei nen ho hen mo ra li schen Sta tus zu spre chen wie Pe ter Sin ger und Tom Re gan (Das ei sershyne Tor) Die se Po si ti o nen zwin gen dazu grund saumltz li cher da ruuml-ber nach zu den ken was das raquoTier rechtlaquo vom raquoTier schutzlaquo un-ter schei den soll (Schutz oder Recht) An schlie szligend moumlch te ich die Schwach stel len der gaumln gi gen Tier rechts phi lo so phi en he raus-ar bei ten und zei gen wa rum ich sie we der dem Men schen fuumlr an-ge mes sen hal te noch fuumlr all ge mein prak ti ka bel (Eine art ge rech te Mo ral) Da ran schlie szligen sich mei ne Uumlber le gun gen an was ein an ge mes se ner Um gang mit Tie ren sein koumlnn te (Gut besser am besten)

Sol cher ma szligen ge ruumls tet koumln nen wir uns im vier ten Teil mit den vie len Prob le men be fas sen die sich im All tag stel len Das ers te die ser Ka pi tel bi lan ziert das all taumlg li che Cha os im Um gang mit Tie ren (Lie ben ndash Has sen ndash Es sen) Da nach wen den wir den Blick auf die recht li che Si tu a ti on und un ter zie hen die Lo gik un-se res Tier schutz ge set zes ei ner ge nau e ren Pruuml fung (Ein kur zer Text uumlber das Touml ten) Das naumlchs te Ka pi tel gilt der Jagd Ist Ja gen art ty pi sches Ver hal ten des Men schen oder eine staat lich le gi ti-mier te Per ver si on (Na tur schutz oder Lust mord) Und wie sieht

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es mit un se rer Er naumlh rung aus Wel che Ar gu men te spre chen da-fuumlr dass Men schen in un se ren heu ti gen west li chen Ge sell schaf-ten noch Tie re touml ten duumlr fen um sich von ih nen zu er naumlh ren Und wel che Ar gu men te spre chen da ge gen Viel leicht gibt es so gar schon in Kuumlr ze ei nen Aus weg der uns end lich hilft die Mas sen-tier hal tung zu be sei ti gen (Jen seits von Wurst und Kaumlse) Eben so stellt sich die Fra ge un ter wel chen Um staumln den Tier ver su che zu-kuumlnf tig er laubt sein soll ten und un ter wel chen nicht (Das Tier als Dum my) Ist es mo ra lisch ver tret bar Tie re in Zo o lo gi schen Gaumlr ten zu hal ten Und wenn ja wel che und wel che nicht (Alshycat raz oder Psycho top) Zoos ver ste hen sich heu te als raquoNa tur-schutz zent renlaquo die Tie re er hal ten die in ih ren Hei mat laumln dern vom Aus ster ben be droht sind Wie ist dies zu be wer ten (Das Zeit al ter der Ein sam keit) Da bei sto szligen wir auf die Schwie rig-keit dass Tier schutz Tier recht und Ar ten schutz kei ne na tuumlr li-chen Ver buumln de ten sind son dern sich in ih rer Phi lo so phie ih rer Welt an schau ung und ih ren Ziel set zun gen stark un ter schei den (Das un ver soumlhn li che Tri um vi rat) Das Schluss wort bi lan ziert die se Er kennt nis se und fragt was wir aus al le dem prag ma tisch fol gern soll ten und in wel chen Schrit ten es ge sche hen koumlnn te (Scho pen hau ers Trep pe)

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Das Men schen tier

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Wahr heit zu hal ten Aber die ses Bild hat sich schon oft ver aumln-dert und es wird sich ge wiss noch wei ter ver aumln dern

Men schen nei gen dazu die Welt in der sie le ben auf zu raumlu-men Es ist eine ziem lich art ty pi sche Ver hal tens wei se Wir sor tie-ren die all taumlg li chen Din ge un se res Le bens und eben so sor tie ren wir die Ge dan ken uumlber die Welt die uns um gibt Jede Ord nung auch die der Na tur ist also ein mensch li cher Ent wurf Und al-lem An schein nach ent stand das Be duumlrf nis die Welt zu ord nen in un se rer Ent wick lungs ge schich te pa ral lel zur Ent wick lung der Spra che Denn ohne die kuumlnst li che Auf raumlum ar beit der Spra che waumlre die Vor stel lung von ei ner raquoOrd nung der Schoumlp funglaquo oder der raquoNa turlaquo nicht moumlg lich

Wer auf die Ord nung an ge wie sen ist be wegt sich gern in den si che ren Gren zen ei nes Sys tems Nur in ner halb ei nes sol chen Ord nungs ge fuuml ges fragt man nach Wahr heit und Gel tung Rich-tig keit Me tho de und Be deu tung Zu leicht uumlber sieht der Ord ner dann die kuumlnst li che Be hau sung und die selbst ge zim mer ten Re-ga le in die er die Welt so sorg faumll tig hi nein sor tiert Sel ten ge lingt ihm ein Blick aus dem Fens ter in die un ge wis se Land schaft die ihn um gibt Und nur ein ge wal ti ger Sturm ein Blitz schlag oder eine Er schuumlt te rung zwingt den Ver wal ter der Welt die si che re Wohn statt zu ver las sen und sich ein an de res Haus zu bau en das den An fein dun gen des neu en Kli mas wi der steht

Erst im Ruumlck blick auf die vie len Irr tuuml mer der Ver gan gen heit er ken nen wir dann un se re ei ge ne Un zu laumlng lich keit beim Auf-raumlu men In der Ge gen wart er scheint uns die je wei li ge Ord nung meis tens so selbst ver staumlnd lich dass wir gern uumlber jede Moumlg-lich keit der Ver aumln de rung lauml cheln So ha ben Men schen mit voumll li-ger Ge wiss heit an ge nom men dass die Erde eine Schei be ist und dass Frau en und Skla ven kei ne Rech te zu ste hen Und mit ei nem eben sol chen Lauml cheln be trach ten wir heu te die Gruumln de mit de-nen Men schen sich im Lau fe der Jahr hun der te von den Tie ren zu un ter schei den glaub ten

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 309783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 30 10082021 10493410082021 104934

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Schon die al ten Grie chen ins be son de re Aris to te les (384 v Chr ndash 322 v Chr) ha ben sich fuumlr die Ge schich te und das in vie len De tails ver bor ge ne Sys tem der Na tur in te res siert Er teilt die Tie re in Klas sen ein ver sucht zu er gruumln den was Le ben ist und schafft da mit die Grund la gen der Zo o lo gie Aber Aris to te-les kennt nur we ni ge hun dert Tie re Eine raquovoll staumln di ge Na tur-ge schich telaquo wird das ers te Mal im 18 Jahr hun dert ge schrie-ben ndash und auch sie ist aumlu szligerst un voll staumln dig Seit dem ver fuuml gen wir nicht nur uumlber ei nen rei chen Vor rat an ge dach ten Ord nun-gen von den Schoumlp fungs my then bis hin zur Mo le ku lar bi o lo gie Wir ken nen auch eine Wis sen schaft die sich raquoTax ono mielaquo nennt und jede Pfan ze und je des Tier sys te ma tisch in eine In ven tar liste der Na tur ein traumlgt

Da bei ver ra ten die Denk sche ma ta der Na tur for scher nicht nur et was uumlber die klas si fi zier te Na tur selbst son dern eben so uumlber das Ord nungs be duumlrf nis und die Pfif fig keit des mensch li-chen Geis tes Das 18 Jahr hun dert ist eine Zeit in der das Buumlr-ger tum an die Macht draumlngt und sich zu neh mend ge gen den Adel auf ehnt Sei ne schaumlrfs te Waf fe ist et was das man raquoVer nunftlaquo oder raquoRa ti o na li taumltlaquo nennt und das man ge gen den Glau ben ins Feld fuumlhrt Fuumlr die Phi lo so phen der Ra ti o na li taumlt ist die Welt kei-ne vor ge fun de ne Schoumlp fung mit fes ter Ord nung son dern et was dass man geis tig durch drin gen und auf sei ne Lo gik und Wi der-spruuml che un ter su chen kann Da bei ge ben zu naumlchst die Phy sik und die Ma the ma tik das Sche ma vor nach dem alle Er kennt nis auch jene von Pfan zen und Tie ren funk ti o nie ren soll Die Sys te ma ti-ker der Na tur ge schich te su chen nach un ver ruumlck ba ren Kri te ri en ob jek ti ven Ge setz mauml szligig kei ten und lo gi schen Ver bin dun gen um die un uuml ber sicht li che Welt der Le be we sen ih rer raquowah ren An ord-nunglaquo ge maumlszlig ein zu tei len Aber nicht alle Na tur for scher glau-ben dass ein sol ches Vor ha ben tat saumlch lich ge lin gen kann Man-che hal ten die Na tur fuumlr zu reich hal tig um sie auf die se Wei se zu klas si fi zie ren Welt an schau un gen tref fen auf ei nan der auf der

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 319783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 31 10082021 10493410082021 104934

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ei nen Sei te der Glau be an ein vom Men schen prin zi pi ell voumll lig durch schau ba res Na tur sys tem auf der an de ren Sei te eine un er-gruumlnd li che Schoumlp fung in der der Mensch sich im mer nur tas-tend fort be wegt

Die ers te Va ri an te gilt im 18 Jahr hun dert als der mo der ne-re An satz Man ori en tiert sich da bei an ei nem Ra ti o na lis mus den Reneacute Des car tes (1596 ndash 1650) schon hun dert Jah re zu vor neu be gruumln det hat Die ser Ra ti o na lis mus ori en tiert sich an der Me cha nik Die Schoumlp fung Got tes er scheint als eine ein zi ge klug aus ge tuumlf tel te Ma schi ne die der Mensch Stuumlck fuumlr Stuumlck zu be-herr schen lernt Und das Uni ver sum be steht aus Ma te rie in Be-we gung or ga ni siert nach ma the ma ti schen Ge set zen Ob gleich das 18 Jahr hun dert zent ra le Spe ku la ti o nen des Phi lo so phen wi-der legt ori en tiert es sich in vie lem an Des car tesrsquo me cha nis ti scher Denk wei se Sie tut dies vor zugs wei se in je nen Dis zip li nen de-ren Er kennt nis fort schritt zu naumlchst ge ring bleibt Und nir gend-wo trifft dies in ei nem sol chen Maszlig zu wie bei der Er for schung der bi o lo gi schen Na tur

Doch die ses Welt bild hat prob le ma ti sche Fol gen Wer die Welt kon se quent nach me cha nis ti schen Grund saumlt zen be trach tet hat fuumlr den Be reich der nicht mensch li chen Na tur we nig Ver staumlnd nis Fuumlr Des car tes sind Tie re nichts als Ma schi nen Es macht kei nen Un ter schied ob eine Ma schi ne die aumlu szlige re Ge stalt und die in ne-ren Or ga ne ei nes Af fen hat oder ob es sich da bei tat saumlch lich um ein le ben des Tier han delt Denn relevantes Le ben kommt fuumlr den Den ker nicht durch zir ku lie ren des Blut und Reizempfindungen in den Koumlrper Son dern bedeutsames Le ben ga ran tie ren ein zig und al lein der er leuch te te Geist und sei ne Spra che

Des car tesrsquo Zeit kennt we der den Be griff des raquoOr ga nis muslaquo die Be son der heit des Le bens noch die Evo lu ti on son dern eben nur die Me cha nik Trotz dem ist sei ne The o rie von den Tie ren als see len lo se Au to ma ten im 17 und 18 Jahr hun dert aumlu szligerst um-strit ten Fran zouml si sche Phi lo so phen schrei ben Buch um Buch uumlber

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 329783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 32 10082021 10493410082021 104934

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die Tier-Fra ge und be feh den sich da bei uumlber mehr als hun dert Jah re Noch weiszlig man nichts von ei ner raquoBi o lo gielaquo Man be treibt eine neue Dis zip lin die sich raquoNa tur ge schich telaquo nennt und da-mit auf raumlumt die Ge schich te von Le be we sen als eine wahl lo se Samm lung von Er zaumlh lun gen an zu se hen Bis her schrie ben Au to-ren um stands los von der Fang wei se der Tie re ih rer Ana to mie ih rer bib li schen und al le go ri schen Be deu tung ih rem prak ti schen Ge brauch ih rer Ver meh rung ih ren Stim men und Spra chen ih-ren Be we gun gen ih rem Al ter und von der Sym pa thie oder An-ti pa thie des Ver fas sers Auch Koch re zep te wur den von Fall zu Fall hin zu ge fuumlgt

Ein zo o lo gi sches Sys tem ist zu An fang des 18 Jahr hun derts weit ge hend un be kannt die Ver wandt schafts ver haumllt nis se der Pfan zen und Tie re sind dif fus ge ahnt und wer den eher nach Le-bens raumlu men be stimmt als nach koumlr per li chen Merk ma len Tie re die nachts ja gen ste hen da bei eben so in ei nem Ord nungs ge fuuml ge wie Tie re die fie gen koumln nen im Wald oder in ei nem See le ben Be reits die Pries ter schrift der bib li schen Ge ne sis hat te die Welt der Tie re und Pfan zen nicht nach ana to mi schen Merk ma len un-ter teilt son dern in Be zug auf den Le bens raum Pfan zen und Tie re des Mee res der Luft und der Erde Uumlber mehr als tau send Jah re kann ten auch der Is lam und die Hin dus Ord nungs sys teme die Tie re in ih rem Oumlko sys tem ver an ker ten

In der hin du is ti schen Samk hya-Tra di ti on exis tie ren vier zehn Klas sen un ter schied li cher Le be we sen ein ge teilt in acht For men himm li scher und sechs ir di scher Le be we sen zu de nen auch der Mensch ge houmlrt Als wei te res Un ter schei dungs merk mal dient die Art und Wei se der Ge burt Im gro szligen in di schen Na ti o nal epos aus dem 4 Jahr hun dert dem Ma hab har ata heiszligt es raquoAuf die ser Erde gibt es zwei Ar ten von Le be we sen die Be weg li chen und die Un be weg li chen Die Be weg li chen ha ben ei nen drei fa chen Schoszlig Sie sind aus dem Ei aus feuch ter Hit ze und Le ben dig-Ge bo re ne Von al len be weg li chen Le be we sen wie de rum sind die je ni gen die

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le ben dig ge bo ren sind hellip die bes ten Die bes ten un ter den le ben-dig Ge bo re nen sind die die zum Men schen ge schlecht ge houml ren und die Nutz tie relaquo4

Die neu en Sys te me des 18 Jahr hun derts be frei en die Na tur-ge schich te von al lem was sich mit den Me tho den der Zeit nicht wis sen schaft lich exakt be schrei ben laumlsst Koch re zep te fal len so-wie so un ter den Tisch aber auch man che Ver hal tens be ob ach-tun gen und vor mals wich ti ge Ei gen schaf ten wie zum Bei spiel der Ge ruch Ge forscht wird mit Lupe und Mik ros kop Li ne al und Pin zet te Der wich tigs te Mann auf die sem Ge biet ist der schwe-di sche Na tur for scher Carl von Linneacute (1707 ndash 1778) Er ori en-tiert sich an Aris to te les den er be wun dert nicht an Des car tes Ge ra de zu re vo lu ti o naumlr de mo kra tisch ent wi ckelt der auf ge klaumlr te Schwe de im 18 Jahr hun dert ein be schrei ben des Sys tem der Na-tur frei vom the o lo gi schen Fir le fanz sei ner Zeit Mit der Ak ri bie ei nes Brief mar ken samm lers dem Voll staumln dig keit mehr be deu tet als das Be stau nen ein zel ner Wer te ord net er die be leb te Na tur nach Ar ten Gat tun gen Ord nun gen und Klas sen Vier Va ri ab len die Form der Ele men te ihre An zahl die raumlum li che An ord nung der Ele men te und ihre re la ti ve Grouml szlige be stimm ten von nun an den Platz im Sys tem

Un ter der Leit dis zip lin der Bo ta nik wan delt sich die Na tur ge-schich te in eine ge ord ne te Welt aus Li ni en und Flauml chen Ent schei-dend sind die sicht ba ren Un ter schei dungs merk ma le wie Bluuml ten und Staub ge fauml szlige Blaumlt ter und Fruumlch te Fuumlszlige und Hufe Fe dern und Flos sen So setzt Linneacute fuumlr jede Pfan zen- und Tier klas se jede Ord nung und Gat tung be stimm te Merk ma le fest die er als die wich ti ge ren er ach te t Denn nur un ter der An nah me sol cher pri vi-le gier ter Struk tu ren ist es ihm moumlg lich die ver schie de nen Spe zi es im Ge samt sys tem un miss ver staumlnd lich zu ras tern Der mensch li che Ord ner be schreibt also nicht ein fach die be leb te Na tur Er fuumlgt ihr auch et was hin zu die Ent schei dung naumlm lich was in der For men-viel falt der Le be we sen wich ti ge Merk ma le sind und was nicht4

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Wie alle da ma li gen Na tur for scher nimmt Linneacute an dass die Ein tei lun gen die der mensch li che Ver stand macht tat saumlch lich ei ner ob jek ti ven Ord nung der Na tur ent spre chen Doch Lin neacutes Sys tem ist wie er selbst weiszlig nicht raquona tuumlr lichlaquo Sei ne Struk tu ren sind kei ne die er in der Na tur als Un ter schei dungs kri te ri en vor-fin det Denn was sich am Schreib tisch nun muumlh sam in Ord nun-gen pres sen laumlsst liegt wie der fran zouml si sche Na tur for scher Mishychel Adan son (1727 ndash 1806) fest stellt in der Wild nis wie Kraut und Ruuml ben durch ei nan der raquohellip eine kon fu se Mi schung aus We-sen hellip die der Zu fall ei nan der an ge nauml hert zu ha ben scheint Hier wird das Gold mit ei nem an de ren Me tall mit ei nem Stein oder mit Erde ge mischt Dort waumlchst die Ei che ne ben dem Veil chen Un ter die sen Pfan zen ir ren eben falls der Vier fuumlszlig ler das Rep til und das In sekt um her Die Fi sche mi schen sich so zu sa gen mit dem waumlss ri gen Ele ment in dem sie schwim men und mit den Pfan zen die auf dem Grun de der Ge waumls ser wach sen hellip Die se Mi schung ist so gar so all ge mein und so viel faumll tig dass sie ei nes der Na tur ge set ze zu sein scheintlaquo5

Der Wi der spruch zwi schen ei ner tax ono mi schen und ei ner oumlko lo gi schen Ord nung der Na tur ist of fen sicht lich Er fin det sich noch heu te in der Dis kus si on um die Aumls the tik von Zoo an la gen Soll man die Tie re nach Ver wandt schafts ver haumllt nis sen sam meln also in Raub tier haumlu sern An ti lo pen haumlu sern und Hirsch an la gen so dass der Be su cher zwi schen den ana to mi schen Be son der hei-ten der Ar ten ndash mit un ter so gar den ge o gra fi schen Va ri an ten ei ner ein zi gen Art ndash zu un ter schei den lernt Oder ge waumlhrt die Nach-ge stal tung ei nes Na tur bi o tops ei ner af ri ka ni schen Sa van ne oder ei nes al pi nen Pa no ra mas den wich ti ge ren Ein blick in die Ord-nung der Na tur

Zwar steht fuumlr Linneacute und sei ne Kol le gen fest dass die raquowah-re Ord nunglaquo der Na tur sich an den koumlr per li chen Merk ma len zu ori en tie ren hat doch muss eine Er klauml rung da fuumlr ge fun den wer-den wa rum die se Ord nung in der frei en Na tur nicht von al lein 5

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 359783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 35 10082021 10493410082021 104934

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sicht bar wird Ohne Zwei fel ist das Sys tem der Na tur kei ne zeit-lo se Schoumlp fung son dern durch Ver aumln de run gen ge kenn zeich net die sich in der Erd ge schich te er eig net ha ben Pa ral lel meh ren sich die Fun de von Fos si li en also von Tie ren die mut maszlig lich aus-ge stor ben sind Es hat al lem An schein nach grouml szlige re ge o lo gi sche Ka tast ro phen in un be kann ter Zahl ge ge ben de nen vie le Ar ten zum Op fer ge fal len sind Doch ha ben die se De sas ter auch zur Ent ste hung von neu en For men ge fuumlhrt

Um den Fak tor der Zeit und sei ne Fol gen fuumlr das Sys tem der Na tur ein zu schaumlt zen gibt es vie le Moumlg lich kei ten Die ein fachs te und mensch lichs te al ler zeit li chen Ord nungs vor stel lun gen ist die Idee al les fol ge ei nem Plan und sei auf ein Ziel hin aus ge rich-tet (Te le o lo gie) Re li gi o nen Phi lo so phi en und Ide o lo gi en funk-ti o nie ren na he zu al le samt ziel ge rich tet Es geht um ein bes se res Le ben auf Er den im Jen seits in ei nem ge rech ten Staat um die Herr schaft uumlber die an de ren uumlber die Pro duk ti ons mit tel oder das Boumlse Selbst un ser All tag ge stal tet sich weit ge hend te le o lo-gisch durch traumlnkt von zu kuumlnf ti ger Er war tung Mo tor jed we-der Te le o lo gie ist der Fort schritts ge dan ke Sein ima gi nauml res Ziel ist der voll kom me ne Zu stand So glau ben christ lich-abend laumln-di sche Ge sell schaf ten gern an eine staumln di ge Ver bes se rung durch An stren gung eine Tu gend die nach cal vi nis ti scher Tra di ti on im Him mel wie auf Er den von Gott ma te ri ell ent lohnt wird Wie na he lie gend also auch in der Na tur die Ent ste hung raquohouml he rerlaquo Le bens for men durch Fort schritt er ken nen zu wol len mit dem End ziel des Men schen

Die Un ord nung der Schoumlp fung mit ei nem goumltt li chen Fort-schritts plan in Ein klang zu brin gen ist das Le bens werk des Schwei zer Na tur for schers und Phi lo so phen Charles Bon net (1720 ndash 1793) Fuumlr Bon net ist die Zahl der Ar ten und ihre aumlu-szlige re Ge stalt von Gott ein fuumlr al le Mal fest ge legt Doch kann sich ein je des Le be we sen per fek ti o nie ren Der Weg vom simp-len Ge muumlt zur ge ni a li schen Leis tung ist vom Schoumlp fer vor ge-

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zeich net Und alle Tie re be schrei ten ihn zeit lich ver setzt nach dem glei chen Mus ter das der Mensch ih nen vor ge lebt hat raquoEs wird ei nen mehr oder we ni ger lang sa men und kon ti nu ier li chen Fort schritt al ler Ar ten zu ei ner houml he ren Ver voll komm nung ge-ben so dass alle Gra de der Stu fen lei ter in ei ner de ter mi nie ren den und kons tan ten Be zie hung fort ge setzt va ri a bel sein wer den hellip Es wird un ter den Af fen Leu te wie New ton und un ter Bi bern wie (den Fes tungs bau meis ter RDP) Vau ban ge ben Die Aus-tern und die Po ly pen wer den in Be zie hung zu den houmlchs ten Ar-ten das sein was die Vouml gel fuumlr die Vier fuumlszlig ler im Ver haumllt nis zum Men schen sindlaquo6

Seit Bon net ist die Vor stel lung von der raquoLei ter der Na turlaquo der Sca la nat urae ein wich ti ges In ven tar des na tur ge schicht-li chen Den kens Fort schritt Ver voll komm nung und goumltt li cher Plan ndash die se drei Grouml szligen be stim men die Vor stel lung vom Wer-den der Na tur vom 18 Jahr hun dert bis in die Ge gen wart hi nein Das Prin zip nach dem die Evo lu ti on Le ben her vor bringt sei un ver meid lich und von An fang an vor her be stimmt Nicht we-ni ge E vo lu ti ons the o re ti ker ha ben dies eben falls ge glaubt und zwar mit be acht li cher Kon ti nu i taumlt Der eng li sche Na tur for scher Alf red Rus sel Wall ace (1823 ndash 1913) der ge mein sam mit Dar win die The o rie der na tuumlr li chen Se lek ti on ent wi ckelt hat te hielt nicht nur den mensch li chen Geist und sein Mo ral emp fin den son dern zu dem auch die wei che nack te emp find sa me Haut des Men-schen fuumlr das Re sul tat ei ner not wen di gen Ent wick lung

Doch schon im 18 Jahr hun dert reg ten sich zu gleich vor sich-ti ge Zwei fel an der Stim mig keit ei ner sol chen Vor ge formt heit Denn wie soll te man Na tur ka tast ro phen be wer ten Waumlh rend die meis ten Na tur for scher sie als Teil des goumltt li chen Schoumlp-fungs plans in ter pre tier ten zo gen an de re ver gleichs wei se fins te-re Schluumls se Und so wur de tat saumlch lich ein gro szliges Erd be ben zum in di rek ten Aus louml ser der Evo lu ti ons the o rie naumlm lich je nes von Lis sa bon im Jahr 1755 Wer uumlber die Ka tast ro phe nach dach te 6

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 379783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 37 10082021 10493410082021 104934

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konn te star ken Zwei fel da ran he gen dass die Welt ord nung aus-ge kluuml gelt und har mo nisch sei

Die wei test rei chen den Schluss fol ge run gen zog der eng li-sche Pfar rer und Na ti o nal oumlko nom Tho mas Ro bert Malt hus (1766 ndash 1834) Nicht nur die ge o lo gi sche Na tur und ihr Ge-fah ren ri si ko son dern auch die Ver meh rung der Be voumll ke rung wur de nun als Uumlbel er kannt Im Jahr 1798 pub li zier te Malt-hus sei nen Es say on the Princi ple of Po pu la ti on (Das Be voumllshyke rungs ge setz) die ers te Mahn schrift vor den Ge fah ren ei ner Be voumll ke rungs ex plo si on Bei ei ner Ver dop pe lungs ra te der Welt-be voumll ke rung in ner halb von fuumlnf und zwan zig Jah ren er rech ne-te Malt hus wer de ihr exponent iel les An wach sen auf grund der von der Um welt ge setz ten Gren zen not wen dig zu Ar mut Ka-tast ro phen und Tod fuumlh ren Der bib li sche Auf trag raquoSeid frucht-bar und meh ret euchlaquo er schien mit ei nem Mal als ein Fluch Ein gna den lo ser raquoKampf ums Da seinlaquo (strugg le for life) war ent fes selt Das Ein zi ge was blieb war die Hoff nung die ka-tast ro pha len Fol gen der goumltt li chen An wei sung so weit wie moumlg lich ein daumlm men zu koumln nen

In ei ner Zeit als die Ge sell schafts the o rie noch der Bi o lo-gie den Leuch ter vo ran und nicht wie heu te die Schlep pe hin-terh er traumlgt be geis tert sich vor al lem ein eng li scher Dorf pfar rer Charles Dar win (1809 ndash 1882) fuumlr die Malt hus rsquoschen Ge set ze Denn wenn es rich tig ist dass sich ein Tier mit ei ner so ge rin-gen Ver meh rungs ra te wie der Mensch ge gen uumlber sei nen Art ge-nos sen durch setz te so gab es sicht lich an de re Kri te ri en fuumlr die Uumlber le bens fauml hig keit ei ner Po pu la ti on als die Zahl ih rer Ge bur-ten Der Maszlig stab fuumlr den Er folg ei ner Spe zi es war ihr Durch set-zungs ver mouml gen oder wie Dar win es spauml ter in den Prin zi pi en der Bio logie des jun gen Phi lo so phen Her bert Spen cer (1820 ndash 1903) le sen konn te raquothe sur vi val of the fit testlaquo

Dar wins na tur kund li che Stu di en wa ren ur spruumlng lich von dem Ge dan ken be seelt die nicht a ni ma li sche Iden ti taumlt des Men schen

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zu be wei sen Erst der Sieg des Ent de cker stol zes uumlber das Ent-set zen ver lieh ihm schlieszlig lich den Mut den be ruumlhm ten Satz zu schrei ben raquoUnd ich bin bei na he uumlber zeugt (der Mei nung mit der ich an die Fra ge he ran ge tre ten bin voumll lig ent ge gen ge setzt) dass die Spe zi es (mir ist es als ge staumln de ich ei nen Mord ein) nicht un ver aumln der lich sindlaquo7

Dar wins kuumlh ne Ver mu tung war nicht ganz neu Be reits ein hal bes Jahr hun dert zu vor hat ten der fran zouml si sche Na tur for scher GeorgesshyLou is Lec lerc Comte de Buf fon (1707 ndash 1788) und der Phi lo soph De nis Dide rot (1713 ndash 1784) uumlber eine Ver aumln de-rung der Ar ten spe ku liert Be son ders JeanshyBap tiste de La marck (1744 ndash 1829) be haup te te die all maumlh li che Ent wick lung der Ar-ten aus pri mi ti ve ren Vor for men die so ge nann te Trans mu ta ti on La marck war nicht nur ein Pi o nier der mit Jahr mil li o nen han-tier te als alle Welt die Erde noch ei ni ge tau send bis hun dert tau-send Jah re jung waumlhn te son dern er praumlg te (zur glei chen Zeit wie zwei deut sche Na tur for scher) das Wort Bi o lo gie Bei ihm wan del ten sich die Le be we sen da durch dass sich ihre koumlr per-li chen An stren gun gen auf ihr Erb gut aus wir ken Da bei nahm er al ler dings nicht an dass die Ar ten aus ei nan der her vor ge hen wie Dar win es spauml ter tat La ma rcks The o rie ist nauml her an je ner von Bon net Fuumlr ihn ver voll komm nen die ein zel nen Tier ar ten im Lau fe der Zeit ihre An la gen und ent wi ckeln sich da durch im-mer houml her Be son ders voll kom me ne Tie re wie der Mensch sind dem nach sehr alt denn sie ha ben ei nen wei ten Weg von ei nem pri mi ti ven Or ga nis mus bis hin zur heu ti gen Ge stalt hin ter sich ge las sen An de re wie der pri mi ti ve Suumlszlig was ser po lyp ha ben ihre Rei se durch die Zeit ge ra de erst an ge fan gen

La marck war kein Charis mati ker und die zo o lo gi sche All-macht sei nes Vor ge setz ten am Jar din des Plan tes in Pa ris des Ba rons George Cu vier (1769 ndash 1832) ver hin der te dass man sich all zu sehr mit sei nen The o ri en be schaumlf tig te Cu vier war ein be-deu ten der Mann An die Stel le ei ner nach bo ta ni schem Mus ter 7

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 399783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 39 10082021 10493410082021 104934

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ver fah ren den Zo o lo gie setz te er eine neue Wis sen schaft die sich we ni ger an aumlu szlige ren Merk ma len als am Or ga nis mus der Tie-re ori en tier te Doch was die Trans mu ta ti on an be lang te blieb der Ober auf se her der pro tes tan tisch-the o lo gi schen Fa kul tauml ten Frank reichs beim kon ser va ti ven Mo dell Er ver brei te te wei-ter hin eine Ket te von Na tur ka tast ro phen habe als mo di fi zier-te Sint fu ten gan zen Klas sen von Tie ren den Gar aus ge macht Die se The o rie ist weit ge hend rich tig al ler dings schlieszligt sie die Trans mu ta ti on nicht aus

Das wirk lich Re vo lu ti o nauml re an La marck war die Idee die Ge schich te der Na tur nicht vom Men schen aus bis hi nun ter zur Bak te rie zu schrei ben son dern um ge kehrt von der Bak te rie zum Men schen Aus ei nem Mo dell der raumlum li chen Hie rar chie wur de ein Mo dell der zeit li chen Ent wick lung La marck er kann te zu-dem dass das Be wusst sein ei nes Tie res an die Phy si o lo gie und Neu ro lo gie sei nes Koumlr pers ge bun den ist Dem nach ist je der Geist ers tens be grenzt und zwei tens ver aumln der lich

Die phi lo so phi sche Kon se quenz aus La ma rcks Den ken ist so ra di kal dass sie fast ein hun dert fuumlnf zig Jah re lang von nie man-dem ernst haft in Be tracht ge zo gen wur de Wie kann ein Geist der den Ge set zen der Evo lu ti on un ter wor fen ist sich ei gent lich an ma szligen die Na tur der Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Von die ser Schluss fol ge rung woll te die Bi o lo gie al ler dings bis weit ins 20 Jahr hun dert hi nein nicht viel wis sen

Auch Dar wins The o rie von der na tuumlr li chen Se lek ti on der Le be we sen im Rin gen um ihr Le ben und mit der Um welt ent-wi ckel te sich wei ter Ge witz ten Zeit ge nos sen wie Karl Marx (1818 ndash 1883) war auf ge fal len wie stark Dar wins Den ken dem Zeit geist des Vik to ri a ni schen Zeit al ters ver haf tet war raquoEs ist merk wuumlr dig wie Dar win un ter Bes ti en und Pfan zen sei ne eng li-sche Ge sell schaft mit ih rer Tei lung der Ar beit Kon kur renz Auf-schluss neu er Maumlrk te rsaquoEr fin dun genlsaquo und Malt hus schem rsaquoKampf ums Da seinlsaquo wie der er kenntlaquo8 Die Be to nung des Malt hus rsquoschen 8

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 409783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 40 10082021 10493410082021 104934

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Kamp fes von je dem ge gen je den und auch der Fort schritts glau-be in Dar wins Den ken zei gen ihn stark sei ner Zeit ver haf tet

Eine an de re Kri tik kam aus der Bi o lo gie selbst Dar win hat-te noch nichts von Ge nen ge wusst So konn te er nicht er klauml ren was sich bi o che misch er eig ne te wenn Ar ten sich ver aumln der ten Der raquoDar wi nis muslaquo der Jahr hun dert wen de gab schlieszlig lich die Hoff nung auf die Evo lu ti on lie szlige sich al lein durch die na tuumlr li-che Se lek ti on der Ar ten nach Maszlig ga be ih rer An pas sungs fauml hig-keit an die Um welt be gruumln den Man ent deck te die Rol le der Ge-ne tik und zum neu en Er klauml rungs prin zip wur de das Mo dell der zwei Kons t ruk teu re Das Spiel des Le bens er hielt ei nen Wuumlr fel zu faumll li ge Ver aumln de run gen im Gen ma te ri al also so ge nann te Mu tashyti o nen Im Tri alshyandshyEr ror-Ver fah ren ent ste hen im Erb gut ge le-gent lich Ab wei chun gen die dann er folg reich sind wenn sie sich in der Um welt be waumlh ren Da mit war die Idee vom Tisch dass sich neu er wor be ne Ei gen schaf ten oder raquodie ana to mi schen Aus-wir kun gen koumlr per li cher An stren gun genlaquo wie La marck mein te ver er ben koumlnn ten Noch Dar win hat te dies fuumlr denk bar ge hal ten So ver trau te er Er zaumlh lun gen wo nach bei je nen Volks grup pen zu de ren Ri ten die re gel mauml szligi ge Be schnei dung der Pe nis vor haut ge houmlrt sich die Vor haut all maumlh lich ver kuumlrz te Das haumlt te zwar die Be schnei dung uumlber fuumls sig ge macht aber Dar win hat te ge ra-de an de res Ge wich ti ges zu be den ken als da ruuml ber nach zu sin nen

Die Ver kuumlr zung der Vor haut blieb im Wis sens schatz der Dar wi nis ten bis Au gust Weis mann (1834 ndash 1914) im spauml ten 19 Jahr hun dert nach wies dass ein sol cher In for ma ti ons fuss vom aumlu szlige ren Er schei nungs bild zum Erb ma te ri al nicht moumlg lich sei Uumlber fuumlnf Ge ne ra ti o nen kuumlrz te Weis mann ei nem Stamm von Maumlu sen ihre Schwaumln ze ohne dass eine Nach richt uumlber die sen Ein griff die Keim bah nen der Maumlu se er reich te Denn sie he da Auch die Schwaumln ze der nach fol gen den Maumlu se ge ne ra ti o nen blie-ben gleich lang Da be durf te es schon der Spitz fin dig keit des iri schen Dich ters George Bern ard Shaw (1856 ndash 1950) der Weis-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 419783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 41 10082021 10493410082021 104934

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manns schnei den de Wi der le gung der La marckrsquo schen The o rie leicht fer tig vom Se zier tisch wisch te Die Maumlu se be merk te der Dich ter haumlt ten gar kei ne An stren gun gen un ter nom men ihre Schwaumln ze zu ver lie ren waumlh rend sich die Tie re bei La marck ja da rum be muumlht haumlt ten sich zu ver aumln dern

Im Nach hi n ein also war es der pauml da go gi sche Op ti mis mus der La marck in die Irre ge fuumlhrt ha ben soll te So mach te die Hoff-nung auf ei nen ethisch an spre chen den E vo lu ti ons ver lauf ndash die Er war tung die Mensch heit ent wick le sich qua An pas sung an das so zi a le Mi li eu durch Selbst er zie hung zum Bes se ren ndash nur noch eine et was ab sei ti ge Kar ri e re im staats so zi a lis ti schen Bi o lo gie-un ter richt der Sow jet u ni on Wie kalt da ge gen der uumlber le ge ne raquoKampf ums Da seinlaquo der ja ein Kampf um die Fleisch toumlp fe ist ohne Hoff nung der Mensch wer de den kuumlh nen Geist statt sei-nes ma te ri a lis ti schen Gier hal ses nach Houml he rem stre cken Und ein zig die Kir che be wahr te un ver dros sen ei nen la marc kis ti schen Ge dan ken ndash al ler dings ei nen pes si mis ti schen und kei nen op ti-mis ti schen In bes ter Schuumlt zen hil fe fuumlr den fran zouml si schen Che-va li er ver tei digt sie bis heu te ihr mo le ku lar ge ne tisch be denk li-ches Dog ma Adams Un ge hor sam im Gar ten Eden habe zu ei ner raquoErb suumln delaquo ge fuumlhrt die da rauf hin auf alle zu kuumlnf ti gen Ge ne ra-ti o nen uumlber ge gan gen sei

Im mer hin sind in den bei den letz ten Jahr zehn ten ei ni ge Bi o-lo gen wie der et was of fe ner da fuumlr ge wor den der Ver er bung er-wor be ner Ei gen schaf ten ei nen Platz in der Ge ne tik zu las sen Zwar ver er ben sich psy chi sche und phy si sche Le bens er fah run-gen nicht durch ver aumln der te Gene Aber es koumlnn te doch sein dass jene Schal ter die da ruuml ber be stim men wel che ge ne ti sche In for-ma ti on wei ter ge ge ben wird und wel che nicht durch Um welt-ein fuumls se ver aumln dert wer den Uumlber le gun gen wie die se be schaumlf ti-gen so ge nann te Epi gen eti ker seit ei ni ger Zeit sie ha ben ei nen wach sen den Ein fuss auf un se re Vor stel lung von der Evo lu ti on

Die heu ti ge Leit dis zip lin die uns die Ver wandt schaft des Le-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 429783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 42 10082021 10493410082021 104934

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bens ent schluumls seln soll ist die Ge ne tik Wir un ter su chen die Sum-me al ler ge ne ti schen In for ma ti o nen und re gist rie ren da bei Uumlber-ein stim mun gen und Ab wei chun gen mit an de ren Ar ten Doch der Pro zess die Na tur un se rer Na tur zu er ken nen ist noch lan ge nicht ab ge schlos sen und wird wohl auch nie ab ge schlos sen sein Wir wen den Ord nungs sche ma ta auf The o ri en und The o ri en auf Be ob ach tun gen an Nur so kom men wir zu Kau sa li tauml ten und Ge-set zen Doch ihre Be deu tung ver aumln dert sich in dem Maszlige wie wir den Blick punkt un se rer Auf merk sam keit wie der ver la gern Die ser Vor gang des Ent dec kens und des Ver de ckens durch neue Denk sche ma ta ist prin zi pi ell nicht ab schlieszlig bar denn selbst ge-gen waumlr ti ge Evo lu ti ons the o ri en un ter lie gen wei ter hin der Evo-lu ti on

Er staun li cher wei se hat die mo der ne Evo lu ti ons the o rie nur zu ei ner ge ring fuuml gi gen Kor rek tur al ter Denk sche ma ta ge fuumlhrt Wie fruuml her in der Na tur ge schich te er ken nen wir heu te in der Bi o lo gie uumlber all Re gel haf tigk eit Not wen dig keit und Vor tei-le Doch bei nauml he rer Sicht er weist sich die Evo lu ti on ge ra de zu als Herr schafts ge biet der Aus nah men uumlber die Re geln Sie ist eine raquoZweck mauml szligig keit ohne Zwecklaquo wenn auch al lein fuumlr die 01 Pro zent der heu te noch ndash oder ge ra de ndash exis tie ren den Spe-zi es nicht aber fuumlr die 999 Pro zent die in den Ur fu ten dem Ord ovizium dem Perm der Krei de oder dem Ter ti aumlr das Welt-li che seg ne ten E vo lu ti ons bi o lo gen su chen in der Ge schich te der Na tur uumlber all nach Vor tei len die das Uumlber le ben von Ar ten er-klauml ren sol len Da bei ver men gen sie oft zwei ver schie de ne Vor-teils be grif fe Ein mal geht es um Mu ta ti o nen die si tu a tiv vor teil-haf te Ei gen schaf ten fuumlr eine Tier art her vor ge bracht ha ben sol len Eine grouml szlige re Sta tur ein pom pouml se res Ge weih ein staumlr ke res Ge biss sol len Weib chen be ein dru cken und die Nach kom men schaft er-houml hen Da die se Ei gen schaf ten aber oft nichts nuumlt zen wenn der Zu fall die Spiel re geln der Um welt aumln dert gibt es ei nen zwei ten Vor teils be griff Da nach ist das vor teil haft in der Evo lu ti on was

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 439783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 43 10082021 10493410082021 104934

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vom Ende her be trach tet dazu ge fuumlhrt hat dass eine Art uumlber-lebt Nach die ser Sicht wei se kann der mick rigs te Pa vi an auf dem Fel sen sei ne Gene wei ter ge ben wenn die staumlr ke ren Kon kur ren-ten bei ei nem Erd be ben ums Le ben ge kom men sind

An ge sichts zwei er so un ter schied li cher Be deu tun gen von raquoVor teillaquo fragt es sich ob der Be griff in der Evo lu ti ons the o rie uumlber haupt sinn voll ver wen det wer den kann Tat saumlch lich ist er ein Erbe der The o lo gie des 17 und 18 Jahr hun derts die uumlber-all in der Na tur nach der klu gen Ver nunft Got tes such te Dar win kann te die se Tra di ti on gut Als Stu dent ver ehr te er den The o lo-gen Will iam Pa ley (1743 ndash 1805) der na tur kund lich be schla gen die goumltt li che Vo raus sicht auf den neu es ten Stand ge bracht hat te Als Dar win sich von Gott ver ab schie de te und die na tuumlr li che Se-lek ti on er kann te er setz te er uumlber all wo Pa ley raquoGod doeslaquo ge-schrie ben hat te den Satz durch raquoNat ure doeslaquo An Pa leys Vor-stel lung dass die Na tur zweck mauml szligig ein ge rich tet sei und Vor tei le be loh ne hielt Dar win eben so fest wie vie le spauml te re E vo lu ti ons-the o re ti ker

Die Fra ge ist des halb wich tig weil sie zeigt wie eng un se re Vor stel lung von der Na tur bis hi nein in die mo der ne Evo lu ti-ons the o rie von sehr mensch li chen Vor stel lun gen durch setzt ist Statt Vor tei le zu be nen nen wuumlr de es naumlm lich auch aus rei chen zu sa gen dass al les in der Na tur uumlber le ben kann das fuumlr eine Art kei nen toumld li chen Nach teil hat te Ver mut lich uumlber lebt in der Evo lu ti on nicht nur Zweck mauml szligi ges son dern jede Ver aumln de rung die zu min dest nicht zum Aus ster ben fuumlhr t und moumlg li cher wei se liegt ge ra de hie rin der Grund fuumlr eine gro szlige Ar ten viel falt

Die tra di ti o nell ver eng te Sicht wei se gilt ins be son de re bei der Be trach tung des Men schen E vo lu ti ons bi o lo gen koumln nen zahl-rei che Vor tei le be nen nen die er klauml ren wa rum die mensch li che Art so er folg reich ist Men schen sind aumlu szligerst an pas sungs fauml hig und be sie deln fast alle Le bens raumlu me sie sind Al les fres ser mit ei ner gro szligen Nah rungs band brei te sie ha ben eine fe xib le So zi-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 449783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 44 10082021 10493410082021 104934

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al struk tur und ver fuuml gen uumlber ein Selbst be wusst sein das es ih-nen er moumlg licht ihr Ver hal ten zu kor ri gie ren So ge se hen ist der Mensch gleich sam das op ti mal ste al ler Tie re Doch alldem zum Trotz exis tie ren Men schen der Gat tung Homo sap iens erst seit rund 100 000 Jah ren und ihre lang fris ti gen Zu kunfts chan cen ste hen schlecht Denn mit all den vor teil haf ten Ei gen schaf ten ha-ben Men schen in Re kord zeit ihre Um welt zer stoumlrt und das lang-fris ti ge Uumlber le ben der Spe zi es dra ma tisch in fra ge ge stellt Die mit we ni ger spek ta ku lauml ren Vor tei len aus ge stat te ten Di no sau ri-er exis tier ten auf un se rem Pla ne ten hun dert fuumlnf zig Mil li o nen Jah re ganz zu schwei gen von den seit uumlber vier hun dert Mil li o-nen Jah ren na he zu un ver aumln der ten Nau til iden und Ur schne cken

Ge si chert in der Evo lu ti ons the o rie ist dass kei ne ih rer An nah-men ge si chert ist E vo lu ti ons bi o lo gen die ihre Sa che ernst neh-men muumls sen im mer auch die E vo lu ti ons be dingt heit ih res ei ge-nen Er kennt nis ap pa rats ref ek tie ren also mit hin die Evo lu ti on al ler mensch li chen Er kennt nis raquoLetzt lich istlaquo wie der Neuro bio-lo ge Ger hard Roth schreibt raquoje des Nach den ken uumlber die ob jek-ti ve Re a li taumlt sei es wis sen schaft lich oder nicht an die Be din gun-gen mensch li chen Den kens Spre chens und Han delns ge bun den und muss sich da rin be waumlh renlaquo9

Man muss ref ek tie ren dass die un ver meid li chen Ord nungs-mit tel des Geis tes das Den ken und die Spra che nicht die Wirk-lich keit raquoan sichlaquo auf raumlu men Sie sind Mo del le die die un ver-fuumlg ba re Wirk lich keit nach Maszlig ga be der ei ge nen Spiel re geln er klauml ren Nicht erst seit Er for schung der Evo lu ti on in den letz-ten zwei hun dert Jah ren muumlht sich der mensch li che Geist dem Lauf der Welt ei nen ndash nach mensch li chem Er mes sen ndash raquover nuumlnf-ti genlaquo Sinn zu ge ben Doch das Pa ra do xe der Ge schich te liegt da rin dass der mensch li che Geist selbst Pro dukt evo lu ti o nauml rer Pro zes se ist Er ist Maszlig stab und Ge mes se nes zu gleich

An eine tat saumlch lich ob jek ti ve Er kennt nis der Evo lu ti on waumlre nur halb wegs sinn voll zu den ken wenn die Evo lu ti on des Men-9

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 459783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 45 10082021 10493410082021 104934

schen ab ge schlos sen ist und da mit die Stu fe der groumlszligt moumlg li chen Voll kom men heit er reicht hat In den Zei ten vor La marck und Dar win ha ben das nicht nur The o lo gen son dern auch die Na tur-for scher fast al le samt ge glaubt Das mensch li che Be wusst sein sei die un uuml ber trof fe ne Spit zen leis tung des Schoumlp fer got tes ge schaf-fen die Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Sei nen schoumlns-ten Aus druck fand die se Sicht in ei nem Aus spruch des jun gen Phi lo so phen Fried rich Wil helm Jo seph Schel ling (1775 ndash 1854) Er mein te dass der Mensch je nes We sen sei raquoin dem die Na tur das Auge auf schlaumlgtlaquo und sich da mit ih rer selbst be wusst wird Ein huumlb scher Satz aber doch viel zu pa the tisch for mu liert Von der vol len Er kennt nis der Na tur und un se rer selbst sind wir noch im mer weit ent fernt Aber wir koumln nen da ruuml ber stau nen dass die Evo lu ti on mit uns ein Le be we sen her vor ge bracht hat in dem die Na tur sich fuumlr sich selbst fa szi nier bar ge macht hat Wie hat te es dazu kom men koumln nen

bull Der Pri mat Was ist ein Mensch

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 469783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 46 10082021 10493410082021 104934

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ver waist sein Die Mensch heit wird er wacht sein und die Welt je-nes Ge sicht er hal ten ha ben das uns ge gen waumlr tig er scheint Doch wie sah das aus als die Na tur das ers te Mal in ei nem af fen aumlhn-li chen We sen die Au gen auf schlug War es auf ei ner Wald wie-se in ei nem Hain an ei nem Berg hang oder auf ei ner Lich tung War das er leuch te te We sen ein Maumlnn chen oder ein Weib chen Ging es den gan zen Tag auf recht oder saszlig es noch ger ne in der Ho cke eng ge kau ert an sei ne Bruuml der und Schwes tern Und war es eine Ein ge bung ein Blitz schlag als das Selbst be wusst sein das ers te Mal die Fes seln des Pri ma ten ge hirns spreng te

Wir wis sen nicht wo ran Schel ling dach te als er mein te die Na tur habe im Men schen ihr Auge auf ge schla gen Si cher dach te er nicht an ei nen ein zi gen Mo ment dem Mil li o nen an de re folg-ten Er dach te an den raquoMen schen an sichlaquo Und er wuss te nichts vom ost af ri ka ni schen Great Rift Val ley und von haa ri gen Vor-men schen die dort einst haus ten Er leb te in Jena und in Muumln-chen und ei nen Men schen af fen hat te Schel ling nie ge se hen Der ein zig ar ti ge Mo ment in dem die Na tur sich ih rer selbst be wusst wird bleibt eine Me ta pher

Doch wie wur de der Mensch nun tat saumlch lich zum Men-schen Die For mu lie rung ist dop pel deu tig Denn wie der Mensch zum Men schen wur de ndash das ist nicht ein evo lu ti o nauml rer Pro-zess auf der lee ren Welt buumlh ne son dern ein Spiel von Be ob ach-ter und Be ob ach te tem Schau spie ler und Zu schau er Ge schich-te auch Ent wick lungs ge schich te ist nichts Vor ge fun de nes Der Mensch schrieb der fran zouml si sche Phi lo soph JeanshyPaul Sart re (1905 ndash 1980) macht sich selbst wie der Ro man schrift stel ler sei ne Fi gu ren Er ist ge fer tigt aus bi o lo gi schen (ana to mi schen neu ro lo gi schen und phy si o lo gi schen) Be stand tei len zu al ler meist je doch durch jene we nig bi o lo gi schen Weis hei ten mit de nen sich die se Subs tan zen selbst zum raquoMen schenlaquo er ko ren

Das Glei che gilt fuumlr die mensch li che Stam mes ge schich te Auch sie ist zu naumlchst ein mal eine Ge schich te Ihre Ur spruumln ge lie gen im

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 489783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 48 10082021 10493510082021 104935

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al ten Grie chen land als Aris to te les den Men schen und den Af-fen ver wandt schaft lich na he ruumlckt raquoMan che Tie re ste hen zwi-schen Mensch und Vier fuumlszlig ler in ih rem We sen wie Af fen Meer-kat zen und Pa vi a ne hellip Ihr Ge sicht hat vie le Aumlhn lich kei ten mit dem des Men schen Nase und Oh ren glei chen den sei nen und Zaumlh ne hat er auch wie ein Mensch die Vor der zaumlh ne wie die Ba cken zaumlhnelaquo10 Auch Aris to te lesrsquo Schuuml ler The oph rast (ca 370 v Chr ndash ca 288 v Chr) be steht auf der Aumlhn lich keit zwi schen Men schen und Tie ren Er lehnt es so gar ab Fleisch zu es sen oder Tie re zu op fern da man sei ne Ver wand ten nicht ver spei se

Aris to te les und The oph rast stell ten den Men schen zwar ne-ben den Af fen ndash Men schen af fen kann te man noch nicht ndash aber die al ten Grie chen hat ten ihn nur sehr un ge faumlhr zu ei nem Tier un ter Tie ren er klaumlrt Den naumlchs ten Schritt mach te mehr als zwei-tau send Jah re spauml ter Carl von Linneacute An der Zu ge houml rig keit des Men schen zu den Saumlu ge tie ren be stand fuumlr den Schwe den kein Zwei fel die Be haa rung und das Stil len der Jun gen be lehr ten un-miss ver staumlnd lich da ruuml ber Auch die Ver wandt schaft mit Af fen und Men schen af fen stand au szliger Fra ge Hier wa ren es die fa chen Fin ger- und Fuszlig nauml gel statt der Klau en der ab ge spreiz te Dau-men die Greif haumln de die zwei Zit zen der Weib chen und der frei he run ter haumln gen de statt am Un ter leib an lie gen de Pe nis ndash Merk-ma le die groumlszlig ten teils auch schon Aris to te les auf ge fal len wa ren

Doch Linneacute zouml ger te vor der Kon se quenz Haumln de rin gend such-te der got tes fuumlrch ti ge Ana tom nach ei nem Un ter schied zwi schen dem Men schen und den uumlb ri gen von ihm so ge nann ten raquoPri ma-tenlaquo raquoIch ver lan gelaquo schrieb er 1747 sei nem deut schen Freund Jo hann Ge org Gme lin raquovon Ih nen und von der gan zen Welt dass Sie mir ein Gat tungs merk mal zei gen hellip auf grund des sen man zwi schen Mensch und Affe un ter schei den kann Ich weiszlig selbst mit aumlu szligers ter Ge wiss heit von kei nemlaquo11

Nach sei nen Kri te ri en haumlt te Linneacute den Men schen zu min dest mit dem Schim pan sen ge mein sam in die sel be Gat tung ein ord-10

11

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 499783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 49 10082021 10493510082021 104935

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nen muumls sen Der Ge dan ke schweb te zeit gleich auch dem Phi lo so-phen JeanshyJacques Rous seau (1712 ndash 1778) vor als er Schim pan-sen Orang-Ut ans und Men schen so gar als Ver tre ter der Spe zi es Mensch an sah Rous seau hat te nie ei nen Men schen af fen ge se-hen Aber die Be rich te die er von Ex pe di ti o nen nach Af ri ka und Suumld ost a si en las lie szligen in ihm kei nen Zwei fel dass die da rin be schrie be nen Men schen af fen raquowe der Tie re noch Goumlt ter son-dern Men schenlaquo sei en12 Fuumlr den Auf klauml rer wa ren Men schen af-fen edle Wil de die von kei ner Zi vi li sa ti on in ih rem fried fer ti gen We sen zer stoumlrt sei en an ders als die Men schen in Eu ro pa Eben-so dach te we nig spauml ter der schot ti sche Sprach for scher James Bur nett Lord Mon boddo (1714 ndash 1799) Auch er be trach te te den Orang-Utan als ei nen Men schen naumlm lich als ei nen raquosprach-losen Wil denlaquo

In ter pre ta ti o nen wie Rous seau sie in Pa ris und Bur nett bald da rauf in Kin card ines hire wag ten wa ren Linneacute im schwe di schen Upp sa la fremd Den Men schen ins Tier reich ein zu ord nen war in den Au gen der stren gen pro tes tan ti schen Kir che Suumln de ge nug und Linneacute zouml ger te den letz ten Schritt zu tun In sei ner Not sor-tier te er 1758 ach sel zu ckend Mensch und Schim pan se in un ter-schied li che Gat tun gen zu sam men ge fasst in der Ord nung der Pri ma ten in der sie auch heu te noch mehr schlecht als recht huumlbsch ge trennt ne ben ei nan der ho cken Homo sap iens der raquoin-tel ligi ble Menschlaquo und Pan trog lody tes der raquohoumlh len be woh nen-de Faunlaquo

So weit so schoumln Der Mensch wur de der obers te Pri mat das houmlchs te raquoHer ren tierlaquo Linneacute be kam kei nen Aumlr ger mit der Kir-che und die Na tur wis sen schaft den gro szligen Wurf des Linneacute rsquoschen Sys tems Wenn nur die se Nach barn nicht wauml ren Seit Be kannt-wer den der Men schen af fen be muumlh ten sich Wis sen schaft ler und The o lo gen im mer wie der um den Ver such den klei nen Gra ben mit gro szligen Was sern zu fuumll len der Homo sap iens und Pan troshyglody tes bei ih rer ord nungs ge mauml szligen Ver ge sell schaf tung auf der 12

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 509783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 50 10082021 10493510082021 104935

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Af fen in sel trennt Sie eva ku ier ten den Men schen vom Pri ma ten-fel sen und schu fen ihm eine ei ge ne Ord nung

In die ser Vor stel lungs welt wuchs auch der The o lo gie stu dent Charles Dar win auf Das fruuml he 19 Jahr hun dert war eine got-tes fuumlrch ti ge bie der mei er li che Zeit Doch je mehr er sich mit der Ver aumln de rung der Ar ten be schaumlf tig te umso deut li cher wur de Dar win dass es mit der of fi zi ell be kun de ten Son der stel lung des Men schen im Uni ver sum nicht weit her sein konn te So no tier te er schon er staun lich fruumlh in sein Ta ge buch raquoDer Mensch haumllt sich in sei ner Ar ro ganz fuumlr ein groszlig ar ti ges Werk des be son de ren Ein grei fens ei ner Gott heit wuumlr dig Es duumlrf te be schei de ner und wie ich glau be auch rich tig sein ihn als aus den Tie ren ent stan-den an zu se henlaquo13

Dar win hat te den noch zwoumllf Jah re ge zouml gert bis er sich schlieszlig lich ge trau te nach der all ge mei nen Dar stel lung ei ner Evo-lu ti ons the o rie im Jahr 1859 sei ne Schluss fol ge run gen in Be zug auf den Men schen in Druck zu ge ben Die Ab stam mung des Men schen aus dem Jahr 1871 ist ein ge maumlch li ches Buch in ver-soumlhn li chem Ton fall Der Na tur for scher er zaumlhlt da rin wie ein gu-ter al ter Groszlig va ter wo her die Pfan zen die Tie re und die Eng-laumln der kom men Die raquoAb wer tunglaquo des Men schen geht da bei ein her mit ei ner kon ti nu ier li chen raquoAuf wer tunglaquo der Tie re raquoWir ha ben ge se henlaquo schreibt Dar win raquodass die Emp fin dun gen und Ein druuml cke die ver schie de nen Er re gun gen und Fauml hig kei ten wie Lie be Ge daumlcht nis Auf merk sam keit Neu gier de Nach ah mung Ver stand usw de ren sich der Mensch ruumlhmt in ei nem be gin nen-den oder zu wei len selbst in ei nem gut ent wi ckel ten Zu stand bei den nie de ren Tie ren ge fun den wer denlaquo14

La marck und Dar win wa ren die Ers ten die mit Mit teln der mo der nen Na tur wis sen schaft be haup te ten was vie le Kul tu ren und Zei ten schon zu vor re li gi oumls ge ahnt hat ten raquoNa tuumlr lichlaquo ist es ab surd eine Tei lung des Tier reichs in zwei Ka te go ri en vor zu-neh men ndash in eine mensch li che und eine nicht mensch li che Ka-13

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9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 519783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 51 10082021 10493510082021 104935

Page 6: Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen · Leseprobe Professor Dr. Richard David Precht Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen »Fazit:

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In halt

Vor wort 11

Ein lei tung 17

Das Men schen tierDie Ord nung der Schoumlp fung

Wie mensch lich ist die Evo lu ti on 29

Der Pri matWas ist ein Mensch 47

Der auf rech te AffeWas macht den Men schen zum Men schen 60

Sinn und Sinn lich keitWas trennt Mensch und Affe 78

Eins Kom ma sechs Pro zentSind Men schen af fen Men schen 96

Die Tuuml cke des Sub jektsUumlber die Schwierigkeit Tie re zu den ken 110

Das Tier im Auge des Men schenDie Tund ra des Ge wis sens

Wie die Re li gi on un se re Na bel schnur kapp te 127

raquoIch habe kein Tier miss han deltlaquoDas Tier im Al ten Aumlgyp ten 138

Hir ten und Herr scherDas Tier im al ten Ju den tum 153

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 79783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 7 10082021 10493310082021 104933

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Das ver lo re ne Pa ra diesDas Tier in der An ti ke 168

raquoKuumlm mert sich Gott etwa um die Och senlaquoDas Tier in Chris ten tum und Is lam 182

Schein hei li ge KuumlheDas Tier bei Hin dus und Bud dhis ten 198

Die Den ker und das lie be ViehDas Tier im Ba rock und in der Auf klauml rung 213

raquoKoumln nen sie lei denlaquoDie Ruumlck kehr des Mit leids 228

Eine neue Tier ethikDas ei ser ne Tor

Wege zu ei ner modernen Tier ethik 249

Schutz oder RechtDie Ethik der Be frei ung 267

Eine art ge rech te Mo ralMen schen ndash Tie re ndash Ethik 280

Gut bes ser am bes tenDie Ethik des Nicht wis sens 296

Was tunLie ben ndash Has sen ndash Es sen

Un ser all taumlg li ches Cha os im Um gang mit Tie ren 313

Ein kur zer Text uumlber das Touml tenDas Tier und das Ge setz 326

Na tur schutz oder Lust mordDuumlr fen wir Tie re ja gen 343

Jen seits von Wurst und KaumlseDuumlr fen wir Tie re es sen 361

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 89783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 8 10082021 10493310082021 104933

Das Tier als Dum mySind Tier ver su che le gi tim 380

Al cat raz oder Psycho topVom Nut zen und Nach teil der Tier gaumlr ten fuumlr das Tier le ben 399

Das Zeit al ter der Ein sam keitDie Ethik der Be wah rung 416

Das un ver soumlhn li che Tri um vi ratTier schutz Tier recht und Ar ten schutz 432

Scho pen hau ers Trep peDie Prag ma tik des Nicht wis sens 450

An hangAn mer kun gen 465

Aus ge waumlhl te Li te ra tur 475

Dank 499

Per so nen re gis ter 501

Zitatnach weis 509

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 99783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 9 10082021 10493310082021 104933

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Meer schwein chen be ka men Ko li ken die Ei dech sen leb ten nicht lan ge und die Fi sche haus ten in viel zu vie len Ar ten in ei nem viel zu klei nen Aqua ri um Mei ne Fas zi na ti on paar te sich mit ei-nem schlech ten Ge wis sen Sie um schlan gen ei nan der sehr eng und wa ren sel ten zu tren nen

Ich wur de kein Zoo di rek tor Der schlech te Bi o lo gie un ter richt in der Schu le zer stoumlr te mir mei nen Traum Viel leicht war es auch gut so Der fruuml he re Koumll ner Zoo di rek tor Gun ther No gge sag te zu mir raquoSei en Sie froh dass Sie es nicht ge wor den sindlaquo So er hielt ich mir mei ne Fas zi na ti on fuumlr Tie re aber auch mein schlech tes Ge wis sen

Bei des war noch wach als in der Mit te der Neun zi ger jah re der BSE-Skan dal und gleich da rauf das Klon schaf Dolly die Be-voumll ke rung auf schreck ten Ich schrieb ei nen Es say uumlber Tier ethik und ein Dos si er uumlber Zo o lo gi sche Gaumlr ten fuumlr Die Zeit die Poe sie des Her zens die nur das Bes te fuumlr alle Tie re woll te hier die Pro-sa der Ver haumllt nis se ei nes bar ba ri schen und prob le ma ti schen Um-gangs mit dem Tier in der Ge sell schaft dort

Im Feb ru ar 1997 ver schlug mich der Zu fall nach Braun-schweig zu ei nem Kon gress uumlber raquoTie re ndash Rech te ndash Ethiklaquo Fuumlr mich war es eine Art in tel lek tu el les Wood stock ei ner neu en Be-we gung Men schen aus dem gan zen Bun des ge biet wa ren an ge-reist und auch die Braun schwei ger Be voumll ke rung nahm sehr re-gen An teil Ich lern te Ma nu e la Lin ne mann ken nen die Ge hei me Rauml tin der Tier rechts be we gung die den Kon gress glaumln zend or ga-ni siert hat te Der Schrift stel ler Hans Woll schlauml ger pre dig te in der St-And re as-Kir che ful mi nan te Wor te uumlber den Pa ra dies gar ten und die ab truumln ni ge Mensch heit Der sym pa thi sche Schwei zer Phi lo soph Jean-Claude Wolf ge houmlr te be reits zu den ver sier te ren Den kern auf die sem Ge biet der Phi lo soph Mi cha el Haus kel ler eben so jung wie ich noch zu den Neu e ren Mit dem Bi o lo gen und Phi lo so phen Hans Wer ner In gen siep ei nem der span nends-ten Den ker die mir je be geg net sind und sei ner Le bens ge faumlhr-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 129783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 12 10082021 10493310082021 104933

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tin der Theo lo gin Hei ke Bar anzke ver bin det mich seit dem eine lan ge Freund schaft Auch die Front kaumlmp fer fehl ten nicht Die Tier rechts or ga ni sa ti on Ani mal Peace er leb te ge ra de ei nen Boom an Spen dern und der Tier recht ler Hel mut Kap lan be feu er te die Ak ti vis ten mit ra di ka len Schrif ten und kuumlh nen Spruuml chen

Die Ge dan ken die wir in Vor trauml gen und Ge sprauml chen ver kuumln-de ten dis ku tier ten und uumlber dach ten hat ten da mals noch et was sehr Neu es Zwar hat te der aust ra li sche Phi lo soph Pe ter Sin ger be reits 1975 sein be ruumlhm tes Buch uumlber Die Be frei ung der Tie re ge schrie ben Aber eine Tier rechts be we gung ent stand an ders als in Eng land und den USA in Deutsch land erst lang sam in den spauml ten Acht zi ger jah ren Nun in der Mit te der Neun zi ger jah re war das The ma end lich ge sell schaft lich re le vant ge wor den Koumln-nen wir un se ren all taumlg li chen Um gang mit Tie ren wei ter hin mo-ra lisch recht fer ti gen Die Mas sen me di en grif fen das The ma auf Der Jour na list Man fred Kar re mann dreh te Fil me uumlber Mas sen-tier hal tung Schlacht haumlu ser und Tier trans por te und brach te das Elend der Tie re da mit in die deut schen Wohn zim mer Die in zwi-schen ein ge stell te Zei tung Die Wo che nahm da ge gen den ra di-ka len Fluuml gel der Be we gung ins Vi sier Sie be rich te te uumlber an ge-saumlg te Hoch sit ze ein ge schla ge ne Schau fens ter von Metz ge rei en und warn te auf ei ner Dop pel sei te vor raquoTier schutz ter ro ris muslaquo

In die sem Kli ma er schien im Herbst 1997 mein Buch No ahs Erbe Sei ne Zu stim mung und Ab leh nung ver lief wie ich es mir er hofft hat te oft quer zu den etab lier ten Freund-Feind-Li ni en zwi schen Tier schuumlt zern Ar ten schuumlt zern und Tier recht lern Be-dau ert habe ich da bei ei gent lich nur jene Kri ti ken die mir von ei nem pa tho lo gi schen Men schen bild bis hin zu ei ner raquooumlko fa-schis ti schenlaquo Ge sin nung so ziem lich al les un ter stell ten wo von ich selbst in den fins ters ten Win keln mei nes Wir bel tier ge hirns nie mals ge traumlumt hat te

Seit dem ist viel und we nig ge sche hen Seit No vem ber 1999 er-freu en sich die Men schen af fen in Neu see land und wa ren es da-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 139783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 13 10082021 10493310082021 104933

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mals auch nur acht an der Zahl ei nes un an tast ba ren Rechts auf Le ben Der Tier schutz wur de 2002 als Staats ziel im deut schen Grund ge setz ver an kert Die gra vie rend ste Ver aumln de rung aber sind ohne Zwei fel die vie len Men schen die sich feisch los oder ve-gan er naumlh ren Das Wort raquove ganlaquo in den Neun zi gern noch et-was houmlchst Obs ku res das nur von we ni gen selt sam blut lee ren Bio-Vam pi ren be trie ben wur de ist heu te in al ler Mun de Ein vega nes Koch buch er reich te juumlngst eine Mil li o nen auf a ge Und na he zu je der kennt ei nen Vega ner oder haumlu fi ger eine Ve gan erin Nach ei ner Um fra ge des Al len sba cher Ins ti tuts aus dem Jahr 2015 gibt es in Deutsch land in zwi schen 78 Mil li o nen Ve ge ta-rier und 900 000 Vega ner1

In den west li chen In dust rie na ti o nen steigt die Sen si bi li taumlt im Um gang mit Tie ren un auf halt sam an ins be son de re bei jun gen Frau en Doch die se Hal tung hat zu gleich et was sehr Pri va tes Schoumln heit Fit ness Ge sund heit und Tier lie be sind meist auf ei-nen Nah ho ri zont be schraumlnkt Wa ren der Kampf fuumlr Tier rech te und die veg ane Er naumlh rung fruuml her fast un trenn bar mit ei nan der ver bun den ge we sen so hat sich das eine heu te vom an de ren ge-loumlst In West eu ro pa gibt es in zwi schen mehr Mas sen tier hal tung mehr Le ge bat te ri en und mehr in dust ri el les Tier elend als je zu-vor Gut ver steckt vor der Oumlf fent lich keit ar bei tet die se Ma schi-ne rie trotz ge le gent li chen Pro tes ten hef ti ger denn je Noch nie war die Kluft so groszlig die das was Men schen im Um gang mit Tie ren fuumlr rich tig hal ten und das was tat saumlch lich prak ti ziert wird von ei nan der trennt So lan ge wir un se re Er naumlh rung und un ser per soumln li ches Ver haumllt nis zu Tie ren als Pri vat sa che auf fas-sen so lan ge wird die mil li o nen fa che Grau sam keit ge gen Tie re wei ter hin ge sell schaft lich ak zep tiert

In die ser Lage stel len sich man che Fra gen die in No ahs Erbe be han delt wur den an ders und neu Auch vie le Zah len sind wie koumlnn te es auch an ders sein ver al tet In den Wis sen schaf ten wie der Pal aumlo anth ro po lo gie der Prim atolo gie und der Ver hal tens-1

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oumlko lo gie ist in den letz ten bei den Jahr zehn ten ei ni ges ge sche-hen das es zu be ruumlck sich ti gen gilt Die his to ri sche For schung uumlber das Ver haumllt nis von Mensch und Tier hat man ches Neue zu ta ge ge foumlr dert eben so in den Re li gi o nen wie in der Phi lo so-phie Die aka de mi sche De bat te uumlber eine an ge mes se ne raquoTier-ethiklaquo hat stark an Fahrt auf ge nom men Und nicht zu letzt hat mei ne ei ge ne Be schaumlf ti gung mit dem We sen und den Spiel re geln mo ra li schen Han delns zu man cher neu en Ein schaumlt zung und Be-wer tung ge fuumlhrt Man ches von dem was Men schen tun oder las sen er scheint mir mit uumlber fuumlnf zig in ei nem an de ren Licht als mit An fang drei szligig hellip

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Be lan ge re gelt eben so wie jene des Maul wurfs das Tier schutz-ge setz Maul wuumlr fe und Schim pan sen sind kei ne Rechts sub jek-te Man darf sie in enge Kauml fi ge ein pfer chen man darf sie mit Elektro schocks fol tern mit toumld li chen Kei men in fi zie ren sie am le ben di gen Leib ver aumlt zen sie ver stuumlm meln und ver gif ten

Das ver nuumlnf ti ge und sitt li che Le ben und das un ver nuumlnf ti ge rohe Le ben tei len die Welt in zwei Herr schafts be rei che Ei ner da von be sitzt ein mo ra li sches Sie gel Der an de re da ge gen ist ein na he zu un be schrie be nes Blatt Fast hun dert sech zig Jah re ist es her dass der bri ti sche Na tur for scher Charles Dar win den ge-mein sa men Ur sprung die fie szligen den Uumlber gaumln ge und zar ten Ver-aumls te lun gen al len Le bens be wies Doch Men schen gel ten we der all tags sprach lich noch recht lich als Tie re Eine alte Ge wohn heit trennt den Men schen von sei nen ani ma li schen Ver wand ten Es ge houmlrt zu den ei gen tuumlm li chen Fol gen der Dar win rsquoschen Wen de dass sie mit ei ni gen klei ne ren Kor rek tu ren das anth ro po zent ri-sche Welt bild un an ge tas tet lieszlig Kaum je mand duumlrf te sich als je-ner Tro cken na sen pri mat in der Ver wandt schaft von Men schen-af fen Meer kat zen und Pa vi a nen se hen als den uns die Zo o lo gie klas si fi ziert Statt des sen de fi nie ren wir uns als Men schen und ge-ben uns alle Muumlhe un se re ani ma li sche Na tur zu ver ges sen und zu ver ber gen

Das Band zu den an de ren Tie ren ha ben wir vor lan ger Zeit zer schnit ten Vor etwa 10 000 Jah ren hat der Mensch ge lernt die Roh stoff re ser ve raquoTierlaquo plan mauml szligig zu zuumlch ten Er haumllt sie von nun an in Form ei nes le ben den Ver sor gungs vor rats zum ei-ge nen Nut zen und From men In den An faumln gen der Tier zucht leg ten man che sess haft ge wor de nen Jauml ger ge stor be ne Hun de in da fuumlr vor ge se he ne Gru ben und be stat te ten so gar Mut ter Kind und Rin der ge mein sam Wel ten klaf fen zwi schen dem ani mis ti-schen Glau ben der ers ten Vieh zuumlch ter und der ma te ri a lis ti schen Mas sen tier hal tung der mo der nen Ge sell schaft Mit dem Ende der Kon kur renz schwand die Not wen dig keit sich mit dem Tier

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als ei nem Le be we sen aus ei nan der zu set zen Heu te nut zen wir die Res sour ce raquoTierlaquo voumll lig frag los fuumlr die An spruuml che des Men schen Das Ge mein sa me von Tier und Mensch trat in den Hin ter grund Zwar leb te das Tier noch im mer in der kul tu rel len Fan ta sie fort als ma gi sche oder fan tas ti sche Ge stalt als Freund Ge faumlhr te oder Be dro hung Doch die Be deu tung in der All tags welt er mat te te auf Schwund stu fen der Na tur wie Schoszlig hund Zier gup py Le ge hen-ne und Zir kus pferd Gren zen los uumlber le gen und un ab haumln gig ge-gen uumlber den Tie ren sei ner Um welt ent wi ckel te sich im mensch-li chen Be wusst sein ein voumll lig ent frem de tes Ver haumllt nis Nicht nur ra di ka le Aus nut zung und Sa dis mus auch falsch ver stan de ne Lie-be De na tu rie rung und un frei wil li ge Quauml le rei be stim men seit her den mensch li chen Um gang mit dem Tier

Bis ins fruuml he Mit tel al ter uumlber wog die Zahl der wil den Tie re die An zahl der Nutz- und Haus tie re die der Mensch in sei nen Dienst ge stellt hat te Doch spauml tes tens mit dem Sie ges zug des Ka pi ta lis mus in West eu ro pa und Nord a me ri ka ver schwan den die Res te der Ehr furcht in die Maumlr chen buuml cher und Zir kus dar-bie tun gen Mo der ne Agrar un ter neh men In dust rie met ro po len Au to bah nen und Hoch span nungs mas ten bil den das Or na ment un se rer Um welt die wir seit meh re ren hun dert Jah ren raquoLand-schaftlaquo nen nen Nir gend wo in der All tags welt ei nes Men schen der west li chen Zi vi li sa ti on be geg net uns das Tier noch als Kon-kur rent nicht bei der Er naumlh rung nicht im Kampf um den Le-bens raum und nicht als Fress feind des sen Zaumlh ne und Klau en ernst haft Furcht er re gen koumlnn ten Das ein zig Be droh li che das heu te bleibt sind aus ge rech net ein paar klei ne Tie re etwa Rat-ten und Maumlu se die letz ten ge faumlhr li chen Fress kon kur ren ten des Men schen Dazu kom men In sek ten Mik ro ben und Vi ren

Das Band zwi schen uns und den an de ren Tie ren wuchs auch nicht da durch wie der zu sam men dass wir die Tie re uumlber die Wis-sen schaft als Ver wand te wie der ent deck ten Seit mehr als zwei-tau send Jah ren sieht sich der Mensch als le gi ti mer Herr scher

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uumlber eine be herrsch ba re Um welt dazu ge schaf fen sie zu nut zen und aus zu beu ten Un se re Evo lu ti on hat sich da bei ra sant be-schleu nigt Laumlngst fin det sie kaum noch in un se rem Koumlr per statt son dern vor al lem in un se rer Tech nik und Kul tur Und schon lan ge dient sie nicht mehr dazu sich der Na tur an zu pas sen Sie dient ei ner im mer wie der neu ge schaf fe nen mensch li chen Kul-tur An pas sung be deu tet heu te sich an den ei ge nen Fort schritt an zu pas sen mit all den be kann ten Fol gen fuumlr un se re Um welt Dra ma ti sche Kli ma wech sel die Zer stouml rung der schuumlt zen den Ozon schicht die Ver step pung wei ter Land stri che auf al len Suumld-kon ti nen ten und die Ver gif tung der Mee re ver nich ten nicht nur die nicht mensch li che Tier welt sie be tref fen mehr und mehr den Men schen selbst

In atem be rau ben dem Tem po be schleu nig te das in dust ri a li sier-te 20 Jahr hun dert die Be herr schung und Aus beu tung der Na-tur und mit ihr die der Tie re Schon in den ver gan ge nen Jahr-tau sen den hat te Homo sap iens den ge sam ten Pla ne ten in Be sitz ge nom men Kein grouml szlige res Wir bel tier be sitzt ein sol ches Ver brei-tungs ge biet be wohnt Wuumls ten Re gen waumll der und Po lar re gi o nen glei cher ma szligen Und kein grouml szlige res Wir bel tier hat sich zu Mil li ar-den ver mehrt Ruumlck sichts lo se Pluumln de rung der Roh stof fe und ein un ge heu res Be voumll ke rungs wachs tum der Spe zi es Homo sap iens schaf fen ei nen erd ge schicht li chen Aus nah me zu stand

Der Mensch be herrscht heu te den Pla ne ten aber of fen sicht-lich nicht sich selbst Es koumlnn te da ran lie gen dass es raquoden Men-schenlaquo gar nicht gibt Statt des sen gibt es mehr als sie ben Mil li-ar den un ter schied li che In di vi du en Und nie mand da von ist fuumlr die Mensch heit zu staumln dig Sie ist eine Ge mein de der an zu ge houml-ren nicht dazu ver pfich tet sich um das Gan ze zu sor gen und zu kuumlm mern

Zu herr schen be deu tet Ord nun gen zu etab lie ren und Re geln da fuumlr auf zu stel len was wich tig ist und un wich tig rich tig oder falsch Jahr hun der te lang sah die Mo ral der abend laumln di schen

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Zivi li sa ti on in der Aus rot tung der Wild tie re und Aus beu tung der Nutz tie re na he zu kein Pro blem Eine kla re Grenz zie hung er-laub te je den Um gang mit dem Tier von der Lie be bis zur Fol ter von der Zucht bis zur Touml tung Das Ar gu ment war schlicht Der Mensch ist eine Son der an fer ti gung Got tes und mit dem Tier ge-ra de mal durch den lo sen Fa den der goumltt li chen Schoumlp fung stat ver bun den So kam in den Wor ten des deutsch-fran zouml si schen The o lo gen und Arz tes Al bert Schweit zer raquodie An sicht auf dass es wert lo ses Le ben gaumlbe des sen Schauml di gung und Ver nich tung nichts auf sich habe Un ter wert lo sem Le ben wer den dann je nach den Um staumln den Ar ten von In sek ten oder pri mi ti ve Voumll ker ver stan denlaquo2 (Eine Kli en tel die sich uumlber dies noch um Frau en er wei tern lie szlige)

Die se Gren ze wur de und wird in der abend laumln di schen Kul-tur ge schich te va ri an ten reich ver tei digt Doch je ge nau er wir sie be trach ten umso selt sa mer er scheint sie uns Denn sie laumlsst sich im mer schlech ter be gruumln den und zwar so wohl phi lo so phisch als auch bi o lo gisch Seit etwa vier zig Jah ren be steht in der Ge-sell schaft eine De bat te die un se ren Um gang mit Tie ren grund-saumltz lich in fra ge stellt Tier e thi ker wie Pe ter Sin ger und sein US-ame ri ka ni scher Phi lo so phen kol le ge Tom Re gan for dern Rech te auch fuumlr Tie re Der Aus schluss der Tie re aus der Ethik sei ein mo ra li scher Skan dal Das Tier heu te mo ra lisch drau szligen vor der Tuumlr zu las sen sei das Erbe ei nes re li gi ouml sen Aber glau bens Da der Mensch kei ne Son der an fer ti gung Got tes sei son dern ein in tel-li gen tes Tier muumlss ten wir die Reich wei te der Mo ral eben so auf die raquoan de ren Tie relaquo aus deh nen Ha ben wir nicht nach und nach ge lernt die Skla ve rei zu aumlch ten und Frau en als gleich be rech tig-te Men schen zu ach ten Und ist es nun nicht an der Zeit neu uumlber Tie re nach zu den ken und sie mo ra lisch an ge mes sen zu be-ur tei len

Doch wie koumlnn te ein sol cher an ge mes se ner Um gang mit den an de ren Tie ren aus se hen Den Men schen als ein Tier un ter an-2

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de ren an zu se hen koumlnn te ja auch be deu ten ihn ab zu wer ten statt die Tie re mo ra lisch erns ter zu neh men Das Un heil des So zi-al dar wi nis mus und der bar ba ri schen Ras sen the o rie ste ht uns mah nend vor Au gen Und was ist uumlber haupt das Kri te ri um da-fuumlr Tie re mo ra lisch zu ach ten Ist es ihre Lei dens fauml hig keit ihr Le bens wil le oder ihre In tel li genz Ha ben klu ge Tie re ein houml he-res Le bens recht als duumlm me re Das Ver haumllt nis des Men schen zu den an de ren Tie ren neu zu be wer ten ist eine gro szlige und schwie-ri ge Auf ga be

Ich moumlch te in die sem Buch ver su chen die se Fra gen neu zu stel len und zu durch den ken Da bei be trach te ich den Men schen als ein be son de res Tier un ter vie len auf an de re Wei se be son de ren Tie ren Ich moumlch te mich nicht da rauf fest le gen den Men schen all ge mein uumlber be stimm te Ei gen schaf ten zu de fi nie ren die ihn ethisch wert voll ma chen sol len Ich moumlch te ihm aber auch nicht im Um kehr schluss alle ge mein hin als raquomensch lichlaquo be zeich ne ten Ei gen schaf ten ab spre chen weil nicht alle Men schen Trauml ger all die ser Ei gen schaf ten sind Viel leicht ist be reits das Su chen nach sol chen ex klu si ven Ei gen schaf ten der fal sche Weg Der Denk-feh ler koumlnn te be reits da rin lie gen ei gen staumln di ge Dis zip li nen wie raquoAnth ro po lo gielaquo oder raquoMo ral phi lo so phielaquo be trei ben zu wol len die eine sol che enge De fi ni ti on des Men schen vo raus set zen Waumlre es nicht bes ser die Enge des Be griffs zu spren gen Statt Anth-ro po lo gie zu be trei ben soll te man sich lie ber mit ei ner Anthroshyzo o lo gie be schaumlf ti gen ndash eine Leh re vom Men schen tier und den an de ren Tie ren

Der Be griff ist neu er wur de erst vor we ni gen Jah ren un ter an de rem von dem US-ame ri ka ni schen Psy cho lo gen Hal Her zog ein ge fuumlhrt3 Die neue Dis zip lin der Hu manshyAni mal Stu dies kon-zent riert sich weit rei chend da rauf was Men schen und an de re Tie re ver bin det Da bei ver wen de ich den Be griff raquoAn thro zo o-lo gielaquo al ler dings et was an ders als Her zog und die Ver tre ter der Hu man-Ani mal Stu dies Es ist ein et was ein touml ni ger Sport al les 3

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was ge mein hin als raquomensch lichlaquo be trach tet wird als My thos zu ent zau bern Ich moumlch te es lie ber an ders ein bet ten und be wer ten Denn ich mei ne dass die Ver tre ter der Hu man-Ani mal Stu dies ihre De fi ni ti on des Men schen als ein Tier un ter Tie ren nicht ganz zu Ende den ken Denn waumlre der Mensch durch nichts Mensch-li ches grund saumltz lich vom Tier un ter schie den wie sie an neh men so lieszlige sich auch nicht ein for dern dass Men schen sich aus vershynuumlnf ti ger Ein sicht an ge mes sen ge gen uumlber Tie ren ver hal ten sol len

Um mensch li ches Han deln zu ver ste hen muumls sen wir ver ste-hen in wel chem Rah men Men schen die Welt se hen sich ori en-tie ren und han deln Die bei den ers ten Tei le des Bu ches skiz zie-ren die sen bi o lo gi schen und den kul tu rel len Rah men In ih nen moumlch te ich zei gen auf wel che Art und Wei se Men schen sich un-ter Tie ren ver hiel ten und ver hal ten Da bei be schaumlf tigt sich der ers te Teil mit der Fra ge was fuumlr ein spe zi el les Tier der Mensch ei gent lich ist Wie ist sei ne Rol le in der Evo lu ti on Und nach wel chen Denk mus tern ha ben Men schen die se Chro nik un se rer selbst seit der An ti ke ge schrie ben (Die Ord nung der Schoumlpshyfung) Wel che Stel lung hat sich Homo sap iens in der Na tur da-durch ge si chert dass er sie sich zu schrieb (Der Pri mat)

In je der mensch li chen Wis sen schaft vom Le ben be steht bis heu te still schwei gend oder laut hals ver kuumln det zwi schen Mensch und Tier eine Gren ze Doch weiszlig we der die E vo lu ti ons bi o lo-gie noch die Pal aumlo anth ro po lo gie mit Ge wiss heit zu sa gen an wel chem Punkt sich nur ani ma li sches von mensch li chem Le ben schei det Was ha ben Pal aumlo anth ro po lo gen in den letz ten hun dert Jah ren da ruuml ber ge glaubt Und was den ken sie heu te (Der aufshyrech te Affe) Da bei wer den wir se hen dass es mit der Gren ze zwi schen dem Men schen und den an de ren Tie ren eine aumlu szligerst komp li zier te Sa che ist Seit Jahr zehn ten mes sen und ver glei chen Ver hal tens for scher die kog ni ti ven Leis tun gen von Tie ren mit je-nen des Men schen mit dem uumlber ra schen den Er geb nis dass Tie re in na he zu al len raquowich ti genlaquo Punk ten un ter le gen sind bei Kul tur-

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leis tun gen wie Werk zeug ge brauch und Re li gi on eben so wie beim Er werb der mensch li chen Spra che Doch ha ben wir bei sol chen Mes sun gen tat saumlch lich den rich ti gen den fai ren Maszlig stab Ist es sinn voll die In tel li genz von Men schen af fen mit uns zu ver glei-chen (Sinn und Sinn lich keit)

Die Mo le ku lar ge ne tik zeigt uns dass Men schen bi o lo gisch Schim pan sen sind Wel che Kon se quen zen zie hen wir da raus (Eins Kom ma sechs Pro zent) Nach dem wir den Men schen auf die se Wei se bi o lo gisch ein ge kreist ha ben wer fen wir noch ei nen Blick da rauf wie ob jek tiv un ser Wis sen vom Men schen und den an de ren Tie ren ist Was koumln nen wir uumlber haupt uumlber das Be wusst-sein an de rer Tie re wis sen Stellt es nicht eine so gro szlige Bar ri e re dar dass wir zu ge ben muumls sen nichts De fi ni ti ves sa gen zu koumln-nen (Die Tuuml cke des Sub jekts)

Im zwei ten Teil wer fe ich ei nen Blick in die Kul tur ge schich te des Mensch-Tier-Ver haumllt nis ses Was ha ben Men schen zu wel cher Zeit uumlber Tie re ge dacht und wa rum Wie hat man sie be han delt Und wel che Sen si bi li taumlt oder Kaumll te setz te sich wa rum durch Was wis sen wir da ruuml ber aus der Jung stein zeit (Die Tund ra des Ge wis sens) Was glaub ten und dach ten die al ten Aumlgyp ter (raquoIch habe kein Tier miss han deltlaquo) Und wa rum ent zau ber te das alte Ju den tum die Tie re (Hir ten und Herr scher)

In der abend laumln di schen Phi lo so phie gibt es seit der An ti ke sehr un ter schied li che Deu tun gen von Tie ren Mal se hen die Den ker eine gro szlige spi ri tu el le oder na tur ge schicht li che Naumlhe mal er he-ben sie den Menschen qua sei ner Ver nunft zum un ein ge schraumlnk-ten Wel ten herr scher (Das ver lo re ne Pa ra dies) In der christ li chen Re li gi on da ge gen wer den Men schen und Tie re deut lich von ei-nan der ge schie den eine Son der an fer ti gung hier eine Drein ga-be dort Das Chris ten tum ent fernt die tier freund li chen Mo men-te der juuml di schen Re li gi on aus den Glau bens leh ren (raquoKuumlm mert sich Gott etwa um die Och senlaquo) An ders ver laumluft der Weg in In di en Chi na und Suumld ost a si en Das Welt bild und die Tier ethik

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 249783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 24 10082021 10493410082021 104934

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von Hin dus und Bud dhis ten un ter schei den sich von der un se-ren (Schein hei li ge Kuumlhe) Im Abend land da ge gen do mi niert in der Nach fol ge des fran zouml si schen Phi lo so phen Reneacute Des car tes eine raquora ti o na lis ti schelaquo kal te Pers pek ti ve auf das Tier Tie re weil sie nicht ver nunft fauml hig sei en wer den kaum noch als Le be we sen wahr ge nom men ndash eine Po si ti on die im 18 Jahr hun dert al ler-dings ziem lich kont ro vers dis ku tiert wird (Die Den ker und das lie be Vieh) Nach und nach ent ste hen im spauml ten 18 Jahr hun dert eine neue Mit leids ethik und so gar ers te For de run gen nach Rech-ten fuumlr Tie re (raquoKoumln nen sie lei denlaquo)

Im drit ten Teil moumlch te ich eine ei ge ne ethi sche Hal tung ent-wi ckeln Zu naumlchst wer den The o ri en von Phi lo so phen des 20 Jahr hun derts vor ge stellt die wie Al bert Schweit zer raquoEhr furcht vor dem Le benlaquo ver lan gen oder Tie ren ei nen ho hen mo ra li schen Sta tus zu spre chen wie Pe ter Sin ger und Tom Re gan (Das ei sershyne Tor) Die se Po si ti o nen zwin gen dazu grund saumltz li cher da ruuml-ber nach zu den ken was das raquoTier rechtlaquo vom raquoTier schutzlaquo un-ter schei den soll (Schutz oder Recht) An schlie szligend moumlch te ich die Schwach stel len der gaumln gi gen Tier rechts phi lo so phi en he raus-ar bei ten und zei gen wa rum ich sie we der dem Men schen fuumlr an-ge mes sen hal te noch fuumlr all ge mein prak ti ka bel (Eine art ge rech te Mo ral) Da ran schlie szligen sich mei ne Uumlber le gun gen an was ein an ge mes se ner Um gang mit Tie ren sein koumlnn te (Gut besser am besten)

Sol cher ma szligen ge ruumls tet koumln nen wir uns im vier ten Teil mit den vie len Prob le men be fas sen die sich im All tag stel len Das ers te die ser Ka pi tel bi lan ziert das all taumlg li che Cha os im Um gang mit Tie ren (Lie ben ndash Has sen ndash Es sen) Da nach wen den wir den Blick auf die recht li che Si tu a ti on und un ter zie hen die Lo gik un-se res Tier schutz ge set zes ei ner ge nau e ren Pruuml fung (Ein kur zer Text uumlber das Touml ten) Das naumlchs te Ka pi tel gilt der Jagd Ist Ja gen art ty pi sches Ver hal ten des Men schen oder eine staat lich le gi ti-mier te Per ver si on (Na tur schutz oder Lust mord) Und wie sieht

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 259783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 25 10082021 10493410082021 104934

es mit un se rer Er naumlh rung aus Wel che Ar gu men te spre chen da-fuumlr dass Men schen in un se ren heu ti gen west li chen Ge sell schaf-ten noch Tie re touml ten duumlr fen um sich von ih nen zu er naumlh ren Und wel che Ar gu men te spre chen da ge gen Viel leicht gibt es so gar schon in Kuumlr ze ei nen Aus weg der uns end lich hilft die Mas sen-tier hal tung zu be sei ti gen (Jen seits von Wurst und Kaumlse) Eben so stellt sich die Fra ge un ter wel chen Um staumln den Tier ver su che zu-kuumlnf tig er laubt sein soll ten und un ter wel chen nicht (Das Tier als Dum my) Ist es mo ra lisch ver tret bar Tie re in Zo o lo gi schen Gaumlr ten zu hal ten Und wenn ja wel che und wel che nicht (Alshycat raz oder Psycho top) Zoos ver ste hen sich heu te als raquoNa tur-schutz zent renlaquo die Tie re er hal ten die in ih ren Hei mat laumln dern vom Aus ster ben be droht sind Wie ist dies zu be wer ten (Das Zeit al ter der Ein sam keit) Da bei sto szligen wir auf die Schwie rig-keit dass Tier schutz Tier recht und Ar ten schutz kei ne na tuumlr li-chen Ver buumln de ten sind son dern sich in ih rer Phi lo so phie ih rer Welt an schau ung und ih ren Ziel set zun gen stark un ter schei den (Das un ver soumlhn li che Tri um vi rat) Das Schluss wort bi lan ziert die se Er kennt nis se und fragt was wir aus al le dem prag ma tisch fol gern soll ten und in wel chen Schrit ten es ge sche hen koumlnn te (Scho pen hau ers Trep pe)

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Das Men schen tier

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Wahr heit zu hal ten Aber die ses Bild hat sich schon oft ver aumln-dert und es wird sich ge wiss noch wei ter ver aumln dern

Men schen nei gen dazu die Welt in der sie le ben auf zu raumlu-men Es ist eine ziem lich art ty pi sche Ver hal tens wei se Wir sor tie-ren die all taumlg li chen Din ge un se res Le bens und eben so sor tie ren wir die Ge dan ken uumlber die Welt die uns um gibt Jede Ord nung auch die der Na tur ist also ein mensch li cher Ent wurf Und al-lem An schein nach ent stand das Be duumlrf nis die Welt zu ord nen in un se rer Ent wick lungs ge schich te pa ral lel zur Ent wick lung der Spra che Denn ohne die kuumlnst li che Auf raumlum ar beit der Spra che waumlre die Vor stel lung von ei ner raquoOrd nung der Schoumlp funglaquo oder der raquoNa turlaquo nicht moumlg lich

Wer auf die Ord nung an ge wie sen ist be wegt sich gern in den si che ren Gren zen ei nes Sys tems Nur in ner halb ei nes sol chen Ord nungs ge fuuml ges fragt man nach Wahr heit und Gel tung Rich-tig keit Me tho de und Be deu tung Zu leicht uumlber sieht der Ord ner dann die kuumlnst li che Be hau sung und die selbst ge zim mer ten Re-ga le in die er die Welt so sorg faumll tig hi nein sor tiert Sel ten ge lingt ihm ein Blick aus dem Fens ter in die un ge wis se Land schaft die ihn um gibt Und nur ein ge wal ti ger Sturm ein Blitz schlag oder eine Er schuumlt te rung zwingt den Ver wal ter der Welt die si che re Wohn statt zu ver las sen und sich ein an de res Haus zu bau en das den An fein dun gen des neu en Kli mas wi der steht

Erst im Ruumlck blick auf die vie len Irr tuuml mer der Ver gan gen heit er ken nen wir dann un se re ei ge ne Un zu laumlng lich keit beim Auf-raumlu men In der Ge gen wart er scheint uns die je wei li ge Ord nung meis tens so selbst ver staumlnd lich dass wir gern uumlber jede Moumlg-lich keit der Ver aumln de rung lauml cheln So ha ben Men schen mit voumll li-ger Ge wiss heit an ge nom men dass die Erde eine Schei be ist und dass Frau en und Skla ven kei ne Rech te zu ste hen Und mit ei nem eben sol chen Lauml cheln be trach ten wir heu te die Gruumln de mit de-nen Men schen sich im Lau fe der Jahr hun der te von den Tie ren zu un ter schei den glaub ten

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 309783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 30 10082021 10493410082021 104934

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Schon die al ten Grie chen ins be son de re Aris to te les (384 v Chr ndash 322 v Chr) ha ben sich fuumlr die Ge schich te und das in vie len De tails ver bor ge ne Sys tem der Na tur in te res siert Er teilt die Tie re in Klas sen ein ver sucht zu er gruumln den was Le ben ist und schafft da mit die Grund la gen der Zo o lo gie Aber Aris to te-les kennt nur we ni ge hun dert Tie re Eine raquovoll staumln di ge Na tur-ge schich telaquo wird das ers te Mal im 18 Jahr hun dert ge schrie-ben ndash und auch sie ist aumlu szligerst un voll staumln dig Seit dem ver fuuml gen wir nicht nur uumlber ei nen rei chen Vor rat an ge dach ten Ord nun-gen von den Schoumlp fungs my then bis hin zur Mo le ku lar bi o lo gie Wir ken nen auch eine Wis sen schaft die sich raquoTax ono mielaquo nennt und jede Pfan ze und je des Tier sys te ma tisch in eine In ven tar liste der Na tur ein traumlgt

Da bei ver ra ten die Denk sche ma ta der Na tur for scher nicht nur et was uumlber die klas si fi zier te Na tur selbst son dern eben so uumlber das Ord nungs be duumlrf nis und die Pfif fig keit des mensch li-chen Geis tes Das 18 Jahr hun dert ist eine Zeit in der das Buumlr-ger tum an die Macht draumlngt und sich zu neh mend ge gen den Adel auf ehnt Sei ne schaumlrfs te Waf fe ist et was das man raquoVer nunftlaquo oder raquoRa ti o na li taumltlaquo nennt und das man ge gen den Glau ben ins Feld fuumlhrt Fuumlr die Phi lo so phen der Ra ti o na li taumlt ist die Welt kei-ne vor ge fun de ne Schoumlp fung mit fes ter Ord nung son dern et was dass man geis tig durch drin gen und auf sei ne Lo gik und Wi der-spruuml che un ter su chen kann Da bei ge ben zu naumlchst die Phy sik und die Ma the ma tik das Sche ma vor nach dem alle Er kennt nis auch jene von Pfan zen und Tie ren funk ti o nie ren soll Die Sys te ma ti-ker der Na tur ge schich te su chen nach un ver ruumlck ba ren Kri te ri en ob jek ti ven Ge setz mauml szligig kei ten und lo gi schen Ver bin dun gen um die un uuml ber sicht li che Welt der Le be we sen ih rer raquowah ren An ord-nunglaquo ge maumlszlig ein zu tei len Aber nicht alle Na tur for scher glau-ben dass ein sol ches Vor ha ben tat saumlch lich ge lin gen kann Man-che hal ten die Na tur fuumlr zu reich hal tig um sie auf die se Wei se zu klas si fi zie ren Welt an schau un gen tref fen auf ei nan der auf der

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 319783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 31 10082021 10493410082021 104934

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ei nen Sei te der Glau be an ein vom Men schen prin zi pi ell voumll lig durch schau ba res Na tur sys tem auf der an de ren Sei te eine un er-gruumlnd li che Schoumlp fung in der der Mensch sich im mer nur tas-tend fort be wegt

Die ers te Va ri an te gilt im 18 Jahr hun dert als der mo der ne-re An satz Man ori en tiert sich da bei an ei nem Ra ti o na lis mus den Reneacute Des car tes (1596 ndash 1650) schon hun dert Jah re zu vor neu be gruumln det hat Die ser Ra ti o na lis mus ori en tiert sich an der Me cha nik Die Schoumlp fung Got tes er scheint als eine ein zi ge klug aus ge tuumlf tel te Ma schi ne die der Mensch Stuumlck fuumlr Stuumlck zu be-herr schen lernt Und das Uni ver sum be steht aus Ma te rie in Be-we gung or ga ni siert nach ma the ma ti schen Ge set zen Ob gleich das 18 Jahr hun dert zent ra le Spe ku la ti o nen des Phi lo so phen wi-der legt ori en tiert es sich in vie lem an Des car tesrsquo me cha nis ti scher Denk wei se Sie tut dies vor zugs wei se in je nen Dis zip li nen de-ren Er kennt nis fort schritt zu naumlchst ge ring bleibt Und nir gend-wo trifft dies in ei nem sol chen Maszlig zu wie bei der Er for schung der bi o lo gi schen Na tur

Doch die ses Welt bild hat prob le ma ti sche Fol gen Wer die Welt kon se quent nach me cha nis ti schen Grund saumlt zen be trach tet hat fuumlr den Be reich der nicht mensch li chen Na tur we nig Ver staumlnd nis Fuumlr Des car tes sind Tie re nichts als Ma schi nen Es macht kei nen Un ter schied ob eine Ma schi ne die aumlu szlige re Ge stalt und die in ne-ren Or ga ne ei nes Af fen hat oder ob es sich da bei tat saumlch lich um ein le ben des Tier han delt Denn relevantes Le ben kommt fuumlr den Den ker nicht durch zir ku lie ren des Blut und Reizempfindungen in den Koumlrper Son dern bedeutsames Le ben ga ran tie ren ein zig und al lein der er leuch te te Geist und sei ne Spra che

Des car tesrsquo Zeit kennt we der den Be griff des raquoOr ga nis muslaquo die Be son der heit des Le bens noch die Evo lu ti on son dern eben nur die Me cha nik Trotz dem ist sei ne The o rie von den Tie ren als see len lo se Au to ma ten im 17 und 18 Jahr hun dert aumlu szligerst um-strit ten Fran zouml si sche Phi lo so phen schrei ben Buch um Buch uumlber

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 329783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 32 10082021 10493410082021 104934

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die Tier-Fra ge und be feh den sich da bei uumlber mehr als hun dert Jah re Noch weiszlig man nichts von ei ner raquoBi o lo gielaquo Man be treibt eine neue Dis zip lin die sich raquoNa tur ge schich telaquo nennt und da-mit auf raumlumt die Ge schich te von Le be we sen als eine wahl lo se Samm lung von Er zaumlh lun gen an zu se hen Bis her schrie ben Au to-ren um stands los von der Fang wei se der Tie re ih rer Ana to mie ih rer bib li schen und al le go ri schen Be deu tung ih rem prak ti schen Ge brauch ih rer Ver meh rung ih ren Stim men und Spra chen ih-ren Be we gun gen ih rem Al ter und von der Sym pa thie oder An-ti pa thie des Ver fas sers Auch Koch re zep te wur den von Fall zu Fall hin zu ge fuumlgt

Ein zo o lo gi sches Sys tem ist zu An fang des 18 Jahr hun derts weit ge hend un be kannt die Ver wandt schafts ver haumllt nis se der Pfan zen und Tie re sind dif fus ge ahnt und wer den eher nach Le-bens raumlu men be stimmt als nach koumlr per li chen Merk ma len Tie re die nachts ja gen ste hen da bei eben so in ei nem Ord nungs ge fuuml ge wie Tie re die fie gen koumln nen im Wald oder in ei nem See le ben Be reits die Pries ter schrift der bib li schen Ge ne sis hat te die Welt der Tie re und Pfan zen nicht nach ana to mi schen Merk ma len un-ter teilt son dern in Be zug auf den Le bens raum Pfan zen und Tie re des Mee res der Luft und der Erde Uumlber mehr als tau send Jah re kann ten auch der Is lam und die Hin dus Ord nungs sys teme die Tie re in ih rem Oumlko sys tem ver an ker ten

In der hin du is ti schen Samk hya-Tra di ti on exis tie ren vier zehn Klas sen un ter schied li cher Le be we sen ein ge teilt in acht For men himm li scher und sechs ir di scher Le be we sen zu de nen auch der Mensch ge houmlrt Als wei te res Un ter schei dungs merk mal dient die Art und Wei se der Ge burt Im gro szligen in di schen Na ti o nal epos aus dem 4 Jahr hun dert dem Ma hab har ata heiszligt es raquoAuf die ser Erde gibt es zwei Ar ten von Le be we sen die Be weg li chen und die Un be weg li chen Die Be weg li chen ha ben ei nen drei fa chen Schoszlig Sie sind aus dem Ei aus feuch ter Hit ze und Le ben dig-Ge bo re ne Von al len be weg li chen Le be we sen wie de rum sind die je ni gen die

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le ben dig ge bo ren sind hellip die bes ten Die bes ten un ter den le ben-dig Ge bo re nen sind die die zum Men schen ge schlecht ge houml ren und die Nutz tie relaquo4

Die neu en Sys te me des 18 Jahr hun derts be frei en die Na tur-ge schich te von al lem was sich mit den Me tho den der Zeit nicht wis sen schaft lich exakt be schrei ben laumlsst Koch re zep te fal len so-wie so un ter den Tisch aber auch man che Ver hal tens be ob ach-tun gen und vor mals wich ti ge Ei gen schaf ten wie zum Bei spiel der Ge ruch Ge forscht wird mit Lupe und Mik ros kop Li ne al und Pin zet te Der wich tigs te Mann auf die sem Ge biet ist der schwe-di sche Na tur for scher Carl von Linneacute (1707 ndash 1778) Er ori en-tiert sich an Aris to te les den er be wun dert nicht an Des car tes Ge ra de zu re vo lu ti o naumlr de mo kra tisch ent wi ckelt der auf ge klaumlr te Schwe de im 18 Jahr hun dert ein be schrei ben des Sys tem der Na-tur frei vom the o lo gi schen Fir le fanz sei ner Zeit Mit der Ak ri bie ei nes Brief mar ken samm lers dem Voll staumln dig keit mehr be deu tet als das Be stau nen ein zel ner Wer te ord net er die be leb te Na tur nach Ar ten Gat tun gen Ord nun gen und Klas sen Vier Va ri ab len die Form der Ele men te ihre An zahl die raumlum li che An ord nung der Ele men te und ihre re la ti ve Grouml szlige be stimm ten von nun an den Platz im Sys tem

Un ter der Leit dis zip lin der Bo ta nik wan delt sich die Na tur ge-schich te in eine ge ord ne te Welt aus Li ni en und Flauml chen Ent schei-dend sind die sicht ba ren Un ter schei dungs merk ma le wie Bluuml ten und Staub ge fauml szlige Blaumlt ter und Fruumlch te Fuumlszlige und Hufe Fe dern und Flos sen So setzt Linneacute fuumlr jede Pfan zen- und Tier klas se jede Ord nung und Gat tung be stimm te Merk ma le fest die er als die wich ti ge ren er ach te t Denn nur un ter der An nah me sol cher pri vi-le gier ter Struk tu ren ist es ihm moumlg lich die ver schie de nen Spe zi es im Ge samt sys tem un miss ver staumlnd lich zu ras tern Der mensch li che Ord ner be schreibt also nicht ein fach die be leb te Na tur Er fuumlgt ihr auch et was hin zu die Ent schei dung naumlm lich was in der For men-viel falt der Le be we sen wich ti ge Merk ma le sind und was nicht4

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 349783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 34 10082021 10493410082021 104934

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Wie alle da ma li gen Na tur for scher nimmt Linneacute an dass die Ein tei lun gen die der mensch li che Ver stand macht tat saumlch lich ei ner ob jek ti ven Ord nung der Na tur ent spre chen Doch Lin neacutes Sys tem ist wie er selbst weiszlig nicht raquona tuumlr lichlaquo Sei ne Struk tu ren sind kei ne die er in der Na tur als Un ter schei dungs kri te ri en vor-fin det Denn was sich am Schreib tisch nun muumlh sam in Ord nun-gen pres sen laumlsst liegt wie der fran zouml si sche Na tur for scher Mishychel Adan son (1727 ndash 1806) fest stellt in der Wild nis wie Kraut und Ruuml ben durch ei nan der raquohellip eine kon fu se Mi schung aus We-sen hellip die der Zu fall ei nan der an ge nauml hert zu ha ben scheint Hier wird das Gold mit ei nem an de ren Me tall mit ei nem Stein oder mit Erde ge mischt Dort waumlchst die Ei che ne ben dem Veil chen Un ter die sen Pfan zen ir ren eben falls der Vier fuumlszlig ler das Rep til und das In sekt um her Die Fi sche mi schen sich so zu sa gen mit dem waumlss ri gen Ele ment in dem sie schwim men und mit den Pfan zen die auf dem Grun de der Ge waumls ser wach sen hellip Die se Mi schung ist so gar so all ge mein und so viel faumll tig dass sie ei nes der Na tur ge set ze zu sein scheintlaquo5

Der Wi der spruch zwi schen ei ner tax ono mi schen und ei ner oumlko lo gi schen Ord nung der Na tur ist of fen sicht lich Er fin det sich noch heu te in der Dis kus si on um die Aumls the tik von Zoo an la gen Soll man die Tie re nach Ver wandt schafts ver haumllt nis sen sam meln also in Raub tier haumlu sern An ti lo pen haumlu sern und Hirsch an la gen so dass der Be su cher zwi schen den ana to mi schen Be son der hei-ten der Ar ten ndash mit un ter so gar den ge o gra fi schen Va ri an ten ei ner ein zi gen Art ndash zu un ter schei den lernt Oder ge waumlhrt die Nach-ge stal tung ei nes Na tur bi o tops ei ner af ri ka ni schen Sa van ne oder ei nes al pi nen Pa no ra mas den wich ti ge ren Ein blick in die Ord-nung der Na tur

Zwar steht fuumlr Linneacute und sei ne Kol le gen fest dass die raquowah-re Ord nunglaquo der Na tur sich an den koumlr per li chen Merk ma len zu ori en tie ren hat doch muss eine Er klauml rung da fuumlr ge fun den wer-den wa rum die se Ord nung in der frei en Na tur nicht von al lein 5

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sicht bar wird Ohne Zwei fel ist das Sys tem der Na tur kei ne zeit-lo se Schoumlp fung son dern durch Ver aumln de run gen ge kenn zeich net die sich in der Erd ge schich te er eig net ha ben Pa ral lel meh ren sich die Fun de von Fos si li en also von Tie ren die mut maszlig lich aus-ge stor ben sind Es hat al lem An schein nach grouml szlige re ge o lo gi sche Ka tast ro phen in un be kann ter Zahl ge ge ben de nen vie le Ar ten zum Op fer ge fal len sind Doch ha ben die se De sas ter auch zur Ent ste hung von neu en For men ge fuumlhrt

Um den Fak tor der Zeit und sei ne Fol gen fuumlr das Sys tem der Na tur ein zu schaumlt zen gibt es vie le Moumlg lich kei ten Die ein fachs te und mensch lichs te al ler zeit li chen Ord nungs vor stel lun gen ist die Idee al les fol ge ei nem Plan und sei auf ein Ziel hin aus ge rich-tet (Te le o lo gie) Re li gi o nen Phi lo so phi en und Ide o lo gi en funk-ti o nie ren na he zu al le samt ziel ge rich tet Es geht um ein bes se res Le ben auf Er den im Jen seits in ei nem ge rech ten Staat um die Herr schaft uumlber die an de ren uumlber die Pro duk ti ons mit tel oder das Boumlse Selbst un ser All tag ge stal tet sich weit ge hend te le o lo-gisch durch traumlnkt von zu kuumlnf ti ger Er war tung Mo tor jed we-der Te le o lo gie ist der Fort schritts ge dan ke Sein ima gi nauml res Ziel ist der voll kom me ne Zu stand So glau ben christ lich-abend laumln-di sche Ge sell schaf ten gern an eine staumln di ge Ver bes se rung durch An stren gung eine Tu gend die nach cal vi nis ti scher Tra di ti on im Him mel wie auf Er den von Gott ma te ri ell ent lohnt wird Wie na he lie gend also auch in der Na tur die Ent ste hung raquohouml he rerlaquo Le bens for men durch Fort schritt er ken nen zu wol len mit dem End ziel des Men schen

Die Un ord nung der Schoumlp fung mit ei nem goumltt li chen Fort-schritts plan in Ein klang zu brin gen ist das Le bens werk des Schwei zer Na tur for schers und Phi lo so phen Charles Bon net (1720 ndash 1793) Fuumlr Bon net ist die Zahl der Ar ten und ihre aumlu-szlige re Ge stalt von Gott ein fuumlr al le Mal fest ge legt Doch kann sich ein je des Le be we sen per fek ti o nie ren Der Weg vom simp-len Ge muumlt zur ge ni a li schen Leis tung ist vom Schoumlp fer vor ge-

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zeich net Und alle Tie re be schrei ten ihn zeit lich ver setzt nach dem glei chen Mus ter das der Mensch ih nen vor ge lebt hat raquoEs wird ei nen mehr oder we ni ger lang sa men und kon ti nu ier li chen Fort schritt al ler Ar ten zu ei ner houml he ren Ver voll komm nung ge-ben so dass alle Gra de der Stu fen lei ter in ei ner de ter mi nie ren den und kons tan ten Be zie hung fort ge setzt va ri a bel sein wer den hellip Es wird un ter den Af fen Leu te wie New ton und un ter Bi bern wie (den Fes tungs bau meis ter RDP) Vau ban ge ben Die Aus-tern und die Po ly pen wer den in Be zie hung zu den houmlchs ten Ar-ten das sein was die Vouml gel fuumlr die Vier fuumlszlig ler im Ver haumllt nis zum Men schen sindlaquo6

Seit Bon net ist die Vor stel lung von der raquoLei ter der Na turlaquo der Sca la nat urae ein wich ti ges In ven tar des na tur ge schicht-li chen Den kens Fort schritt Ver voll komm nung und goumltt li cher Plan ndash die se drei Grouml szligen be stim men die Vor stel lung vom Wer-den der Na tur vom 18 Jahr hun dert bis in die Ge gen wart hi nein Das Prin zip nach dem die Evo lu ti on Le ben her vor bringt sei un ver meid lich und von An fang an vor her be stimmt Nicht we-ni ge E vo lu ti ons the o re ti ker ha ben dies eben falls ge glaubt und zwar mit be acht li cher Kon ti nu i taumlt Der eng li sche Na tur for scher Alf red Rus sel Wall ace (1823 ndash 1913) der ge mein sam mit Dar win die The o rie der na tuumlr li chen Se lek ti on ent wi ckelt hat te hielt nicht nur den mensch li chen Geist und sein Mo ral emp fin den son dern zu dem auch die wei che nack te emp find sa me Haut des Men-schen fuumlr das Re sul tat ei ner not wen di gen Ent wick lung

Doch schon im 18 Jahr hun dert reg ten sich zu gleich vor sich-ti ge Zwei fel an der Stim mig keit ei ner sol chen Vor ge formt heit Denn wie soll te man Na tur ka tast ro phen be wer ten Waumlh rend die meis ten Na tur for scher sie als Teil des goumltt li chen Schoumlp-fungs plans in ter pre tier ten zo gen an de re ver gleichs wei se fins te-re Schluumls se Und so wur de tat saumlch lich ein gro szliges Erd be ben zum in di rek ten Aus louml ser der Evo lu ti ons the o rie naumlm lich je nes von Lis sa bon im Jahr 1755 Wer uumlber die Ka tast ro phe nach dach te 6

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 379783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 37 10082021 10493410082021 104934

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konn te star ken Zwei fel da ran he gen dass die Welt ord nung aus-ge kluuml gelt und har mo nisch sei

Die wei test rei chen den Schluss fol ge run gen zog der eng li-sche Pfar rer und Na ti o nal oumlko nom Tho mas Ro bert Malt hus (1766 ndash 1834) Nicht nur die ge o lo gi sche Na tur und ihr Ge-fah ren ri si ko son dern auch die Ver meh rung der Be voumll ke rung wur de nun als Uumlbel er kannt Im Jahr 1798 pub li zier te Malt-hus sei nen Es say on the Princi ple of Po pu la ti on (Das Be voumllshyke rungs ge setz) die ers te Mahn schrift vor den Ge fah ren ei ner Be voumll ke rungs ex plo si on Bei ei ner Ver dop pe lungs ra te der Welt-be voumll ke rung in ner halb von fuumlnf und zwan zig Jah ren er rech ne-te Malt hus wer de ihr exponent iel les An wach sen auf grund der von der Um welt ge setz ten Gren zen not wen dig zu Ar mut Ka-tast ro phen und Tod fuumlh ren Der bib li sche Auf trag raquoSeid frucht-bar und meh ret euchlaquo er schien mit ei nem Mal als ein Fluch Ein gna den lo ser raquoKampf ums Da seinlaquo (strugg le for life) war ent fes selt Das Ein zi ge was blieb war die Hoff nung die ka-tast ro pha len Fol gen der goumltt li chen An wei sung so weit wie moumlg lich ein daumlm men zu koumln nen

In ei ner Zeit als die Ge sell schafts the o rie noch der Bi o lo-gie den Leuch ter vo ran und nicht wie heu te die Schlep pe hin-terh er traumlgt be geis tert sich vor al lem ein eng li scher Dorf pfar rer Charles Dar win (1809 ndash 1882) fuumlr die Malt hus rsquoschen Ge set ze Denn wenn es rich tig ist dass sich ein Tier mit ei ner so ge rin-gen Ver meh rungs ra te wie der Mensch ge gen uumlber sei nen Art ge-nos sen durch setz te so gab es sicht lich an de re Kri te ri en fuumlr die Uumlber le bens fauml hig keit ei ner Po pu la ti on als die Zahl ih rer Ge bur-ten Der Maszlig stab fuumlr den Er folg ei ner Spe zi es war ihr Durch set-zungs ver mouml gen oder wie Dar win es spauml ter in den Prin zi pi en der Bio logie des jun gen Phi lo so phen Her bert Spen cer (1820 ndash 1903) le sen konn te raquothe sur vi val of the fit testlaquo

Dar wins na tur kund li che Stu di en wa ren ur spruumlng lich von dem Ge dan ken be seelt die nicht a ni ma li sche Iden ti taumlt des Men schen

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zu be wei sen Erst der Sieg des Ent de cker stol zes uumlber das Ent-set zen ver lieh ihm schlieszlig lich den Mut den be ruumlhm ten Satz zu schrei ben raquoUnd ich bin bei na he uumlber zeugt (der Mei nung mit der ich an die Fra ge he ran ge tre ten bin voumll lig ent ge gen ge setzt) dass die Spe zi es (mir ist es als ge staumln de ich ei nen Mord ein) nicht un ver aumln der lich sindlaquo7

Dar wins kuumlh ne Ver mu tung war nicht ganz neu Be reits ein hal bes Jahr hun dert zu vor hat ten der fran zouml si sche Na tur for scher GeorgesshyLou is Lec lerc Comte de Buf fon (1707 ndash 1788) und der Phi lo soph De nis Dide rot (1713 ndash 1784) uumlber eine Ver aumln de-rung der Ar ten spe ku liert Be son ders JeanshyBap tiste de La marck (1744 ndash 1829) be haup te te die all maumlh li che Ent wick lung der Ar-ten aus pri mi ti ve ren Vor for men die so ge nann te Trans mu ta ti on La marck war nicht nur ein Pi o nier der mit Jahr mil li o nen han-tier te als alle Welt die Erde noch ei ni ge tau send bis hun dert tau-send Jah re jung waumlhn te son dern er praumlg te (zur glei chen Zeit wie zwei deut sche Na tur for scher) das Wort Bi o lo gie Bei ihm wan del ten sich die Le be we sen da durch dass sich ihre koumlr per-li chen An stren gun gen auf ihr Erb gut aus wir ken Da bei nahm er al ler dings nicht an dass die Ar ten aus ei nan der her vor ge hen wie Dar win es spauml ter tat La ma rcks The o rie ist nauml her an je ner von Bon net Fuumlr ihn ver voll komm nen die ein zel nen Tier ar ten im Lau fe der Zeit ihre An la gen und ent wi ckeln sich da durch im-mer houml her Be son ders voll kom me ne Tie re wie der Mensch sind dem nach sehr alt denn sie ha ben ei nen wei ten Weg von ei nem pri mi ti ven Or ga nis mus bis hin zur heu ti gen Ge stalt hin ter sich ge las sen An de re wie der pri mi ti ve Suumlszlig was ser po lyp ha ben ihre Rei se durch die Zeit ge ra de erst an ge fan gen

La marck war kein Charis mati ker und die zo o lo gi sche All-macht sei nes Vor ge setz ten am Jar din des Plan tes in Pa ris des Ba rons George Cu vier (1769 ndash 1832) ver hin der te dass man sich all zu sehr mit sei nen The o ri en be schaumlf tig te Cu vier war ein be-deu ten der Mann An die Stel le ei ner nach bo ta ni schem Mus ter 7

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 399783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 39 10082021 10493410082021 104934

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ver fah ren den Zo o lo gie setz te er eine neue Wis sen schaft die sich we ni ger an aumlu szlige ren Merk ma len als am Or ga nis mus der Tie-re ori en tier te Doch was die Trans mu ta ti on an be lang te blieb der Ober auf se her der pro tes tan tisch-the o lo gi schen Fa kul tauml ten Frank reichs beim kon ser va ti ven Mo dell Er ver brei te te wei-ter hin eine Ket te von Na tur ka tast ro phen habe als mo di fi zier-te Sint fu ten gan zen Klas sen von Tie ren den Gar aus ge macht Die se The o rie ist weit ge hend rich tig al ler dings schlieszligt sie die Trans mu ta ti on nicht aus

Das wirk lich Re vo lu ti o nauml re an La marck war die Idee die Ge schich te der Na tur nicht vom Men schen aus bis hi nun ter zur Bak te rie zu schrei ben son dern um ge kehrt von der Bak te rie zum Men schen Aus ei nem Mo dell der raumlum li chen Hie rar chie wur de ein Mo dell der zeit li chen Ent wick lung La marck er kann te zu-dem dass das Be wusst sein ei nes Tie res an die Phy si o lo gie und Neu ro lo gie sei nes Koumlr pers ge bun den ist Dem nach ist je der Geist ers tens be grenzt und zwei tens ver aumln der lich

Die phi lo so phi sche Kon se quenz aus La ma rcks Den ken ist so ra di kal dass sie fast ein hun dert fuumlnf zig Jah re lang von nie man-dem ernst haft in Be tracht ge zo gen wur de Wie kann ein Geist der den Ge set zen der Evo lu ti on un ter wor fen ist sich ei gent lich an ma szligen die Na tur der Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Von die ser Schluss fol ge rung woll te die Bi o lo gie al ler dings bis weit ins 20 Jahr hun dert hi nein nicht viel wis sen

Auch Dar wins The o rie von der na tuumlr li chen Se lek ti on der Le be we sen im Rin gen um ihr Le ben und mit der Um welt ent-wi ckel te sich wei ter Ge witz ten Zeit ge nos sen wie Karl Marx (1818 ndash 1883) war auf ge fal len wie stark Dar wins Den ken dem Zeit geist des Vik to ri a ni schen Zeit al ters ver haf tet war raquoEs ist merk wuumlr dig wie Dar win un ter Bes ti en und Pfan zen sei ne eng li-sche Ge sell schaft mit ih rer Tei lung der Ar beit Kon kur renz Auf-schluss neu er Maumlrk te rsaquoEr fin dun genlsaquo und Malt hus schem rsaquoKampf ums Da seinlsaquo wie der er kenntlaquo8 Die Be to nung des Malt hus rsquoschen 8

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 409783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 40 10082021 10493410082021 104934

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Kamp fes von je dem ge gen je den und auch der Fort schritts glau-be in Dar wins Den ken zei gen ihn stark sei ner Zeit ver haf tet

Eine an de re Kri tik kam aus der Bi o lo gie selbst Dar win hat-te noch nichts von Ge nen ge wusst So konn te er nicht er klauml ren was sich bi o che misch er eig ne te wenn Ar ten sich ver aumln der ten Der raquoDar wi nis muslaquo der Jahr hun dert wen de gab schlieszlig lich die Hoff nung auf die Evo lu ti on lie szlige sich al lein durch die na tuumlr li-che Se lek ti on der Ar ten nach Maszlig ga be ih rer An pas sungs fauml hig-keit an die Um welt be gruumln den Man ent deck te die Rol le der Ge-ne tik und zum neu en Er klauml rungs prin zip wur de das Mo dell der zwei Kons t ruk teu re Das Spiel des Le bens er hielt ei nen Wuumlr fel zu faumll li ge Ver aumln de run gen im Gen ma te ri al also so ge nann te Mu tashyti o nen Im Tri alshyandshyEr ror-Ver fah ren ent ste hen im Erb gut ge le-gent lich Ab wei chun gen die dann er folg reich sind wenn sie sich in der Um welt be waumlh ren Da mit war die Idee vom Tisch dass sich neu er wor be ne Ei gen schaf ten oder raquodie ana to mi schen Aus-wir kun gen koumlr per li cher An stren gun genlaquo wie La marck mein te ver er ben koumlnn ten Noch Dar win hat te dies fuumlr denk bar ge hal ten So ver trau te er Er zaumlh lun gen wo nach bei je nen Volks grup pen zu de ren Ri ten die re gel mauml szligi ge Be schnei dung der Pe nis vor haut ge houmlrt sich die Vor haut all maumlh lich ver kuumlrz te Das haumlt te zwar die Be schnei dung uumlber fuumls sig ge macht aber Dar win hat te ge ra-de an de res Ge wich ti ges zu be den ken als da ruuml ber nach zu sin nen

Die Ver kuumlr zung der Vor haut blieb im Wis sens schatz der Dar wi nis ten bis Au gust Weis mann (1834 ndash 1914) im spauml ten 19 Jahr hun dert nach wies dass ein sol cher In for ma ti ons fuss vom aumlu szlige ren Er schei nungs bild zum Erb ma te ri al nicht moumlg lich sei Uumlber fuumlnf Ge ne ra ti o nen kuumlrz te Weis mann ei nem Stamm von Maumlu sen ihre Schwaumln ze ohne dass eine Nach richt uumlber die sen Ein griff die Keim bah nen der Maumlu se er reich te Denn sie he da Auch die Schwaumln ze der nach fol gen den Maumlu se ge ne ra ti o nen blie-ben gleich lang Da be durf te es schon der Spitz fin dig keit des iri schen Dich ters George Bern ard Shaw (1856 ndash 1950) der Weis-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 419783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 41 10082021 10493410082021 104934

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manns schnei den de Wi der le gung der La marckrsquo schen The o rie leicht fer tig vom Se zier tisch wisch te Die Maumlu se be merk te der Dich ter haumlt ten gar kei ne An stren gun gen un ter nom men ihre Schwaumln ze zu ver lie ren waumlh rend sich die Tie re bei La marck ja da rum be muumlht haumlt ten sich zu ver aumln dern

Im Nach hi n ein also war es der pauml da go gi sche Op ti mis mus der La marck in die Irre ge fuumlhrt ha ben soll te So mach te die Hoff-nung auf ei nen ethisch an spre chen den E vo lu ti ons ver lauf ndash die Er war tung die Mensch heit ent wick le sich qua An pas sung an das so zi a le Mi li eu durch Selbst er zie hung zum Bes se ren ndash nur noch eine et was ab sei ti ge Kar ri e re im staats so zi a lis ti schen Bi o lo gie-un ter richt der Sow jet u ni on Wie kalt da ge gen der uumlber le ge ne raquoKampf ums Da seinlaquo der ja ein Kampf um die Fleisch toumlp fe ist ohne Hoff nung der Mensch wer de den kuumlh nen Geist statt sei-nes ma te ri a lis ti schen Gier hal ses nach Houml he rem stre cken Und ein zig die Kir che be wahr te un ver dros sen ei nen la marc kis ti schen Ge dan ken ndash al ler dings ei nen pes si mis ti schen und kei nen op ti-mis ti schen In bes ter Schuumlt zen hil fe fuumlr den fran zouml si schen Che-va li er ver tei digt sie bis heu te ihr mo le ku lar ge ne tisch be denk li-ches Dog ma Adams Un ge hor sam im Gar ten Eden habe zu ei ner raquoErb suumln delaquo ge fuumlhrt die da rauf hin auf alle zu kuumlnf ti gen Ge ne ra-ti o nen uumlber ge gan gen sei

Im mer hin sind in den bei den letz ten Jahr zehn ten ei ni ge Bi o-lo gen wie der et was of fe ner da fuumlr ge wor den der Ver er bung er-wor be ner Ei gen schaf ten ei nen Platz in der Ge ne tik zu las sen Zwar ver er ben sich psy chi sche und phy si sche Le bens er fah run-gen nicht durch ver aumln der te Gene Aber es koumlnn te doch sein dass jene Schal ter die da ruuml ber be stim men wel che ge ne ti sche In for-ma ti on wei ter ge ge ben wird und wel che nicht durch Um welt-ein fuumls se ver aumln dert wer den Uumlber le gun gen wie die se be schaumlf ti-gen so ge nann te Epi gen eti ker seit ei ni ger Zeit sie ha ben ei nen wach sen den Ein fuss auf un se re Vor stel lung von der Evo lu ti on

Die heu ti ge Leit dis zip lin die uns die Ver wandt schaft des Le-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 429783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 42 10082021 10493410082021 104934

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bens ent schluumls seln soll ist die Ge ne tik Wir un ter su chen die Sum-me al ler ge ne ti schen In for ma ti o nen und re gist rie ren da bei Uumlber-ein stim mun gen und Ab wei chun gen mit an de ren Ar ten Doch der Pro zess die Na tur un se rer Na tur zu er ken nen ist noch lan ge nicht ab ge schlos sen und wird wohl auch nie ab ge schlos sen sein Wir wen den Ord nungs sche ma ta auf The o ri en und The o ri en auf Be ob ach tun gen an Nur so kom men wir zu Kau sa li tauml ten und Ge-set zen Doch ihre Be deu tung ver aumln dert sich in dem Maszlige wie wir den Blick punkt un se rer Auf merk sam keit wie der ver la gern Die ser Vor gang des Ent dec kens und des Ver de ckens durch neue Denk sche ma ta ist prin zi pi ell nicht ab schlieszlig bar denn selbst ge-gen waumlr ti ge Evo lu ti ons the o ri en un ter lie gen wei ter hin der Evo-lu ti on

Er staun li cher wei se hat die mo der ne Evo lu ti ons the o rie nur zu ei ner ge ring fuuml gi gen Kor rek tur al ter Denk sche ma ta ge fuumlhrt Wie fruuml her in der Na tur ge schich te er ken nen wir heu te in der Bi o lo gie uumlber all Re gel haf tigk eit Not wen dig keit und Vor tei-le Doch bei nauml he rer Sicht er weist sich die Evo lu ti on ge ra de zu als Herr schafts ge biet der Aus nah men uumlber die Re geln Sie ist eine raquoZweck mauml szligig keit ohne Zwecklaquo wenn auch al lein fuumlr die 01 Pro zent der heu te noch ndash oder ge ra de ndash exis tie ren den Spe-zi es nicht aber fuumlr die 999 Pro zent die in den Ur fu ten dem Ord ovizium dem Perm der Krei de oder dem Ter ti aumlr das Welt-li che seg ne ten E vo lu ti ons bi o lo gen su chen in der Ge schich te der Na tur uumlber all nach Vor tei len die das Uumlber le ben von Ar ten er-klauml ren sol len Da bei ver men gen sie oft zwei ver schie de ne Vor-teils be grif fe Ein mal geht es um Mu ta ti o nen die si tu a tiv vor teil-haf te Ei gen schaf ten fuumlr eine Tier art her vor ge bracht ha ben sol len Eine grouml szlige re Sta tur ein pom pouml se res Ge weih ein staumlr ke res Ge biss sol len Weib chen be ein dru cken und die Nach kom men schaft er-houml hen Da die se Ei gen schaf ten aber oft nichts nuumlt zen wenn der Zu fall die Spiel re geln der Um welt aumln dert gibt es ei nen zwei ten Vor teils be griff Da nach ist das vor teil haft in der Evo lu ti on was

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 439783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 43 10082021 10493410082021 104934

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vom Ende her be trach tet dazu ge fuumlhrt hat dass eine Art uumlber-lebt Nach die ser Sicht wei se kann der mick rigs te Pa vi an auf dem Fel sen sei ne Gene wei ter ge ben wenn die staumlr ke ren Kon kur ren-ten bei ei nem Erd be ben ums Le ben ge kom men sind

An ge sichts zwei er so un ter schied li cher Be deu tun gen von raquoVor teillaquo fragt es sich ob der Be griff in der Evo lu ti ons the o rie uumlber haupt sinn voll ver wen det wer den kann Tat saumlch lich ist er ein Erbe der The o lo gie des 17 und 18 Jahr hun derts die uumlber-all in der Na tur nach der klu gen Ver nunft Got tes such te Dar win kann te die se Tra di ti on gut Als Stu dent ver ehr te er den The o lo-gen Will iam Pa ley (1743 ndash 1805) der na tur kund lich be schla gen die goumltt li che Vo raus sicht auf den neu es ten Stand ge bracht hat te Als Dar win sich von Gott ver ab schie de te und die na tuumlr li che Se-lek ti on er kann te er setz te er uumlber all wo Pa ley raquoGod doeslaquo ge-schrie ben hat te den Satz durch raquoNat ure doeslaquo An Pa leys Vor-stel lung dass die Na tur zweck mauml szligig ein ge rich tet sei und Vor tei le be loh ne hielt Dar win eben so fest wie vie le spauml te re E vo lu ti ons-the o re ti ker

Die Fra ge ist des halb wich tig weil sie zeigt wie eng un se re Vor stel lung von der Na tur bis hi nein in die mo der ne Evo lu ti-ons the o rie von sehr mensch li chen Vor stel lun gen durch setzt ist Statt Vor tei le zu be nen nen wuumlr de es naumlm lich auch aus rei chen zu sa gen dass al les in der Na tur uumlber le ben kann das fuumlr eine Art kei nen toumld li chen Nach teil hat te Ver mut lich uumlber lebt in der Evo lu ti on nicht nur Zweck mauml szligi ges son dern jede Ver aumln de rung die zu min dest nicht zum Aus ster ben fuumlhr t und moumlg li cher wei se liegt ge ra de hie rin der Grund fuumlr eine gro szlige Ar ten viel falt

Die tra di ti o nell ver eng te Sicht wei se gilt ins be son de re bei der Be trach tung des Men schen E vo lu ti ons bi o lo gen koumln nen zahl-rei che Vor tei le be nen nen die er klauml ren wa rum die mensch li che Art so er folg reich ist Men schen sind aumlu szligerst an pas sungs fauml hig und be sie deln fast alle Le bens raumlu me sie sind Al les fres ser mit ei ner gro szligen Nah rungs band brei te sie ha ben eine fe xib le So zi-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 449783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 44 10082021 10493410082021 104934

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al struk tur und ver fuuml gen uumlber ein Selbst be wusst sein das es ih-nen er moumlg licht ihr Ver hal ten zu kor ri gie ren So ge se hen ist der Mensch gleich sam das op ti mal ste al ler Tie re Doch alldem zum Trotz exis tie ren Men schen der Gat tung Homo sap iens erst seit rund 100 000 Jah ren und ihre lang fris ti gen Zu kunfts chan cen ste hen schlecht Denn mit all den vor teil haf ten Ei gen schaf ten ha-ben Men schen in Re kord zeit ihre Um welt zer stoumlrt und das lang-fris ti ge Uumlber le ben der Spe zi es dra ma tisch in fra ge ge stellt Die mit we ni ger spek ta ku lauml ren Vor tei len aus ge stat te ten Di no sau ri-er exis tier ten auf un se rem Pla ne ten hun dert fuumlnf zig Mil li o nen Jah re ganz zu schwei gen von den seit uumlber vier hun dert Mil li o-nen Jah ren na he zu un ver aumln der ten Nau til iden und Ur schne cken

Ge si chert in der Evo lu ti ons the o rie ist dass kei ne ih rer An nah-men ge si chert ist E vo lu ti ons bi o lo gen die ihre Sa che ernst neh-men muumls sen im mer auch die E vo lu ti ons be dingt heit ih res ei ge-nen Er kennt nis ap pa rats ref ek tie ren also mit hin die Evo lu ti on al ler mensch li chen Er kennt nis raquoLetzt lich istlaquo wie der Neuro bio-lo ge Ger hard Roth schreibt raquoje des Nach den ken uumlber die ob jek-ti ve Re a li taumlt sei es wis sen schaft lich oder nicht an die Be din gun-gen mensch li chen Den kens Spre chens und Han delns ge bun den und muss sich da rin be waumlh renlaquo9

Man muss ref ek tie ren dass die un ver meid li chen Ord nungs-mit tel des Geis tes das Den ken und die Spra che nicht die Wirk-lich keit raquoan sichlaquo auf raumlu men Sie sind Mo del le die die un ver-fuumlg ba re Wirk lich keit nach Maszlig ga be der ei ge nen Spiel re geln er klauml ren Nicht erst seit Er for schung der Evo lu ti on in den letz-ten zwei hun dert Jah ren muumlht sich der mensch li che Geist dem Lauf der Welt ei nen ndash nach mensch li chem Er mes sen ndash raquover nuumlnf-ti genlaquo Sinn zu ge ben Doch das Pa ra do xe der Ge schich te liegt da rin dass der mensch li che Geist selbst Pro dukt evo lu ti o nauml rer Pro zes se ist Er ist Maszlig stab und Ge mes se nes zu gleich

An eine tat saumlch lich ob jek ti ve Er kennt nis der Evo lu ti on waumlre nur halb wegs sinn voll zu den ken wenn die Evo lu ti on des Men-9

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 459783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 45 10082021 10493410082021 104934

schen ab ge schlos sen ist und da mit die Stu fe der groumlszligt moumlg li chen Voll kom men heit er reicht hat In den Zei ten vor La marck und Dar win ha ben das nicht nur The o lo gen son dern auch die Na tur-for scher fast al le samt ge glaubt Das mensch li che Be wusst sein sei die un uuml ber trof fe ne Spit zen leis tung des Schoumlp fer got tes ge schaf-fen die Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Sei nen schoumlns-ten Aus druck fand die se Sicht in ei nem Aus spruch des jun gen Phi lo so phen Fried rich Wil helm Jo seph Schel ling (1775 ndash 1854) Er mein te dass der Mensch je nes We sen sei raquoin dem die Na tur das Auge auf schlaumlgtlaquo und sich da mit ih rer selbst be wusst wird Ein huumlb scher Satz aber doch viel zu pa the tisch for mu liert Von der vol len Er kennt nis der Na tur und un se rer selbst sind wir noch im mer weit ent fernt Aber wir koumln nen da ruuml ber stau nen dass die Evo lu ti on mit uns ein Le be we sen her vor ge bracht hat in dem die Na tur sich fuumlr sich selbst fa szi nier bar ge macht hat Wie hat te es dazu kom men koumln nen

bull Der Pri mat Was ist ein Mensch

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 469783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 46 10082021 10493410082021 104934

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ver waist sein Die Mensch heit wird er wacht sein und die Welt je-nes Ge sicht er hal ten ha ben das uns ge gen waumlr tig er scheint Doch wie sah das aus als die Na tur das ers te Mal in ei nem af fen aumlhn-li chen We sen die Au gen auf schlug War es auf ei ner Wald wie-se in ei nem Hain an ei nem Berg hang oder auf ei ner Lich tung War das er leuch te te We sen ein Maumlnn chen oder ein Weib chen Ging es den gan zen Tag auf recht oder saszlig es noch ger ne in der Ho cke eng ge kau ert an sei ne Bruuml der und Schwes tern Und war es eine Ein ge bung ein Blitz schlag als das Selbst be wusst sein das ers te Mal die Fes seln des Pri ma ten ge hirns spreng te

Wir wis sen nicht wo ran Schel ling dach te als er mein te die Na tur habe im Men schen ihr Auge auf ge schla gen Si cher dach te er nicht an ei nen ein zi gen Mo ment dem Mil li o nen an de re folg-ten Er dach te an den raquoMen schen an sichlaquo Und er wuss te nichts vom ost af ri ka ni schen Great Rift Val ley und von haa ri gen Vor-men schen die dort einst haus ten Er leb te in Jena und in Muumln-chen und ei nen Men schen af fen hat te Schel ling nie ge se hen Der ein zig ar ti ge Mo ment in dem die Na tur sich ih rer selbst be wusst wird bleibt eine Me ta pher

Doch wie wur de der Mensch nun tat saumlch lich zum Men-schen Die For mu lie rung ist dop pel deu tig Denn wie der Mensch zum Men schen wur de ndash das ist nicht ein evo lu ti o nauml rer Pro-zess auf der lee ren Welt buumlh ne son dern ein Spiel von Be ob ach-ter und Be ob ach te tem Schau spie ler und Zu schau er Ge schich-te auch Ent wick lungs ge schich te ist nichts Vor ge fun de nes Der Mensch schrieb der fran zouml si sche Phi lo soph JeanshyPaul Sart re (1905 ndash 1980) macht sich selbst wie der Ro man schrift stel ler sei ne Fi gu ren Er ist ge fer tigt aus bi o lo gi schen (ana to mi schen neu ro lo gi schen und phy si o lo gi schen) Be stand tei len zu al ler meist je doch durch jene we nig bi o lo gi schen Weis hei ten mit de nen sich die se Subs tan zen selbst zum raquoMen schenlaquo er ko ren

Das Glei che gilt fuumlr die mensch li che Stam mes ge schich te Auch sie ist zu naumlchst ein mal eine Ge schich te Ihre Ur spruumln ge lie gen im

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 489783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 48 10082021 10493510082021 104935

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al ten Grie chen land als Aris to te les den Men schen und den Af-fen ver wandt schaft lich na he ruumlckt raquoMan che Tie re ste hen zwi-schen Mensch und Vier fuumlszlig ler in ih rem We sen wie Af fen Meer-kat zen und Pa vi a ne hellip Ihr Ge sicht hat vie le Aumlhn lich kei ten mit dem des Men schen Nase und Oh ren glei chen den sei nen und Zaumlh ne hat er auch wie ein Mensch die Vor der zaumlh ne wie die Ba cken zaumlhnelaquo10 Auch Aris to te lesrsquo Schuuml ler The oph rast (ca 370 v Chr ndash ca 288 v Chr) be steht auf der Aumlhn lich keit zwi schen Men schen und Tie ren Er lehnt es so gar ab Fleisch zu es sen oder Tie re zu op fern da man sei ne Ver wand ten nicht ver spei se

Aris to te les und The oph rast stell ten den Men schen zwar ne-ben den Af fen ndash Men schen af fen kann te man noch nicht ndash aber die al ten Grie chen hat ten ihn nur sehr un ge faumlhr zu ei nem Tier un ter Tie ren er klaumlrt Den naumlchs ten Schritt mach te mehr als zwei-tau send Jah re spauml ter Carl von Linneacute An der Zu ge houml rig keit des Men schen zu den Saumlu ge tie ren be stand fuumlr den Schwe den kein Zwei fel die Be haa rung und das Stil len der Jun gen be lehr ten un-miss ver staumlnd lich da ruuml ber Auch die Ver wandt schaft mit Af fen und Men schen af fen stand au szliger Fra ge Hier wa ren es die fa chen Fin ger- und Fuszlig nauml gel statt der Klau en der ab ge spreiz te Dau-men die Greif haumln de die zwei Zit zen der Weib chen und der frei he run ter haumln gen de statt am Un ter leib an lie gen de Pe nis ndash Merk-ma le die groumlszlig ten teils auch schon Aris to te les auf ge fal len wa ren

Doch Linneacute zouml ger te vor der Kon se quenz Haumln de rin gend such-te der got tes fuumlrch ti ge Ana tom nach ei nem Un ter schied zwi schen dem Men schen und den uumlb ri gen von ihm so ge nann ten raquoPri ma-tenlaquo raquoIch ver lan gelaquo schrieb er 1747 sei nem deut schen Freund Jo hann Ge org Gme lin raquovon Ih nen und von der gan zen Welt dass Sie mir ein Gat tungs merk mal zei gen hellip auf grund des sen man zwi schen Mensch und Affe un ter schei den kann Ich weiszlig selbst mit aumlu szligers ter Ge wiss heit von kei nemlaquo11

Nach sei nen Kri te ri en haumlt te Linneacute den Men schen zu min dest mit dem Schim pan sen ge mein sam in die sel be Gat tung ein ord-10

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9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 499783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 49 10082021 10493510082021 104935

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nen muumls sen Der Ge dan ke schweb te zeit gleich auch dem Phi lo so-phen JeanshyJacques Rous seau (1712 ndash 1778) vor als er Schim pan-sen Orang-Ut ans und Men schen so gar als Ver tre ter der Spe zi es Mensch an sah Rous seau hat te nie ei nen Men schen af fen ge se-hen Aber die Be rich te die er von Ex pe di ti o nen nach Af ri ka und Suumld ost a si en las lie szligen in ihm kei nen Zwei fel dass die da rin be schrie be nen Men schen af fen raquowe der Tie re noch Goumlt ter son-dern Men schenlaquo sei en12 Fuumlr den Auf klauml rer wa ren Men schen af-fen edle Wil de die von kei ner Zi vi li sa ti on in ih rem fried fer ti gen We sen zer stoumlrt sei en an ders als die Men schen in Eu ro pa Eben-so dach te we nig spauml ter der schot ti sche Sprach for scher James Bur nett Lord Mon boddo (1714 ndash 1799) Auch er be trach te te den Orang-Utan als ei nen Men schen naumlm lich als ei nen raquosprach-losen Wil denlaquo

In ter pre ta ti o nen wie Rous seau sie in Pa ris und Bur nett bald da rauf in Kin card ines hire wag ten wa ren Linneacute im schwe di schen Upp sa la fremd Den Men schen ins Tier reich ein zu ord nen war in den Au gen der stren gen pro tes tan ti schen Kir che Suumln de ge nug und Linneacute zouml ger te den letz ten Schritt zu tun In sei ner Not sor-tier te er 1758 ach sel zu ckend Mensch und Schim pan se in un ter-schied li che Gat tun gen zu sam men ge fasst in der Ord nung der Pri ma ten in der sie auch heu te noch mehr schlecht als recht huumlbsch ge trennt ne ben ei nan der ho cken Homo sap iens der raquoin-tel ligi ble Menschlaquo und Pan trog lody tes der raquohoumlh len be woh nen-de Faunlaquo

So weit so schoumln Der Mensch wur de der obers te Pri mat das houmlchs te raquoHer ren tierlaquo Linneacute be kam kei nen Aumlr ger mit der Kir-che und die Na tur wis sen schaft den gro szligen Wurf des Linneacute rsquoschen Sys tems Wenn nur die se Nach barn nicht wauml ren Seit Be kannt-wer den der Men schen af fen be muumlh ten sich Wis sen schaft ler und The o lo gen im mer wie der um den Ver such den klei nen Gra ben mit gro szligen Was sern zu fuumll len der Homo sap iens und Pan troshyglody tes bei ih rer ord nungs ge mauml szligen Ver ge sell schaf tung auf der 12

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 509783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 50 10082021 10493510082021 104935

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Af fen in sel trennt Sie eva ku ier ten den Men schen vom Pri ma ten-fel sen und schu fen ihm eine ei ge ne Ord nung

In die ser Vor stel lungs welt wuchs auch der The o lo gie stu dent Charles Dar win auf Das fruuml he 19 Jahr hun dert war eine got-tes fuumlrch ti ge bie der mei er li che Zeit Doch je mehr er sich mit der Ver aumln de rung der Ar ten be schaumlf tig te umso deut li cher wur de Dar win dass es mit der of fi zi ell be kun de ten Son der stel lung des Men schen im Uni ver sum nicht weit her sein konn te So no tier te er schon er staun lich fruumlh in sein Ta ge buch raquoDer Mensch haumllt sich in sei ner Ar ro ganz fuumlr ein groszlig ar ti ges Werk des be son de ren Ein grei fens ei ner Gott heit wuumlr dig Es duumlrf te be schei de ner und wie ich glau be auch rich tig sein ihn als aus den Tie ren ent stan-den an zu se henlaquo13

Dar win hat te den noch zwoumllf Jah re ge zouml gert bis er sich schlieszlig lich ge trau te nach der all ge mei nen Dar stel lung ei ner Evo-lu ti ons the o rie im Jahr 1859 sei ne Schluss fol ge run gen in Be zug auf den Men schen in Druck zu ge ben Die Ab stam mung des Men schen aus dem Jahr 1871 ist ein ge maumlch li ches Buch in ver-soumlhn li chem Ton fall Der Na tur for scher er zaumlhlt da rin wie ein gu-ter al ter Groszlig va ter wo her die Pfan zen die Tie re und die Eng-laumln der kom men Die raquoAb wer tunglaquo des Men schen geht da bei ein her mit ei ner kon ti nu ier li chen raquoAuf wer tunglaquo der Tie re raquoWir ha ben ge se henlaquo schreibt Dar win raquodass die Emp fin dun gen und Ein druuml cke die ver schie de nen Er re gun gen und Fauml hig kei ten wie Lie be Ge daumlcht nis Auf merk sam keit Neu gier de Nach ah mung Ver stand usw de ren sich der Mensch ruumlhmt in ei nem be gin nen-den oder zu wei len selbst in ei nem gut ent wi ckel ten Zu stand bei den nie de ren Tie ren ge fun den wer denlaquo14

La marck und Dar win wa ren die Ers ten die mit Mit teln der mo der nen Na tur wis sen schaft be haup te ten was vie le Kul tu ren und Zei ten schon zu vor re li gi oumls ge ahnt hat ten raquoNa tuumlr lichlaquo ist es ab surd eine Tei lung des Tier reichs in zwei Ka te go ri en vor zu-neh men ndash in eine mensch li che und eine nicht mensch li che Ka-13

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9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 519783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 51 10082021 10493510082021 104935

Page 7: Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen · Leseprobe Professor Dr. Richard David Precht Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen »Fazit:

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Das ver lo re ne Pa ra diesDas Tier in der An ti ke 168

raquoKuumlm mert sich Gott etwa um die Och senlaquoDas Tier in Chris ten tum und Is lam 182

Schein hei li ge KuumlheDas Tier bei Hin dus und Bud dhis ten 198

Die Den ker und das lie be ViehDas Tier im Ba rock und in der Auf klauml rung 213

raquoKoumln nen sie lei denlaquoDie Ruumlck kehr des Mit leids 228

Eine neue Tier ethikDas ei ser ne Tor

Wege zu ei ner modernen Tier ethik 249

Schutz oder RechtDie Ethik der Be frei ung 267

Eine art ge rech te Mo ralMen schen ndash Tie re ndash Ethik 280

Gut bes ser am bes tenDie Ethik des Nicht wis sens 296

Was tunLie ben ndash Has sen ndash Es sen

Un ser all taumlg li ches Cha os im Um gang mit Tie ren 313

Ein kur zer Text uumlber das Touml tenDas Tier und das Ge setz 326

Na tur schutz oder Lust mordDuumlr fen wir Tie re ja gen 343

Jen seits von Wurst und KaumlseDuumlr fen wir Tie re es sen 361

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 89783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 8 10082021 10493310082021 104933

Das Tier als Dum mySind Tier ver su che le gi tim 380

Al cat raz oder Psycho topVom Nut zen und Nach teil der Tier gaumlr ten fuumlr das Tier le ben 399

Das Zeit al ter der Ein sam keitDie Ethik der Be wah rung 416

Das un ver soumlhn li che Tri um vi ratTier schutz Tier recht und Ar ten schutz 432

Scho pen hau ers Trep peDie Prag ma tik des Nicht wis sens 450

An hangAn mer kun gen 465

Aus ge waumlhl te Li te ra tur 475

Dank 499

Per so nen re gis ter 501

Zitatnach weis 509

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 99783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 9 10082021 10493310082021 104933

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Meer schwein chen be ka men Ko li ken die Ei dech sen leb ten nicht lan ge und die Fi sche haus ten in viel zu vie len Ar ten in ei nem viel zu klei nen Aqua ri um Mei ne Fas zi na ti on paar te sich mit ei-nem schlech ten Ge wis sen Sie um schlan gen ei nan der sehr eng und wa ren sel ten zu tren nen

Ich wur de kein Zoo di rek tor Der schlech te Bi o lo gie un ter richt in der Schu le zer stoumlr te mir mei nen Traum Viel leicht war es auch gut so Der fruuml he re Koumll ner Zoo di rek tor Gun ther No gge sag te zu mir raquoSei en Sie froh dass Sie es nicht ge wor den sindlaquo So er hielt ich mir mei ne Fas zi na ti on fuumlr Tie re aber auch mein schlech tes Ge wis sen

Bei des war noch wach als in der Mit te der Neun zi ger jah re der BSE-Skan dal und gleich da rauf das Klon schaf Dolly die Be-voumll ke rung auf schreck ten Ich schrieb ei nen Es say uumlber Tier ethik und ein Dos si er uumlber Zo o lo gi sche Gaumlr ten fuumlr Die Zeit die Poe sie des Her zens die nur das Bes te fuumlr alle Tie re woll te hier die Pro-sa der Ver haumllt nis se ei nes bar ba ri schen und prob le ma ti schen Um-gangs mit dem Tier in der Ge sell schaft dort

Im Feb ru ar 1997 ver schlug mich der Zu fall nach Braun-schweig zu ei nem Kon gress uumlber raquoTie re ndash Rech te ndash Ethiklaquo Fuumlr mich war es eine Art in tel lek tu el les Wood stock ei ner neu en Be-we gung Men schen aus dem gan zen Bun des ge biet wa ren an ge-reist und auch die Braun schwei ger Be voumll ke rung nahm sehr re-gen An teil Ich lern te Ma nu e la Lin ne mann ken nen die Ge hei me Rauml tin der Tier rechts be we gung die den Kon gress glaumln zend or ga-ni siert hat te Der Schrift stel ler Hans Woll schlauml ger pre dig te in der St-And re as-Kir che ful mi nan te Wor te uumlber den Pa ra dies gar ten und die ab truumln ni ge Mensch heit Der sym pa thi sche Schwei zer Phi lo soph Jean-Claude Wolf ge houmlr te be reits zu den ver sier te ren Den kern auf die sem Ge biet der Phi lo soph Mi cha el Haus kel ler eben so jung wie ich noch zu den Neu e ren Mit dem Bi o lo gen und Phi lo so phen Hans Wer ner In gen siep ei nem der span nends-ten Den ker die mir je be geg net sind und sei ner Le bens ge faumlhr-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 129783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 12 10082021 10493310082021 104933

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tin der Theo lo gin Hei ke Bar anzke ver bin det mich seit dem eine lan ge Freund schaft Auch die Front kaumlmp fer fehl ten nicht Die Tier rechts or ga ni sa ti on Ani mal Peace er leb te ge ra de ei nen Boom an Spen dern und der Tier recht ler Hel mut Kap lan be feu er te die Ak ti vis ten mit ra di ka len Schrif ten und kuumlh nen Spruuml chen

Die Ge dan ken die wir in Vor trauml gen und Ge sprauml chen ver kuumln-de ten dis ku tier ten und uumlber dach ten hat ten da mals noch et was sehr Neu es Zwar hat te der aust ra li sche Phi lo soph Pe ter Sin ger be reits 1975 sein be ruumlhm tes Buch uumlber Die Be frei ung der Tie re ge schrie ben Aber eine Tier rechts be we gung ent stand an ders als in Eng land und den USA in Deutsch land erst lang sam in den spauml ten Acht zi ger jah ren Nun in der Mit te der Neun zi ger jah re war das The ma end lich ge sell schaft lich re le vant ge wor den Koumln-nen wir un se ren all taumlg li chen Um gang mit Tie ren wei ter hin mo-ra lisch recht fer ti gen Die Mas sen me di en grif fen das The ma auf Der Jour na list Man fred Kar re mann dreh te Fil me uumlber Mas sen-tier hal tung Schlacht haumlu ser und Tier trans por te und brach te das Elend der Tie re da mit in die deut schen Wohn zim mer Die in zwi-schen ein ge stell te Zei tung Die Wo che nahm da ge gen den ra di-ka len Fluuml gel der Be we gung ins Vi sier Sie be rich te te uumlber an ge-saumlg te Hoch sit ze ein ge schla ge ne Schau fens ter von Metz ge rei en und warn te auf ei ner Dop pel sei te vor raquoTier schutz ter ro ris muslaquo

In die sem Kli ma er schien im Herbst 1997 mein Buch No ahs Erbe Sei ne Zu stim mung und Ab leh nung ver lief wie ich es mir er hofft hat te oft quer zu den etab lier ten Freund-Feind-Li ni en zwi schen Tier schuumlt zern Ar ten schuumlt zern und Tier recht lern Be-dau ert habe ich da bei ei gent lich nur jene Kri ti ken die mir von ei nem pa tho lo gi schen Men schen bild bis hin zu ei ner raquooumlko fa-schis ti schenlaquo Ge sin nung so ziem lich al les un ter stell ten wo von ich selbst in den fins ters ten Win keln mei nes Wir bel tier ge hirns nie mals ge traumlumt hat te

Seit dem ist viel und we nig ge sche hen Seit No vem ber 1999 er-freu en sich die Men schen af fen in Neu see land und wa ren es da-

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mals auch nur acht an der Zahl ei nes un an tast ba ren Rechts auf Le ben Der Tier schutz wur de 2002 als Staats ziel im deut schen Grund ge setz ver an kert Die gra vie rend ste Ver aumln de rung aber sind ohne Zwei fel die vie len Men schen die sich feisch los oder ve-gan er naumlh ren Das Wort raquove ganlaquo in den Neun zi gern noch et-was houmlchst Obs ku res das nur von we ni gen selt sam blut lee ren Bio-Vam pi ren be trie ben wur de ist heu te in al ler Mun de Ein vega nes Koch buch er reich te juumlngst eine Mil li o nen auf a ge Und na he zu je der kennt ei nen Vega ner oder haumlu fi ger eine Ve gan erin Nach ei ner Um fra ge des Al len sba cher Ins ti tuts aus dem Jahr 2015 gibt es in Deutsch land in zwi schen 78 Mil li o nen Ve ge ta-rier und 900 000 Vega ner1

In den west li chen In dust rie na ti o nen steigt die Sen si bi li taumlt im Um gang mit Tie ren un auf halt sam an ins be son de re bei jun gen Frau en Doch die se Hal tung hat zu gleich et was sehr Pri va tes Schoumln heit Fit ness Ge sund heit und Tier lie be sind meist auf ei-nen Nah ho ri zont be schraumlnkt Wa ren der Kampf fuumlr Tier rech te und die veg ane Er naumlh rung fruuml her fast un trenn bar mit ei nan der ver bun den ge we sen so hat sich das eine heu te vom an de ren ge-loumlst In West eu ro pa gibt es in zwi schen mehr Mas sen tier hal tung mehr Le ge bat te ri en und mehr in dust ri el les Tier elend als je zu-vor Gut ver steckt vor der Oumlf fent lich keit ar bei tet die se Ma schi-ne rie trotz ge le gent li chen Pro tes ten hef ti ger denn je Noch nie war die Kluft so groszlig die das was Men schen im Um gang mit Tie ren fuumlr rich tig hal ten und das was tat saumlch lich prak ti ziert wird von ei nan der trennt So lan ge wir un se re Er naumlh rung und un ser per soumln li ches Ver haumllt nis zu Tie ren als Pri vat sa che auf fas-sen so lan ge wird die mil li o nen fa che Grau sam keit ge gen Tie re wei ter hin ge sell schaft lich ak zep tiert

In die ser Lage stel len sich man che Fra gen die in No ahs Erbe be han delt wur den an ders und neu Auch vie le Zah len sind wie koumlnn te es auch an ders sein ver al tet In den Wis sen schaf ten wie der Pal aumlo anth ro po lo gie der Prim atolo gie und der Ver hal tens-1

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oumlko lo gie ist in den letz ten bei den Jahr zehn ten ei ni ges ge sche-hen das es zu be ruumlck sich ti gen gilt Die his to ri sche For schung uumlber das Ver haumllt nis von Mensch und Tier hat man ches Neue zu ta ge ge foumlr dert eben so in den Re li gi o nen wie in der Phi lo so-phie Die aka de mi sche De bat te uumlber eine an ge mes se ne raquoTier-ethiklaquo hat stark an Fahrt auf ge nom men Und nicht zu letzt hat mei ne ei ge ne Be schaumlf ti gung mit dem We sen und den Spiel re geln mo ra li schen Han delns zu man cher neu en Ein schaumlt zung und Be-wer tung ge fuumlhrt Man ches von dem was Men schen tun oder las sen er scheint mir mit uumlber fuumlnf zig in ei nem an de ren Licht als mit An fang drei szligig hellip

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Be lan ge re gelt eben so wie jene des Maul wurfs das Tier schutz-ge setz Maul wuumlr fe und Schim pan sen sind kei ne Rechts sub jek-te Man darf sie in enge Kauml fi ge ein pfer chen man darf sie mit Elektro schocks fol tern mit toumld li chen Kei men in fi zie ren sie am le ben di gen Leib ver aumlt zen sie ver stuumlm meln und ver gif ten

Das ver nuumlnf ti ge und sitt li che Le ben und das un ver nuumlnf ti ge rohe Le ben tei len die Welt in zwei Herr schafts be rei che Ei ner da von be sitzt ein mo ra li sches Sie gel Der an de re da ge gen ist ein na he zu un be schrie be nes Blatt Fast hun dert sech zig Jah re ist es her dass der bri ti sche Na tur for scher Charles Dar win den ge-mein sa men Ur sprung die fie szligen den Uumlber gaumln ge und zar ten Ver-aumls te lun gen al len Le bens be wies Doch Men schen gel ten we der all tags sprach lich noch recht lich als Tie re Eine alte Ge wohn heit trennt den Men schen von sei nen ani ma li schen Ver wand ten Es ge houmlrt zu den ei gen tuumlm li chen Fol gen der Dar win rsquoschen Wen de dass sie mit ei ni gen klei ne ren Kor rek tu ren das anth ro po zent ri-sche Welt bild un an ge tas tet lieszlig Kaum je mand duumlrf te sich als je-ner Tro cken na sen pri mat in der Ver wandt schaft von Men schen-af fen Meer kat zen und Pa vi a nen se hen als den uns die Zo o lo gie klas si fi ziert Statt des sen de fi nie ren wir uns als Men schen und ge-ben uns alle Muumlhe un se re ani ma li sche Na tur zu ver ges sen und zu ver ber gen

Das Band zu den an de ren Tie ren ha ben wir vor lan ger Zeit zer schnit ten Vor etwa 10 000 Jah ren hat der Mensch ge lernt die Roh stoff re ser ve raquoTierlaquo plan mauml szligig zu zuumlch ten Er haumllt sie von nun an in Form ei nes le ben den Ver sor gungs vor rats zum ei-ge nen Nut zen und From men In den An faumln gen der Tier zucht leg ten man che sess haft ge wor de nen Jauml ger ge stor be ne Hun de in da fuumlr vor ge se he ne Gru ben und be stat te ten so gar Mut ter Kind und Rin der ge mein sam Wel ten klaf fen zwi schen dem ani mis ti-schen Glau ben der ers ten Vieh zuumlch ter und der ma te ri a lis ti schen Mas sen tier hal tung der mo der nen Ge sell schaft Mit dem Ende der Kon kur renz schwand die Not wen dig keit sich mit dem Tier

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als ei nem Le be we sen aus ei nan der zu set zen Heu te nut zen wir die Res sour ce raquoTierlaquo voumll lig frag los fuumlr die An spruuml che des Men schen Das Ge mein sa me von Tier und Mensch trat in den Hin ter grund Zwar leb te das Tier noch im mer in der kul tu rel len Fan ta sie fort als ma gi sche oder fan tas ti sche Ge stalt als Freund Ge faumlhr te oder Be dro hung Doch die Be deu tung in der All tags welt er mat te te auf Schwund stu fen der Na tur wie Schoszlig hund Zier gup py Le ge hen-ne und Zir kus pferd Gren zen los uumlber le gen und un ab haumln gig ge-gen uumlber den Tie ren sei ner Um welt ent wi ckel te sich im mensch-li chen Be wusst sein ein voumll lig ent frem de tes Ver haumllt nis Nicht nur ra di ka le Aus nut zung und Sa dis mus auch falsch ver stan de ne Lie-be De na tu rie rung und un frei wil li ge Quauml le rei be stim men seit her den mensch li chen Um gang mit dem Tier

Bis ins fruuml he Mit tel al ter uumlber wog die Zahl der wil den Tie re die An zahl der Nutz- und Haus tie re die der Mensch in sei nen Dienst ge stellt hat te Doch spauml tes tens mit dem Sie ges zug des Ka pi ta lis mus in West eu ro pa und Nord a me ri ka ver schwan den die Res te der Ehr furcht in die Maumlr chen buuml cher und Zir kus dar-bie tun gen Mo der ne Agrar un ter neh men In dust rie met ro po len Au to bah nen und Hoch span nungs mas ten bil den das Or na ment un se rer Um welt die wir seit meh re ren hun dert Jah ren raquoLand-schaftlaquo nen nen Nir gend wo in der All tags welt ei nes Men schen der west li chen Zi vi li sa ti on be geg net uns das Tier noch als Kon-kur rent nicht bei der Er naumlh rung nicht im Kampf um den Le-bens raum und nicht als Fress feind des sen Zaumlh ne und Klau en ernst haft Furcht er re gen koumlnn ten Das ein zig Be droh li che das heu te bleibt sind aus ge rech net ein paar klei ne Tie re etwa Rat-ten und Maumlu se die letz ten ge faumlhr li chen Fress kon kur ren ten des Men schen Dazu kom men In sek ten Mik ro ben und Vi ren

Das Band zwi schen uns und den an de ren Tie ren wuchs auch nicht da durch wie der zu sam men dass wir die Tie re uumlber die Wis-sen schaft als Ver wand te wie der ent deck ten Seit mehr als zwei-tau send Jah ren sieht sich der Mensch als le gi ti mer Herr scher

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uumlber eine be herrsch ba re Um welt dazu ge schaf fen sie zu nut zen und aus zu beu ten Un se re Evo lu ti on hat sich da bei ra sant be-schleu nigt Laumlngst fin det sie kaum noch in un se rem Koumlr per statt son dern vor al lem in un se rer Tech nik und Kul tur Und schon lan ge dient sie nicht mehr dazu sich der Na tur an zu pas sen Sie dient ei ner im mer wie der neu ge schaf fe nen mensch li chen Kul-tur An pas sung be deu tet heu te sich an den ei ge nen Fort schritt an zu pas sen mit all den be kann ten Fol gen fuumlr un se re Um welt Dra ma ti sche Kli ma wech sel die Zer stouml rung der schuumlt zen den Ozon schicht die Ver step pung wei ter Land stri che auf al len Suumld-kon ti nen ten und die Ver gif tung der Mee re ver nich ten nicht nur die nicht mensch li che Tier welt sie be tref fen mehr und mehr den Men schen selbst

In atem be rau ben dem Tem po be schleu nig te das in dust ri a li sier-te 20 Jahr hun dert die Be herr schung und Aus beu tung der Na-tur und mit ihr die der Tie re Schon in den ver gan ge nen Jahr-tau sen den hat te Homo sap iens den ge sam ten Pla ne ten in Be sitz ge nom men Kein grouml szlige res Wir bel tier be sitzt ein sol ches Ver brei-tungs ge biet be wohnt Wuumls ten Re gen waumll der und Po lar re gi o nen glei cher ma szligen Und kein grouml szlige res Wir bel tier hat sich zu Mil li ar-den ver mehrt Ruumlck sichts lo se Pluumln de rung der Roh stof fe und ein un ge heu res Be voumll ke rungs wachs tum der Spe zi es Homo sap iens schaf fen ei nen erd ge schicht li chen Aus nah me zu stand

Der Mensch be herrscht heu te den Pla ne ten aber of fen sicht-lich nicht sich selbst Es koumlnn te da ran lie gen dass es raquoden Men-schenlaquo gar nicht gibt Statt des sen gibt es mehr als sie ben Mil li-ar den un ter schied li che In di vi du en Und nie mand da von ist fuumlr die Mensch heit zu staumln dig Sie ist eine Ge mein de der an zu ge houml-ren nicht dazu ver pfich tet sich um das Gan ze zu sor gen und zu kuumlm mern

Zu herr schen be deu tet Ord nun gen zu etab lie ren und Re geln da fuumlr auf zu stel len was wich tig ist und un wich tig rich tig oder falsch Jahr hun der te lang sah die Mo ral der abend laumln di schen

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Zivi li sa ti on in der Aus rot tung der Wild tie re und Aus beu tung der Nutz tie re na he zu kein Pro blem Eine kla re Grenz zie hung er-laub te je den Um gang mit dem Tier von der Lie be bis zur Fol ter von der Zucht bis zur Touml tung Das Ar gu ment war schlicht Der Mensch ist eine Son der an fer ti gung Got tes und mit dem Tier ge-ra de mal durch den lo sen Fa den der goumltt li chen Schoumlp fung stat ver bun den So kam in den Wor ten des deutsch-fran zouml si schen The o lo gen und Arz tes Al bert Schweit zer raquodie An sicht auf dass es wert lo ses Le ben gaumlbe des sen Schauml di gung und Ver nich tung nichts auf sich habe Un ter wert lo sem Le ben wer den dann je nach den Um staumln den Ar ten von In sek ten oder pri mi ti ve Voumll ker ver stan denlaquo2 (Eine Kli en tel die sich uumlber dies noch um Frau en er wei tern lie szlige)

Die se Gren ze wur de und wird in der abend laumln di schen Kul-tur ge schich te va ri an ten reich ver tei digt Doch je ge nau er wir sie be trach ten umso selt sa mer er scheint sie uns Denn sie laumlsst sich im mer schlech ter be gruumln den und zwar so wohl phi lo so phisch als auch bi o lo gisch Seit etwa vier zig Jah ren be steht in der Ge-sell schaft eine De bat te die un se ren Um gang mit Tie ren grund-saumltz lich in fra ge stellt Tier e thi ker wie Pe ter Sin ger und sein US-ame ri ka ni scher Phi lo so phen kol le ge Tom Re gan for dern Rech te auch fuumlr Tie re Der Aus schluss der Tie re aus der Ethik sei ein mo ra li scher Skan dal Das Tier heu te mo ra lisch drau szligen vor der Tuumlr zu las sen sei das Erbe ei nes re li gi ouml sen Aber glau bens Da der Mensch kei ne Son der an fer ti gung Got tes sei son dern ein in tel-li gen tes Tier muumlss ten wir die Reich wei te der Mo ral eben so auf die raquoan de ren Tie relaquo aus deh nen Ha ben wir nicht nach und nach ge lernt die Skla ve rei zu aumlch ten und Frau en als gleich be rech tig-te Men schen zu ach ten Und ist es nun nicht an der Zeit neu uumlber Tie re nach zu den ken und sie mo ra lisch an ge mes sen zu be-ur tei len

Doch wie koumlnn te ein sol cher an ge mes se ner Um gang mit den an de ren Tie ren aus se hen Den Men schen als ein Tier un ter an-2

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de ren an zu se hen koumlnn te ja auch be deu ten ihn ab zu wer ten statt die Tie re mo ra lisch erns ter zu neh men Das Un heil des So zi-al dar wi nis mus und der bar ba ri schen Ras sen the o rie ste ht uns mah nend vor Au gen Und was ist uumlber haupt das Kri te ri um da-fuumlr Tie re mo ra lisch zu ach ten Ist es ihre Lei dens fauml hig keit ihr Le bens wil le oder ihre In tel li genz Ha ben klu ge Tie re ein houml he-res Le bens recht als duumlm me re Das Ver haumllt nis des Men schen zu den an de ren Tie ren neu zu be wer ten ist eine gro szlige und schwie-ri ge Auf ga be

Ich moumlch te in die sem Buch ver su chen die se Fra gen neu zu stel len und zu durch den ken Da bei be trach te ich den Men schen als ein be son de res Tier un ter vie len auf an de re Wei se be son de ren Tie ren Ich moumlch te mich nicht da rauf fest le gen den Men schen all ge mein uumlber be stimm te Ei gen schaf ten zu de fi nie ren die ihn ethisch wert voll ma chen sol len Ich moumlch te ihm aber auch nicht im Um kehr schluss alle ge mein hin als raquomensch lichlaquo be zeich ne ten Ei gen schaf ten ab spre chen weil nicht alle Men schen Trauml ger all die ser Ei gen schaf ten sind Viel leicht ist be reits das Su chen nach sol chen ex klu si ven Ei gen schaf ten der fal sche Weg Der Denk-feh ler koumlnn te be reits da rin lie gen ei gen staumln di ge Dis zip li nen wie raquoAnth ro po lo gielaquo oder raquoMo ral phi lo so phielaquo be trei ben zu wol len die eine sol che enge De fi ni ti on des Men schen vo raus set zen Waumlre es nicht bes ser die Enge des Be griffs zu spren gen Statt Anth-ro po lo gie zu be trei ben soll te man sich lie ber mit ei ner Anthroshyzo o lo gie be schaumlf ti gen ndash eine Leh re vom Men schen tier und den an de ren Tie ren

Der Be griff ist neu er wur de erst vor we ni gen Jah ren un ter an de rem von dem US-ame ri ka ni schen Psy cho lo gen Hal Her zog ein ge fuumlhrt3 Die neue Dis zip lin der Hu manshyAni mal Stu dies kon-zent riert sich weit rei chend da rauf was Men schen und an de re Tie re ver bin det Da bei ver wen de ich den Be griff raquoAn thro zo o-lo gielaquo al ler dings et was an ders als Her zog und die Ver tre ter der Hu man-Ani mal Stu dies Es ist ein et was ein touml ni ger Sport al les 3

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was ge mein hin als raquomensch lichlaquo be trach tet wird als My thos zu ent zau bern Ich moumlch te es lie ber an ders ein bet ten und be wer ten Denn ich mei ne dass die Ver tre ter der Hu man-Ani mal Stu dies ihre De fi ni ti on des Men schen als ein Tier un ter Tie ren nicht ganz zu Ende den ken Denn waumlre der Mensch durch nichts Mensch-li ches grund saumltz lich vom Tier un ter schie den wie sie an neh men so lieszlige sich auch nicht ein for dern dass Men schen sich aus vershynuumlnf ti ger Ein sicht an ge mes sen ge gen uumlber Tie ren ver hal ten sol len

Um mensch li ches Han deln zu ver ste hen muumls sen wir ver ste-hen in wel chem Rah men Men schen die Welt se hen sich ori en-tie ren und han deln Die bei den ers ten Tei le des Bu ches skiz zie-ren die sen bi o lo gi schen und den kul tu rel len Rah men In ih nen moumlch te ich zei gen auf wel che Art und Wei se Men schen sich un-ter Tie ren ver hiel ten und ver hal ten Da bei be schaumlf tigt sich der ers te Teil mit der Fra ge was fuumlr ein spe zi el les Tier der Mensch ei gent lich ist Wie ist sei ne Rol le in der Evo lu ti on Und nach wel chen Denk mus tern ha ben Men schen die se Chro nik un se rer selbst seit der An ti ke ge schrie ben (Die Ord nung der Schoumlpshyfung) Wel che Stel lung hat sich Homo sap iens in der Na tur da-durch ge si chert dass er sie sich zu schrieb (Der Pri mat)

In je der mensch li chen Wis sen schaft vom Le ben be steht bis heu te still schwei gend oder laut hals ver kuumln det zwi schen Mensch und Tier eine Gren ze Doch weiszlig we der die E vo lu ti ons bi o lo-gie noch die Pal aumlo anth ro po lo gie mit Ge wiss heit zu sa gen an wel chem Punkt sich nur ani ma li sches von mensch li chem Le ben schei det Was ha ben Pal aumlo anth ro po lo gen in den letz ten hun dert Jah ren da ruuml ber ge glaubt Und was den ken sie heu te (Der aufshyrech te Affe) Da bei wer den wir se hen dass es mit der Gren ze zwi schen dem Men schen und den an de ren Tie ren eine aumlu szligerst komp li zier te Sa che ist Seit Jahr zehn ten mes sen und ver glei chen Ver hal tens for scher die kog ni ti ven Leis tun gen von Tie ren mit je-nen des Men schen mit dem uumlber ra schen den Er geb nis dass Tie re in na he zu al len raquowich ti genlaquo Punk ten un ter le gen sind bei Kul tur-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 239783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 23 10082021 10493410082021 104934

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leis tun gen wie Werk zeug ge brauch und Re li gi on eben so wie beim Er werb der mensch li chen Spra che Doch ha ben wir bei sol chen Mes sun gen tat saumlch lich den rich ti gen den fai ren Maszlig stab Ist es sinn voll die In tel li genz von Men schen af fen mit uns zu ver glei-chen (Sinn und Sinn lich keit)

Die Mo le ku lar ge ne tik zeigt uns dass Men schen bi o lo gisch Schim pan sen sind Wel che Kon se quen zen zie hen wir da raus (Eins Kom ma sechs Pro zent) Nach dem wir den Men schen auf die se Wei se bi o lo gisch ein ge kreist ha ben wer fen wir noch ei nen Blick da rauf wie ob jek tiv un ser Wis sen vom Men schen und den an de ren Tie ren ist Was koumln nen wir uumlber haupt uumlber das Be wusst-sein an de rer Tie re wis sen Stellt es nicht eine so gro szlige Bar ri e re dar dass wir zu ge ben muumls sen nichts De fi ni ti ves sa gen zu koumln-nen (Die Tuuml cke des Sub jekts)

Im zwei ten Teil wer fe ich ei nen Blick in die Kul tur ge schich te des Mensch-Tier-Ver haumllt nis ses Was ha ben Men schen zu wel cher Zeit uumlber Tie re ge dacht und wa rum Wie hat man sie be han delt Und wel che Sen si bi li taumlt oder Kaumll te setz te sich wa rum durch Was wis sen wir da ruuml ber aus der Jung stein zeit (Die Tund ra des Ge wis sens) Was glaub ten und dach ten die al ten Aumlgyp ter (raquoIch habe kein Tier miss han deltlaquo) Und wa rum ent zau ber te das alte Ju den tum die Tie re (Hir ten und Herr scher)

In der abend laumln di schen Phi lo so phie gibt es seit der An ti ke sehr un ter schied li che Deu tun gen von Tie ren Mal se hen die Den ker eine gro szlige spi ri tu el le oder na tur ge schicht li che Naumlhe mal er he-ben sie den Menschen qua sei ner Ver nunft zum un ein ge schraumlnk-ten Wel ten herr scher (Das ver lo re ne Pa ra dies) In der christ li chen Re li gi on da ge gen wer den Men schen und Tie re deut lich von ei-nan der ge schie den eine Son der an fer ti gung hier eine Drein ga-be dort Das Chris ten tum ent fernt die tier freund li chen Mo men-te der juuml di schen Re li gi on aus den Glau bens leh ren (raquoKuumlm mert sich Gott etwa um die Och senlaquo) An ders ver laumluft der Weg in In di en Chi na und Suumld ost a si en Das Welt bild und die Tier ethik

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 249783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 24 10082021 10493410082021 104934

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von Hin dus und Bud dhis ten un ter schei den sich von der un se-ren (Schein hei li ge Kuumlhe) Im Abend land da ge gen do mi niert in der Nach fol ge des fran zouml si schen Phi lo so phen Reneacute Des car tes eine raquora ti o na lis ti schelaquo kal te Pers pek ti ve auf das Tier Tie re weil sie nicht ver nunft fauml hig sei en wer den kaum noch als Le be we sen wahr ge nom men ndash eine Po si ti on die im 18 Jahr hun dert al ler-dings ziem lich kont ro vers dis ku tiert wird (Die Den ker und das lie be Vieh) Nach und nach ent ste hen im spauml ten 18 Jahr hun dert eine neue Mit leids ethik und so gar ers te For de run gen nach Rech-ten fuumlr Tie re (raquoKoumln nen sie lei denlaquo)

Im drit ten Teil moumlch te ich eine ei ge ne ethi sche Hal tung ent-wi ckeln Zu naumlchst wer den The o ri en von Phi lo so phen des 20 Jahr hun derts vor ge stellt die wie Al bert Schweit zer raquoEhr furcht vor dem Le benlaquo ver lan gen oder Tie ren ei nen ho hen mo ra li schen Sta tus zu spre chen wie Pe ter Sin ger und Tom Re gan (Das ei sershyne Tor) Die se Po si ti o nen zwin gen dazu grund saumltz li cher da ruuml-ber nach zu den ken was das raquoTier rechtlaquo vom raquoTier schutzlaquo un-ter schei den soll (Schutz oder Recht) An schlie szligend moumlch te ich die Schwach stel len der gaumln gi gen Tier rechts phi lo so phi en he raus-ar bei ten und zei gen wa rum ich sie we der dem Men schen fuumlr an-ge mes sen hal te noch fuumlr all ge mein prak ti ka bel (Eine art ge rech te Mo ral) Da ran schlie szligen sich mei ne Uumlber le gun gen an was ein an ge mes se ner Um gang mit Tie ren sein koumlnn te (Gut besser am besten)

Sol cher ma szligen ge ruumls tet koumln nen wir uns im vier ten Teil mit den vie len Prob le men be fas sen die sich im All tag stel len Das ers te die ser Ka pi tel bi lan ziert das all taumlg li che Cha os im Um gang mit Tie ren (Lie ben ndash Has sen ndash Es sen) Da nach wen den wir den Blick auf die recht li che Si tu a ti on und un ter zie hen die Lo gik un-se res Tier schutz ge set zes ei ner ge nau e ren Pruuml fung (Ein kur zer Text uumlber das Touml ten) Das naumlchs te Ka pi tel gilt der Jagd Ist Ja gen art ty pi sches Ver hal ten des Men schen oder eine staat lich le gi ti-mier te Per ver si on (Na tur schutz oder Lust mord) Und wie sieht

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es mit un se rer Er naumlh rung aus Wel che Ar gu men te spre chen da-fuumlr dass Men schen in un se ren heu ti gen west li chen Ge sell schaf-ten noch Tie re touml ten duumlr fen um sich von ih nen zu er naumlh ren Und wel che Ar gu men te spre chen da ge gen Viel leicht gibt es so gar schon in Kuumlr ze ei nen Aus weg der uns end lich hilft die Mas sen-tier hal tung zu be sei ti gen (Jen seits von Wurst und Kaumlse) Eben so stellt sich die Fra ge un ter wel chen Um staumln den Tier ver su che zu-kuumlnf tig er laubt sein soll ten und un ter wel chen nicht (Das Tier als Dum my) Ist es mo ra lisch ver tret bar Tie re in Zo o lo gi schen Gaumlr ten zu hal ten Und wenn ja wel che und wel che nicht (Alshycat raz oder Psycho top) Zoos ver ste hen sich heu te als raquoNa tur-schutz zent renlaquo die Tie re er hal ten die in ih ren Hei mat laumln dern vom Aus ster ben be droht sind Wie ist dies zu be wer ten (Das Zeit al ter der Ein sam keit) Da bei sto szligen wir auf die Schwie rig-keit dass Tier schutz Tier recht und Ar ten schutz kei ne na tuumlr li-chen Ver buumln de ten sind son dern sich in ih rer Phi lo so phie ih rer Welt an schau ung und ih ren Ziel set zun gen stark un ter schei den (Das un ver soumlhn li che Tri um vi rat) Das Schluss wort bi lan ziert die se Er kennt nis se und fragt was wir aus al le dem prag ma tisch fol gern soll ten und in wel chen Schrit ten es ge sche hen koumlnn te (Scho pen hau ers Trep pe)

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Das Men schen tier

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Wahr heit zu hal ten Aber die ses Bild hat sich schon oft ver aumln-dert und es wird sich ge wiss noch wei ter ver aumln dern

Men schen nei gen dazu die Welt in der sie le ben auf zu raumlu-men Es ist eine ziem lich art ty pi sche Ver hal tens wei se Wir sor tie-ren die all taumlg li chen Din ge un se res Le bens und eben so sor tie ren wir die Ge dan ken uumlber die Welt die uns um gibt Jede Ord nung auch die der Na tur ist also ein mensch li cher Ent wurf Und al-lem An schein nach ent stand das Be duumlrf nis die Welt zu ord nen in un se rer Ent wick lungs ge schich te pa ral lel zur Ent wick lung der Spra che Denn ohne die kuumlnst li che Auf raumlum ar beit der Spra che waumlre die Vor stel lung von ei ner raquoOrd nung der Schoumlp funglaquo oder der raquoNa turlaquo nicht moumlg lich

Wer auf die Ord nung an ge wie sen ist be wegt sich gern in den si che ren Gren zen ei nes Sys tems Nur in ner halb ei nes sol chen Ord nungs ge fuuml ges fragt man nach Wahr heit und Gel tung Rich-tig keit Me tho de und Be deu tung Zu leicht uumlber sieht der Ord ner dann die kuumlnst li che Be hau sung und die selbst ge zim mer ten Re-ga le in die er die Welt so sorg faumll tig hi nein sor tiert Sel ten ge lingt ihm ein Blick aus dem Fens ter in die un ge wis se Land schaft die ihn um gibt Und nur ein ge wal ti ger Sturm ein Blitz schlag oder eine Er schuumlt te rung zwingt den Ver wal ter der Welt die si che re Wohn statt zu ver las sen und sich ein an de res Haus zu bau en das den An fein dun gen des neu en Kli mas wi der steht

Erst im Ruumlck blick auf die vie len Irr tuuml mer der Ver gan gen heit er ken nen wir dann un se re ei ge ne Un zu laumlng lich keit beim Auf-raumlu men In der Ge gen wart er scheint uns die je wei li ge Ord nung meis tens so selbst ver staumlnd lich dass wir gern uumlber jede Moumlg-lich keit der Ver aumln de rung lauml cheln So ha ben Men schen mit voumll li-ger Ge wiss heit an ge nom men dass die Erde eine Schei be ist und dass Frau en und Skla ven kei ne Rech te zu ste hen Und mit ei nem eben sol chen Lauml cheln be trach ten wir heu te die Gruumln de mit de-nen Men schen sich im Lau fe der Jahr hun der te von den Tie ren zu un ter schei den glaub ten

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Schon die al ten Grie chen ins be son de re Aris to te les (384 v Chr ndash 322 v Chr) ha ben sich fuumlr die Ge schich te und das in vie len De tails ver bor ge ne Sys tem der Na tur in te res siert Er teilt die Tie re in Klas sen ein ver sucht zu er gruumln den was Le ben ist und schafft da mit die Grund la gen der Zo o lo gie Aber Aris to te-les kennt nur we ni ge hun dert Tie re Eine raquovoll staumln di ge Na tur-ge schich telaquo wird das ers te Mal im 18 Jahr hun dert ge schrie-ben ndash und auch sie ist aumlu szligerst un voll staumln dig Seit dem ver fuuml gen wir nicht nur uumlber ei nen rei chen Vor rat an ge dach ten Ord nun-gen von den Schoumlp fungs my then bis hin zur Mo le ku lar bi o lo gie Wir ken nen auch eine Wis sen schaft die sich raquoTax ono mielaquo nennt und jede Pfan ze und je des Tier sys te ma tisch in eine In ven tar liste der Na tur ein traumlgt

Da bei ver ra ten die Denk sche ma ta der Na tur for scher nicht nur et was uumlber die klas si fi zier te Na tur selbst son dern eben so uumlber das Ord nungs be duumlrf nis und die Pfif fig keit des mensch li-chen Geis tes Das 18 Jahr hun dert ist eine Zeit in der das Buumlr-ger tum an die Macht draumlngt und sich zu neh mend ge gen den Adel auf ehnt Sei ne schaumlrfs te Waf fe ist et was das man raquoVer nunftlaquo oder raquoRa ti o na li taumltlaquo nennt und das man ge gen den Glau ben ins Feld fuumlhrt Fuumlr die Phi lo so phen der Ra ti o na li taumlt ist die Welt kei-ne vor ge fun de ne Schoumlp fung mit fes ter Ord nung son dern et was dass man geis tig durch drin gen und auf sei ne Lo gik und Wi der-spruuml che un ter su chen kann Da bei ge ben zu naumlchst die Phy sik und die Ma the ma tik das Sche ma vor nach dem alle Er kennt nis auch jene von Pfan zen und Tie ren funk ti o nie ren soll Die Sys te ma ti-ker der Na tur ge schich te su chen nach un ver ruumlck ba ren Kri te ri en ob jek ti ven Ge setz mauml szligig kei ten und lo gi schen Ver bin dun gen um die un uuml ber sicht li che Welt der Le be we sen ih rer raquowah ren An ord-nunglaquo ge maumlszlig ein zu tei len Aber nicht alle Na tur for scher glau-ben dass ein sol ches Vor ha ben tat saumlch lich ge lin gen kann Man-che hal ten die Na tur fuumlr zu reich hal tig um sie auf die se Wei se zu klas si fi zie ren Welt an schau un gen tref fen auf ei nan der auf der

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ei nen Sei te der Glau be an ein vom Men schen prin zi pi ell voumll lig durch schau ba res Na tur sys tem auf der an de ren Sei te eine un er-gruumlnd li che Schoumlp fung in der der Mensch sich im mer nur tas-tend fort be wegt

Die ers te Va ri an te gilt im 18 Jahr hun dert als der mo der ne-re An satz Man ori en tiert sich da bei an ei nem Ra ti o na lis mus den Reneacute Des car tes (1596 ndash 1650) schon hun dert Jah re zu vor neu be gruumln det hat Die ser Ra ti o na lis mus ori en tiert sich an der Me cha nik Die Schoumlp fung Got tes er scheint als eine ein zi ge klug aus ge tuumlf tel te Ma schi ne die der Mensch Stuumlck fuumlr Stuumlck zu be-herr schen lernt Und das Uni ver sum be steht aus Ma te rie in Be-we gung or ga ni siert nach ma the ma ti schen Ge set zen Ob gleich das 18 Jahr hun dert zent ra le Spe ku la ti o nen des Phi lo so phen wi-der legt ori en tiert es sich in vie lem an Des car tesrsquo me cha nis ti scher Denk wei se Sie tut dies vor zugs wei se in je nen Dis zip li nen de-ren Er kennt nis fort schritt zu naumlchst ge ring bleibt Und nir gend-wo trifft dies in ei nem sol chen Maszlig zu wie bei der Er for schung der bi o lo gi schen Na tur

Doch die ses Welt bild hat prob le ma ti sche Fol gen Wer die Welt kon se quent nach me cha nis ti schen Grund saumlt zen be trach tet hat fuumlr den Be reich der nicht mensch li chen Na tur we nig Ver staumlnd nis Fuumlr Des car tes sind Tie re nichts als Ma schi nen Es macht kei nen Un ter schied ob eine Ma schi ne die aumlu szlige re Ge stalt und die in ne-ren Or ga ne ei nes Af fen hat oder ob es sich da bei tat saumlch lich um ein le ben des Tier han delt Denn relevantes Le ben kommt fuumlr den Den ker nicht durch zir ku lie ren des Blut und Reizempfindungen in den Koumlrper Son dern bedeutsames Le ben ga ran tie ren ein zig und al lein der er leuch te te Geist und sei ne Spra che

Des car tesrsquo Zeit kennt we der den Be griff des raquoOr ga nis muslaquo die Be son der heit des Le bens noch die Evo lu ti on son dern eben nur die Me cha nik Trotz dem ist sei ne The o rie von den Tie ren als see len lo se Au to ma ten im 17 und 18 Jahr hun dert aumlu szligerst um-strit ten Fran zouml si sche Phi lo so phen schrei ben Buch um Buch uumlber

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die Tier-Fra ge und be feh den sich da bei uumlber mehr als hun dert Jah re Noch weiszlig man nichts von ei ner raquoBi o lo gielaquo Man be treibt eine neue Dis zip lin die sich raquoNa tur ge schich telaquo nennt und da-mit auf raumlumt die Ge schich te von Le be we sen als eine wahl lo se Samm lung von Er zaumlh lun gen an zu se hen Bis her schrie ben Au to-ren um stands los von der Fang wei se der Tie re ih rer Ana to mie ih rer bib li schen und al le go ri schen Be deu tung ih rem prak ti schen Ge brauch ih rer Ver meh rung ih ren Stim men und Spra chen ih-ren Be we gun gen ih rem Al ter und von der Sym pa thie oder An-ti pa thie des Ver fas sers Auch Koch re zep te wur den von Fall zu Fall hin zu ge fuumlgt

Ein zo o lo gi sches Sys tem ist zu An fang des 18 Jahr hun derts weit ge hend un be kannt die Ver wandt schafts ver haumllt nis se der Pfan zen und Tie re sind dif fus ge ahnt und wer den eher nach Le-bens raumlu men be stimmt als nach koumlr per li chen Merk ma len Tie re die nachts ja gen ste hen da bei eben so in ei nem Ord nungs ge fuuml ge wie Tie re die fie gen koumln nen im Wald oder in ei nem See le ben Be reits die Pries ter schrift der bib li schen Ge ne sis hat te die Welt der Tie re und Pfan zen nicht nach ana to mi schen Merk ma len un-ter teilt son dern in Be zug auf den Le bens raum Pfan zen und Tie re des Mee res der Luft und der Erde Uumlber mehr als tau send Jah re kann ten auch der Is lam und die Hin dus Ord nungs sys teme die Tie re in ih rem Oumlko sys tem ver an ker ten

In der hin du is ti schen Samk hya-Tra di ti on exis tie ren vier zehn Klas sen un ter schied li cher Le be we sen ein ge teilt in acht For men himm li scher und sechs ir di scher Le be we sen zu de nen auch der Mensch ge houmlrt Als wei te res Un ter schei dungs merk mal dient die Art und Wei se der Ge burt Im gro szligen in di schen Na ti o nal epos aus dem 4 Jahr hun dert dem Ma hab har ata heiszligt es raquoAuf die ser Erde gibt es zwei Ar ten von Le be we sen die Be weg li chen und die Un be weg li chen Die Be weg li chen ha ben ei nen drei fa chen Schoszlig Sie sind aus dem Ei aus feuch ter Hit ze und Le ben dig-Ge bo re ne Von al len be weg li chen Le be we sen wie de rum sind die je ni gen die

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le ben dig ge bo ren sind hellip die bes ten Die bes ten un ter den le ben-dig Ge bo re nen sind die die zum Men schen ge schlecht ge houml ren und die Nutz tie relaquo4

Die neu en Sys te me des 18 Jahr hun derts be frei en die Na tur-ge schich te von al lem was sich mit den Me tho den der Zeit nicht wis sen schaft lich exakt be schrei ben laumlsst Koch re zep te fal len so-wie so un ter den Tisch aber auch man che Ver hal tens be ob ach-tun gen und vor mals wich ti ge Ei gen schaf ten wie zum Bei spiel der Ge ruch Ge forscht wird mit Lupe und Mik ros kop Li ne al und Pin zet te Der wich tigs te Mann auf die sem Ge biet ist der schwe-di sche Na tur for scher Carl von Linneacute (1707 ndash 1778) Er ori en-tiert sich an Aris to te les den er be wun dert nicht an Des car tes Ge ra de zu re vo lu ti o naumlr de mo kra tisch ent wi ckelt der auf ge klaumlr te Schwe de im 18 Jahr hun dert ein be schrei ben des Sys tem der Na-tur frei vom the o lo gi schen Fir le fanz sei ner Zeit Mit der Ak ri bie ei nes Brief mar ken samm lers dem Voll staumln dig keit mehr be deu tet als das Be stau nen ein zel ner Wer te ord net er die be leb te Na tur nach Ar ten Gat tun gen Ord nun gen und Klas sen Vier Va ri ab len die Form der Ele men te ihre An zahl die raumlum li che An ord nung der Ele men te und ihre re la ti ve Grouml szlige be stimm ten von nun an den Platz im Sys tem

Un ter der Leit dis zip lin der Bo ta nik wan delt sich die Na tur ge-schich te in eine ge ord ne te Welt aus Li ni en und Flauml chen Ent schei-dend sind die sicht ba ren Un ter schei dungs merk ma le wie Bluuml ten und Staub ge fauml szlige Blaumlt ter und Fruumlch te Fuumlszlige und Hufe Fe dern und Flos sen So setzt Linneacute fuumlr jede Pfan zen- und Tier klas se jede Ord nung und Gat tung be stimm te Merk ma le fest die er als die wich ti ge ren er ach te t Denn nur un ter der An nah me sol cher pri vi-le gier ter Struk tu ren ist es ihm moumlg lich die ver schie de nen Spe zi es im Ge samt sys tem un miss ver staumlnd lich zu ras tern Der mensch li che Ord ner be schreibt also nicht ein fach die be leb te Na tur Er fuumlgt ihr auch et was hin zu die Ent schei dung naumlm lich was in der For men-viel falt der Le be we sen wich ti ge Merk ma le sind und was nicht4

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Wie alle da ma li gen Na tur for scher nimmt Linneacute an dass die Ein tei lun gen die der mensch li che Ver stand macht tat saumlch lich ei ner ob jek ti ven Ord nung der Na tur ent spre chen Doch Lin neacutes Sys tem ist wie er selbst weiszlig nicht raquona tuumlr lichlaquo Sei ne Struk tu ren sind kei ne die er in der Na tur als Un ter schei dungs kri te ri en vor-fin det Denn was sich am Schreib tisch nun muumlh sam in Ord nun-gen pres sen laumlsst liegt wie der fran zouml si sche Na tur for scher Mishychel Adan son (1727 ndash 1806) fest stellt in der Wild nis wie Kraut und Ruuml ben durch ei nan der raquohellip eine kon fu se Mi schung aus We-sen hellip die der Zu fall ei nan der an ge nauml hert zu ha ben scheint Hier wird das Gold mit ei nem an de ren Me tall mit ei nem Stein oder mit Erde ge mischt Dort waumlchst die Ei che ne ben dem Veil chen Un ter die sen Pfan zen ir ren eben falls der Vier fuumlszlig ler das Rep til und das In sekt um her Die Fi sche mi schen sich so zu sa gen mit dem waumlss ri gen Ele ment in dem sie schwim men und mit den Pfan zen die auf dem Grun de der Ge waumls ser wach sen hellip Die se Mi schung ist so gar so all ge mein und so viel faumll tig dass sie ei nes der Na tur ge set ze zu sein scheintlaquo5

Der Wi der spruch zwi schen ei ner tax ono mi schen und ei ner oumlko lo gi schen Ord nung der Na tur ist of fen sicht lich Er fin det sich noch heu te in der Dis kus si on um die Aumls the tik von Zoo an la gen Soll man die Tie re nach Ver wandt schafts ver haumllt nis sen sam meln also in Raub tier haumlu sern An ti lo pen haumlu sern und Hirsch an la gen so dass der Be su cher zwi schen den ana to mi schen Be son der hei-ten der Ar ten ndash mit un ter so gar den ge o gra fi schen Va ri an ten ei ner ein zi gen Art ndash zu un ter schei den lernt Oder ge waumlhrt die Nach-ge stal tung ei nes Na tur bi o tops ei ner af ri ka ni schen Sa van ne oder ei nes al pi nen Pa no ra mas den wich ti ge ren Ein blick in die Ord-nung der Na tur

Zwar steht fuumlr Linneacute und sei ne Kol le gen fest dass die raquowah-re Ord nunglaquo der Na tur sich an den koumlr per li chen Merk ma len zu ori en tie ren hat doch muss eine Er klauml rung da fuumlr ge fun den wer-den wa rum die se Ord nung in der frei en Na tur nicht von al lein 5

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sicht bar wird Ohne Zwei fel ist das Sys tem der Na tur kei ne zeit-lo se Schoumlp fung son dern durch Ver aumln de run gen ge kenn zeich net die sich in der Erd ge schich te er eig net ha ben Pa ral lel meh ren sich die Fun de von Fos si li en also von Tie ren die mut maszlig lich aus-ge stor ben sind Es hat al lem An schein nach grouml szlige re ge o lo gi sche Ka tast ro phen in un be kann ter Zahl ge ge ben de nen vie le Ar ten zum Op fer ge fal len sind Doch ha ben die se De sas ter auch zur Ent ste hung von neu en For men ge fuumlhrt

Um den Fak tor der Zeit und sei ne Fol gen fuumlr das Sys tem der Na tur ein zu schaumlt zen gibt es vie le Moumlg lich kei ten Die ein fachs te und mensch lichs te al ler zeit li chen Ord nungs vor stel lun gen ist die Idee al les fol ge ei nem Plan und sei auf ein Ziel hin aus ge rich-tet (Te le o lo gie) Re li gi o nen Phi lo so phi en und Ide o lo gi en funk-ti o nie ren na he zu al le samt ziel ge rich tet Es geht um ein bes se res Le ben auf Er den im Jen seits in ei nem ge rech ten Staat um die Herr schaft uumlber die an de ren uumlber die Pro duk ti ons mit tel oder das Boumlse Selbst un ser All tag ge stal tet sich weit ge hend te le o lo-gisch durch traumlnkt von zu kuumlnf ti ger Er war tung Mo tor jed we-der Te le o lo gie ist der Fort schritts ge dan ke Sein ima gi nauml res Ziel ist der voll kom me ne Zu stand So glau ben christ lich-abend laumln-di sche Ge sell schaf ten gern an eine staumln di ge Ver bes se rung durch An stren gung eine Tu gend die nach cal vi nis ti scher Tra di ti on im Him mel wie auf Er den von Gott ma te ri ell ent lohnt wird Wie na he lie gend also auch in der Na tur die Ent ste hung raquohouml he rerlaquo Le bens for men durch Fort schritt er ken nen zu wol len mit dem End ziel des Men schen

Die Un ord nung der Schoumlp fung mit ei nem goumltt li chen Fort-schritts plan in Ein klang zu brin gen ist das Le bens werk des Schwei zer Na tur for schers und Phi lo so phen Charles Bon net (1720 ndash 1793) Fuumlr Bon net ist die Zahl der Ar ten und ihre aumlu-szlige re Ge stalt von Gott ein fuumlr al le Mal fest ge legt Doch kann sich ein je des Le be we sen per fek ti o nie ren Der Weg vom simp-len Ge muumlt zur ge ni a li schen Leis tung ist vom Schoumlp fer vor ge-

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zeich net Und alle Tie re be schrei ten ihn zeit lich ver setzt nach dem glei chen Mus ter das der Mensch ih nen vor ge lebt hat raquoEs wird ei nen mehr oder we ni ger lang sa men und kon ti nu ier li chen Fort schritt al ler Ar ten zu ei ner houml he ren Ver voll komm nung ge-ben so dass alle Gra de der Stu fen lei ter in ei ner de ter mi nie ren den und kons tan ten Be zie hung fort ge setzt va ri a bel sein wer den hellip Es wird un ter den Af fen Leu te wie New ton und un ter Bi bern wie (den Fes tungs bau meis ter RDP) Vau ban ge ben Die Aus-tern und die Po ly pen wer den in Be zie hung zu den houmlchs ten Ar-ten das sein was die Vouml gel fuumlr die Vier fuumlszlig ler im Ver haumllt nis zum Men schen sindlaquo6

Seit Bon net ist die Vor stel lung von der raquoLei ter der Na turlaquo der Sca la nat urae ein wich ti ges In ven tar des na tur ge schicht-li chen Den kens Fort schritt Ver voll komm nung und goumltt li cher Plan ndash die se drei Grouml szligen be stim men die Vor stel lung vom Wer-den der Na tur vom 18 Jahr hun dert bis in die Ge gen wart hi nein Das Prin zip nach dem die Evo lu ti on Le ben her vor bringt sei un ver meid lich und von An fang an vor her be stimmt Nicht we-ni ge E vo lu ti ons the o re ti ker ha ben dies eben falls ge glaubt und zwar mit be acht li cher Kon ti nu i taumlt Der eng li sche Na tur for scher Alf red Rus sel Wall ace (1823 ndash 1913) der ge mein sam mit Dar win die The o rie der na tuumlr li chen Se lek ti on ent wi ckelt hat te hielt nicht nur den mensch li chen Geist und sein Mo ral emp fin den son dern zu dem auch die wei che nack te emp find sa me Haut des Men-schen fuumlr das Re sul tat ei ner not wen di gen Ent wick lung

Doch schon im 18 Jahr hun dert reg ten sich zu gleich vor sich-ti ge Zwei fel an der Stim mig keit ei ner sol chen Vor ge formt heit Denn wie soll te man Na tur ka tast ro phen be wer ten Waumlh rend die meis ten Na tur for scher sie als Teil des goumltt li chen Schoumlp-fungs plans in ter pre tier ten zo gen an de re ver gleichs wei se fins te-re Schluumls se Und so wur de tat saumlch lich ein gro szliges Erd be ben zum in di rek ten Aus louml ser der Evo lu ti ons the o rie naumlm lich je nes von Lis sa bon im Jahr 1755 Wer uumlber die Ka tast ro phe nach dach te 6

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konn te star ken Zwei fel da ran he gen dass die Welt ord nung aus-ge kluuml gelt und har mo nisch sei

Die wei test rei chen den Schluss fol ge run gen zog der eng li-sche Pfar rer und Na ti o nal oumlko nom Tho mas Ro bert Malt hus (1766 ndash 1834) Nicht nur die ge o lo gi sche Na tur und ihr Ge-fah ren ri si ko son dern auch die Ver meh rung der Be voumll ke rung wur de nun als Uumlbel er kannt Im Jahr 1798 pub li zier te Malt-hus sei nen Es say on the Princi ple of Po pu la ti on (Das Be voumllshyke rungs ge setz) die ers te Mahn schrift vor den Ge fah ren ei ner Be voumll ke rungs ex plo si on Bei ei ner Ver dop pe lungs ra te der Welt-be voumll ke rung in ner halb von fuumlnf und zwan zig Jah ren er rech ne-te Malt hus wer de ihr exponent iel les An wach sen auf grund der von der Um welt ge setz ten Gren zen not wen dig zu Ar mut Ka-tast ro phen und Tod fuumlh ren Der bib li sche Auf trag raquoSeid frucht-bar und meh ret euchlaquo er schien mit ei nem Mal als ein Fluch Ein gna den lo ser raquoKampf ums Da seinlaquo (strugg le for life) war ent fes selt Das Ein zi ge was blieb war die Hoff nung die ka-tast ro pha len Fol gen der goumltt li chen An wei sung so weit wie moumlg lich ein daumlm men zu koumln nen

In ei ner Zeit als die Ge sell schafts the o rie noch der Bi o lo-gie den Leuch ter vo ran und nicht wie heu te die Schlep pe hin-terh er traumlgt be geis tert sich vor al lem ein eng li scher Dorf pfar rer Charles Dar win (1809 ndash 1882) fuumlr die Malt hus rsquoschen Ge set ze Denn wenn es rich tig ist dass sich ein Tier mit ei ner so ge rin-gen Ver meh rungs ra te wie der Mensch ge gen uumlber sei nen Art ge-nos sen durch setz te so gab es sicht lich an de re Kri te ri en fuumlr die Uumlber le bens fauml hig keit ei ner Po pu la ti on als die Zahl ih rer Ge bur-ten Der Maszlig stab fuumlr den Er folg ei ner Spe zi es war ihr Durch set-zungs ver mouml gen oder wie Dar win es spauml ter in den Prin zi pi en der Bio logie des jun gen Phi lo so phen Her bert Spen cer (1820 ndash 1903) le sen konn te raquothe sur vi val of the fit testlaquo

Dar wins na tur kund li che Stu di en wa ren ur spruumlng lich von dem Ge dan ken be seelt die nicht a ni ma li sche Iden ti taumlt des Men schen

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zu be wei sen Erst der Sieg des Ent de cker stol zes uumlber das Ent-set zen ver lieh ihm schlieszlig lich den Mut den be ruumlhm ten Satz zu schrei ben raquoUnd ich bin bei na he uumlber zeugt (der Mei nung mit der ich an die Fra ge he ran ge tre ten bin voumll lig ent ge gen ge setzt) dass die Spe zi es (mir ist es als ge staumln de ich ei nen Mord ein) nicht un ver aumln der lich sindlaquo7

Dar wins kuumlh ne Ver mu tung war nicht ganz neu Be reits ein hal bes Jahr hun dert zu vor hat ten der fran zouml si sche Na tur for scher GeorgesshyLou is Lec lerc Comte de Buf fon (1707 ndash 1788) und der Phi lo soph De nis Dide rot (1713 ndash 1784) uumlber eine Ver aumln de-rung der Ar ten spe ku liert Be son ders JeanshyBap tiste de La marck (1744 ndash 1829) be haup te te die all maumlh li che Ent wick lung der Ar-ten aus pri mi ti ve ren Vor for men die so ge nann te Trans mu ta ti on La marck war nicht nur ein Pi o nier der mit Jahr mil li o nen han-tier te als alle Welt die Erde noch ei ni ge tau send bis hun dert tau-send Jah re jung waumlhn te son dern er praumlg te (zur glei chen Zeit wie zwei deut sche Na tur for scher) das Wort Bi o lo gie Bei ihm wan del ten sich die Le be we sen da durch dass sich ihre koumlr per-li chen An stren gun gen auf ihr Erb gut aus wir ken Da bei nahm er al ler dings nicht an dass die Ar ten aus ei nan der her vor ge hen wie Dar win es spauml ter tat La ma rcks The o rie ist nauml her an je ner von Bon net Fuumlr ihn ver voll komm nen die ein zel nen Tier ar ten im Lau fe der Zeit ihre An la gen und ent wi ckeln sich da durch im-mer houml her Be son ders voll kom me ne Tie re wie der Mensch sind dem nach sehr alt denn sie ha ben ei nen wei ten Weg von ei nem pri mi ti ven Or ga nis mus bis hin zur heu ti gen Ge stalt hin ter sich ge las sen An de re wie der pri mi ti ve Suumlszlig was ser po lyp ha ben ihre Rei se durch die Zeit ge ra de erst an ge fan gen

La marck war kein Charis mati ker und die zo o lo gi sche All-macht sei nes Vor ge setz ten am Jar din des Plan tes in Pa ris des Ba rons George Cu vier (1769 ndash 1832) ver hin der te dass man sich all zu sehr mit sei nen The o ri en be schaumlf tig te Cu vier war ein be-deu ten der Mann An die Stel le ei ner nach bo ta ni schem Mus ter 7

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 399783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 39 10082021 10493410082021 104934

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ver fah ren den Zo o lo gie setz te er eine neue Wis sen schaft die sich we ni ger an aumlu szlige ren Merk ma len als am Or ga nis mus der Tie-re ori en tier te Doch was die Trans mu ta ti on an be lang te blieb der Ober auf se her der pro tes tan tisch-the o lo gi schen Fa kul tauml ten Frank reichs beim kon ser va ti ven Mo dell Er ver brei te te wei-ter hin eine Ket te von Na tur ka tast ro phen habe als mo di fi zier-te Sint fu ten gan zen Klas sen von Tie ren den Gar aus ge macht Die se The o rie ist weit ge hend rich tig al ler dings schlieszligt sie die Trans mu ta ti on nicht aus

Das wirk lich Re vo lu ti o nauml re an La marck war die Idee die Ge schich te der Na tur nicht vom Men schen aus bis hi nun ter zur Bak te rie zu schrei ben son dern um ge kehrt von der Bak te rie zum Men schen Aus ei nem Mo dell der raumlum li chen Hie rar chie wur de ein Mo dell der zeit li chen Ent wick lung La marck er kann te zu-dem dass das Be wusst sein ei nes Tie res an die Phy si o lo gie und Neu ro lo gie sei nes Koumlr pers ge bun den ist Dem nach ist je der Geist ers tens be grenzt und zwei tens ver aumln der lich

Die phi lo so phi sche Kon se quenz aus La ma rcks Den ken ist so ra di kal dass sie fast ein hun dert fuumlnf zig Jah re lang von nie man-dem ernst haft in Be tracht ge zo gen wur de Wie kann ein Geist der den Ge set zen der Evo lu ti on un ter wor fen ist sich ei gent lich an ma szligen die Na tur der Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Von die ser Schluss fol ge rung woll te die Bi o lo gie al ler dings bis weit ins 20 Jahr hun dert hi nein nicht viel wis sen

Auch Dar wins The o rie von der na tuumlr li chen Se lek ti on der Le be we sen im Rin gen um ihr Le ben und mit der Um welt ent-wi ckel te sich wei ter Ge witz ten Zeit ge nos sen wie Karl Marx (1818 ndash 1883) war auf ge fal len wie stark Dar wins Den ken dem Zeit geist des Vik to ri a ni schen Zeit al ters ver haf tet war raquoEs ist merk wuumlr dig wie Dar win un ter Bes ti en und Pfan zen sei ne eng li-sche Ge sell schaft mit ih rer Tei lung der Ar beit Kon kur renz Auf-schluss neu er Maumlrk te rsaquoEr fin dun genlsaquo und Malt hus schem rsaquoKampf ums Da seinlsaquo wie der er kenntlaquo8 Die Be to nung des Malt hus rsquoschen 8

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 409783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 40 10082021 10493410082021 104934

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Kamp fes von je dem ge gen je den und auch der Fort schritts glau-be in Dar wins Den ken zei gen ihn stark sei ner Zeit ver haf tet

Eine an de re Kri tik kam aus der Bi o lo gie selbst Dar win hat-te noch nichts von Ge nen ge wusst So konn te er nicht er klauml ren was sich bi o che misch er eig ne te wenn Ar ten sich ver aumln der ten Der raquoDar wi nis muslaquo der Jahr hun dert wen de gab schlieszlig lich die Hoff nung auf die Evo lu ti on lie szlige sich al lein durch die na tuumlr li-che Se lek ti on der Ar ten nach Maszlig ga be ih rer An pas sungs fauml hig-keit an die Um welt be gruumln den Man ent deck te die Rol le der Ge-ne tik und zum neu en Er klauml rungs prin zip wur de das Mo dell der zwei Kons t ruk teu re Das Spiel des Le bens er hielt ei nen Wuumlr fel zu faumll li ge Ver aumln de run gen im Gen ma te ri al also so ge nann te Mu tashyti o nen Im Tri alshyandshyEr ror-Ver fah ren ent ste hen im Erb gut ge le-gent lich Ab wei chun gen die dann er folg reich sind wenn sie sich in der Um welt be waumlh ren Da mit war die Idee vom Tisch dass sich neu er wor be ne Ei gen schaf ten oder raquodie ana to mi schen Aus-wir kun gen koumlr per li cher An stren gun genlaquo wie La marck mein te ver er ben koumlnn ten Noch Dar win hat te dies fuumlr denk bar ge hal ten So ver trau te er Er zaumlh lun gen wo nach bei je nen Volks grup pen zu de ren Ri ten die re gel mauml szligi ge Be schnei dung der Pe nis vor haut ge houmlrt sich die Vor haut all maumlh lich ver kuumlrz te Das haumlt te zwar die Be schnei dung uumlber fuumls sig ge macht aber Dar win hat te ge ra-de an de res Ge wich ti ges zu be den ken als da ruuml ber nach zu sin nen

Die Ver kuumlr zung der Vor haut blieb im Wis sens schatz der Dar wi nis ten bis Au gust Weis mann (1834 ndash 1914) im spauml ten 19 Jahr hun dert nach wies dass ein sol cher In for ma ti ons fuss vom aumlu szlige ren Er schei nungs bild zum Erb ma te ri al nicht moumlg lich sei Uumlber fuumlnf Ge ne ra ti o nen kuumlrz te Weis mann ei nem Stamm von Maumlu sen ihre Schwaumln ze ohne dass eine Nach richt uumlber die sen Ein griff die Keim bah nen der Maumlu se er reich te Denn sie he da Auch die Schwaumln ze der nach fol gen den Maumlu se ge ne ra ti o nen blie-ben gleich lang Da be durf te es schon der Spitz fin dig keit des iri schen Dich ters George Bern ard Shaw (1856 ndash 1950) der Weis-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 419783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 41 10082021 10493410082021 104934

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manns schnei den de Wi der le gung der La marckrsquo schen The o rie leicht fer tig vom Se zier tisch wisch te Die Maumlu se be merk te der Dich ter haumlt ten gar kei ne An stren gun gen un ter nom men ihre Schwaumln ze zu ver lie ren waumlh rend sich die Tie re bei La marck ja da rum be muumlht haumlt ten sich zu ver aumln dern

Im Nach hi n ein also war es der pauml da go gi sche Op ti mis mus der La marck in die Irre ge fuumlhrt ha ben soll te So mach te die Hoff-nung auf ei nen ethisch an spre chen den E vo lu ti ons ver lauf ndash die Er war tung die Mensch heit ent wick le sich qua An pas sung an das so zi a le Mi li eu durch Selbst er zie hung zum Bes se ren ndash nur noch eine et was ab sei ti ge Kar ri e re im staats so zi a lis ti schen Bi o lo gie-un ter richt der Sow jet u ni on Wie kalt da ge gen der uumlber le ge ne raquoKampf ums Da seinlaquo der ja ein Kampf um die Fleisch toumlp fe ist ohne Hoff nung der Mensch wer de den kuumlh nen Geist statt sei-nes ma te ri a lis ti schen Gier hal ses nach Houml he rem stre cken Und ein zig die Kir che be wahr te un ver dros sen ei nen la marc kis ti schen Ge dan ken ndash al ler dings ei nen pes si mis ti schen und kei nen op ti-mis ti schen In bes ter Schuumlt zen hil fe fuumlr den fran zouml si schen Che-va li er ver tei digt sie bis heu te ihr mo le ku lar ge ne tisch be denk li-ches Dog ma Adams Un ge hor sam im Gar ten Eden habe zu ei ner raquoErb suumln delaquo ge fuumlhrt die da rauf hin auf alle zu kuumlnf ti gen Ge ne ra-ti o nen uumlber ge gan gen sei

Im mer hin sind in den bei den letz ten Jahr zehn ten ei ni ge Bi o-lo gen wie der et was of fe ner da fuumlr ge wor den der Ver er bung er-wor be ner Ei gen schaf ten ei nen Platz in der Ge ne tik zu las sen Zwar ver er ben sich psy chi sche und phy si sche Le bens er fah run-gen nicht durch ver aumln der te Gene Aber es koumlnn te doch sein dass jene Schal ter die da ruuml ber be stim men wel che ge ne ti sche In for-ma ti on wei ter ge ge ben wird und wel che nicht durch Um welt-ein fuumls se ver aumln dert wer den Uumlber le gun gen wie die se be schaumlf ti-gen so ge nann te Epi gen eti ker seit ei ni ger Zeit sie ha ben ei nen wach sen den Ein fuss auf un se re Vor stel lung von der Evo lu ti on

Die heu ti ge Leit dis zip lin die uns die Ver wandt schaft des Le-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 429783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 42 10082021 10493410082021 104934

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bens ent schluumls seln soll ist die Ge ne tik Wir un ter su chen die Sum-me al ler ge ne ti schen In for ma ti o nen und re gist rie ren da bei Uumlber-ein stim mun gen und Ab wei chun gen mit an de ren Ar ten Doch der Pro zess die Na tur un se rer Na tur zu er ken nen ist noch lan ge nicht ab ge schlos sen und wird wohl auch nie ab ge schlos sen sein Wir wen den Ord nungs sche ma ta auf The o ri en und The o ri en auf Be ob ach tun gen an Nur so kom men wir zu Kau sa li tauml ten und Ge-set zen Doch ihre Be deu tung ver aumln dert sich in dem Maszlige wie wir den Blick punkt un se rer Auf merk sam keit wie der ver la gern Die ser Vor gang des Ent dec kens und des Ver de ckens durch neue Denk sche ma ta ist prin zi pi ell nicht ab schlieszlig bar denn selbst ge-gen waumlr ti ge Evo lu ti ons the o ri en un ter lie gen wei ter hin der Evo-lu ti on

Er staun li cher wei se hat die mo der ne Evo lu ti ons the o rie nur zu ei ner ge ring fuuml gi gen Kor rek tur al ter Denk sche ma ta ge fuumlhrt Wie fruuml her in der Na tur ge schich te er ken nen wir heu te in der Bi o lo gie uumlber all Re gel haf tigk eit Not wen dig keit und Vor tei-le Doch bei nauml he rer Sicht er weist sich die Evo lu ti on ge ra de zu als Herr schafts ge biet der Aus nah men uumlber die Re geln Sie ist eine raquoZweck mauml szligig keit ohne Zwecklaquo wenn auch al lein fuumlr die 01 Pro zent der heu te noch ndash oder ge ra de ndash exis tie ren den Spe-zi es nicht aber fuumlr die 999 Pro zent die in den Ur fu ten dem Ord ovizium dem Perm der Krei de oder dem Ter ti aumlr das Welt-li che seg ne ten E vo lu ti ons bi o lo gen su chen in der Ge schich te der Na tur uumlber all nach Vor tei len die das Uumlber le ben von Ar ten er-klauml ren sol len Da bei ver men gen sie oft zwei ver schie de ne Vor-teils be grif fe Ein mal geht es um Mu ta ti o nen die si tu a tiv vor teil-haf te Ei gen schaf ten fuumlr eine Tier art her vor ge bracht ha ben sol len Eine grouml szlige re Sta tur ein pom pouml se res Ge weih ein staumlr ke res Ge biss sol len Weib chen be ein dru cken und die Nach kom men schaft er-houml hen Da die se Ei gen schaf ten aber oft nichts nuumlt zen wenn der Zu fall die Spiel re geln der Um welt aumln dert gibt es ei nen zwei ten Vor teils be griff Da nach ist das vor teil haft in der Evo lu ti on was

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 439783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 43 10082021 10493410082021 104934

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vom Ende her be trach tet dazu ge fuumlhrt hat dass eine Art uumlber-lebt Nach die ser Sicht wei se kann der mick rigs te Pa vi an auf dem Fel sen sei ne Gene wei ter ge ben wenn die staumlr ke ren Kon kur ren-ten bei ei nem Erd be ben ums Le ben ge kom men sind

An ge sichts zwei er so un ter schied li cher Be deu tun gen von raquoVor teillaquo fragt es sich ob der Be griff in der Evo lu ti ons the o rie uumlber haupt sinn voll ver wen det wer den kann Tat saumlch lich ist er ein Erbe der The o lo gie des 17 und 18 Jahr hun derts die uumlber-all in der Na tur nach der klu gen Ver nunft Got tes such te Dar win kann te die se Tra di ti on gut Als Stu dent ver ehr te er den The o lo-gen Will iam Pa ley (1743 ndash 1805) der na tur kund lich be schla gen die goumltt li che Vo raus sicht auf den neu es ten Stand ge bracht hat te Als Dar win sich von Gott ver ab schie de te und die na tuumlr li che Se-lek ti on er kann te er setz te er uumlber all wo Pa ley raquoGod doeslaquo ge-schrie ben hat te den Satz durch raquoNat ure doeslaquo An Pa leys Vor-stel lung dass die Na tur zweck mauml szligig ein ge rich tet sei und Vor tei le be loh ne hielt Dar win eben so fest wie vie le spauml te re E vo lu ti ons-the o re ti ker

Die Fra ge ist des halb wich tig weil sie zeigt wie eng un se re Vor stel lung von der Na tur bis hi nein in die mo der ne Evo lu ti-ons the o rie von sehr mensch li chen Vor stel lun gen durch setzt ist Statt Vor tei le zu be nen nen wuumlr de es naumlm lich auch aus rei chen zu sa gen dass al les in der Na tur uumlber le ben kann das fuumlr eine Art kei nen toumld li chen Nach teil hat te Ver mut lich uumlber lebt in der Evo lu ti on nicht nur Zweck mauml szligi ges son dern jede Ver aumln de rung die zu min dest nicht zum Aus ster ben fuumlhr t und moumlg li cher wei se liegt ge ra de hie rin der Grund fuumlr eine gro szlige Ar ten viel falt

Die tra di ti o nell ver eng te Sicht wei se gilt ins be son de re bei der Be trach tung des Men schen E vo lu ti ons bi o lo gen koumln nen zahl-rei che Vor tei le be nen nen die er klauml ren wa rum die mensch li che Art so er folg reich ist Men schen sind aumlu szligerst an pas sungs fauml hig und be sie deln fast alle Le bens raumlu me sie sind Al les fres ser mit ei ner gro szligen Nah rungs band brei te sie ha ben eine fe xib le So zi-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 449783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 44 10082021 10493410082021 104934

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al struk tur und ver fuuml gen uumlber ein Selbst be wusst sein das es ih-nen er moumlg licht ihr Ver hal ten zu kor ri gie ren So ge se hen ist der Mensch gleich sam das op ti mal ste al ler Tie re Doch alldem zum Trotz exis tie ren Men schen der Gat tung Homo sap iens erst seit rund 100 000 Jah ren und ihre lang fris ti gen Zu kunfts chan cen ste hen schlecht Denn mit all den vor teil haf ten Ei gen schaf ten ha-ben Men schen in Re kord zeit ihre Um welt zer stoumlrt und das lang-fris ti ge Uumlber le ben der Spe zi es dra ma tisch in fra ge ge stellt Die mit we ni ger spek ta ku lauml ren Vor tei len aus ge stat te ten Di no sau ri-er exis tier ten auf un se rem Pla ne ten hun dert fuumlnf zig Mil li o nen Jah re ganz zu schwei gen von den seit uumlber vier hun dert Mil li o-nen Jah ren na he zu un ver aumln der ten Nau til iden und Ur schne cken

Ge si chert in der Evo lu ti ons the o rie ist dass kei ne ih rer An nah-men ge si chert ist E vo lu ti ons bi o lo gen die ihre Sa che ernst neh-men muumls sen im mer auch die E vo lu ti ons be dingt heit ih res ei ge-nen Er kennt nis ap pa rats ref ek tie ren also mit hin die Evo lu ti on al ler mensch li chen Er kennt nis raquoLetzt lich istlaquo wie der Neuro bio-lo ge Ger hard Roth schreibt raquoje des Nach den ken uumlber die ob jek-ti ve Re a li taumlt sei es wis sen schaft lich oder nicht an die Be din gun-gen mensch li chen Den kens Spre chens und Han delns ge bun den und muss sich da rin be waumlh renlaquo9

Man muss ref ek tie ren dass die un ver meid li chen Ord nungs-mit tel des Geis tes das Den ken und die Spra che nicht die Wirk-lich keit raquoan sichlaquo auf raumlu men Sie sind Mo del le die die un ver-fuumlg ba re Wirk lich keit nach Maszlig ga be der ei ge nen Spiel re geln er klauml ren Nicht erst seit Er for schung der Evo lu ti on in den letz-ten zwei hun dert Jah ren muumlht sich der mensch li che Geist dem Lauf der Welt ei nen ndash nach mensch li chem Er mes sen ndash raquover nuumlnf-ti genlaquo Sinn zu ge ben Doch das Pa ra do xe der Ge schich te liegt da rin dass der mensch li che Geist selbst Pro dukt evo lu ti o nauml rer Pro zes se ist Er ist Maszlig stab und Ge mes se nes zu gleich

An eine tat saumlch lich ob jek ti ve Er kennt nis der Evo lu ti on waumlre nur halb wegs sinn voll zu den ken wenn die Evo lu ti on des Men-9

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 459783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 45 10082021 10493410082021 104934

schen ab ge schlos sen ist und da mit die Stu fe der groumlszligt moumlg li chen Voll kom men heit er reicht hat In den Zei ten vor La marck und Dar win ha ben das nicht nur The o lo gen son dern auch die Na tur-for scher fast al le samt ge glaubt Das mensch li che Be wusst sein sei die un uuml ber trof fe ne Spit zen leis tung des Schoumlp fer got tes ge schaf-fen die Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Sei nen schoumlns-ten Aus druck fand die se Sicht in ei nem Aus spruch des jun gen Phi lo so phen Fried rich Wil helm Jo seph Schel ling (1775 ndash 1854) Er mein te dass der Mensch je nes We sen sei raquoin dem die Na tur das Auge auf schlaumlgtlaquo und sich da mit ih rer selbst be wusst wird Ein huumlb scher Satz aber doch viel zu pa the tisch for mu liert Von der vol len Er kennt nis der Na tur und un se rer selbst sind wir noch im mer weit ent fernt Aber wir koumln nen da ruuml ber stau nen dass die Evo lu ti on mit uns ein Le be we sen her vor ge bracht hat in dem die Na tur sich fuumlr sich selbst fa szi nier bar ge macht hat Wie hat te es dazu kom men koumln nen

bull Der Pri mat Was ist ein Mensch

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 469783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 46 10082021 10493410082021 104934

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ver waist sein Die Mensch heit wird er wacht sein und die Welt je-nes Ge sicht er hal ten ha ben das uns ge gen waumlr tig er scheint Doch wie sah das aus als die Na tur das ers te Mal in ei nem af fen aumlhn-li chen We sen die Au gen auf schlug War es auf ei ner Wald wie-se in ei nem Hain an ei nem Berg hang oder auf ei ner Lich tung War das er leuch te te We sen ein Maumlnn chen oder ein Weib chen Ging es den gan zen Tag auf recht oder saszlig es noch ger ne in der Ho cke eng ge kau ert an sei ne Bruuml der und Schwes tern Und war es eine Ein ge bung ein Blitz schlag als das Selbst be wusst sein das ers te Mal die Fes seln des Pri ma ten ge hirns spreng te

Wir wis sen nicht wo ran Schel ling dach te als er mein te die Na tur habe im Men schen ihr Auge auf ge schla gen Si cher dach te er nicht an ei nen ein zi gen Mo ment dem Mil li o nen an de re folg-ten Er dach te an den raquoMen schen an sichlaquo Und er wuss te nichts vom ost af ri ka ni schen Great Rift Val ley und von haa ri gen Vor-men schen die dort einst haus ten Er leb te in Jena und in Muumln-chen und ei nen Men schen af fen hat te Schel ling nie ge se hen Der ein zig ar ti ge Mo ment in dem die Na tur sich ih rer selbst be wusst wird bleibt eine Me ta pher

Doch wie wur de der Mensch nun tat saumlch lich zum Men-schen Die For mu lie rung ist dop pel deu tig Denn wie der Mensch zum Men schen wur de ndash das ist nicht ein evo lu ti o nauml rer Pro-zess auf der lee ren Welt buumlh ne son dern ein Spiel von Be ob ach-ter und Be ob ach te tem Schau spie ler und Zu schau er Ge schich-te auch Ent wick lungs ge schich te ist nichts Vor ge fun de nes Der Mensch schrieb der fran zouml si sche Phi lo soph JeanshyPaul Sart re (1905 ndash 1980) macht sich selbst wie der Ro man schrift stel ler sei ne Fi gu ren Er ist ge fer tigt aus bi o lo gi schen (ana to mi schen neu ro lo gi schen und phy si o lo gi schen) Be stand tei len zu al ler meist je doch durch jene we nig bi o lo gi schen Weis hei ten mit de nen sich die se Subs tan zen selbst zum raquoMen schenlaquo er ko ren

Das Glei che gilt fuumlr die mensch li che Stam mes ge schich te Auch sie ist zu naumlchst ein mal eine Ge schich te Ihre Ur spruumln ge lie gen im

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 489783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 48 10082021 10493510082021 104935

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al ten Grie chen land als Aris to te les den Men schen und den Af-fen ver wandt schaft lich na he ruumlckt raquoMan che Tie re ste hen zwi-schen Mensch und Vier fuumlszlig ler in ih rem We sen wie Af fen Meer-kat zen und Pa vi a ne hellip Ihr Ge sicht hat vie le Aumlhn lich kei ten mit dem des Men schen Nase und Oh ren glei chen den sei nen und Zaumlh ne hat er auch wie ein Mensch die Vor der zaumlh ne wie die Ba cken zaumlhnelaquo10 Auch Aris to te lesrsquo Schuuml ler The oph rast (ca 370 v Chr ndash ca 288 v Chr) be steht auf der Aumlhn lich keit zwi schen Men schen und Tie ren Er lehnt es so gar ab Fleisch zu es sen oder Tie re zu op fern da man sei ne Ver wand ten nicht ver spei se

Aris to te les und The oph rast stell ten den Men schen zwar ne-ben den Af fen ndash Men schen af fen kann te man noch nicht ndash aber die al ten Grie chen hat ten ihn nur sehr un ge faumlhr zu ei nem Tier un ter Tie ren er klaumlrt Den naumlchs ten Schritt mach te mehr als zwei-tau send Jah re spauml ter Carl von Linneacute An der Zu ge houml rig keit des Men schen zu den Saumlu ge tie ren be stand fuumlr den Schwe den kein Zwei fel die Be haa rung und das Stil len der Jun gen be lehr ten un-miss ver staumlnd lich da ruuml ber Auch die Ver wandt schaft mit Af fen und Men schen af fen stand au szliger Fra ge Hier wa ren es die fa chen Fin ger- und Fuszlig nauml gel statt der Klau en der ab ge spreiz te Dau-men die Greif haumln de die zwei Zit zen der Weib chen und der frei he run ter haumln gen de statt am Un ter leib an lie gen de Pe nis ndash Merk-ma le die groumlszlig ten teils auch schon Aris to te les auf ge fal len wa ren

Doch Linneacute zouml ger te vor der Kon se quenz Haumln de rin gend such-te der got tes fuumlrch ti ge Ana tom nach ei nem Un ter schied zwi schen dem Men schen und den uumlb ri gen von ihm so ge nann ten raquoPri ma-tenlaquo raquoIch ver lan gelaquo schrieb er 1747 sei nem deut schen Freund Jo hann Ge org Gme lin raquovon Ih nen und von der gan zen Welt dass Sie mir ein Gat tungs merk mal zei gen hellip auf grund des sen man zwi schen Mensch und Affe un ter schei den kann Ich weiszlig selbst mit aumlu szligers ter Ge wiss heit von kei nemlaquo11

Nach sei nen Kri te ri en haumlt te Linneacute den Men schen zu min dest mit dem Schim pan sen ge mein sam in die sel be Gat tung ein ord-10

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9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 499783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 49 10082021 10493510082021 104935

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nen muumls sen Der Ge dan ke schweb te zeit gleich auch dem Phi lo so-phen JeanshyJacques Rous seau (1712 ndash 1778) vor als er Schim pan-sen Orang-Ut ans und Men schen so gar als Ver tre ter der Spe zi es Mensch an sah Rous seau hat te nie ei nen Men schen af fen ge se-hen Aber die Be rich te die er von Ex pe di ti o nen nach Af ri ka und Suumld ost a si en las lie szligen in ihm kei nen Zwei fel dass die da rin be schrie be nen Men schen af fen raquowe der Tie re noch Goumlt ter son-dern Men schenlaquo sei en12 Fuumlr den Auf klauml rer wa ren Men schen af-fen edle Wil de die von kei ner Zi vi li sa ti on in ih rem fried fer ti gen We sen zer stoumlrt sei en an ders als die Men schen in Eu ro pa Eben-so dach te we nig spauml ter der schot ti sche Sprach for scher James Bur nett Lord Mon boddo (1714 ndash 1799) Auch er be trach te te den Orang-Utan als ei nen Men schen naumlm lich als ei nen raquosprach-losen Wil denlaquo

In ter pre ta ti o nen wie Rous seau sie in Pa ris und Bur nett bald da rauf in Kin card ines hire wag ten wa ren Linneacute im schwe di schen Upp sa la fremd Den Men schen ins Tier reich ein zu ord nen war in den Au gen der stren gen pro tes tan ti schen Kir che Suumln de ge nug und Linneacute zouml ger te den letz ten Schritt zu tun In sei ner Not sor-tier te er 1758 ach sel zu ckend Mensch und Schim pan se in un ter-schied li che Gat tun gen zu sam men ge fasst in der Ord nung der Pri ma ten in der sie auch heu te noch mehr schlecht als recht huumlbsch ge trennt ne ben ei nan der ho cken Homo sap iens der raquoin-tel ligi ble Menschlaquo und Pan trog lody tes der raquohoumlh len be woh nen-de Faunlaquo

So weit so schoumln Der Mensch wur de der obers te Pri mat das houmlchs te raquoHer ren tierlaquo Linneacute be kam kei nen Aumlr ger mit der Kir-che und die Na tur wis sen schaft den gro szligen Wurf des Linneacute rsquoschen Sys tems Wenn nur die se Nach barn nicht wauml ren Seit Be kannt-wer den der Men schen af fen be muumlh ten sich Wis sen schaft ler und The o lo gen im mer wie der um den Ver such den klei nen Gra ben mit gro szligen Was sern zu fuumll len der Homo sap iens und Pan troshyglody tes bei ih rer ord nungs ge mauml szligen Ver ge sell schaf tung auf der 12

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 509783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 50 10082021 10493510082021 104935

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Af fen in sel trennt Sie eva ku ier ten den Men schen vom Pri ma ten-fel sen und schu fen ihm eine ei ge ne Ord nung

In die ser Vor stel lungs welt wuchs auch der The o lo gie stu dent Charles Dar win auf Das fruuml he 19 Jahr hun dert war eine got-tes fuumlrch ti ge bie der mei er li che Zeit Doch je mehr er sich mit der Ver aumln de rung der Ar ten be schaumlf tig te umso deut li cher wur de Dar win dass es mit der of fi zi ell be kun de ten Son der stel lung des Men schen im Uni ver sum nicht weit her sein konn te So no tier te er schon er staun lich fruumlh in sein Ta ge buch raquoDer Mensch haumllt sich in sei ner Ar ro ganz fuumlr ein groszlig ar ti ges Werk des be son de ren Ein grei fens ei ner Gott heit wuumlr dig Es duumlrf te be schei de ner und wie ich glau be auch rich tig sein ihn als aus den Tie ren ent stan-den an zu se henlaquo13

Dar win hat te den noch zwoumllf Jah re ge zouml gert bis er sich schlieszlig lich ge trau te nach der all ge mei nen Dar stel lung ei ner Evo-lu ti ons the o rie im Jahr 1859 sei ne Schluss fol ge run gen in Be zug auf den Men schen in Druck zu ge ben Die Ab stam mung des Men schen aus dem Jahr 1871 ist ein ge maumlch li ches Buch in ver-soumlhn li chem Ton fall Der Na tur for scher er zaumlhlt da rin wie ein gu-ter al ter Groszlig va ter wo her die Pfan zen die Tie re und die Eng-laumln der kom men Die raquoAb wer tunglaquo des Men schen geht da bei ein her mit ei ner kon ti nu ier li chen raquoAuf wer tunglaquo der Tie re raquoWir ha ben ge se henlaquo schreibt Dar win raquodass die Emp fin dun gen und Ein druuml cke die ver schie de nen Er re gun gen und Fauml hig kei ten wie Lie be Ge daumlcht nis Auf merk sam keit Neu gier de Nach ah mung Ver stand usw de ren sich der Mensch ruumlhmt in ei nem be gin nen-den oder zu wei len selbst in ei nem gut ent wi ckel ten Zu stand bei den nie de ren Tie ren ge fun den wer denlaquo14

La marck und Dar win wa ren die Ers ten die mit Mit teln der mo der nen Na tur wis sen schaft be haup te ten was vie le Kul tu ren und Zei ten schon zu vor re li gi oumls ge ahnt hat ten raquoNa tuumlr lichlaquo ist es ab surd eine Tei lung des Tier reichs in zwei Ka te go ri en vor zu-neh men ndash in eine mensch li che und eine nicht mensch li che Ka-13

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9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 519783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 51 10082021 10493510082021 104935

Page 8: Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen · Leseprobe Professor Dr. Richard David Precht Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen »Fazit:

Das Tier als Dum mySind Tier ver su che le gi tim 380

Al cat raz oder Psycho topVom Nut zen und Nach teil der Tier gaumlr ten fuumlr das Tier le ben 399

Das Zeit al ter der Ein sam keitDie Ethik der Be wah rung 416

Das un ver soumlhn li che Tri um vi ratTier schutz Tier recht und Ar ten schutz 432

Scho pen hau ers Trep peDie Prag ma tik des Nicht wis sens 450

An hangAn mer kun gen 465

Aus ge waumlhl te Li te ra tur 475

Dank 499

Per so nen re gis ter 501

Zitatnach weis 509

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Meer schwein chen be ka men Ko li ken die Ei dech sen leb ten nicht lan ge und die Fi sche haus ten in viel zu vie len Ar ten in ei nem viel zu klei nen Aqua ri um Mei ne Fas zi na ti on paar te sich mit ei-nem schlech ten Ge wis sen Sie um schlan gen ei nan der sehr eng und wa ren sel ten zu tren nen

Ich wur de kein Zoo di rek tor Der schlech te Bi o lo gie un ter richt in der Schu le zer stoumlr te mir mei nen Traum Viel leicht war es auch gut so Der fruuml he re Koumll ner Zoo di rek tor Gun ther No gge sag te zu mir raquoSei en Sie froh dass Sie es nicht ge wor den sindlaquo So er hielt ich mir mei ne Fas zi na ti on fuumlr Tie re aber auch mein schlech tes Ge wis sen

Bei des war noch wach als in der Mit te der Neun zi ger jah re der BSE-Skan dal und gleich da rauf das Klon schaf Dolly die Be-voumll ke rung auf schreck ten Ich schrieb ei nen Es say uumlber Tier ethik und ein Dos si er uumlber Zo o lo gi sche Gaumlr ten fuumlr Die Zeit die Poe sie des Her zens die nur das Bes te fuumlr alle Tie re woll te hier die Pro-sa der Ver haumllt nis se ei nes bar ba ri schen und prob le ma ti schen Um-gangs mit dem Tier in der Ge sell schaft dort

Im Feb ru ar 1997 ver schlug mich der Zu fall nach Braun-schweig zu ei nem Kon gress uumlber raquoTie re ndash Rech te ndash Ethiklaquo Fuumlr mich war es eine Art in tel lek tu el les Wood stock ei ner neu en Be-we gung Men schen aus dem gan zen Bun des ge biet wa ren an ge-reist und auch die Braun schwei ger Be voumll ke rung nahm sehr re-gen An teil Ich lern te Ma nu e la Lin ne mann ken nen die Ge hei me Rauml tin der Tier rechts be we gung die den Kon gress glaumln zend or ga-ni siert hat te Der Schrift stel ler Hans Woll schlauml ger pre dig te in der St-And re as-Kir che ful mi nan te Wor te uumlber den Pa ra dies gar ten und die ab truumln ni ge Mensch heit Der sym pa thi sche Schwei zer Phi lo soph Jean-Claude Wolf ge houmlr te be reits zu den ver sier te ren Den kern auf die sem Ge biet der Phi lo soph Mi cha el Haus kel ler eben so jung wie ich noch zu den Neu e ren Mit dem Bi o lo gen und Phi lo so phen Hans Wer ner In gen siep ei nem der span nends-ten Den ker die mir je be geg net sind und sei ner Le bens ge faumlhr-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 129783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 12 10082021 10493310082021 104933

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tin der Theo lo gin Hei ke Bar anzke ver bin det mich seit dem eine lan ge Freund schaft Auch die Front kaumlmp fer fehl ten nicht Die Tier rechts or ga ni sa ti on Ani mal Peace er leb te ge ra de ei nen Boom an Spen dern und der Tier recht ler Hel mut Kap lan be feu er te die Ak ti vis ten mit ra di ka len Schrif ten und kuumlh nen Spruuml chen

Die Ge dan ken die wir in Vor trauml gen und Ge sprauml chen ver kuumln-de ten dis ku tier ten und uumlber dach ten hat ten da mals noch et was sehr Neu es Zwar hat te der aust ra li sche Phi lo soph Pe ter Sin ger be reits 1975 sein be ruumlhm tes Buch uumlber Die Be frei ung der Tie re ge schrie ben Aber eine Tier rechts be we gung ent stand an ders als in Eng land und den USA in Deutsch land erst lang sam in den spauml ten Acht zi ger jah ren Nun in der Mit te der Neun zi ger jah re war das The ma end lich ge sell schaft lich re le vant ge wor den Koumln-nen wir un se ren all taumlg li chen Um gang mit Tie ren wei ter hin mo-ra lisch recht fer ti gen Die Mas sen me di en grif fen das The ma auf Der Jour na list Man fred Kar re mann dreh te Fil me uumlber Mas sen-tier hal tung Schlacht haumlu ser und Tier trans por te und brach te das Elend der Tie re da mit in die deut schen Wohn zim mer Die in zwi-schen ein ge stell te Zei tung Die Wo che nahm da ge gen den ra di-ka len Fluuml gel der Be we gung ins Vi sier Sie be rich te te uumlber an ge-saumlg te Hoch sit ze ein ge schla ge ne Schau fens ter von Metz ge rei en und warn te auf ei ner Dop pel sei te vor raquoTier schutz ter ro ris muslaquo

In die sem Kli ma er schien im Herbst 1997 mein Buch No ahs Erbe Sei ne Zu stim mung und Ab leh nung ver lief wie ich es mir er hofft hat te oft quer zu den etab lier ten Freund-Feind-Li ni en zwi schen Tier schuumlt zern Ar ten schuumlt zern und Tier recht lern Be-dau ert habe ich da bei ei gent lich nur jene Kri ti ken die mir von ei nem pa tho lo gi schen Men schen bild bis hin zu ei ner raquooumlko fa-schis ti schenlaquo Ge sin nung so ziem lich al les un ter stell ten wo von ich selbst in den fins ters ten Win keln mei nes Wir bel tier ge hirns nie mals ge traumlumt hat te

Seit dem ist viel und we nig ge sche hen Seit No vem ber 1999 er-freu en sich die Men schen af fen in Neu see land und wa ren es da-

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mals auch nur acht an der Zahl ei nes un an tast ba ren Rechts auf Le ben Der Tier schutz wur de 2002 als Staats ziel im deut schen Grund ge setz ver an kert Die gra vie rend ste Ver aumln de rung aber sind ohne Zwei fel die vie len Men schen die sich feisch los oder ve-gan er naumlh ren Das Wort raquove ganlaquo in den Neun zi gern noch et-was houmlchst Obs ku res das nur von we ni gen selt sam blut lee ren Bio-Vam pi ren be trie ben wur de ist heu te in al ler Mun de Ein vega nes Koch buch er reich te juumlngst eine Mil li o nen auf a ge Und na he zu je der kennt ei nen Vega ner oder haumlu fi ger eine Ve gan erin Nach ei ner Um fra ge des Al len sba cher Ins ti tuts aus dem Jahr 2015 gibt es in Deutsch land in zwi schen 78 Mil li o nen Ve ge ta-rier und 900 000 Vega ner1

In den west li chen In dust rie na ti o nen steigt die Sen si bi li taumlt im Um gang mit Tie ren un auf halt sam an ins be son de re bei jun gen Frau en Doch die se Hal tung hat zu gleich et was sehr Pri va tes Schoumln heit Fit ness Ge sund heit und Tier lie be sind meist auf ei-nen Nah ho ri zont be schraumlnkt Wa ren der Kampf fuumlr Tier rech te und die veg ane Er naumlh rung fruuml her fast un trenn bar mit ei nan der ver bun den ge we sen so hat sich das eine heu te vom an de ren ge-loumlst In West eu ro pa gibt es in zwi schen mehr Mas sen tier hal tung mehr Le ge bat te ri en und mehr in dust ri el les Tier elend als je zu-vor Gut ver steckt vor der Oumlf fent lich keit ar bei tet die se Ma schi-ne rie trotz ge le gent li chen Pro tes ten hef ti ger denn je Noch nie war die Kluft so groszlig die das was Men schen im Um gang mit Tie ren fuumlr rich tig hal ten und das was tat saumlch lich prak ti ziert wird von ei nan der trennt So lan ge wir un se re Er naumlh rung und un ser per soumln li ches Ver haumllt nis zu Tie ren als Pri vat sa che auf fas-sen so lan ge wird die mil li o nen fa che Grau sam keit ge gen Tie re wei ter hin ge sell schaft lich ak zep tiert

In die ser Lage stel len sich man che Fra gen die in No ahs Erbe be han delt wur den an ders und neu Auch vie le Zah len sind wie koumlnn te es auch an ders sein ver al tet In den Wis sen schaf ten wie der Pal aumlo anth ro po lo gie der Prim atolo gie und der Ver hal tens-1

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oumlko lo gie ist in den letz ten bei den Jahr zehn ten ei ni ges ge sche-hen das es zu be ruumlck sich ti gen gilt Die his to ri sche For schung uumlber das Ver haumllt nis von Mensch und Tier hat man ches Neue zu ta ge ge foumlr dert eben so in den Re li gi o nen wie in der Phi lo so-phie Die aka de mi sche De bat te uumlber eine an ge mes se ne raquoTier-ethiklaquo hat stark an Fahrt auf ge nom men Und nicht zu letzt hat mei ne ei ge ne Be schaumlf ti gung mit dem We sen und den Spiel re geln mo ra li schen Han delns zu man cher neu en Ein schaumlt zung und Be-wer tung ge fuumlhrt Man ches von dem was Men schen tun oder las sen er scheint mir mit uumlber fuumlnf zig in ei nem an de ren Licht als mit An fang drei szligig hellip

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Be lan ge re gelt eben so wie jene des Maul wurfs das Tier schutz-ge setz Maul wuumlr fe und Schim pan sen sind kei ne Rechts sub jek-te Man darf sie in enge Kauml fi ge ein pfer chen man darf sie mit Elektro schocks fol tern mit toumld li chen Kei men in fi zie ren sie am le ben di gen Leib ver aumlt zen sie ver stuumlm meln und ver gif ten

Das ver nuumlnf ti ge und sitt li che Le ben und das un ver nuumlnf ti ge rohe Le ben tei len die Welt in zwei Herr schafts be rei che Ei ner da von be sitzt ein mo ra li sches Sie gel Der an de re da ge gen ist ein na he zu un be schrie be nes Blatt Fast hun dert sech zig Jah re ist es her dass der bri ti sche Na tur for scher Charles Dar win den ge-mein sa men Ur sprung die fie szligen den Uumlber gaumln ge und zar ten Ver-aumls te lun gen al len Le bens be wies Doch Men schen gel ten we der all tags sprach lich noch recht lich als Tie re Eine alte Ge wohn heit trennt den Men schen von sei nen ani ma li schen Ver wand ten Es ge houmlrt zu den ei gen tuumlm li chen Fol gen der Dar win rsquoschen Wen de dass sie mit ei ni gen klei ne ren Kor rek tu ren das anth ro po zent ri-sche Welt bild un an ge tas tet lieszlig Kaum je mand duumlrf te sich als je-ner Tro cken na sen pri mat in der Ver wandt schaft von Men schen-af fen Meer kat zen und Pa vi a nen se hen als den uns die Zo o lo gie klas si fi ziert Statt des sen de fi nie ren wir uns als Men schen und ge-ben uns alle Muumlhe un se re ani ma li sche Na tur zu ver ges sen und zu ver ber gen

Das Band zu den an de ren Tie ren ha ben wir vor lan ger Zeit zer schnit ten Vor etwa 10 000 Jah ren hat der Mensch ge lernt die Roh stoff re ser ve raquoTierlaquo plan mauml szligig zu zuumlch ten Er haumllt sie von nun an in Form ei nes le ben den Ver sor gungs vor rats zum ei-ge nen Nut zen und From men In den An faumln gen der Tier zucht leg ten man che sess haft ge wor de nen Jauml ger ge stor be ne Hun de in da fuumlr vor ge se he ne Gru ben und be stat te ten so gar Mut ter Kind und Rin der ge mein sam Wel ten klaf fen zwi schen dem ani mis ti-schen Glau ben der ers ten Vieh zuumlch ter und der ma te ri a lis ti schen Mas sen tier hal tung der mo der nen Ge sell schaft Mit dem Ende der Kon kur renz schwand die Not wen dig keit sich mit dem Tier

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als ei nem Le be we sen aus ei nan der zu set zen Heu te nut zen wir die Res sour ce raquoTierlaquo voumll lig frag los fuumlr die An spruuml che des Men schen Das Ge mein sa me von Tier und Mensch trat in den Hin ter grund Zwar leb te das Tier noch im mer in der kul tu rel len Fan ta sie fort als ma gi sche oder fan tas ti sche Ge stalt als Freund Ge faumlhr te oder Be dro hung Doch die Be deu tung in der All tags welt er mat te te auf Schwund stu fen der Na tur wie Schoszlig hund Zier gup py Le ge hen-ne und Zir kus pferd Gren zen los uumlber le gen und un ab haumln gig ge-gen uumlber den Tie ren sei ner Um welt ent wi ckel te sich im mensch-li chen Be wusst sein ein voumll lig ent frem de tes Ver haumllt nis Nicht nur ra di ka le Aus nut zung und Sa dis mus auch falsch ver stan de ne Lie-be De na tu rie rung und un frei wil li ge Quauml le rei be stim men seit her den mensch li chen Um gang mit dem Tier

Bis ins fruuml he Mit tel al ter uumlber wog die Zahl der wil den Tie re die An zahl der Nutz- und Haus tie re die der Mensch in sei nen Dienst ge stellt hat te Doch spauml tes tens mit dem Sie ges zug des Ka pi ta lis mus in West eu ro pa und Nord a me ri ka ver schwan den die Res te der Ehr furcht in die Maumlr chen buuml cher und Zir kus dar-bie tun gen Mo der ne Agrar un ter neh men In dust rie met ro po len Au to bah nen und Hoch span nungs mas ten bil den das Or na ment un se rer Um welt die wir seit meh re ren hun dert Jah ren raquoLand-schaftlaquo nen nen Nir gend wo in der All tags welt ei nes Men schen der west li chen Zi vi li sa ti on be geg net uns das Tier noch als Kon-kur rent nicht bei der Er naumlh rung nicht im Kampf um den Le-bens raum und nicht als Fress feind des sen Zaumlh ne und Klau en ernst haft Furcht er re gen koumlnn ten Das ein zig Be droh li che das heu te bleibt sind aus ge rech net ein paar klei ne Tie re etwa Rat-ten und Maumlu se die letz ten ge faumlhr li chen Fress kon kur ren ten des Men schen Dazu kom men In sek ten Mik ro ben und Vi ren

Das Band zwi schen uns und den an de ren Tie ren wuchs auch nicht da durch wie der zu sam men dass wir die Tie re uumlber die Wis-sen schaft als Ver wand te wie der ent deck ten Seit mehr als zwei-tau send Jah ren sieht sich der Mensch als le gi ti mer Herr scher

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uumlber eine be herrsch ba re Um welt dazu ge schaf fen sie zu nut zen und aus zu beu ten Un se re Evo lu ti on hat sich da bei ra sant be-schleu nigt Laumlngst fin det sie kaum noch in un se rem Koumlr per statt son dern vor al lem in un se rer Tech nik und Kul tur Und schon lan ge dient sie nicht mehr dazu sich der Na tur an zu pas sen Sie dient ei ner im mer wie der neu ge schaf fe nen mensch li chen Kul-tur An pas sung be deu tet heu te sich an den ei ge nen Fort schritt an zu pas sen mit all den be kann ten Fol gen fuumlr un se re Um welt Dra ma ti sche Kli ma wech sel die Zer stouml rung der schuumlt zen den Ozon schicht die Ver step pung wei ter Land stri che auf al len Suumld-kon ti nen ten und die Ver gif tung der Mee re ver nich ten nicht nur die nicht mensch li che Tier welt sie be tref fen mehr und mehr den Men schen selbst

In atem be rau ben dem Tem po be schleu nig te das in dust ri a li sier-te 20 Jahr hun dert die Be herr schung und Aus beu tung der Na-tur und mit ihr die der Tie re Schon in den ver gan ge nen Jahr-tau sen den hat te Homo sap iens den ge sam ten Pla ne ten in Be sitz ge nom men Kein grouml szlige res Wir bel tier be sitzt ein sol ches Ver brei-tungs ge biet be wohnt Wuumls ten Re gen waumll der und Po lar re gi o nen glei cher ma szligen Und kein grouml szlige res Wir bel tier hat sich zu Mil li ar-den ver mehrt Ruumlck sichts lo se Pluumln de rung der Roh stof fe und ein un ge heu res Be voumll ke rungs wachs tum der Spe zi es Homo sap iens schaf fen ei nen erd ge schicht li chen Aus nah me zu stand

Der Mensch be herrscht heu te den Pla ne ten aber of fen sicht-lich nicht sich selbst Es koumlnn te da ran lie gen dass es raquoden Men-schenlaquo gar nicht gibt Statt des sen gibt es mehr als sie ben Mil li-ar den un ter schied li che In di vi du en Und nie mand da von ist fuumlr die Mensch heit zu staumln dig Sie ist eine Ge mein de der an zu ge houml-ren nicht dazu ver pfich tet sich um das Gan ze zu sor gen und zu kuumlm mern

Zu herr schen be deu tet Ord nun gen zu etab lie ren und Re geln da fuumlr auf zu stel len was wich tig ist und un wich tig rich tig oder falsch Jahr hun der te lang sah die Mo ral der abend laumln di schen

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Zivi li sa ti on in der Aus rot tung der Wild tie re und Aus beu tung der Nutz tie re na he zu kein Pro blem Eine kla re Grenz zie hung er-laub te je den Um gang mit dem Tier von der Lie be bis zur Fol ter von der Zucht bis zur Touml tung Das Ar gu ment war schlicht Der Mensch ist eine Son der an fer ti gung Got tes und mit dem Tier ge-ra de mal durch den lo sen Fa den der goumltt li chen Schoumlp fung stat ver bun den So kam in den Wor ten des deutsch-fran zouml si schen The o lo gen und Arz tes Al bert Schweit zer raquodie An sicht auf dass es wert lo ses Le ben gaumlbe des sen Schauml di gung und Ver nich tung nichts auf sich habe Un ter wert lo sem Le ben wer den dann je nach den Um staumln den Ar ten von In sek ten oder pri mi ti ve Voumll ker ver stan denlaquo2 (Eine Kli en tel die sich uumlber dies noch um Frau en er wei tern lie szlige)

Die se Gren ze wur de und wird in der abend laumln di schen Kul-tur ge schich te va ri an ten reich ver tei digt Doch je ge nau er wir sie be trach ten umso selt sa mer er scheint sie uns Denn sie laumlsst sich im mer schlech ter be gruumln den und zwar so wohl phi lo so phisch als auch bi o lo gisch Seit etwa vier zig Jah ren be steht in der Ge-sell schaft eine De bat te die un se ren Um gang mit Tie ren grund-saumltz lich in fra ge stellt Tier e thi ker wie Pe ter Sin ger und sein US-ame ri ka ni scher Phi lo so phen kol le ge Tom Re gan for dern Rech te auch fuumlr Tie re Der Aus schluss der Tie re aus der Ethik sei ein mo ra li scher Skan dal Das Tier heu te mo ra lisch drau szligen vor der Tuumlr zu las sen sei das Erbe ei nes re li gi ouml sen Aber glau bens Da der Mensch kei ne Son der an fer ti gung Got tes sei son dern ein in tel-li gen tes Tier muumlss ten wir die Reich wei te der Mo ral eben so auf die raquoan de ren Tie relaquo aus deh nen Ha ben wir nicht nach und nach ge lernt die Skla ve rei zu aumlch ten und Frau en als gleich be rech tig-te Men schen zu ach ten Und ist es nun nicht an der Zeit neu uumlber Tie re nach zu den ken und sie mo ra lisch an ge mes sen zu be-ur tei len

Doch wie koumlnn te ein sol cher an ge mes se ner Um gang mit den an de ren Tie ren aus se hen Den Men schen als ein Tier un ter an-2

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de ren an zu se hen koumlnn te ja auch be deu ten ihn ab zu wer ten statt die Tie re mo ra lisch erns ter zu neh men Das Un heil des So zi-al dar wi nis mus und der bar ba ri schen Ras sen the o rie ste ht uns mah nend vor Au gen Und was ist uumlber haupt das Kri te ri um da-fuumlr Tie re mo ra lisch zu ach ten Ist es ihre Lei dens fauml hig keit ihr Le bens wil le oder ihre In tel li genz Ha ben klu ge Tie re ein houml he-res Le bens recht als duumlm me re Das Ver haumllt nis des Men schen zu den an de ren Tie ren neu zu be wer ten ist eine gro szlige und schwie-ri ge Auf ga be

Ich moumlch te in die sem Buch ver su chen die se Fra gen neu zu stel len und zu durch den ken Da bei be trach te ich den Men schen als ein be son de res Tier un ter vie len auf an de re Wei se be son de ren Tie ren Ich moumlch te mich nicht da rauf fest le gen den Men schen all ge mein uumlber be stimm te Ei gen schaf ten zu de fi nie ren die ihn ethisch wert voll ma chen sol len Ich moumlch te ihm aber auch nicht im Um kehr schluss alle ge mein hin als raquomensch lichlaquo be zeich ne ten Ei gen schaf ten ab spre chen weil nicht alle Men schen Trauml ger all die ser Ei gen schaf ten sind Viel leicht ist be reits das Su chen nach sol chen ex klu si ven Ei gen schaf ten der fal sche Weg Der Denk-feh ler koumlnn te be reits da rin lie gen ei gen staumln di ge Dis zip li nen wie raquoAnth ro po lo gielaquo oder raquoMo ral phi lo so phielaquo be trei ben zu wol len die eine sol che enge De fi ni ti on des Men schen vo raus set zen Waumlre es nicht bes ser die Enge des Be griffs zu spren gen Statt Anth-ro po lo gie zu be trei ben soll te man sich lie ber mit ei ner Anthroshyzo o lo gie be schaumlf ti gen ndash eine Leh re vom Men schen tier und den an de ren Tie ren

Der Be griff ist neu er wur de erst vor we ni gen Jah ren un ter an de rem von dem US-ame ri ka ni schen Psy cho lo gen Hal Her zog ein ge fuumlhrt3 Die neue Dis zip lin der Hu manshyAni mal Stu dies kon-zent riert sich weit rei chend da rauf was Men schen und an de re Tie re ver bin det Da bei ver wen de ich den Be griff raquoAn thro zo o-lo gielaquo al ler dings et was an ders als Her zog und die Ver tre ter der Hu man-Ani mal Stu dies Es ist ein et was ein touml ni ger Sport al les 3

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was ge mein hin als raquomensch lichlaquo be trach tet wird als My thos zu ent zau bern Ich moumlch te es lie ber an ders ein bet ten und be wer ten Denn ich mei ne dass die Ver tre ter der Hu man-Ani mal Stu dies ihre De fi ni ti on des Men schen als ein Tier un ter Tie ren nicht ganz zu Ende den ken Denn waumlre der Mensch durch nichts Mensch-li ches grund saumltz lich vom Tier un ter schie den wie sie an neh men so lieszlige sich auch nicht ein for dern dass Men schen sich aus vershynuumlnf ti ger Ein sicht an ge mes sen ge gen uumlber Tie ren ver hal ten sol len

Um mensch li ches Han deln zu ver ste hen muumls sen wir ver ste-hen in wel chem Rah men Men schen die Welt se hen sich ori en-tie ren und han deln Die bei den ers ten Tei le des Bu ches skiz zie-ren die sen bi o lo gi schen und den kul tu rel len Rah men In ih nen moumlch te ich zei gen auf wel che Art und Wei se Men schen sich un-ter Tie ren ver hiel ten und ver hal ten Da bei be schaumlf tigt sich der ers te Teil mit der Fra ge was fuumlr ein spe zi el les Tier der Mensch ei gent lich ist Wie ist sei ne Rol le in der Evo lu ti on Und nach wel chen Denk mus tern ha ben Men schen die se Chro nik un se rer selbst seit der An ti ke ge schrie ben (Die Ord nung der Schoumlpshyfung) Wel che Stel lung hat sich Homo sap iens in der Na tur da-durch ge si chert dass er sie sich zu schrieb (Der Pri mat)

In je der mensch li chen Wis sen schaft vom Le ben be steht bis heu te still schwei gend oder laut hals ver kuumln det zwi schen Mensch und Tier eine Gren ze Doch weiszlig we der die E vo lu ti ons bi o lo-gie noch die Pal aumlo anth ro po lo gie mit Ge wiss heit zu sa gen an wel chem Punkt sich nur ani ma li sches von mensch li chem Le ben schei det Was ha ben Pal aumlo anth ro po lo gen in den letz ten hun dert Jah ren da ruuml ber ge glaubt Und was den ken sie heu te (Der aufshyrech te Affe) Da bei wer den wir se hen dass es mit der Gren ze zwi schen dem Men schen und den an de ren Tie ren eine aumlu szligerst komp li zier te Sa che ist Seit Jahr zehn ten mes sen und ver glei chen Ver hal tens for scher die kog ni ti ven Leis tun gen von Tie ren mit je-nen des Men schen mit dem uumlber ra schen den Er geb nis dass Tie re in na he zu al len raquowich ti genlaquo Punk ten un ter le gen sind bei Kul tur-

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leis tun gen wie Werk zeug ge brauch und Re li gi on eben so wie beim Er werb der mensch li chen Spra che Doch ha ben wir bei sol chen Mes sun gen tat saumlch lich den rich ti gen den fai ren Maszlig stab Ist es sinn voll die In tel li genz von Men schen af fen mit uns zu ver glei-chen (Sinn und Sinn lich keit)

Die Mo le ku lar ge ne tik zeigt uns dass Men schen bi o lo gisch Schim pan sen sind Wel che Kon se quen zen zie hen wir da raus (Eins Kom ma sechs Pro zent) Nach dem wir den Men schen auf die se Wei se bi o lo gisch ein ge kreist ha ben wer fen wir noch ei nen Blick da rauf wie ob jek tiv un ser Wis sen vom Men schen und den an de ren Tie ren ist Was koumln nen wir uumlber haupt uumlber das Be wusst-sein an de rer Tie re wis sen Stellt es nicht eine so gro szlige Bar ri e re dar dass wir zu ge ben muumls sen nichts De fi ni ti ves sa gen zu koumln-nen (Die Tuuml cke des Sub jekts)

Im zwei ten Teil wer fe ich ei nen Blick in die Kul tur ge schich te des Mensch-Tier-Ver haumllt nis ses Was ha ben Men schen zu wel cher Zeit uumlber Tie re ge dacht und wa rum Wie hat man sie be han delt Und wel che Sen si bi li taumlt oder Kaumll te setz te sich wa rum durch Was wis sen wir da ruuml ber aus der Jung stein zeit (Die Tund ra des Ge wis sens) Was glaub ten und dach ten die al ten Aumlgyp ter (raquoIch habe kein Tier miss han deltlaquo) Und wa rum ent zau ber te das alte Ju den tum die Tie re (Hir ten und Herr scher)

In der abend laumln di schen Phi lo so phie gibt es seit der An ti ke sehr un ter schied li che Deu tun gen von Tie ren Mal se hen die Den ker eine gro szlige spi ri tu el le oder na tur ge schicht li che Naumlhe mal er he-ben sie den Menschen qua sei ner Ver nunft zum un ein ge schraumlnk-ten Wel ten herr scher (Das ver lo re ne Pa ra dies) In der christ li chen Re li gi on da ge gen wer den Men schen und Tie re deut lich von ei-nan der ge schie den eine Son der an fer ti gung hier eine Drein ga-be dort Das Chris ten tum ent fernt die tier freund li chen Mo men-te der juuml di schen Re li gi on aus den Glau bens leh ren (raquoKuumlm mert sich Gott etwa um die Och senlaquo) An ders ver laumluft der Weg in In di en Chi na und Suumld ost a si en Das Welt bild und die Tier ethik

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von Hin dus und Bud dhis ten un ter schei den sich von der un se-ren (Schein hei li ge Kuumlhe) Im Abend land da ge gen do mi niert in der Nach fol ge des fran zouml si schen Phi lo so phen Reneacute Des car tes eine raquora ti o na lis ti schelaquo kal te Pers pek ti ve auf das Tier Tie re weil sie nicht ver nunft fauml hig sei en wer den kaum noch als Le be we sen wahr ge nom men ndash eine Po si ti on die im 18 Jahr hun dert al ler-dings ziem lich kont ro vers dis ku tiert wird (Die Den ker und das lie be Vieh) Nach und nach ent ste hen im spauml ten 18 Jahr hun dert eine neue Mit leids ethik und so gar ers te For de run gen nach Rech-ten fuumlr Tie re (raquoKoumln nen sie lei denlaquo)

Im drit ten Teil moumlch te ich eine ei ge ne ethi sche Hal tung ent-wi ckeln Zu naumlchst wer den The o ri en von Phi lo so phen des 20 Jahr hun derts vor ge stellt die wie Al bert Schweit zer raquoEhr furcht vor dem Le benlaquo ver lan gen oder Tie ren ei nen ho hen mo ra li schen Sta tus zu spre chen wie Pe ter Sin ger und Tom Re gan (Das ei sershyne Tor) Die se Po si ti o nen zwin gen dazu grund saumltz li cher da ruuml-ber nach zu den ken was das raquoTier rechtlaquo vom raquoTier schutzlaquo un-ter schei den soll (Schutz oder Recht) An schlie szligend moumlch te ich die Schwach stel len der gaumln gi gen Tier rechts phi lo so phi en he raus-ar bei ten und zei gen wa rum ich sie we der dem Men schen fuumlr an-ge mes sen hal te noch fuumlr all ge mein prak ti ka bel (Eine art ge rech te Mo ral) Da ran schlie szligen sich mei ne Uumlber le gun gen an was ein an ge mes se ner Um gang mit Tie ren sein koumlnn te (Gut besser am besten)

Sol cher ma szligen ge ruumls tet koumln nen wir uns im vier ten Teil mit den vie len Prob le men be fas sen die sich im All tag stel len Das ers te die ser Ka pi tel bi lan ziert das all taumlg li che Cha os im Um gang mit Tie ren (Lie ben ndash Has sen ndash Es sen) Da nach wen den wir den Blick auf die recht li che Si tu a ti on und un ter zie hen die Lo gik un-se res Tier schutz ge set zes ei ner ge nau e ren Pruuml fung (Ein kur zer Text uumlber das Touml ten) Das naumlchs te Ka pi tel gilt der Jagd Ist Ja gen art ty pi sches Ver hal ten des Men schen oder eine staat lich le gi ti-mier te Per ver si on (Na tur schutz oder Lust mord) Und wie sieht

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es mit un se rer Er naumlh rung aus Wel che Ar gu men te spre chen da-fuumlr dass Men schen in un se ren heu ti gen west li chen Ge sell schaf-ten noch Tie re touml ten duumlr fen um sich von ih nen zu er naumlh ren Und wel che Ar gu men te spre chen da ge gen Viel leicht gibt es so gar schon in Kuumlr ze ei nen Aus weg der uns end lich hilft die Mas sen-tier hal tung zu be sei ti gen (Jen seits von Wurst und Kaumlse) Eben so stellt sich die Fra ge un ter wel chen Um staumln den Tier ver su che zu-kuumlnf tig er laubt sein soll ten und un ter wel chen nicht (Das Tier als Dum my) Ist es mo ra lisch ver tret bar Tie re in Zo o lo gi schen Gaumlr ten zu hal ten Und wenn ja wel che und wel che nicht (Alshycat raz oder Psycho top) Zoos ver ste hen sich heu te als raquoNa tur-schutz zent renlaquo die Tie re er hal ten die in ih ren Hei mat laumln dern vom Aus ster ben be droht sind Wie ist dies zu be wer ten (Das Zeit al ter der Ein sam keit) Da bei sto szligen wir auf die Schwie rig-keit dass Tier schutz Tier recht und Ar ten schutz kei ne na tuumlr li-chen Ver buumln de ten sind son dern sich in ih rer Phi lo so phie ih rer Welt an schau ung und ih ren Ziel set zun gen stark un ter schei den (Das un ver soumlhn li che Tri um vi rat) Das Schluss wort bi lan ziert die se Er kennt nis se und fragt was wir aus al le dem prag ma tisch fol gern soll ten und in wel chen Schrit ten es ge sche hen koumlnn te (Scho pen hau ers Trep pe)

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Das Men schen tier

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Wahr heit zu hal ten Aber die ses Bild hat sich schon oft ver aumln-dert und es wird sich ge wiss noch wei ter ver aumln dern

Men schen nei gen dazu die Welt in der sie le ben auf zu raumlu-men Es ist eine ziem lich art ty pi sche Ver hal tens wei se Wir sor tie-ren die all taumlg li chen Din ge un se res Le bens und eben so sor tie ren wir die Ge dan ken uumlber die Welt die uns um gibt Jede Ord nung auch die der Na tur ist also ein mensch li cher Ent wurf Und al-lem An schein nach ent stand das Be duumlrf nis die Welt zu ord nen in un se rer Ent wick lungs ge schich te pa ral lel zur Ent wick lung der Spra che Denn ohne die kuumlnst li che Auf raumlum ar beit der Spra che waumlre die Vor stel lung von ei ner raquoOrd nung der Schoumlp funglaquo oder der raquoNa turlaquo nicht moumlg lich

Wer auf die Ord nung an ge wie sen ist be wegt sich gern in den si che ren Gren zen ei nes Sys tems Nur in ner halb ei nes sol chen Ord nungs ge fuuml ges fragt man nach Wahr heit und Gel tung Rich-tig keit Me tho de und Be deu tung Zu leicht uumlber sieht der Ord ner dann die kuumlnst li che Be hau sung und die selbst ge zim mer ten Re-ga le in die er die Welt so sorg faumll tig hi nein sor tiert Sel ten ge lingt ihm ein Blick aus dem Fens ter in die un ge wis se Land schaft die ihn um gibt Und nur ein ge wal ti ger Sturm ein Blitz schlag oder eine Er schuumlt te rung zwingt den Ver wal ter der Welt die si che re Wohn statt zu ver las sen und sich ein an de res Haus zu bau en das den An fein dun gen des neu en Kli mas wi der steht

Erst im Ruumlck blick auf die vie len Irr tuuml mer der Ver gan gen heit er ken nen wir dann un se re ei ge ne Un zu laumlng lich keit beim Auf-raumlu men In der Ge gen wart er scheint uns die je wei li ge Ord nung meis tens so selbst ver staumlnd lich dass wir gern uumlber jede Moumlg-lich keit der Ver aumln de rung lauml cheln So ha ben Men schen mit voumll li-ger Ge wiss heit an ge nom men dass die Erde eine Schei be ist und dass Frau en und Skla ven kei ne Rech te zu ste hen Und mit ei nem eben sol chen Lauml cheln be trach ten wir heu te die Gruumln de mit de-nen Men schen sich im Lau fe der Jahr hun der te von den Tie ren zu un ter schei den glaub ten

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Schon die al ten Grie chen ins be son de re Aris to te les (384 v Chr ndash 322 v Chr) ha ben sich fuumlr die Ge schich te und das in vie len De tails ver bor ge ne Sys tem der Na tur in te res siert Er teilt die Tie re in Klas sen ein ver sucht zu er gruumln den was Le ben ist und schafft da mit die Grund la gen der Zo o lo gie Aber Aris to te-les kennt nur we ni ge hun dert Tie re Eine raquovoll staumln di ge Na tur-ge schich telaquo wird das ers te Mal im 18 Jahr hun dert ge schrie-ben ndash und auch sie ist aumlu szligerst un voll staumln dig Seit dem ver fuuml gen wir nicht nur uumlber ei nen rei chen Vor rat an ge dach ten Ord nun-gen von den Schoumlp fungs my then bis hin zur Mo le ku lar bi o lo gie Wir ken nen auch eine Wis sen schaft die sich raquoTax ono mielaquo nennt und jede Pfan ze und je des Tier sys te ma tisch in eine In ven tar liste der Na tur ein traumlgt

Da bei ver ra ten die Denk sche ma ta der Na tur for scher nicht nur et was uumlber die klas si fi zier te Na tur selbst son dern eben so uumlber das Ord nungs be duumlrf nis und die Pfif fig keit des mensch li-chen Geis tes Das 18 Jahr hun dert ist eine Zeit in der das Buumlr-ger tum an die Macht draumlngt und sich zu neh mend ge gen den Adel auf ehnt Sei ne schaumlrfs te Waf fe ist et was das man raquoVer nunftlaquo oder raquoRa ti o na li taumltlaquo nennt und das man ge gen den Glau ben ins Feld fuumlhrt Fuumlr die Phi lo so phen der Ra ti o na li taumlt ist die Welt kei-ne vor ge fun de ne Schoumlp fung mit fes ter Ord nung son dern et was dass man geis tig durch drin gen und auf sei ne Lo gik und Wi der-spruuml che un ter su chen kann Da bei ge ben zu naumlchst die Phy sik und die Ma the ma tik das Sche ma vor nach dem alle Er kennt nis auch jene von Pfan zen und Tie ren funk ti o nie ren soll Die Sys te ma ti-ker der Na tur ge schich te su chen nach un ver ruumlck ba ren Kri te ri en ob jek ti ven Ge setz mauml szligig kei ten und lo gi schen Ver bin dun gen um die un uuml ber sicht li che Welt der Le be we sen ih rer raquowah ren An ord-nunglaquo ge maumlszlig ein zu tei len Aber nicht alle Na tur for scher glau-ben dass ein sol ches Vor ha ben tat saumlch lich ge lin gen kann Man-che hal ten die Na tur fuumlr zu reich hal tig um sie auf die se Wei se zu klas si fi zie ren Welt an schau un gen tref fen auf ei nan der auf der

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ei nen Sei te der Glau be an ein vom Men schen prin zi pi ell voumll lig durch schau ba res Na tur sys tem auf der an de ren Sei te eine un er-gruumlnd li che Schoumlp fung in der der Mensch sich im mer nur tas-tend fort be wegt

Die ers te Va ri an te gilt im 18 Jahr hun dert als der mo der ne-re An satz Man ori en tiert sich da bei an ei nem Ra ti o na lis mus den Reneacute Des car tes (1596 ndash 1650) schon hun dert Jah re zu vor neu be gruumln det hat Die ser Ra ti o na lis mus ori en tiert sich an der Me cha nik Die Schoumlp fung Got tes er scheint als eine ein zi ge klug aus ge tuumlf tel te Ma schi ne die der Mensch Stuumlck fuumlr Stuumlck zu be-herr schen lernt Und das Uni ver sum be steht aus Ma te rie in Be-we gung or ga ni siert nach ma the ma ti schen Ge set zen Ob gleich das 18 Jahr hun dert zent ra le Spe ku la ti o nen des Phi lo so phen wi-der legt ori en tiert es sich in vie lem an Des car tesrsquo me cha nis ti scher Denk wei se Sie tut dies vor zugs wei se in je nen Dis zip li nen de-ren Er kennt nis fort schritt zu naumlchst ge ring bleibt Und nir gend-wo trifft dies in ei nem sol chen Maszlig zu wie bei der Er for schung der bi o lo gi schen Na tur

Doch die ses Welt bild hat prob le ma ti sche Fol gen Wer die Welt kon se quent nach me cha nis ti schen Grund saumlt zen be trach tet hat fuumlr den Be reich der nicht mensch li chen Na tur we nig Ver staumlnd nis Fuumlr Des car tes sind Tie re nichts als Ma schi nen Es macht kei nen Un ter schied ob eine Ma schi ne die aumlu szlige re Ge stalt und die in ne-ren Or ga ne ei nes Af fen hat oder ob es sich da bei tat saumlch lich um ein le ben des Tier han delt Denn relevantes Le ben kommt fuumlr den Den ker nicht durch zir ku lie ren des Blut und Reizempfindungen in den Koumlrper Son dern bedeutsames Le ben ga ran tie ren ein zig und al lein der er leuch te te Geist und sei ne Spra che

Des car tesrsquo Zeit kennt we der den Be griff des raquoOr ga nis muslaquo die Be son der heit des Le bens noch die Evo lu ti on son dern eben nur die Me cha nik Trotz dem ist sei ne The o rie von den Tie ren als see len lo se Au to ma ten im 17 und 18 Jahr hun dert aumlu szligerst um-strit ten Fran zouml si sche Phi lo so phen schrei ben Buch um Buch uumlber

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die Tier-Fra ge und be feh den sich da bei uumlber mehr als hun dert Jah re Noch weiszlig man nichts von ei ner raquoBi o lo gielaquo Man be treibt eine neue Dis zip lin die sich raquoNa tur ge schich telaquo nennt und da-mit auf raumlumt die Ge schich te von Le be we sen als eine wahl lo se Samm lung von Er zaumlh lun gen an zu se hen Bis her schrie ben Au to-ren um stands los von der Fang wei se der Tie re ih rer Ana to mie ih rer bib li schen und al le go ri schen Be deu tung ih rem prak ti schen Ge brauch ih rer Ver meh rung ih ren Stim men und Spra chen ih-ren Be we gun gen ih rem Al ter und von der Sym pa thie oder An-ti pa thie des Ver fas sers Auch Koch re zep te wur den von Fall zu Fall hin zu ge fuumlgt

Ein zo o lo gi sches Sys tem ist zu An fang des 18 Jahr hun derts weit ge hend un be kannt die Ver wandt schafts ver haumllt nis se der Pfan zen und Tie re sind dif fus ge ahnt und wer den eher nach Le-bens raumlu men be stimmt als nach koumlr per li chen Merk ma len Tie re die nachts ja gen ste hen da bei eben so in ei nem Ord nungs ge fuuml ge wie Tie re die fie gen koumln nen im Wald oder in ei nem See le ben Be reits die Pries ter schrift der bib li schen Ge ne sis hat te die Welt der Tie re und Pfan zen nicht nach ana to mi schen Merk ma len un-ter teilt son dern in Be zug auf den Le bens raum Pfan zen und Tie re des Mee res der Luft und der Erde Uumlber mehr als tau send Jah re kann ten auch der Is lam und die Hin dus Ord nungs sys teme die Tie re in ih rem Oumlko sys tem ver an ker ten

In der hin du is ti schen Samk hya-Tra di ti on exis tie ren vier zehn Klas sen un ter schied li cher Le be we sen ein ge teilt in acht For men himm li scher und sechs ir di scher Le be we sen zu de nen auch der Mensch ge houmlrt Als wei te res Un ter schei dungs merk mal dient die Art und Wei se der Ge burt Im gro szligen in di schen Na ti o nal epos aus dem 4 Jahr hun dert dem Ma hab har ata heiszligt es raquoAuf die ser Erde gibt es zwei Ar ten von Le be we sen die Be weg li chen und die Un be weg li chen Die Be weg li chen ha ben ei nen drei fa chen Schoszlig Sie sind aus dem Ei aus feuch ter Hit ze und Le ben dig-Ge bo re ne Von al len be weg li chen Le be we sen wie de rum sind die je ni gen die

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le ben dig ge bo ren sind hellip die bes ten Die bes ten un ter den le ben-dig Ge bo re nen sind die die zum Men schen ge schlecht ge houml ren und die Nutz tie relaquo4

Die neu en Sys te me des 18 Jahr hun derts be frei en die Na tur-ge schich te von al lem was sich mit den Me tho den der Zeit nicht wis sen schaft lich exakt be schrei ben laumlsst Koch re zep te fal len so-wie so un ter den Tisch aber auch man che Ver hal tens be ob ach-tun gen und vor mals wich ti ge Ei gen schaf ten wie zum Bei spiel der Ge ruch Ge forscht wird mit Lupe und Mik ros kop Li ne al und Pin zet te Der wich tigs te Mann auf die sem Ge biet ist der schwe-di sche Na tur for scher Carl von Linneacute (1707 ndash 1778) Er ori en-tiert sich an Aris to te les den er be wun dert nicht an Des car tes Ge ra de zu re vo lu ti o naumlr de mo kra tisch ent wi ckelt der auf ge klaumlr te Schwe de im 18 Jahr hun dert ein be schrei ben des Sys tem der Na-tur frei vom the o lo gi schen Fir le fanz sei ner Zeit Mit der Ak ri bie ei nes Brief mar ken samm lers dem Voll staumln dig keit mehr be deu tet als das Be stau nen ein zel ner Wer te ord net er die be leb te Na tur nach Ar ten Gat tun gen Ord nun gen und Klas sen Vier Va ri ab len die Form der Ele men te ihre An zahl die raumlum li che An ord nung der Ele men te und ihre re la ti ve Grouml szlige be stimm ten von nun an den Platz im Sys tem

Un ter der Leit dis zip lin der Bo ta nik wan delt sich die Na tur ge-schich te in eine ge ord ne te Welt aus Li ni en und Flauml chen Ent schei-dend sind die sicht ba ren Un ter schei dungs merk ma le wie Bluuml ten und Staub ge fauml szlige Blaumlt ter und Fruumlch te Fuumlszlige und Hufe Fe dern und Flos sen So setzt Linneacute fuumlr jede Pfan zen- und Tier klas se jede Ord nung und Gat tung be stimm te Merk ma le fest die er als die wich ti ge ren er ach te t Denn nur un ter der An nah me sol cher pri vi-le gier ter Struk tu ren ist es ihm moumlg lich die ver schie de nen Spe zi es im Ge samt sys tem un miss ver staumlnd lich zu ras tern Der mensch li che Ord ner be schreibt also nicht ein fach die be leb te Na tur Er fuumlgt ihr auch et was hin zu die Ent schei dung naumlm lich was in der For men-viel falt der Le be we sen wich ti ge Merk ma le sind und was nicht4

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Wie alle da ma li gen Na tur for scher nimmt Linneacute an dass die Ein tei lun gen die der mensch li che Ver stand macht tat saumlch lich ei ner ob jek ti ven Ord nung der Na tur ent spre chen Doch Lin neacutes Sys tem ist wie er selbst weiszlig nicht raquona tuumlr lichlaquo Sei ne Struk tu ren sind kei ne die er in der Na tur als Un ter schei dungs kri te ri en vor-fin det Denn was sich am Schreib tisch nun muumlh sam in Ord nun-gen pres sen laumlsst liegt wie der fran zouml si sche Na tur for scher Mishychel Adan son (1727 ndash 1806) fest stellt in der Wild nis wie Kraut und Ruuml ben durch ei nan der raquohellip eine kon fu se Mi schung aus We-sen hellip die der Zu fall ei nan der an ge nauml hert zu ha ben scheint Hier wird das Gold mit ei nem an de ren Me tall mit ei nem Stein oder mit Erde ge mischt Dort waumlchst die Ei che ne ben dem Veil chen Un ter die sen Pfan zen ir ren eben falls der Vier fuumlszlig ler das Rep til und das In sekt um her Die Fi sche mi schen sich so zu sa gen mit dem waumlss ri gen Ele ment in dem sie schwim men und mit den Pfan zen die auf dem Grun de der Ge waumls ser wach sen hellip Die se Mi schung ist so gar so all ge mein und so viel faumll tig dass sie ei nes der Na tur ge set ze zu sein scheintlaquo5

Der Wi der spruch zwi schen ei ner tax ono mi schen und ei ner oumlko lo gi schen Ord nung der Na tur ist of fen sicht lich Er fin det sich noch heu te in der Dis kus si on um die Aumls the tik von Zoo an la gen Soll man die Tie re nach Ver wandt schafts ver haumllt nis sen sam meln also in Raub tier haumlu sern An ti lo pen haumlu sern und Hirsch an la gen so dass der Be su cher zwi schen den ana to mi schen Be son der hei-ten der Ar ten ndash mit un ter so gar den ge o gra fi schen Va ri an ten ei ner ein zi gen Art ndash zu un ter schei den lernt Oder ge waumlhrt die Nach-ge stal tung ei nes Na tur bi o tops ei ner af ri ka ni schen Sa van ne oder ei nes al pi nen Pa no ra mas den wich ti ge ren Ein blick in die Ord-nung der Na tur

Zwar steht fuumlr Linneacute und sei ne Kol le gen fest dass die raquowah-re Ord nunglaquo der Na tur sich an den koumlr per li chen Merk ma len zu ori en tie ren hat doch muss eine Er klauml rung da fuumlr ge fun den wer-den wa rum die se Ord nung in der frei en Na tur nicht von al lein 5

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sicht bar wird Ohne Zwei fel ist das Sys tem der Na tur kei ne zeit-lo se Schoumlp fung son dern durch Ver aumln de run gen ge kenn zeich net die sich in der Erd ge schich te er eig net ha ben Pa ral lel meh ren sich die Fun de von Fos si li en also von Tie ren die mut maszlig lich aus-ge stor ben sind Es hat al lem An schein nach grouml szlige re ge o lo gi sche Ka tast ro phen in un be kann ter Zahl ge ge ben de nen vie le Ar ten zum Op fer ge fal len sind Doch ha ben die se De sas ter auch zur Ent ste hung von neu en For men ge fuumlhrt

Um den Fak tor der Zeit und sei ne Fol gen fuumlr das Sys tem der Na tur ein zu schaumlt zen gibt es vie le Moumlg lich kei ten Die ein fachs te und mensch lichs te al ler zeit li chen Ord nungs vor stel lun gen ist die Idee al les fol ge ei nem Plan und sei auf ein Ziel hin aus ge rich-tet (Te le o lo gie) Re li gi o nen Phi lo so phi en und Ide o lo gi en funk-ti o nie ren na he zu al le samt ziel ge rich tet Es geht um ein bes se res Le ben auf Er den im Jen seits in ei nem ge rech ten Staat um die Herr schaft uumlber die an de ren uumlber die Pro duk ti ons mit tel oder das Boumlse Selbst un ser All tag ge stal tet sich weit ge hend te le o lo-gisch durch traumlnkt von zu kuumlnf ti ger Er war tung Mo tor jed we-der Te le o lo gie ist der Fort schritts ge dan ke Sein ima gi nauml res Ziel ist der voll kom me ne Zu stand So glau ben christ lich-abend laumln-di sche Ge sell schaf ten gern an eine staumln di ge Ver bes se rung durch An stren gung eine Tu gend die nach cal vi nis ti scher Tra di ti on im Him mel wie auf Er den von Gott ma te ri ell ent lohnt wird Wie na he lie gend also auch in der Na tur die Ent ste hung raquohouml he rerlaquo Le bens for men durch Fort schritt er ken nen zu wol len mit dem End ziel des Men schen

Die Un ord nung der Schoumlp fung mit ei nem goumltt li chen Fort-schritts plan in Ein klang zu brin gen ist das Le bens werk des Schwei zer Na tur for schers und Phi lo so phen Charles Bon net (1720 ndash 1793) Fuumlr Bon net ist die Zahl der Ar ten und ihre aumlu-szlige re Ge stalt von Gott ein fuumlr al le Mal fest ge legt Doch kann sich ein je des Le be we sen per fek ti o nie ren Der Weg vom simp-len Ge muumlt zur ge ni a li schen Leis tung ist vom Schoumlp fer vor ge-

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zeich net Und alle Tie re be schrei ten ihn zeit lich ver setzt nach dem glei chen Mus ter das der Mensch ih nen vor ge lebt hat raquoEs wird ei nen mehr oder we ni ger lang sa men und kon ti nu ier li chen Fort schritt al ler Ar ten zu ei ner houml he ren Ver voll komm nung ge-ben so dass alle Gra de der Stu fen lei ter in ei ner de ter mi nie ren den und kons tan ten Be zie hung fort ge setzt va ri a bel sein wer den hellip Es wird un ter den Af fen Leu te wie New ton und un ter Bi bern wie (den Fes tungs bau meis ter RDP) Vau ban ge ben Die Aus-tern und die Po ly pen wer den in Be zie hung zu den houmlchs ten Ar-ten das sein was die Vouml gel fuumlr die Vier fuumlszlig ler im Ver haumllt nis zum Men schen sindlaquo6

Seit Bon net ist die Vor stel lung von der raquoLei ter der Na turlaquo der Sca la nat urae ein wich ti ges In ven tar des na tur ge schicht-li chen Den kens Fort schritt Ver voll komm nung und goumltt li cher Plan ndash die se drei Grouml szligen be stim men die Vor stel lung vom Wer-den der Na tur vom 18 Jahr hun dert bis in die Ge gen wart hi nein Das Prin zip nach dem die Evo lu ti on Le ben her vor bringt sei un ver meid lich und von An fang an vor her be stimmt Nicht we-ni ge E vo lu ti ons the o re ti ker ha ben dies eben falls ge glaubt und zwar mit be acht li cher Kon ti nu i taumlt Der eng li sche Na tur for scher Alf red Rus sel Wall ace (1823 ndash 1913) der ge mein sam mit Dar win die The o rie der na tuumlr li chen Se lek ti on ent wi ckelt hat te hielt nicht nur den mensch li chen Geist und sein Mo ral emp fin den son dern zu dem auch die wei che nack te emp find sa me Haut des Men-schen fuumlr das Re sul tat ei ner not wen di gen Ent wick lung

Doch schon im 18 Jahr hun dert reg ten sich zu gleich vor sich-ti ge Zwei fel an der Stim mig keit ei ner sol chen Vor ge formt heit Denn wie soll te man Na tur ka tast ro phen be wer ten Waumlh rend die meis ten Na tur for scher sie als Teil des goumltt li chen Schoumlp-fungs plans in ter pre tier ten zo gen an de re ver gleichs wei se fins te-re Schluumls se Und so wur de tat saumlch lich ein gro szliges Erd be ben zum in di rek ten Aus louml ser der Evo lu ti ons the o rie naumlm lich je nes von Lis sa bon im Jahr 1755 Wer uumlber die Ka tast ro phe nach dach te 6

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konn te star ken Zwei fel da ran he gen dass die Welt ord nung aus-ge kluuml gelt und har mo nisch sei

Die wei test rei chen den Schluss fol ge run gen zog der eng li-sche Pfar rer und Na ti o nal oumlko nom Tho mas Ro bert Malt hus (1766 ndash 1834) Nicht nur die ge o lo gi sche Na tur und ihr Ge-fah ren ri si ko son dern auch die Ver meh rung der Be voumll ke rung wur de nun als Uumlbel er kannt Im Jahr 1798 pub li zier te Malt-hus sei nen Es say on the Princi ple of Po pu la ti on (Das Be voumllshyke rungs ge setz) die ers te Mahn schrift vor den Ge fah ren ei ner Be voumll ke rungs ex plo si on Bei ei ner Ver dop pe lungs ra te der Welt-be voumll ke rung in ner halb von fuumlnf und zwan zig Jah ren er rech ne-te Malt hus wer de ihr exponent iel les An wach sen auf grund der von der Um welt ge setz ten Gren zen not wen dig zu Ar mut Ka-tast ro phen und Tod fuumlh ren Der bib li sche Auf trag raquoSeid frucht-bar und meh ret euchlaquo er schien mit ei nem Mal als ein Fluch Ein gna den lo ser raquoKampf ums Da seinlaquo (strugg le for life) war ent fes selt Das Ein zi ge was blieb war die Hoff nung die ka-tast ro pha len Fol gen der goumltt li chen An wei sung so weit wie moumlg lich ein daumlm men zu koumln nen

In ei ner Zeit als die Ge sell schafts the o rie noch der Bi o lo-gie den Leuch ter vo ran und nicht wie heu te die Schlep pe hin-terh er traumlgt be geis tert sich vor al lem ein eng li scher Dorf pfar rer Charles Dar win (1809 ndash 1882) fuumlr die Malt hus rsquoschen Ge set ze Denn wenn es rich tig ist dass sich ein Tier mit ei ner so ge rin-gen Ver meh rungs ra te wie der Mensch ge gen uumlber sei nen Art ge-nos sen durch setz te so gab es sicht lich an de re Kri te ri en fuumlr die Uumlber le bens fauml hig keit ei ner Po pu la ti on als die Zahl ih rer Ge bur-ten Der Maszlig stab fuumlr den Er folg ei ner Spe zi es war ihr Durch set-zungs ver mouml gen oder wie Dar win es spauml ter in den Prin zi pi en der Bio logie des jun gen Phi lo so phen Her bert Spen cer (1820 ndash 1903) le sen konn te raquothe sur vi val of the fit testlaquo

Dar wins na tur kund li che Stu di en wa ren ur spruumlng lich von dem Ge dan ken be seelt die nicht a ni ma li sche Iden ti taumlt des Men schen

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zu be wei sen Erst der Sieg des Ent de cker stol zes uumlber das Ent-set zen ver lieh ihm schlieszlig lich den Mut den be ruumlhm ten Satz zu schrei ben raquoUnd ich bin bei na he uumlber zeugt (der Mei nung mit der ich an die Fra ge he ran ge tre ten bin voumll lig ent ge gen ge setzt) dass die Spe zi es (mir ist es als ge staumln de ich ei nen Mord ein) nicht un ver aumln der lich sindlaquo7

Dar wins kuumlh ne Ver mu tung war nicht ganz neu Be reits ein hal bes Jahr hun dert zu vor hat ten der fran zouml si sche Na tur for scher GeorgesshyLou is Lec lerc Comte de Buf fon (1707 ndash 1788) und der Phi lo soph De nis Dide rot (1713 ndash 1784) uumlber eine Ver aumln de-rung der Ar ten spe ku liert Be son ders JeanshyBap tiste de La marck (1744 ndash 1829) be haup te te die all maumlh li che Ent wick lung der Ar-ten aus pri mi ti ve ren Vor for men die so ge nann te Trans mu ta ti on La marck war nicht nur ein Pi o nier der mit Jahr mil li o nen han-tier te als alle Welt die Erde noch ei ni ge tau send bis hun dert tau-send Jah re jung waumlhn te son dern er praumlg te (zur glei chen Zeit wie zwei deut sche Na tur for scher) das Wort Bi o lo gie Bei ihm wan del ten sich die Le be we sen da durch dass sich ihre koumlr per-li chen An stren gun gen auf ihr Erb gut aus wir ken Da bei nahm er al ler dings nicht an dass die Ar ten aus ei nan der her vor ge hen wie Dar win es spauml ter tat La ma rcks The o rie ist nauml her an je ner von Bon net Fuumlr ihn ver voll komm nen die ein zel nen Tier ar ten im Lau fe der Zeit ihre An la gen und ent wi ckeln sich da durch im-mer houml her Be son ders voll kom me ne Tie re wie der Mensch sind dem nach sehr alt denn sie ha ben ei nen wei ten Weg von ei nem pri mi ti ven Or ga nis mus bis hin zur heu ti gen Ge stalt hin ter sich ge las sen An de re wie der pri mi ti ve Suumlszlig was ser po lyp ha ben ihre Rei se durch die Zeit ge ra de erst an ge fan gen

La marck war kein Charis mati ker und die zo o lo gi sche All-macht sei nes Vor ge setz ten am Jar din des Plan tes in Pa ris des Ba rons George Cu vier (1769 ndash 1832) ver hin der te dass man sich all zu sehr mit sei nen The o ri en be schaumlf tig te Cu vier war ein be-deu ten der Mann An die Stel le ei ner nach bo ta ni schem Mus ter 7

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ver fah ren den Zo o lo gie setz te er eine neue Wis sen schaft die sich we ni ger an aumlu szlige ren Merk ma len als am Or ga nis mus der Tie-re ori en tier te Doch was die Trans mu ta ti on an be lang te blieb der Ober auf se her der pro tes tan tisch-the o lo gi schen Fa kul tauml ten Frank reichs beim kon ser va ti ven Mo dell Er ver brei te te wei-ter hin eine Ket te von Na tur ka tast ro phen habe als mo di fi zier-te Sint fu ten gan zen Klas sen von Tie ren den Gar aus ge macht Die se The o rie ist weit ge hend rich tig al ler dings schlieszligt sie die Trans mu ta ti on nicht aus

Das wirk lich Re vo lu ti o nauml re an La marck war die Idee die Ge schich te der Na tur nicht vom Men schen aus bis hi nun ter zur Bak te rie zu schrei ben son dern um ge kehrt von der Bak te rie zum Men schen Aus ei nem Mo dell der raumlum li chen Hie rar chie wur de ein Mo dell der zeit li chen Ent wick lung La marck er kann te zu-dem dass das Be wusst sein ei nes Tie res an die Phy si o lo gie und Neu ro lo gie sei nes Koumlr pers ge bun den ist Dem nach ist je der Geist ers tens be grenzt und zwei tens ver aumln der lich

Die phi lo so phi sche Kon se quenz aus La ma rcks Den ken ist so ra di kal dass sie fast ein hun dert fuumlnf zig Jah re lang von nie man-dem ernst haft in Be tracht ge zo gen wur de Wie kann ein Geist der den Ge set zen der Evo lu ti on un ter wor fen ist sich ei gent lich an ma szligen die Na tur der Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Von die ser Schluss fol ge rung woll te die Bi o lo gie al ler dings bis weit ins 20 Jahr hun dert hi nein nicht viel wis sen

Auch Dar wins The o rie von der na tuumlr li chen Se lek ti on der Le be we sen im Rin gen um ihr Le ben und mit der Um welt ent-wi ckel te sich wei ter Ge witz ten Zeit ge nos sen wie Karl Marx (1818 ndash 1883) war auf ge fal len wie stark Dar wins Den ken dem Zeit geist des Vik to ri a ni schen Zeit al ters ver haf tet war raquoEs ist merk wuumlr dig wie Dar win un ter Bes ti en und Pfan zen sei ne eng li-sche Ge sell schaft mit ih rer Tei lung der Ar beit Kon kur renz Auf-schluss neu er Maumlrk te rsaquoEr fin dun genlsaquo und Malt hus schem rsaquoKampf ums Da seinlsaquo wie der er kenntlaquo8 Die Be to nung des Malt hus rsquoschen 8

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Kamp fes von je dem ge gen je den und auch der Fort schritts glau-be in Dar wins Den ken zei gen ihn stark sei ner Zeit ver haf tet

Eine an de re Kri tik kam aus der Bi o lo gie selbst Dar win hat-te noch nichts von Ge nen ge wusst So konn te er nicht er klauml ren was sich bi o che misch er eig ne te wenn Ar ten sich ver aumln der ten Der raquoDar wi nis muslaquo der Jahr hun dert wen de gab schlieszlig lich die Hoff nung auf die Evo lu ti on lie szlige sich al lein durch die na tuumlr li-che Se lek ti on der Ar ten nach Maszlig ga be ih rer An pas sungs fauml hig-keit an die Um welt be gruumln den Man ent deck te die Rol le der Ge-ne tik und zum neu en Er klauml rungs prin zip wur de das Mo dell der zwei Kons t ruk teu re Das Spiel des Le bens er hielt ei nen Wuumlr fel zu faumll li ge Ver aumln de run gen im Gen ma te ri al also so ge nann te Mu tashyti o nen Im Tri alshyandshyEr ror-Ver fah ren ent ste hen im Erb gut ge le-gent lich Ab wei chun gen die dann er folg reich sind wenn sie sich in der Um welt be waumlh ren Da mit war die Idee vom Tisch dass sich neu er wor be ne Ei gen schaf ten oder raquodie ana to mi schen Aus-wir kun gen koumlr per li cher An stren gun genlaquo wie La marck mein te ver er ben koumlnn ten Noch Dar win hat te dies fuumlr denk bar ge hal ten So ver trau te er Er zaumlh lun gen wo nach bei je nen Volks grup pen zu de ren Ri ten die re gel mauml szligi ge Be schnei dung der Pe nis vor haut ge houmlrt sich die Vor haut all maumlh lich ver kuumlrz te Das haumlt te zwar die Be schnei dung uumlber fuumls sig ge macht aber Dar win hat te ge ra-de an de res Ge wich ti ges zu be den ken als da ruuml ber nach zu sin nen

Die Ver kuumlr zung der Vor haut blieb im Wis sens schatz der Dar wi nis ten bis Au gust Weis mann (1834 ndash 1914) im spauml ten 19 Jahr hun dert nach wies dass ein sol cher In for ma ti ons fuss vom aumlu szlige ren Er schei nungs bild zum Erb ma te ri al nicht moumlg lich sei Uumlber fuumlnf Ge ne ra ti o nen kuumlrz te Weis mann ei nem Stamm von Maumlu sen ihre Schwaumln ze ohne dass eine Nach richt uumlber die sen Ein griff die Keim bah nen der Maumlu se er reich te Denn sie he da Auch die Schwaumln ze der nach fol gen den Maumlu se ge ne ra ti o nen blie-ben gleich lang Da be durf te es schon der Spitz fin dig keit des iri schen Dich ters George Bern ard Shaw (1856 ndash 1950) der Weis-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 419783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 41 10082021 10493410082021 104934

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manns schnei den de Wi der le gung der La marckrsquo schen The o rie leicht fer tig vom Se zier tisch wisch te Die Maumlu se be merk te der Dich ter haumlt ten gar kei ne An stren gun gen un ter nom men ihre Schwaumln ze zu ver lie ren waumlh rend sich die Tie re bei La marck ja da rum be muumlht haumlt ten sich zu ver aumln dern

Im Nach hi n ein also war es der pauml da go gi sche Op ti mis mus der La marck in die Irre ge fuumlhrt ha ben soll te So mach te die Hoff-nung auf ei nen ethisch an spre chen den E vo lu ti ons ver lauf ndash die Er war tung die Mensch heit ent wick le sich qua An pas sung an das so zi a le Mi li eu durch Selbst er zie hung zum Bes se ren ndash nur noch eine et was ab sei ti ge Kar ri e re im staats so zi a lis ti schen Bi o lo gie-un ter richt der Sow jet u ni on Wie kalt da ge gen der uumlber le ge ne raquoKampf ums Da seinlaquo der ja ein Kampf um die Fleisch toumlp fe ist ohne Hoff nung der Mensch wer de den kuumlh nen Geist statt sei-nes ma te ri a lis ti schen Gier hal ses nach Houml he rem stre cken Und ein zig die Kir che be wahr te un ver dros sen ei nen la marc kis ti schen Ge dan ken ndash al ler dings ei nen pes si mis ti schen und kei nen op ti-mis ti schen In bes ter Schuumlt zen hil fe fuumlr den fran zouml si schen Che-va li er ver tei digt sie bis heu te ihr mo le ku lar ge ne tisch be denk li-ches Dog ma Adams Un ge hor sam im Gar ten Eden habe zu ei ner raquoErb suumln delaquo ge fuumlhrt die da rauf hin auf alle zu kuumlnf ti gen Ge ne ra-ti o nen uumlber ge gan gen sei

Im mer hin sind in den bei den letz ten Jahr zehn ten ei ni ge Bi o-lo gen wie der et was of fe ner da fuumlr ge wor den der Ver er bung er-wor be ner Ei gen schaf ten ei nen Platz in der Ge ne tik zu las sen Zwar ver er ben sich psy chi sche und phy si sche Le bens er fah run-gen nicht durch ver aumln der te Gene Aber es koumlnn te doch sein dass jene Schal ter die da ruuml ber be stim men wel che ge ne ti sche In for-ma ti on wei ter ge ge ben wird und wel che nicht durch Um welt-ein fuumls se ver aumln dert wer den Uumlber le gun gen wie die se be schaumlf ti-gen so ge nann te Epi gen eti ker seit ei ni ger Zeit sie ha ben ei nen wach sen den Ein fuss auf un se re Vor stel lung von der Evo lu ti on

Die heu ti ge Leit dis zip lin die uns die Ver wandt schaft des Le-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 429783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 42 10082021 10493410082021 104934

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bens ent schluumls seln soll ist die Ge ne tik Wir un ter su chen die Sum-me al ler ge ne ti schen In for ma ti o nen und re gist rie ren da bei Uumlber-ein stim mun gen und Ab wei chun gen mit an de ren Ar ten Doch der Pro zess die Na tur un se rer Na tur zu er ken nen ist noch lan ge nicht ab ge schlos sen und wird wohl auch nie ab ge schlos sen sein Wir wen den Ord nungs sche ma ta auf The o ri en und The o ri en auf Be ob ach tun gen an Nur so kom men wir zu Kau sa li tauml ten und Ge-set zen Doch ihre Be deu tung ver aumln dert sich in dem Maszlige wie wir den Blick punkt un se rer Auf merk sam keit wie der ver la gern Die ser Vor gang des Ent dec kens und des Ver de ckens durch neue Denk sche ma ta ist prin zi pi ell nicht ab schlieszlig bar denn selbst ge-gen waumlr ti ge Evo lu ti ons the o ri en un ter lie gen wei ter hin der Evo-lu ti on

Er staun li cher wei se hat die mo der ne Evo lu ti ons the o rie nur zu ei ner ge ring fuuml gi gen Kor rek tur al ter Denk sche ma ta ge fuumlhrt Wie fruuml her in der Na tur ge schich te er ken nen wir heu te in der Bi o lo gie uumlber all Re gel haf tigk eit Not wen dig keit und Vor tei-le Doch bei nauml he rer Sicht er weist sich die Evo lu ti on ge ra de zu als Herr schafts ge biet der Aus nah men uumlber die Re geln Sie ist eine raquoZweck mauml szligig keit ohne Zwecklaquo wenn auch al lein fuumlr die 01 Pro zent der heu te noch ndash oder ge ra de ndash exis tie ren den Spe-zi es nicht aber fuumlr die 999 Pro zent die in den Ur fu ten dem Ord ovizium dem Perm der Krei de oder dem Ter ti aumlr das Welt-li che seg ne ten E vo lu ti ons bi o lo gen su chen in der Ge schich te der Na tur uumlber all nach Vor tei len die das Uumlber le ben von Ar ten er-klauml ren sol len Da bei ver men gen sie oft zwei ver schie de ne Vor-teils be grif fe Ein mal geht es um Mu ta ti o nen die si tu a tiv vor teil-haf te Ei gen schaf ten fuumlr eine Tier art her vor ge bracht ha ben sol len Eine grouml szlige re Sta tur ein pom pouml se res Ge weih ein staumlr ke res Ge biss sol len Weib chen be ein dru cken und die Nach kom men schaft er-houml hen Da die se Ei gen schaf ten aber oft nichts nuumlt zen wenn der Zu fall die Spiel re geln der Um welt aumln dert gibt es ei nen zwei ten Vor teils be griff Da nach ist das vor teil haft in der Evo lu ti on was

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 439783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 43 10082021 10493410082021 104934

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vom Ende her be trach tet dazu ge fuumlhrt hat dass eine Art uumlber-lebt Nach die ser Sicht wei se kann der mick rigs te Pa vi an auf dem Fel sen sei ne Gene wei ter ge ben wenn die staumlr ke ren Kon kur ren-ten bei ei nem Erd be ben ums Le ben ge kom men sind

An ge sichts zwei er so un ter schied li cher Be deu tun gen von raquoVor teillaquo fragt es sich ob der Be griff in der Evo lu ti ons the o rie uumlber haupt sinn voll ver wen det wer den kann Tat saumlch lich ist er ein Erbe der The o lo gie des 17 und 18 Jahr hun derts die uumlber-all in der Na tur nach der klu gen Ver nunft Got tes such te Dar win kann te die se Tra di ti on gut Als Stu dent ver ehr te er den The o lo-gen Will iam Pa ley (1743 ndash 1805) der na tur kund lich be schla gen die goumltt li che Vo raus sicht auf den neu es ten Stand ge bracht hat te Als Dar win sich von Gott ver ab schie de te und die na tuumlr li che Se-lek ti on er kann te er setz te er uumlber all wo Pa ley raquoGod doeslaquo ge-schrie ben hat te den Satz durch raquoNat ure doeslaquo An Pa leys Vor-stel lung dass die Na tur zweck mauml szligig ein ge rich tet sei und Vor tei le be loh ne hielt Dar win eben so fest wie vie le spauml te re E vo lu ti ons-the o re ti ker

Die Fra ge ist des halb wich tig weil sie zeigt wie eng un se re Vor stel lung von der Na tur bis hi nein in die mo der ne Evo lu ti-ons the o rie von sehr mensch li chen Vor stel lun gen durch setzt ist Statt Vor tei le zu be nen nen wuumlr de es naumlm lich auch aus rei chen zu sa gen dass al les in der Na tur uumlber le ben kann das fuumlr eine Art kei nen toumld li chen Nach teil hat te Ver mut lich uumlber lebt in der Evo lu ti on nicht nur Zweck mauml szligi ges son dern jede Ver aumln de rung die zu min dest nicht zum Aus ster ben fuumlhr t und moumlg li cher wei se liegt ge ra de hie rin der Grund fuumlr eine gro szlige Ar ten viel falt

Die tra di ti o nell ver eng te Sicht wei se gilt ins be son de re bei der Be trach tung des Men schen E vo lu ti ons bi o lo gen koumln nen zahl-rei che Vor tei le be nen nen die er klauml ren wa rum die mensch li che Art so er folg reich ist Men schen sind aumlu szligerst an pas sungs fauml hig und be sie deln fast alle Le bens raumlu me sie sind Al les fres ser mit ei ner gro szligen Nah rungs band brei te sie ha ben eine fe xib le So zi-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 449783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 44 10082021 10493410082021 104934

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al struk tur und ver fuuml gen uumlber ein Selbst be wusst sein das es ih-nen er moumlg licht ihr Ver hal ten zu kor ri gie ren So ge se hen ist der Mensch gleich sam das op ti mal ste al ler Tie re Doch alldem zum Trotz exis tie ren Men schen der Gat tung Homo sap iens erst seit rund 100 000 Jah ren und ihre lang fris ti gen Zu kunfts chan cen ste hen schlecht Denn mit all den vor teil haf ten Ei gen schaf ten ha-ben Men schen in Re kord zeit ihre Um welt zer stoumlrt und das lang-fris ti ge Uumlber le ben der Spe zi es dra ma tisch in fra ge ge stellt Die mit we ni ger spek ta ku lauml ren Vor tei len aus ge stat te ten Di no sau ri-er exis tier ten auf un se rem Pla ne ten hun dert fuumlnf zig Mil li o nen Jah re ganz zu schwei gen von den seit uumlber vier hun dert Mil li o-nen Jah ren na he zu un ver aumln der ten Nau til iden und Ur schne cken

Ge si chert in der Evo lu ti ons the o rie ist dass kei ne ih rer An nah-men ge si chert ist E vo lu ti ons bi o lo gen die ihre Sa che ernst neh-men muumls sen im mer auch die E vo lu ti ons be dingt heit ih res ei ge-nen Er kennt nis ap pa rats ref ek tie ren also mit hin die Evo lu ti on al ler mensch li chen Er kennt nis raquoLetzt lich istlaquo wie der Neuro bio-lo ge Ger hard Roth schreibt raquoje des Nach den ken uumlber die ob jek-ti ve Re a li taumlt sei es wis sen schaft lich oder nicht an die Be din gun-gen mensch li chen Den kens Spre chens und Han delns ge bun den und muss sich da rin be waumlh renlaquo9

Man muss ref ek tie ren dass die un ver meid li chen Ord nungs-mit tel des Geis tes das Den ken und die Spra che nicht die Wirk-lich keit raquoan sichlaquo auf raumlu men Sie sind Mo del le die die un ver-fuumlg ba re Wirk lich keit nach Maszlig ga be der ei ge nen Spiel re geln er klauml ren Nicht erst seit Er for schung der Evo lu ti on in den letz-ten zwei hun dert Jah ren muumlht sich der mensch li che Geist dem Lauf der Welt ei nen ndash nach mensch li chem Er mes sen ndash raquover nuumlnf-ti genlaquo Sinn zu ge ben Doch das Pa ra do xe der Ge schich te liegt da rin dass der mensch li che Geist selbst Pro dukt evo lu ti o nauml rer Pro zes se ist Er ist Maszlig stab und Ge mes se nes zu gleich

An eine tat saumlch lich ob jek ti ve Er kennt nis der Evo lu ti on waumlre nur halb wegs sinn voll zu den ken wenn die Evo lu ti on des Men-9

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 459783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 45 10082021 10493410082021 104934

schen ab ge schlos sen ist und da mit die Stu fe der groumlszligt moumlg li chen Voll kom men heit er reicht hat In den Zei ten vor La marck und Dar win ha ben das nicht nur The o lo gen son dern auch die Na tur-for scher fast al le samt ge glaubt Das mensch li che Be wusst sein sei die un uuml ber trof fe ne Spit zen leis tung des Schoumlp fer got tes ge schaf-fen die Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Sei nen schoumlns-ten Aus druck fand die se Sicht in ei nem Aus spruch des jun gen Phi lo so phen Fried rich Wil helm Jo seph Schel ling (1775 ndash 1854) Er mein te dass der Mensch je nes We sen sei raquoin dem die Na tur das Auge auf schlaumlgtlaquo und sich da mit ih rer selbst be wusst wird Ein huumlb scher Satz aber doch viel zu pa the tisch for mu liert Von der vol len Er kennt nis der Na tur und un se rer selbst sind wir noch im mer weit ent fernt Aber wir koumln nen da ruuml ber stau nen dass die Evo lu ti on mit uns ein Le be we sen her vor ge bracht hat in dem die Na tur sich fuumlr sich selbst fa szi nier bar ge macht hat Wie hat te es dazu kom men koumln nen

bull Der Pri mat Was ist ein Mensch

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ver waist sein Die Mensch heit wird er wacht sein und die Welt je-nes Ge sicht er hal ten ha ben das uns ge gen waumlr tig er scheint Doch wie sah das aus als die Na tur das ers te Mal in ei nem af fen aumlhn-li chen We sen die Au gen auf schlug War es auf ei ner Wald wie-se in ei nem Hain an ei nem Berg hang oder auf ei ner Lich tung War das er leuch te te We sen ein Maumlnn chen oder ein Weib chen Ging es den gan zen Tag auf recht oder saszlig es noch ger ne in der Ho cke eng ge kau ert an sei ne Bruuml der und Schwes tern Und war es eine Ein ge bung ein Blitz schlag als das Selbst be wusst sein das ers te Mal die Fes seln des Pri ma ten ge hirns spreng te

Wir wis sen nicht wo ran Schel ling dach te als er mein te die Na tur habe im Men schen ihr Auge auf ge schla gen Si cher dach te er nicht an ei nen ein zi gen Mo ment dem Mil li o nen an de re folg-ten Er dach te an den raquoMen schen an sichlaquo Und er wuss te nichts vom ost af ri ka ni schen Great Rift Val ley und von haa ri gen Vor-men schen die dort einst haus ten Er leb te in Jena und in Muumln-chen und ei nen Men schen af fen hat te Schel ling nie ge se hen Der ein zig ar ti ge Mo ment in dem die Na tur sich ih rer selbst be wusst wird bleibt eine Me ta pher

Doch wie wur de der Mensch nun tat saumlch lich zum Men-schen Die For mu lie rung ist dop pel deu tig Denn wie der Mensch zum Men schen wur de ndash das ist nicht ein evo lu ti o nauml rer Pro-zess auf der lee ren Welt buumlh ne son dern ein Spiel von Be ob ach-ter und Be ob ach te tem Schau spie ler und Zu schau er Ge schich-te auch Ent wick lungs ge schich te ist nichts Vor ge fun de nes Der Mensch schrieb der fran zouml si sche Phi lo soph JeanshyPaul Sart re (1905 ndash 1980) macht sich selbst wie der Ro man schrift stel ler sei ne Fi gu ren Er ist ge fer tigt aus bi o lo gi schen (ana to mi schen neu ro lo gi schen und phy si o lo gi schen) Be stand tei len zu al ler meist je doch durch jene we nig bi o lo gi schen Weis hei ten mit de nen sich die se Subs tan zen selbst zum raquoMen schenlaquo er ko ren

Das Glei che gilt fuumlr die mensch li che Stam mes ge schich te Auch sie ist zu naumlchst ein mal eine Ge schich te Ihre Ur spruumln ge lie gen im

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al ten Grie chen land als Aris to te les den Men schen und den Af-fen ver wandt schaft lich na he ruumlckt raquoMan che Tie re ste hen zwi-schen Mensch und Vier fuumlszlig ler in ih rem We sen wie Af fen Meer-kat zen und Pa vi a ne hellip Ihr Ge sicht hat vie le Aumlhn lich kei ten mit dem des Men schen Nase und Oh ren glei chen den sei nen und Zaumlh ne hat er auch wie ein Mensch die Vor der zaumlh ne wie die Ba cken zaumlhnelaquo10 Auch Aris to te lesrsquo Schuuml ler The oph rast (ca 370 v Chr ndash ca 288 v Chr) be steht auf der Aumlhn lich keit zwi schen Men schen und Tie ren Er lehnt es so gar ab Fleisch zu es sen oder Tie re zu op fern da man sei ne Ver wand ten nicht ver spei se

Aris to te les und The oph rast stell ten den Men schen zwar ne-ben den Af fen ndash Men schen af fen kann te man noch nicht ndash aber die al ten Grie chen hat ten ihn nur sehr un ge faumlhr zu ei nem Tier un ter Tie ren er klaumlrt Den naumlchs ten Schritt mach te mehr als zwei-tau send Jah re spauml ter Carl von Linneacute An der Zu ge houml rig keit des Men schen zu den Saumlu ge tie ren be stand fuumlr den Schwe den kein Zwei fel die Be haa rung und das Stil len der Jun gen be lehr ten un-miss ver staumlnd lich da ruuml ber Auch die Ver wandt schaft mit Af fen und Men schen af fen stand au szliger Fra ge Hier wa ren es die fa chen Fin ger- und Fuszlig nauml gel statt der Klau en der ab ge spreiz te Dau-men die Greif haumln de die zwei Zit zen der Weib chen und der frei he run ter haumln gen de statt am Un ter leib an lie gen de Pe nis ndash Merk-ma le die groumlszlig ten teils auch schon Aris to te les auf ge fal len wa ren

Doch Linneacute zouml ger te vor der Kon se quenz Haumln de rin gend such-te der got tes fuumlrch ti ge Ana tom nach ei nem Un ter schied zwi schen dem Men schen und den uumlb ri gen von ihm so ge nann ten raquoPri ma-tenlaquo raquoIch ver lan gelaquo schrieb er 1747 sei nem deut schen Freund Jo hann Ge org Gme lin raquovon Ih nen und von der gan zen Welt dass Sie mir ein Gat tungs merk mal zei gen hellip auf grund des sen man zwi schen Mensch und Affe un ter schei den kann Ich weiszlig selbst mit aumlu szligers ter Ge wiss heit von kei nemlaquo11

Nach sei nen Kri te ri en haumlt te Linneacute den Men schen zu min dest mit dem Schim pan sen ge mein sam in die sel be Gat tung ein ord-10

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nen muumls sen Der Ge dan ke schweb te zeit gleich auch dem Phi lo so-phen JeanshyJacques Rous seau (1712 ndash 1778) vor als er Schim pan-sen Orang-Ut ans und Men schen so gar als Ver tre ter der Spe zi es Mensch an sah Rous seau hat te nie ei nen Men schen af fen ge se-hen Aber die Be rich te die er von Ex pe di ti o nen nach Af ri ka und Suumld ost a si en las lie szligen in ihm kei nen Zwei fel dass die da rin be schrie be nen Men schen af fen raquowe der Tie re noch Goumlt ter son-dern Men schenlaquo sei en12 Fuumlr den Auf klauml rer wa ren Men schen af-fen edle Wil de die von kei ner Zi vi li sa ti on in ih rem fried fer ti gen We sen zer stoumlrt sei en an ders als die Men schen in Eu ro pa Eben-so dach te we nig spauml ter der schot ti sche Sprach for scher James Bur nett Lord Mon boddo (1714 ndash 1799) Auch er be trach te te den Orang-Utan als ei nen Men schen naumlm lich als ei nen raquosprach-losen Wil denlaquo

In ter pre ta ti o nen wie Rous seau sie in Pa ris und Bur nett bald da rauf in Kin card ines hire wag ten wa ren Linneacute im schwe di schen Upp sa la fremd Den Men schen ins Tier reich ein zu ord nen war in den Au gen der stren gen pro tes tan ti schen Kir che Suumln de ge nug und Linneacute zouml ger te den letz ten Schritt zu tun In sei ner Not sor-tier te er 1758 ach sel zu ckend Mensch und Schim pan se in un ter-schied li che Gat tun gen zu sam men ge fasst in der Ord nung der Pri ma ten in der sie auch heu te noch mehr schlecht als recht huumlbsch ge trennt ne ben ei nan der ho cken Homo sap iens der raquoin-tel ligi ble Menschlaquo und Pan trog lody tes der raquohoumlh len be woh nen-de Faunlaquo

So weit so schoumln Der Mensch wur de der obers te Pri mat das houmlchs te raquoHer ren tierlaquo Linneacute be kam kei nen Aumlr ger mit der Kir-che und die Na tur wis sen schaft den gro szligen Wurf des Linneacute rsquoschen Sys tems Wenn nur die se Nach barn nicht wauml ren Seit Be kannt-wer den der Men schen af fen be muumlh ten sich Wis sen schaft ler und The o lo gen im mer wie der um den Ver such den klei nen Gra ben mit gro szligen Was sern zu fuumll len der Homo sap iens und Pan troshyglody tes bei ih rer ord nungs ge mauml szligen Ver ge sell schaf tung auf der 12

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 509783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 50 10082021 10493510082021 104935

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Af fen in sel trennt Sie eva ku ier ten den Men schen vom Pri ma ten-fel sen und schu fen ihm eine ei ge ne Ord nung

In die ser Vor stel lungs welt wuchs auch der The o lo gie stu dent Charles Dar win auf Das fruuml he 19 Jahr hun dert war eine got-tes fuumlrch ti ge bie der mei er li che Zeit Doch je mehr er sich mit der Ver aumln de rung der Ar ten be schaumlf tig te umso deut li cher wur de Dar win dass es mit der of fi zi ell be kun de ten Son der stel lung des Men schen im Uni ver sum nicht weit her sein konn te So no tier te er schon er staun lich fruumlh in sein Ta ge buch raquoDer Mensch haumllt sich in sei ner Ar ro ganz fuumlr ein groszlig ar ti ges Werk des be son de ren Ein grei fens ei ner Gott heit wuumlr dig Es duumlrf te be schei de ner und wie ich glau be auch rich tig sein ihn als aus den Tie ren ent stan-den an zu se henlaquo13

Dar win hat te den noch zwoumllf Jah re ge zouml gert bis er sich schlieszlig lich ge trau te nach der all ge mei nen Dar stel lung ei ner Evo-lu ti ons the o rie im Jahr 1859 sei ne Schluss fol ge run gen in Be zug auf den Men schen in Druck zu ge ben Die Ab stam mung des Men schen aus dem Jahr 1871 ist ein ge maumlch li ches Buch in ver-soumlhn li chem Ton fall Der Na tur for scher er zaumlhlt da rin wie ein gu-ter al ter Groszlig va ter wo her die Pfan zen die Tie re und die Eng-laumln der kom men Die raquoAb wer tunglaquo des Men schen geht da bei ein her mit ei ner kon ti nu ier li chen raquoAuf wer tunglaquo der Tie re raquoWir ha ben ge se henlaquo schreibt Dar win raquodass die Emp fin dun gen und Ein druuml cke die ver schie de nen Er re gun gen und Fauml hig kei ten wie Lie be Ge daumlcht nis Auf merk sam keit Neu gier de Nach ah mung Ver stand usw de ren sich der Mensch ruumlhmt in ei nem be gin nen-den oder zu wei len selbst in ei nem gut ent wi ckel ten Zu stand bei den nie de ren Tie ren ge fun den wer denlaquo14

La marck und Dar win wa ren die Ers ten die mit Mit teln der mo der nen Na tur wis sen schaft be haup te ten was vie le Kul tu ren und Zei ten schon zu vor re li gi oumls ge ahnt hat ten raquoNa tuumlr lichlaquo ist es ab surd eine Tei lung des Tier reichs in zwei Ka te go ri en vor zu-neh men ndash in eine mensch li che und eine nicht mensch li che Ka-13

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9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 519783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 51 10082021 10493510082021 104935

Page 9: Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen · Leseprobe Professor Dr. Richard David Precht Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen »Fazit:

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Meer schwein chen be ka men Ko li ken die Ei dech sen leb ten nicht lan ge und die Fi sche haus ten in viel zu vie len Ar ten in ei nem viel zu klei nen Aqua ri um Mei ne Fas zi na ti on paar te sich mit ei-nem schlech ten Ge wis sen Sie um schlan gen ei nan der sehr eng und wa ren sel ten zu tren nen

Ich wur de kein Zoo di rek tor Der schlech te Bi o lo gie un ter richt in der Schu le zer stoumlr te mir mei nen Traum Viel leicht war es auch gut so Der fruuml he re Koumll ner Zoo di rek tor Gun ther No gge sag te zu mir raquoSei en Sie froh dass Sie es nicht ge wor den sindlaquo So er hielt ich mir mei ne Fas zi na ti on fuumlr Tie re aber auch mein schlech tes Ge wis sen

Bei des war noch wach als in der Mit te der Neun zi ger jah re der BSE-Skan dal und gleich da rauf das Klon schaf Dolly die Be-voumll ke rung auf schreck ten Ich schrieb ei nen Es say uumlber Tier ethik und ein Dos si er uumlber Zo o lo gi sche Gaumlr ten fuumlr Die Zeit die Poe sie des Her zens die nur das Bes te fuumlr alle Tie re woll te hier die Pro-sa der Ver haumllt nis se ei nes bar ba ri schen und prob le ma ti schen Um-gangs mit dem Tier in der Ge sell schaft dort

Im Feb ru ar 1997 ver schlug mich der Zu fall nach Braun-schweig zu ei nem Kon gress uumlber raquoTie re ndash Rech te ndash Ethiklaquo Fuumlr mich war es eine Art in tel lek tu el les Wood stock ei ner neu en Be-we gung Men schen aus dem gan zen Bun des ge biet wa ren an ge-reist und auch die Braun schwei ger Be voumll ke rung nahm sehr re-gen An teil Ich lern te Ma nu e la Lin ne mann ken nen die Ge hei me Rauml tin der Tier rechts be we gung die den Kon gress glaumln zend or ga-ni siert hat te Der Schrift stel ler Hans Woll schlauml ger pre dig te in der St-And re as-Kir che ful mi nan te Wor te uumlber den Pa ra dies gar ten und die ab truumln ni ge Mensch heit Der sym pa thi sche Schwei zer Phi lo soph Jean-Claude Wolf ge houmlr te be reits zu den ver sier te ren Den kern auf die sem Ge biet der Phi lo soph Mi cha el Haus kel ler eben so jung wie ich noch zu den Neu e ren Mit dem Bi o lo gen und Phi lo so phen Hans Wer ner In gen siep ei nem der span nends-ten Den ker die mir je be geg net sind und sei ner Le bens ge faumlhr-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 129783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 12 10082021 10493310082021 104933

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tin der Theo lo gin Hei ke Bar anzke ver bin det mich seit dem eine lan ge Freund schaft Auch die Front kaumlmp fer fehl ten nicht Die Tier rechts or ga ni sa ti on Ani mal Peace er leb te ge ra de ei nen Boom an Spen dern und der Tier recht ler Hel mut Kap lan be feu er te die Ak ti vis ten mit ra di ka len Schrif ten und kuumlh nen Spruuml chen

Die Ge dan ken die wir in Vor trauml gen und Ge sprauml chen ver kuumln-de ten dis ku tier ten und uumlber dach ten hat ten da mals noch et was sehr Neu es Zwar hat te der aust ra li sche Phi lo soph Pe ter Sin ger be reits 1975 sein be ruumlhm tes Buch uumlber Die Be frei ung der Tie re ge schrie ben Aber eine Tier rechts be we gung ent stand an ders als in Eng land und den USA in Deutsch land erst lang sam in den spauml ten Acht zi ger jah ren Nun in der Mit te der Neun zi ger jah re war das The ma end lich ge sell schaft lich re le vant ge wor den Koumln-nen wir un se ren all taumlg li chen Um gang mit Tie ren wei ter hin mo-ra lisch recht fer ti gen Die Mas sen me di en grif fen das The ma auf Der Jour na list Man fred Kar re mann dreh te Fil me uumlber Mas sen-tier hal tung Schlacht haumlu ser und Tier trans por te und brach te das Elend der Tie re da mit in die deut schen Wohn zim mer Die in zwi-schen ein ge stell te Zei tung Die Wo che nahm da ge gen den ra di-ka len Fluuml gel der Be we gung ins Vi sier Sie be rich te te uumlber an ge-saumlg te Hoch sit ze ein ge schla ge ne Schau fens ter von Metz ge rei en und warn te auf ei ner Dop pel sei te vor raquoTier schutz ter ro ris muslaquo

In die sem Kli ma er schien im Herbst 1997 mein Buch No ahs Erbe Sei ne Zu stim mung und Ab leh nung ver lief wie ich es mir er hofft hat te oft quer zu den etab lier ten Freund-Feind-Li ni en zwi schen Tier schuumlt zern Ar ten schuumlt zern und Tier recht lern Be-dau ert habe ich da bei ei gent lich nur jene Kri ti ken die mir von ei nem pa tho lo gi schen Men schen bild bis hin zu ei ner raquooumlko fa-schis ti schenlaquo Ge sin nung so ziem lich al les un ter stell ten wo von ich selbst in den fins ters ten Win keln mei nes Wir bel tier ge hirns nie mals ge traumlumt hat te

Seit dem ist viel und we nig ge sche hen Seit No vem ber 1999 er-freu en sich die Men schen af fen in Neu see land und wa ren es da-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 139783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 13 10082021 10493310082021 104933

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mals auch nur acht an der Zahl ei nes un an tast ba ren Rechts auf Le ben Der Tier schutz wur de 2002 als Staats ziel im deut schen Grund ge setz ver an kert Die gra vie rend ste Ver aumln de rung aber sind ohne Zwei fel die vie len Men schen die sich feisch los oder ve-gan er naumlh ren Das Wort raquove ganlaquo in den Neun zi gern noch et-was houmlchst Obs ku res das nur von we ni gen selt sam blut lee ren Bio-Vam pi ren be trie ben wur de ist heu te in al ler Mun de Ein vega nes Koch buch er reich te juumlngst eine Mil li o nen auf a ge Und na he zu je der kennt ei nen Vega ner oder haumlu fi ger eine Ve gan erin Nach ei ner Um fra ge des Al len sba cher Ins ti tuts aus dem Jahr 2015 gibt es in Deutsch land in zwi schen 78 Mil li o nen Ve ge ta-rier und 900 000 Vega ner1

In den west li chen In dust rie na ti o nen steigt die Sen si bi li taumlt im Um gang mit Tie ren un auf halt sam an ins be son de re bei jun gen Frau en Doch die se Hal tung hat zu gleich et was sehr Pri va tes Schoumln heit Fit ness Ge sund heit und Tier lie be sind meist auf ei-nen Nah ho ri zont be schraumlnkt Wa ren der Kampf fuumlr Tier rech te und die veg ane Er naumlh rung fruuml her fast un trenn bar mit ei nan der ver bun den ge we sen so hat sich das eine heu te vom an de ren ge-loumlst In West eu ro pa gibt es in zwi schen mehr Mas sen tier hal tung mehr Le ge bat te ri en und mehr in dust ri el les Tier elend als je zu-vor Gut ver steckt vor der Oumlf fent lich keit ar bei tet die se Ma schi-ne rie trotz ge le gent li chen Pro tes ten hef ti ger denn je Noch nie war die Kluft so groszlig die das was Men schen im Um gang mit Tie ren fuumlr rich tig hal ten und das was tat saumlch lich prak ti ziert wird von ei nan der trennt So lan ge wir un se re Er naumlh rung und un ser per soumln li ches Ver haumllt nis zu Tie ren als Pri vat sa che auf fas-sen so lan ge wird die mil li o nen fa che Grau sam keit ge gen Tie re wei ter hin ge sell schaft lich ak zep tiert

In die ser Lage stel len sich man che Fra gen die in No ahs Erbe be han delt wur den an ders und neu Auch vie le Zah len sind wie koumlnn te es auch an ders sein ver al tet In den Wis sen schaf ten wie der Pal aumlo anth ro po lo gie der Prim atolo gie und der Ver hal tens-1

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 149783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 14 10082021 10493310082021 104933

oumlko lo gie ist in den letz ten bei den Jahr zehn ten ei ni ges ge sche-hen das es zu be ruumlck sich ti gen gilt Die his to ri sche For schung uumlber das Ver haumllt nis von Mensch und Tier hat man ches Neue zu ta ge ge foumlr dert eben so in den Re li gi o nen wie in der Phi lo so-phie Die aka de mi sche De bat te uumlber eine an ge mes se ne raquoTier-ethiklaquo hat stark an Fahrt auf ge nom men Und nicht zu letzt hat mei ne ei ge ne Be schaumlf ti gung mit dem We sen und den Spiel re geln mo ra li schen Han delns zu man cher neu en Ein schaumlt zung und Be-wer tung ge fuumlhrt Man ches von dem was Men schen tun oder las sen er scheint mir mit uumlber fuumlnf zig in ei nem an de ren Licht als mit An fang drei szligig hellip

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Be lan ge re gelt eben so wie jene des Maul wurfs das Tier schutz-ge setz Maul wuumlr fe und Schim pan sen sind kei ne Rechts sub jek-te Man darf sie in enge Kauml fi ge ein pfer chen man darf sie mit Elektro schocks fol tern mit toumld li chen Kei men in fi zie ren sie am le ben di gen Leib ver aumlt zen sie ver stuumlm meln und ver gif ten

Das ver nuumlnf ti ge und sitt li che Le ben und das un ver nuumlnf ti ge rohe Le ben tei len die Welt in zwei Herr schafts be rei che Ei ner da von be sitzt ein mo ra li sches Sie gel Der an de re da ge gen ist ein na he zu un be schrie be nes Blatt Fast hun dert sech zig Jah re ist es her dass der bri ti sche Na tur for scher Charles Dar win den ge-mein sa men Ur sprung die fie szligen den Uumlber gaumln ge und zar ten Ver-aumls te lun gen al len Le bens be wies Doch Men schen gel ten we der all tags sprach lich noch recht lich als Tie re Eine alte Ge wohn heit trennt den Men schen von sei nen ani ma li schen Ver wand ten Es ge houmlrt zu den ei gen tuumlm li chen Fol gen der Dar win rsquoschen Wen de dass sie mit ei ni gen klei ne ren Kor rek tu ren das anth ro po zent ri-sche Welt bild un an ge tas tet lieszlig Kaum je mand duumlrf te sich als je-ner Tro cken na sen pri mat in der Ver wandt schaft von Men schen-af fen Meer kat zen und Pa vi a nen se hen als den uns die Zo o lo gie klas si fi ziert Statt des sen de fi nie ren wir uns als Men schen und ge-ben uns alle Muumlhe un se re ani ma li sche Na tur zu ver ges sen und zu ver ber gen

Das Band zu den an de ren Tie ren ha ben wir vor lan ger Zeit zer schnit ten Vor etwa 10 000 Jah ren hat der Mensch ge lernt die Roh stoff re ser ve raquoTierlaquo plan mauml szligig zu zuumlch ten Er haumllt sie von nun an in Form ei nes le ben den Ver sor gungs vor rats zum ei-ge nen Nut zen und From men In den An faumln gen der Tier zucht leg ten man che sess haft ge wor de nen Jauml ger ge stor be ne Hun de in da fuumlr vor ge se he ne Gru ben und be stat te ten so gar Mut ter Kind und Rin der ge mein sam Wel ten klaf fen zwi schen dem ani mis ti-schen Glau ben der ers ten Vieh zuumlch ter und der ma te ri a lis ti schen Mas sen tier hal tung der mo der nen Ge sell schaft Mit dem Ende der Kon kur renz schwand die Not wen dig keit sich mit dem Tier

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 189783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 18 10082021 10493310082021 104933

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als ei nem Le be we sen aus ei nan der zu set zen Heu te nut zen wir die Res sour ce raquoTierlaquo voumll lig frag los fuumlr die An spruuml che des Men schen Das Ge mein sa me von Tier und Mensch trat in den Hin ter grund Zwar leb te das Tier noch im mer in der kul tu rel len Fan ta sie fort als ma gi sche oder fan tas ti sche Ge stalt als Freund Ge faumlhr te oder Be dro hung Doch die Be deu tung in der All tags welt er mat te te auf Schwund stu fen der Na tur wie Schoszlig hund Zier gup py Le ge hen-ne und Zir kus pferd Gren zen los uumlber le gen und un ab haumln gig ge-gen uumlber den Tie ren sei ner Um welt ent wi ckel te sich im mensch-li chen Be wusst sein ein voumll lig ent frem de tes Ver haumllt nis Nicht nur ra di ka le Aus nut zung und Sa dis mus auch falsch ver stan de ne Lie-be De na tu rie rung und un frei wil li ge Quauml le rei be stim men seit her den mensch li chen Um gang mit dem Tier

Bis ins fruuml he Mit tel al ter uumlber wog die Zahl der wil den Tie re die An zahl der Nutz- und Haus tie re die der Mensch in sei nen Dienst ge stellt hat te Doch spauml tes tens mit dem Sie ges zug des Ka pi ta lis mus in West eu ro pa und Nord a me ri ka ver schwan den die Res te der Ehr furcht in die Maumlr chen buuml cher und Zir kus dar-bie tun gen Mo der ne Agrar un ter neh men In dust rie met ro po len Au to bah nen und Hoch span nungs mas ten bil den das Or na ment un se rer Um welt die wir seit meh re ren hun dert Jah ren raquoLand-schaftlaquo nen nen Nir gend wo in der All tags welt ei nes Men schen der west li chen Zi vi li sa ti on be geg net uns das Tier noch als Kon-kur rent nicht bei der Er naumlh rung nicht im Kampf um den Le-bens raum und nicht als Fress feind des sen Zaumlh ne und Klau en ernst haft Furcht er re gen koumlnn ten Das ein zig Be droh li che das heu te bleibt sind aus ge rech net ein paar klei ne Tie re etwa Rat-ten und Maumlu se die letz ten ge faumlhr li chen Fress kon kur ren ten des Men schen Dazu kom men In sek ten Mik ro ben und Vi ren

Das Band zwi schen uns und den an de ren Tie ren wuchs auch nicht da durch wie der zu sam men dass wir die Tie re uumlber die Wis-sen schaft als Ver wand te wie der ent deck ten Seit mehr als zwei-tau send Jah ren sieht sich der Mensch als le gi ti mer Herr scher

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 199783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 19 10082021 10493310082021 104933

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uumlber eine be herrsch ba re Um welt dazu ge schaf fen sie zu nut zen und aus zu beu ten Un se re Evo lu ti on hat sich da bei ra sant be-schleu nigt Laumlngst fin det sie kaum noch in un se rem Koumlr per statt son dern vor al lem in un se rer Tech nik und Kul tur Und schon lan ge dient sie nicht mehr dazu sich der Na tur an zu pas sen Sie dient ei ner im mer wie der neu ge schaf fe nen mensch li chen Kul-tur An pas sung be deu tet heu te sich an den ei ge nen Fort schritt an zu pas sen mit all den be kann ten Fol gen fuumlr un se re Um welt Dra ma ti sche Kli ma wech sel die Zer stouml rung der schuumlt zen den Ozon schicht die Ver step pung wei ter Land stri che auf al len Suumld-kon ti nen ten und die Ver gif tung der Mee re ver nich ten nicht nur die nicht mensch li che Tier welt sie be tref fen mehr und mehr den Men schen selbst

In atem be rau ben dem Tem po be schleu nig te das in dust ri a li sier-te 20 Jahr hun dert die Be herr schung und Aus beu tung der Na-tur und mit ihr die der Tie re Schon in den ver gan ge nen Jahr-tau sen den hat te Homo sap iens den ge sam ten Pla ne ten in Be sitz ge nom men Kein grouml szlige res Wir bel tier be sitzt ein sol ches Ver brei-tungs ge biet be wohnt Wuumls ten Re gen waumll der und Po lar re gi o nen glei cher ma szligen Und kein grouml szlige res Wir bel tier hat sich zu Mil li ar-den ver mehrt Ruumlck sichts lo se Pluumln de rung der Roh stof fe und ein un ge heu res Be voumll ke rungs wachs tum der Spe zi es Homo sap iens schaf fen ei nen erd ge schicht li chen Aus nah me zu stand

Der Mensch be herrscht heu te den Pla ne ten aber of fen sicht-lich nicht sich selbst Es koumlnn te da ran lie gen dass es raquoden Men-schenlaquo gar nicht gibt Statt des sen gibt es mehr als sie ben Mil li-ar den un ter schied li che In di vi du en Und nie mand da von ist fuumlr die Mensch heit zu staumln dig Sie ist eine Ge mein de der an zu ge houml-ren nicht dazu ver pfich tet sich um das Gan ze zu sor gen und zu kuumlm mern

Zu herr schen be deu tet Ord nun gen zu etab lie ren und Re geln da fuumlr auf zu stel len was wich tig ist und un wich tig rich tig oder falsch Jahr hun der te lang sah die Mo ral der abend laumln di schen

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Zivi li sa ti on in der Aus rot tung der Wild tie re und Aus beu tung der Nutz tie re na he zu kein Pro blem Eine kla re Grenz zie hung er-laub te je den Um gang mit dem Tier von der Lie be bis zur Fol ter von der Zucht bis zur Touml tung Das Ar gu ment war schlicht Der Mensch ist eine Son der an fer ti gung Got tes und mit dem Tier ge-ra de mal durch den lo sen Fa den der goumltt li chen Schoumlp fung stat ver bun den So kam in den Wor ten des deutsch-fran zouml si schen The o lo gen und Arz tes Al bert Schweit zer raquodie An sicht auf dass es wert lo ses Le ben gaumlbe des sen Schauml di gung und Ver nich tung nichts auf sich habe Un ter wert lo sem Le ben wer den dann je nach den Um staumln den Ar ten von In sek ten oder pri mi ti ve Voumll ker ver stan denlaquo2 (Eine Kli en tel die sich uumlber dies noch um Frau en er wei tern lie szlige)

Die se Gren ze wur de und wird in der abend laumln di schen Kul-tur ge schich te va ri an ten reich ver tei digt Doch je ge nau er wir sie be trach ten umso selt sa mer er scheint sie uns Denn sie laumlsst sich im mer schlech ter be gruumln den und zwar so wohl phi lo so phisch als auch bi o lo gisch Seit etwa vier zig Jah ren be steht in der Ge-sell schaft eine De bat te die un se ren Um gang mit Tie ren grund-saumltz lich in fra ge stellt Tier e thi ker wie Pe ter Sin ger und sein US-ame ri ka ni scher Phi lo so phen kol le ge Tom Re gan for dern Rech te auch fuumlr Tie re Der Aus schluss der Tie re aus der Ethik sei ein mo ra li scher Skan dal Das Tier heu te mo ra lisch drau szligen vor der Tuumlr zu las sen sei das Erbe ei nes re li gi ouml sen Aber glau bens Da der Mensch kei ne Son der an fer ti gung Got tes sei son dern ein in tel-li gen tes Tier muumlss ten wir die Reich wei te der Mo ral eben so auf die raquoan de ren Tie relaquo aus deh nen Ha ben wir nicht nach und nach ge lernt die Skla ve rei zu aumlch ten und Frau en als gleich be rech tig-te Men schen zu ach ten Und ist es nun nicht an der Zeit neu uumlber Tie re nach zu den ken und sie mo ra lisch an ge mes sen zu be-ur tei len

Doch wie koumlnn te ein sol cher an ge mes se ner Um gang mit den an de ren Tie ren aus se hen Den Men schen als ein Tier un ter an-2

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de ren an zu se hen koumlnn te ja auch be deu ten ihn ab zu wer ten statt die Tie re mo ra lisch erns ter zu neh men Das Un heil des So zi-al dar wi nis mus und der bar ba ri schen Ras sen the o rie ste ht uns mah nend vor Au gen Und was ist uumlber haupt das Kri te ri um da-fuumlr Tie re mo ra lisch zu ach ten Ist es ihre Lei dens fauml hig keit ihr Le bens wil le oder ihre In tel li genz Ha ben klu ge Tie re ein houml he-res Le bens recht als duumlm me re Das Ver haumllt nis des Men schen zu den an de ren Tie ren neu zu be wer ten ist eine gro szlige und schwie-ri ge Auf ga be

Ich moumlch te in die sem Buch ver su chen die se Fra gen neu zu stel len und zu durch den ken Da bei be trach te ich den Men schen als ein be son de res Tier un ter vie len auf an de re Wei se be son de ren Tie ren Ich moumlch te mich nicht da rauf fest le gen den Men schen all ge mein uumlber be stimm te Ei gen schaf ten zu de fi nie ren die ihn ethisch wert voll ma chen sol len Ich moumlch te ihm aber auch nicht im Um kehr schluss alle ge mein hin als raquomensch lichlaquo be zeich ne ten Ei gen schaf ten ab spre chen weil nicht alle Men schen Trauml ger all die ser Ei gen schaf ten sind Viel leicht ist be reits das Su chen nach sol chen ex klu si ven Ei gen schaf ten der fal sche Weg Der Denk-feh ler koumlnn te be reits da rin lie gen ei gen staumln di ge Dis zip li nen wie raquoAnth ro po lo gielaquo oder raquoMo ral phi lo so phielaquo be trei ben zu wol len die eine sol che enge De fi ni ti on des Men schen vo raus set zen Waumlre es nicht bes ser die Enge des Be griffs zu spren gen Statt Anth-ro po lo gie zu be trei ben soll te man sich lie ber mit ei ner Anthroshyzo o lo gie be schaumlf ti gen ndash eine Leh re vom Men schen tier und den an de ren Tie ren

Der Be griff ist neu er wur de erst vor we ni gen Jah ren un ter an de rem von dem US-ame ri ka ni schen Psy cho lo gen Hal Her zog ein ge fuumlhrt3 Die neue Dis zip lin der Hu manshyAni mal Stu dies kon-zent riert sich weit rei chend da rauf was Men schen und an de re Tie re ver bin det Da bei ver wen de ich den Be griff raquoAn thro zo o-lo gielaquo al ler dings et was an ders als Her zog und die Ver tre ter der Hu man-Ani mal Stu dies Es ist ein et was ein touml ni ger Sport al les 3

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 229783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 22 10082021 10493410082021 104934

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was ge mein hin als raquomensch lichlaquo be trach tet wird als My thos zu ent zau bern Ich moumlch te es lie ber an ders ein bet ten und be wer ten Denn ich mei ne dass die Ver tre ter der Hu man-Ani mal Stu dies ihre De fi ni ti on des Men schen als ein Tier un ter Tie ren nicht ganz zu Ende den ken Denn waumlre der Mensch durch nichts Mensch-li ches grund saumltz lich vom Tier un ter schie den wie sie an neh men so lieszlige sich auch nicht ein for dern dass Men schen sich aus vershynuumlnf ti ger Ein sicht an ge mes sen ge gen uumlber Tie ren ver hal ten sol len

Um mensch li ches Han deln zu ver ste hen muumls sen wir ver ste-hen in wel chem Rah men Men schen die Welt se hen sich ori en-tie ren und han deln Die bei den ers ten Tei le des Bu ches skiz zie-ren die sen bi o lo gi schen und den kul tu rel len Rah men In ih nen moumlch te ich zei gen auf wel che Art und Wei se Men schen sich un-ter Tie ren ver hiel ten und ver hal ten Da bei be schaumlf tigt sich der ers te Teil mit der Fra ge was fuumlr ein spe zi el les Tier der Mensch ei gent lich ist Wie ist sei ne Rol le in der Evo lu ti on Und nach wel chen Denk mus tern ha ben Men schen die se Chro nik un se rer selbst seit der An ti ke ge schrie ben (Die Ord nung der Schoumlpshyfung) Wel che Stel lung hat sich Homo sap iens in der Na tur da-durch ge si chert dass er sie sich zu schrieb (Der Pri mat)

In je der mensch li chen Wis sen schaft vom Le ben be steht bis heu te still schwei gend oder laut hals ver kuumln det zwi schen Mensch und Tier eine Gren ze Doch weiszlig we der die E vo lu ti ons bi o lo-gie noch die Pal aumlo anth ro po lo gie mit Ge wiss heit zu sa gen an wel chem Punkt sich nur ani ma li sches von mensch li chem Le ben schei det Was ha ben Pal aumlo anth ro po lo gen in den letz ten hun dert Jah ren da ruuml ber ge glaubt Und was den ken sie heu te (Der aufshyrech te Affe) Da bei wer den wir se hen dass es mit der Gren ze zwi schen dem Men schen und den an de ren Tie ren eine aumlu szligerst komp li zier te Sa che ist Seit Jahr zehn ten mes sen und ver glei chen Ver hal tens for scher die kog ni ti ven Leis tun gen von Tie ren mit je-nen des Men schen mit dem uumlber ra schen den Er geb nis dass Tie re in na he zu al len raquowich ti genlaquo Punk ten un ter le gen sind bei Kul tur-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 239783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 23 10082021 10493410082021 104934

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leis tun gen wie Werk zeug ge brauch und Re li gi on eben so wie beim Er werb der mensch li chen Spra che Doch ha ben wir bei sol chen Mes sun gen tat saumlch lich den rich ti gen den fai ren Maszlig stab Ist es sinn voll die In tel li genz von Men schen af fen mit uns zu ver glei-chen (Sinn und Sinn lich keit)

Die Mo le ku lar ge ne tik zeigt uns dass Men schen bi o lo gisch Schim pan sen sind Wel che Kon se quen zen zie hen wir da raus (Eins Kom ma sechs Pro zent) Nach dem wir den Men schen auf die se Wei se bi o lo gisch ein ge kreist ha ben wer fen wir noch ei nen Blick da rauf wie ob jek tiv un ser Wis sen vom Men schen und den an de ren Tie ren ist Was koumln nen wir uumlber haupt uumlber das Be wusst-sein an de rer Tie re wis sen Stellt es nicht eine so gro szlige Bar ri e re dar dass wir zu ge ben muumls sen nichts De fi ni ti ves sa gen zu koumln-nen (Die Tuuml cke des Sub jekts)

Im zwei ten Teil wer fe ich ei nen Blick in die Kul tur ge schich te des Mensch-Tier-Ver haumllt nis ses Was ha ben Men schen zu wel cher Zeit uumlber Tie re ge dacht und wa rum Wie hat man sie be han delt Und wel che Sen si bi li taumlt oder Kaumll te setz te sich wa rum durch Was wis sen wir da ruuml ber aus der Jung stein zeit (Die Tund ra des Ge wis sens) Was glaub ten und dach ten die al ten Aumlgyp ter (raquoIch habe kein Tier miss han deltlaquo) Und wa rum ent zau ber te das alte Ju den tum die Tie re (Hir ten und Herr scher)

In der abend laumln di schen Phi lo so phie gibt es seit der An ti ke sehr un ter schied li che Deu tun gen von Tie ren Mal se hen die Den ker eine gro szlige spi ri tu el le oder na tur ge schicht li che Naumlhe mal er he-ben sie den Menschen qua sei ner Ver nunft zum un ein ge schraumlnk-ten Wel ten herr scher (Das ver lo re ne Pa ra dies) In der christ li chen Re li gi on da ge gen wer den Men schen und Tie re deut lich von ei-nan der ge schie den eine Son der an fer ti gung hier eine Drein ga-be dort Das Chris ten tum ent fernt die tier freund li chen Mo men-te der juuml di schen Re li gi on aus den Glau bens leh ren (raquoKuumlm mert sich Gott etwa um die Och senlaquo) An ders ver laumluft der Weg in In di en Chi na und Suumld ost a si en Das Welt bild und die Tier ethik

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von Hin dus und Bud dhis ten un ter schei den sich von der un se-ren (Schein hei li ge Kuumlhe) Im Abend land da ge gen do mi niert in der Nach fol ge des fran zouml si schen Phi lo so phen Reneacute Des car tes eine raquora ti o na lis ti schelaquo kal te Pers pek ti ve auf das Tier Tie re weil sie nicht ver nunft fauml hig sei en wer den kaum noch als Le be we sen wahr ge nom men ndash eine Po si ti on die im 18 Jahr hun dert al ler-dings ziem lich kont ro vers dis ku tiert wird (Die Den ker und das lie be Vieh) Nach und nach ent ste hen im spauml ten 18 Jahr hun dert eine neue Mit leids ethik und so gar ers te For de run gen nach Rech-ten fuumlr Tie re (raquoKoumln nen sie lei denlaquo)

Im drit ten Teil moumlch te ich eine ei ge ne ethi sche Hal tung ent-wi ckeln Zu naumlchst wer den The o ri en von Phi lo so phen des 20 Jahr hun derts vor ge stellt die wie Al bert Schweit zer raquoEhr furcht vor dem Le benlaquo ver lan gen oder Tie ren ei nen ho hen mo ra li schen Sta tus zu spre chen wie Pe ter Sin ger und Tom Re gan (Das ei sershyne Tor) Die se Po si ti o nen zwin gen dazu grund saumltz li cher da ruuml-ber nach zu den ken was das raquoTier rechtlaquo vom raquoTier schutzlaquo un-ter schei den soll (Schutz oder Recht) An schlie szligend moumlch te ich die Schwach stel len der gaumln gi gen Tier rechts phi lo so phi en he raus-ar bei ten und zei gen wa rum ich sie we der dem Men schen fuumlr an-ge mes sen hal te noch fuumlr all ge mein prak ti ka bel (Eine art ge rech te Mo ral) Da ran schlie szligen sich mei ne Uumlber le gun gen an was ein an ge mes se ner Um gang mit Tie ren sein koumlnn te (Gut besser am besten)

Sol cher ma szligen ge ruumls tet koumln nen wir uns im vier ten Teil mit den vie len Prob le men be fas sen die sich im All tag stel len Das ers te die ser Ka pi tel bi lan ziert das all taumlg li che Cha os im Um gang mit Tie ren (Lie ben ndash Has sen ndash Es sen) Da nach wen den wir den Blick auf die recht li che Si tu a ti on und un ter zie hen die Lo gik un-se res Tier schutz ge set zes ei ner ge nau e ren Pruuml fung (Ein kur zer Text uumlber das Touml ten) Das naumlchs te Ka pi tel gilt der Jagd Ist Ja gen art ty pi sches Ver hal ten des Men schen oder eine staat lich le gi ti-mier te Per ver si on (Na tur schutz oder Lust mord) Und wie sieht

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es mit un se rer Er naumlh rung aus Wel che Ar gu men te spre chen da-fuumlr dass Men schen in un se ren heu ti gen west li chen Ge sell schaf-ten noch Tie re touml ten duumlr fen um sich von ih nen zu er naumlh ren Und wel che Ar gu men te spre chen da ge gen Viel leicht gibt es so gar schon in Kuumlr ze ei nen Aus weg der uns end lich hilft die Mas sen-tier hal tung zu be sei ti gen (Jen seits von Wurst und Kaumlse) Eben so stellt sich die Fra ge un ter wel chen Um staumln den Tier ver su che zu-kuumlnf tig er laubt sein soll ten und un ter wel chen nicht (Das Tier als Dum my) Ist es mo ra lisch ver tret bar Tie re in Zo o lo gi schen Gaumlr ten zu hal ten Und wenn ja wel che und wel che nicht (Alshycat raz oder Psycho top) Zoos ver ste hen sich heu te als raquoNa tur-schutz zent renlaquo die Tie re er hal ten die in ih ren Hei mat laumln dern vom Aus ster ben be droht sind Wie ist dies zu be wer ten (Das Zeit al ter der Ein sam keit) Da bei sto szligen wir auf die Schwie rig-keit dass Tier schutz Tier recht und Ar ten schutz kei ne na tuumlr li-chen Ver buumln de ten sind son dern sich in ih rer Phi lo so phie ih rer Welt an schau ung und ih ren Ziel set zun gen stark un ter schei den (Das un ver soumlhn li che Tri um vi rat) Das Schluss wort bi lan ziert die se Er kennt nis se und fragt was wir aus al le dem prag ma tisch fol gern soll ten und in wel chen Schrit ten es ge sche hen koumlnn te (Scho pen hau ers Trep pe)

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Das Men schen tier

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Wahr heit zu hal ten Aber die ses Bild hat sich schon oft ver aumln-dert und es wird sich ge wiss noch wei ter ver aumln dern

Men schen nei gen dazu die Welt in der sie le ben auf zu raumlu-men Es ist eine ziem lich art ty pi sche Ver hal tens wei se Wir sor tie-ren die all taumlg li chen Din ge un se res Le bens und eben so sor tie ren wir die Ge dan ken uumlber die Welt die uns um gibt Jede Ord nung auch die der Na tur ist also ein mensch li cher Ent wurf Und al-lem An schein nach ent stand das Be duumlrf nis die Welt zu ord nen in un se rer Ent wick lungs ge schich te pa ral lel zur Ent wick lung der Spra che Denn ohne die kuumlnst li che Auf raumlum ar beit der Spra che waumlre die Vor stel lung von ei ner raquoOrd nung der Schoumlp funglaquo oder der raquoNa turlaquo nicht moumlg lich

Wer auf die Ord nung an ge wie sen ist be wegt sich gern in den si che ren Gren zen ei nes Sys tems Nur in ner halb ei nes sol chen Ord nungs ge fuuml ges fragt man nach Wahr heit und Gel tung Rich-tig keit Me tho de und Be deu tung Zu leicht uumlber sieht der Ord ner dann die kuumlnst li che Be hau sung und die selbst ge zim mer ten Re-ga le in die er die Welt so sorg faumll tig hi nein sor tiert Sel ten ge lingt ihm ein Blick aus dem Fens ter in die un ge wis se Land schaft die ihn um gibt Und nur ein ge wal ti ger Sturm ein Blitz schlag oder eine Er schuumlt te rung zwingt den Ver wal ter der Welt die si che re Wohn statt zu ver las sen und sich ein an de res Haus zu bau en das den An fein dun gen des neu en Kli mas wi der steht

Erst im Ruumlck blick auf die vie len Irr tuuml mer der Ver gan gen heit er ken nen wir dann un se re ei ge ne Un zu laumlng lich keit beim Auf-raumlu men In der Ge gen wart er scheint uns die je wei li ge Ord nung meis tens so selbst ver staumlnd lich dass wir gern uumlber jede Moumlg-lich keit der Ver aumln de rung lauml cheln So ha ben Men schen mit voumll li-ger Ge wiss heit an ge nom men dass die Erde eine Schei be ist und dass Frau en und Skla ven kei ne Rech te zu ste hen Und mit ei nem eben sol chen Lauml cheln be trach ten wir heu te die Gruumln de mit de-nen Men schen sich im Lau fe der Jahr hun der te von den Tie ren zu un ter schei den glaub ten

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Schon die al ten Grie chen ins be son de re Aris to te les (384 v Chr ndash 322 v Chr) ha ben sich fuumlr die Ge schich te und das in vie len De tails ver bor ge ne Sys tem der Na tur in te res siert Er teilt die Tie re in Klas sen ein ver sucht zu er gruumln den was Le ben ist und schafft da mit die Grund la gen der Zo o lo gie Aber Aris to te-les kennt nur we ni ge hun dert Tie re Eine raquovoll staumln di ge Na tur-ge schich telaquo wird das ers te Mal im 18 Jahr hun dert ge schrie-ben ndash und auch sie ist aumlu szligerst un voll staumln dig Seit dem ver fuuml gen wir nicht nur uumlber ei nen rei chen Vor rat an ge dach ten Ord nun-gen von den Schoumlp fungs my then bis hin zur Mo le ku lar bi o lo gie Wir ken nen auch eine Wis sen schaft die sich raquoTax ono mielaquo nennt und jede Pfan ze und je des Tier sys te ma tisch in eine In ven tar liste der Na tur ein traumlgt

Da bei ver ra ten die Denk sche ma ta der Na tur for scher nicht nur et was uumlber die klas si fi zier te Na tur selbst son dern eben so uumlber das Ord nungs be duumlrf nis und die Pfif fig keit des mensch li-chen Geis tes Das 18 Jahr hun dert ist eine Zeit in der das Buumlr-ger tum an die Macht draumlngt und sich zu neh mend ge gen den Adel auf ehnt Sei ne schaumlrfs te Waf fe ist et was das man raquoVer nunftlaquo oder raquoRa ti o na li taumltlaquo nennt und das man ge gen den Glau ben ins Feld fuumlhrt Fuumlr die Phi lo so phen der Ra ti o na li taumlt ist die Welt kei-ne vor ge fun de ne Schoumlp fung mit fes ter Ord nung son dern et was dass man geis tig durch drin gen und auf sei ne Lo gik und Wi der-spruuml che un ter su chen kann Da bei ge ben zu naumlchst die Phy sik und die Ma the ma tik das Sche ma vor nach dem alle Er kennt nis auch jene von Pfan zen und Tie ren funk ti o nie ren soll Die Sys te ma ti-ker der Na tur ge schich te su chen nach un ver ruumlck ba ren Kri te ri en ob jek ti ven Ge setz mauml szligig kei ten und lo gi schen Ver bin dun gen um die un uuml ber sicht li che Welt der Le be we sen ih rer raquowah ren An ord-nunglaquo ge maumlszlig ein zu tei len Aber nicht alle Na tur for scher glau-ben dass ein sol ches Vor ha ben tat saumlch lich ge lin gen kann Man-che hal ten die Na tur fuumlr zu reich hal tig um sie auf die se Wei se zu klas si fi zie ren Welt an schau un gen tref fen auf ei nan der auf der

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ei nen Sei te der Glau be an ein vom Men schen prin zi pi ell voumll lig durch schau ba res Na tur sys tem auf der an de ren Sei te eine un er-gruumlnd li che Schoumlp fung in der der Mensch sich im mer nur tas-tend fort be wegt

Die ers te Va ri an te gilt im 18 Jahr hun dert als der mo der ne-re An satz Man ori en tiert sich da bei an ei nem Ra ti o na lis mus den Reneacute Des car tes (1596 ndash 1650) schon hun dert Jah re zu vor neu be gruumln det hat Die ser Ra ti o na lis mus ori en tiert sich an der Me cha nik Die Schoumlp fung Got tes er scheint als eine ein zi ge klug aus ge tuumlf tel te Ma schi ne die der Mensch Stuumlck fuumlr Stuumlck zu be-herr schen lernt Und das Uni ver sum be steht aus Ma te rie in Be-we gung or ga ni siert nach ma the ma ti schen Ge set zen Ob gleich das 18 Jahr hun dert zent ra le Spe ku la ti o nen des Phi lo so phen wi-der legt ori en tiert es sich in vie lem an Des car tesrsquo me cha nis ti scher Denk wei se Sie tut dies vor zugs wei se in je nen Dis zip li nen de-ren Er kennt nis fort schritt zu naumlchst ge ring bleibt Und nir gend-wo trifft dies in ei nem sol chen Maszlig zu wie bei der Er for schung der bi o lo gi schen Na tur

Doch die ses Welt bild hat prob le ma ti sche Fol gen Wer die Welt kon se quent nach me cha nis ti schen Grund saumlt zen be trach tet hat fuumlr den Be reich der nicht mensch li chen Na tur we nig Ver staumlnd nis Fuumlr Des car tes sind Tie re nichts als Ma schi nen Es macht kei nen Un ter schied ob eine Ma schi ne die aumlu szlige re Ge stalt und die in ne-ren Or ga ne ei nes Af fen hat oder ob es sich da bei tat saumlch lich um ein le ben des Tier han delt Denn relevantes Le ben kommt fuumlr den Den ker nicht durch zir ku lie ren des Blut und Reizempfindungen in den Koumlrper Son dern bedeutsames Le ben ga ran tie ren ein zig und al lein der er leuch te te Geist und sei ne Spra che

Des car tesrsquo Zeit kennt we der den Be griff des raquoOr ga nis muslaquo die Be son der heit des Le bens noch die Evo lu ti on son dern eben nur die Me cha nik Trotz dem ist sei ne The o rie von den Tie ren als see len lo se Au to ma ten im 17 und 18 Jahr hun dert aumlu szligerst um-strit ten Fran zouml si sche Phi lo so phen schrei ben Buch um Buch uumlber

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die Tier-Fra ge und be feh den sich da bei uumlber mehr als hun dert Jah re Noch weiszlig man nichts von ei ner raquoBi o lo gielaquo Man be treibt eine neue Dis zip lin die sich raquoNa tur ge schich telaquo nennt und da-mit auf raumlumt die Ge schich te von Le be we sen als eine wahl lo se Samm lung von Er zaumlh lun gen an zu se hen Bis her schrie ben Au to-ren um stands los von der Fang wei se der Tie re ih rer Ana to mie ih rer bib li schen und al le go ri schen Be deu tung ih rem prak ti schen Ge brauch ih rer Ver meh rung ih ren Stim men und Spra chen ih-ren Be we gun gen ih rem Al ter und von der Sym pa thie oder An-ti pa thie des Ver fas sers Auch Koch re zep te wur den von Fall zu Fall hin zu ge fuumlgt

Ein zo o lo gi sches Sys tem ist zu An fang des 18 Jahr hun derts weit ge hend un be kannt die Ver wandt schafts ver haumllt nis se der Pfan zen und Tie re sind dif fus ge ahnt und wer den eher nach Le-bens raumlu men be stimmt als nach koumlr per li chen Merk ma len Tie re die nachts ja gen ste hen da bei eben so in ei nem Ord nungs ge fuuml ge wie Tie re die fie gen koumln nen im Wald oder in ei nem See le ben Be reits die Pries ter schrift der bib li schen Ge ne sis hat te die Welt der Tie re und Pfan zen nicht nach ana to mi schen Merk ma len un-ter teilt son dern in Be zug auf den Le bens raum Pfan zen und Tie re des Mee res der Luft und der Erde Uumlber mehr als tau send Jah re kann ten auch der Is lam und die Hin dus Ord nungs sys teme die Tie re in ih rem Oumlko sys tem ver an ker ten

In der hin du is ti schen Samk hya-Tra di ti on exis tie ren vier zehn Klas sen un ter schied li cher Le be we sen ein ge teilt in acht For men himm li scher und sechs ir di scher Le be we sen zu de nen auch der Mensch ge houmlrt Als wei te res Un ter schei dungs merk mal dient die Art und Wei se der Ge burt Im gro szligen in di schen Na ti o nal epos aus dem 4 Jahr hun dert dem Ma hab har ata heiszligt es raquoAuf die ser Erde gibt es zwei Ar ten von Le be we sen die Be weg li chen und die Un be weg li chen Die Be weg li chen ha ben ei nen drei fa chen Schoszlig Sie sind aus dem Ei aus feuch ter Hit ze und Le ben dig-Ge bo re ne Von al len be weg li chen Le be we sen wie de rum sind die je ni gen die

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 339783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 33 10082021 10493410082021 104934

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le ben dig ge bo ren sind hellip die bes ten Die bes ten un ter den le ben-dig Ge bo re nen sind die die zum Men schen ge schlecht ge houml ren und die Nutz tie relaquo4

Die neu en Sys te me des 18 Jahr hun derts be frei en die Na tur-ge schich te von al lem was sich mit den Me tho den der Zeit nicht wis sen schaft lich exakt be schrei ben laumlsst Koch re zep te fal len so-wie so un ter den Tisch aber auch man che Ver hal tens be ob ach-tun gen und vor mals wich ti ge Ei gen schaf ten wie zum Bei spiel der Ge ruch Ge forscht wird mit Lupe und Mik ros kop Li ne al und Pin zet te Der wich tigs te Mann auf die sem Ge biet ist der schwe-di sche Na tur for scher Carl von Linneacute (1707 ndash 1778) Er ori en-tiert sich an Aris to te les den er be wun dert nicht an Des car tes Ge ra de zu re vo lu ti o naumlr de mo kra tisch ent wi ckelt der auf ge klaumlr te Schwe de im 18 Jahr hun dert ein be schrei ben des Sys tem der Na-tur frei vom the o lo gi schen Fir le fanz sei ner Zeit Mit der Ak ri bie ei nes Brief mar ken samm lers dem Voll staumln dig keit mehr be deu tet als das Be stau nen ein zel ner Wer te ord net er die be leb te Na tur nach Ar ten Gat tun gen Ord nun gen und Klas sen Vier Va ri ab len die Form der Ele men te ihre An zahl die raumlum li che An ord nung der Ele men te und ihre re la ti ve Grouml szlige be stimm ten von nun an den Platz im Sys tem

Un ter der Leit dis zip lin der Bo ta nik wan delt sich die Na tur ge-schich te in eine ge ord ne te Welt aus Li ni en und Flauml chen Ent schei-dend sind die sicht ba ren Un ter schei dungs merk ma le wie Bluuml ten und Staub ge fauml szlige Blaumlt ter und Fruumlch te Fuumlszlige und Hufe Fe dern und Flos sen So setzt Linneacute fuumlr jede Pfan zen- und Tier klas se jede Ord nung und Gat tung be stimm te Merk ma le fest die er als die wich ti ge ren er ach te t Denn nur un ter der An nah me sol cher pri vi-le gier ter Struk tu ren ist es ihm moumlg lich die ver schie de nen Spe zi es im Ge samt sys tem un miss ver staumlnd lich zu ras tern Der mensch li che Ord ner be schreibt also nicht ein fach die be leb te Na tur Er fuumlgt ihr auch et was hin zu die Ent schei dung naumlm lich was in der For men-viel falt der Le be we sen wich ti ge Merk ma le sind und was nicht4

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 349783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 34 10082021 10493410082021 104934

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Wie alle da ma li gen Na tur for scher nimmt Linneacute an dass die Ein tei lun gen die der mensch li che Ver stand macht tat saumlch lich ei ner ob jek ti ven Ord nung der Na tur ent spre chen Doch Lin neacutes Sys tem ist wie er selbst weiszlig nicht raquona tuumlr lichlaquo Sei ne Struk tu ren sind kei ne die er in der Na tur als Un ter schei dungs kri te ri en vor-fin det Denn was sich am Schreib tisch nun muumlh sam in Ord nun-gen pres sen laumlsst liegt wie der fran zouml si sche Na tur for scher Mishychel Adan son (1727 ndash 1806) fest stellt in der Wild nis wie Kraut und Ruuml ben durch ei nan der raquohellip eine kon fu se Mi schung aus We-sen hellip die der Zu fall ei nan der an ge nauml hert zu ha ben scheint Hier wird das Gold mit ei nem an de ren Me tall mit ei nem Stein oder mit Erde ge mischt Dort waumlchst die Ei che ne ben dem Veil chen Un ter die sen Pfan zen ir ren eben falls der Vier fuumlszlig ler das Rep til und das In sekt um her Die Fi sche mi schen sich so zu sa gen mit dem waumlss ri gen Ele ment in dem sie schwim men und mit den Pfan zen die auf dem Grun de der Ge waumls ser wach sen hellip Die se Mi schung ist so gar so all ge mein und so viel faumll tig dass sie ei nes der Na tur ge set ze zu sein scheintlaquo5

Der Wi der spruch zwi schen ei ner tax ono mi schen und ei ner oumlko lo gi schen Ord nung der Na tur ist of fen sicht lich Er fin det sich noch heu te in der Dis kus si on um die Aumls the tik von Zoo an la gen Soll man die Tie re nach Ver wandt schafts ver haumllt nis sen sam meln also in Raub tier haumlu sern An ti lo pen haumlu sern und Hirsch an la gen so dass der Be su cher zwi schen den ana to mi schen Be son der hei-ten der Ar ten ndash mit un ter so gar den ge o gra fi schen Va ri an ten ei ner ein zi gen Art ndash zu un ter schei den lernt Oder ge waumlhrt die Nach-ge stal tung ei nes Na tur bi o tops ei ner af ri ka ni schen Sa van ne oder ei nes al pi nen Pa no ra mas den wich ti ge ren Ein blick in die Ord-nung der Na tur

Zwar steht fuumlr Linneacute und sei ne Kol le gen fest dass die raquowah-re Ord nunglaquo der Na tur sich an den koumlr per li chen Merk ma len zu ori en tie ren hat doch muss eine Er klauml rung da fuumlr ge fun den wer-den wa rum die se Ord nung in der frei en Na tur nicht von al lein 5

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sicht bar wird Ohne Zwei fel ist das Sys tem der Na tur kei ne zeit-lo se Schoumlp fung son dern durch Ver aumln de run gen ge kenn zeich net die sich in der Erd ge schich te er eig net ha ben Pa ral lel meh ren sich die Fun de von Fos si li en also von Tie ren die mut maszlig lich aus-ge stor ben sind Es hat al lem An schein nach grouml szlige re ge o lo gi sche Ka tast ro phen in un be kann ter Zahl ge ge ben de nen vie le Ar ten zum Op fer ge fal len sind Doch ha ben die se De sas ter auch zur Ent ste hung von neu en For men ge fuumlhrt

Um den Fak tor der Zeit und sei ne Fol gen fuumlr das Sys tem der Na tur ein zu schaumlt zen gibt es vie le Moumlg lich kei ten Die ein fachs te und mensch lichs te al ler zeit li chen Ord nungs vor stel lun gen ist die Idee al les fol ge ei nem Plan und sei auf ein Ziel hin aus ge rich-tet (Te le o lo gie) Re li gi o nen Phi lo so phi en und Ide o lo gi en funk-ti o nie ren na he zu al le samt ziel ge rich tet Es geht um ein bes se res Le ben auf Er den im Jen seits in ei nem ge rech ten Staat um die Herr schaft uumlber die an de ren uumlber die Pro duk ti ons mit tel oder das Boumlse Selbst un ser All tag ge stal tet sich weit ge hend te le o lo-gisch durch traumlnkt von zu kuumlnf ti ger Er war tung Mo tor jed we-der Te le o lo gie ist der Fort schritts ge dan ke Sein ima gi nauml res Ziel ist der voll kom me ne Zu stand So glau ben christ lich-abend laumln-di sche Ge sell schaf ten gern an eine staumln di ge Ver bes se rung durch An stren gung eine Tu gend die nach cal vi nis ti scher Tra di ti on im Him mel wie auf Er den von Gott ma te ri ell ent lohnt wird Wie na he lie gend also auch in der Na tur die Ent ste hung raquohouml he rerlaquo Le bens for men durch Fort schritt er ken nen zu wol len mit dem End ziel des Men schen

Die Un ord nung der Schoumlp fung mit ei nem goumltt li chen Fort-schritts plan in Ein klang zu brin gen ist das Le bens werk des Schwei zer Na tur for schers und Phi lo so phen Charles Bon net (1720 ndash 1793) Fuumlr Bon net ist die Zahl der Ar ten und ihre aumlu-szlige re Ge stalt von Gott ein fuumlr al le Mal fest ge legt Doch kann sich ein je des Le be we sen per fek ti o nie ren Der Weg vom simp-len Ge muumlt zur ge ni a li schen Leis tung ist vom Schoumlp fer vor ge-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 369783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 36 10082021 10493410082021 104934

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zeich net Und alle Tie re be schrei ten ihn zeit lich ver setzt nach dem glei chen Mus ter das der Mensch ih nen vor ge lebt hat raquoEs wird ei nen mehr oder we ni ger lang sa men und kon ti nu ier li chen Fort schritt al ler Ar ten zu ei ner houml he ren Ver voll komm nung ge-ben so dass alle Gra de der Stu fen lei ter in ei ner de ter mi nie ren den und kons tan ten Be zie hung fort ge setzt va ri a bel sein wer den hellip Es wird un ter den Af fen Leu te wie New ton und un ter Bi bern wie (den Fes tungs bau meis ter RDP) Vau ban ge ben Die Aus-tern und die Po ly pen wer den in Be zie hung zu den houmlchs ten Ar-ten das sein was die Vouml gel fuumlr die Vier fuumlszlig ler im Ver haumllt nis zum Men schen sindlaquo6

Seit Bon net ist die Vor stel lung von der raquoLei ter der Na turlaquo der Sca la nat urae ein wich ti ges In ven tar des na tur ge schicht-li chen Den kens Fort schritt Ver voll komm nung und goumltt li cher Plan ndash die se drei Grouml szligen be stim men die Vor stel lung vom Wer-den der Na tur vom 18 Jahr hun dert bis in die Ge gen wart hi nein Das Prin zip nach dem die Evo lu ti on Le ben her vor bringt sei un ver meid lich und von An fang an vor her be stimmt Nicht we-ni ge E vo lu ti ons the o re ti ker ha ben dies eben falls ge glaubt und zwar mit be acht li cher Kon ti nu i taumlt Der eng li sche Na tur for scher Alf red Rus sel Wall ace (1823 ndash 1913) der ge mein sam mit Dar win die The o rie der na tuumlr li chen Se lek ti on ent wi ckelt hat te hielt nicht nur den mensch li chen Geist und sein Mo ral emp fin den son dern zu dem auch die wei che nack te emp find sa me Haut des Men-schen fuumlr das Re sul tat ei ner not wen di gen Ent wick lung

Doch schon im 18 Jahr hun dert reg ten sich zu gleich vor sich-ti ge Zwei fel an der Stim mig keit ei ner sol chen Vor ge formt heit Denn wie soll te man Na tur ka tast ro phen be wer ten Waumlh rend die meis ten Na tur for scher sie als Teil des goumltt li chen Schoumlp-fungs plans in ter pre tier ten zo gen an de re ver gleichs wei se fins te-re Schluumls se Und so wur de tat saumlch lich ein gro szliges Erd be ben zum in di rek ten Aus louml ser der Evo lu ti ons the o rie naumlm lich je nes von Lis sa bon im Jahr 1755 Wer uumlber die Ka tast ro phe nach dach te 6

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konn te star ken Zwei fel da ran he gen dass die Welt ord nung aus-ge kluuml gelt und har mo nisch sei

Die wei test rei chen den Schluss fol ge run gen zog der eng li-sche Pfar rer und Na ti o nal oumlko nom Tho mas Ro bert Malt hus (1766 ndash 1834) Nicht nur die ge o lo gi sche Na tur und ihr Ge-fah ren ri si ko son dern auch die Ver meh rung der Be voumll ke rung wur de nun als Uumlbel er kannt Im Jahr 1798 pub li zier te Malt-hus sei nen Es say on the Princi ple of Po pu la ti on (Das Be voumllshyke rungs ge setz) die ers te Mahn schrift vor den Ge fah ren ei ner Be voumll ke rungs ex plo si on Bei ei ner Ver dop pe lungs ra te der Welt-be voumll ke rung in ner halb von fuumlnf und zwan zig Jah ren er rech ne-te Malt hus wer de ihr exponent iel les An wach sen auf grund der von der Um welt ge setz ten Gren zen not wen dig zu Ar mut Ka-tast ro phen und Tod fuumlh ren Der bib li sche Auf trag raquoSeid frucht-bar und meh ret euchlaquo er schien mit ei nem Mal als ein Fluch Ein gna den lo ser raquoKampf ums Da seinlaquo (strugg le for life) war ent fes selt Das Ein zi ge was blieb war die Hoff nung die ka-tast ro pha len Fol gen der goumltt li chen An wei sung so weit wie moumlg lich ein daumlm men zu koumln nen

In ei ner Zeit als die Ge sell schafts the o rie noch der Bi o lo-gie den Leuch ter vo ran und nicht wie heu te die Schlep pe hin-terh er traumlgt be geis tert sich vor al lem ein eng li scher Dorf pfar rer Charles Dar win (1809 ndash 1882) fuumlr die Malt hus rsquoschen Ge set ze Denn wenn es rich tig ist dass sich ein Tier mit ei ner so ge rin-gen Ver meh rungs ra te wie der Mensch ge gen uumlber sei nen Art ge-nos sen durch setz te so gab es sicht lich an de re Kri te ri en fuumlr die Uumlber le bens fauml hig keit ei ner Po pu la ti on als die Zahl ih rer Ge bur-ten Der Maszlig stab fuumlr den Er folg ei ner Spe zi es war ihr Durch set-zungs ver mouml gen oder wie Dar win es spauml ter in den Prin zi pi en der Bio logie des jun gen Phi lo so phen Her bert Spen cer (1820 ndash 1903) le sen konn te raquothe sur vi val of the fit testlaquo

Dar wins na tur kund li che Stu di en wa ren ur spruumlng lich von dem Ge dan ken be seelt die nicht a ni ma li sche Iden ti taumlt des Men schen

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 389783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 38 10082021 10493410082021 104934

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zu be wei sen Erst der Sieg des Ent de cker stol zes uumlber das Ent-set zen ver lieh ihm schlieszlig lich den Mut den be ruumlhm ten Satz zu schrei ben raquoUnd ich bin bei na he uumlber zeugt (der Mei nung mit der ich an die Fra ge he ran ge tre ten bin voumll lig ent ge gen ge setzt) dass die Spe zi es (mir ist es als ge staumln de ich ei nen Mord ein) nicht un ver aumln der lich sindlaquo7

Dar wins kuumlh ne Ver mu tung war nicht ganz neu Be reits ein hal bes Jahr hun dert zu vor hat ten der fran zouml si sche Na tur for scher GeorgesshyLou is Lec lerc Comte de Buf fon (1707 ndash 1788) und der Phi lo soph De nis Dide rot (1713 ndash 1784) uumlber eine Ver aumln de-rung der Ar ten spe ku liert Be son ders JeanshyBap tiste de La marck (1744 ndash 1829) be haup te te die all maumlh li che Ent wick lung der Ar-ten aus pri mi ti ve ren Vor for men die so ge nann te Trans mu ta ti on La marck war nicht nur ein Pi o nier der mit Jahr mil li o nen han-tier te als alle Welt die Erde noch ei ni ge tau send bis hun dert tau-send Jah re jung waumlhn te son dern er praumlg te (zur glei chen Zeit wie zwei deut sche Na tur for scher) das Wort Bi o lo gie Bei ihm wan del ten sich die Le be we sen da durch dass sich ihre koumlr per-li chen An stren gun gen auf ihr Erb gut aus wir ken Da bei nahm er al ler dings nicht an dass die Ar ten aus ei nan der her vor ge hen wie Dar win es spauml ter tat La ma rcks The o rie ist nauml her an je ner von Bon net Fuumlr ihn ver voll komm nen die ein zel nen Tier ar ten im Lau fe der Zeit ihre An la gen und ent wi ckeln sich da durch im-mer houml her Be son ders voll kom me ne Tie re wie der Mensch sind dem nach sehr alt denn sie ha ben ei nen wei ten Weg von ei nem pri mi ti ven Or ga nis mus bis hin zur heu ti gen Ge stalt hin ter sich ge las sen An de re wie der pri mi ti ve Suumlszlig was ser po lyp ha ben ihre Rei se durch die Zeit ge ra de erst an ge fan gen

La marck war kein Charis mati ker und die zo o lo gi sche All-macht sei nes Vor ge setz ten am Jar din des Plan tes in Pa ris des Ba rons George Cu vier (1769 ndash 1832) ver hin der te dass man sich all zu sehr mit sei nen The o ri en be schaumlf tig te Cu vier war ein be-deu ten der Mann An die Stel le ei ner nach bo ta ni schem Mus ter 7

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 399783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 39 10082021 10493410082021 104934

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ver fah ren den Zo o lo gie setz te er eine neue Wis sen schaft die sich we ni ger an aumlu szlige ren Merk ma len als am Or ga nis mus der Tie-re ori en tier te Doch was die Trans mu ta ti on an be lang te blieb der Ober auf se her der pro tes tan tisch-the o lo gi schen Fa kul tauml ten Frank reichs beim kon ser va ti ven Mo dell Er ver brei te te wei-ter hin eine Ket te von Na tur ka tast ro phen habe als mo di fi zier-te Sint fu ten gan zen Klas sen von Tie ren den Gar aus ge macht Die se The o rie ist weit ge hend rich tig al ler dings schlieszligt sie die Trans mu ta ti on nicht aus

Das wirk lich Re vo lu ti o nauml re an La marck war die Idee die Ge schich te der Na tur nicht vom Men schen aus bis hi nun ter zur Bak te rie zu schrei ben son dern um ge kehrt von der Bak te rie zum Men schen Aus ei nem Mo dell der raumlum li chen Hie rar chie wur de ein Mo dell der zeit li chen Ent wick lung La marck er kann te zu-dem dass das Be wusst sein ei nes Tie res an die Phy si o lo gie und Neu ro lo gie sei nes Koumlr pers ge bun den ist Dem nach ist je der Geist ers tens be grenzt und zwei tens ver aumln der lich

Die phi lo so phi sche Kon se quenz aus La ma rcks Den ken ist so ra di kal dass sie fast ein hun dert fuumlnf zig Jah re lang von nie man-dem ernst haft in Be tracht ge zo gen wur de Wie kann ein Geist der den Ge set zen der Evo lu ti on un ter wor fen ist sich ei gent lich an ma szligen die Na tur der Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Von die ser Schluss fol ge rung woll te die Bi o lo gie al ler dings bis weit ins 20 Jahr hun dert hi nein nicht viel wis sen

Auch Dar wins The o rie von der na tuumlr li chen Se lek ti on der Le be we sen im Rin gen um ihr Le ben und mit der Um welt ent-wi ckel te sich wei ter Ge witz ten Zeit ge nos sen wie Karl Marx (1818 ndash 1883) war auf ge fal len wie stark Dar wins Den ken dem Zeit geist des Vik to ri a ni schen Zeit al ters ver haf tet war raquoEs ist merk wuumlr dig wie Dar win un ter Bes ti en und Pfan zen sei ne eng li-sche Ge sell schaft mit ih rer Tei lung der Ar beit Kon kur renz Auf-schluss neu er Maumlrk te rsaquoEr fin dun genlsaquo und Malt hus schem rsaquoKampf ums Da seinlsaquo wie der er kenntlaquo8 Die Be to nung des Malt hus rsquoschen 8

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 409783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 40 10082021 10493410082021 104934

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Kamp fes von je dem ge gen je den und auch der Fort schritts glau-be in Dar wins Den ken zei gen ihn stark sei ner Zeit ver haf tet

Eine an de re Kri tik kam aus der Bi o lo gie selbst Dar win hat-te noch nichts von Ge nen ge wusst So konn te er nicht er klauml ren was sich bi o che misch er eig ne te wenn Ar ten sich ver aumln der ten Der raquoDar wi nis muslaquo der Jahr hun dert wen de gab schlieszlig lich die Hoff nung auf die Evo lu ti on lie szlige sich al lein durch die na tuumlr li-che Se lek ti on der Ar ten nach Maszlig ga be ih rer An pas sungs fauml hig-keit an die Um welt be gruumln den Man ent deck te die Rol le der Ge-ne tik und zum neu en Er klauml rungs prin zip wur de das Mo dell der zwei Kons t ruk teu re Das Spiel des Le bens er hielt ei nen Wuumlr fel zu faumll li ge Ver aumln de run gen im Gen ma te ri al also so ge nann te Mu tashyti o nen Im Tri alshyandshyEr ror-Ver fah ren ent ste hen im Erb gut ge le-gent lich Ab wei chun gen die dann er folg reich sind wenn sie sich in der Um welt be waumlh ren Da mit war die Idee vom Tisch dass sich neu er wor be ne Ei gen schaf ten oder raquodie ana to mi schen Aus-wir kun gen koumlr per li cher An stren gun genlaquo wie La marck mein te ver er ben koumlnn ten Noch Dar win hat te dies fuumlr denk bar ge hal ten So ver trau te er Er zaumlh lun gen wo nach bei je nen Volks grup pen zu de ren Ri ten die re gel mauml szligi ge Be schnei dung der Pe nis vor haut ge houmlrt sich die Vor haut all maumlh lich ver kuumlrz te Das haumlt te zwar die Be schnei dung uumlber fuumls sig ge macht aber Dar win hat te ge ra-de an de res Ge wich ti ges zu be den ken als da ruuml ber nach zu sin nen

Die Ver kuumlr zung der Vor haut blieb im Wis sens schatz der Dar wi nis ten bis Au gust Weis mann (1834 ndash 1914) im spauml ten 19 Jahr hun dert nach wies dass ein sol cher In for ma ti ons fuss vom aumlu szlige ren Er schei nungs bild zum Erb ma te ri al nicht moumlg lich sei Uumlber fuumlnf Ge ne ra ti o nen kuumlrz te Weis mann ei nem Stamm von Maumlu sen ihre Schwaumln ze ohne dass eine Nach richt uumlber die sen Ein griff die Keim bah nen der Maumlu se er reich te Denn sie he da Auch die Schwaumln ze der nach fol gen den Maumlu se ge ne ra ti o nen blie-ben gleich lang Da be durf te es schon der Spitz fin dig keit des iri schen Dich ters George Bern ard Shaw (1856 ndash 1950) der Weis-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 419783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 41 10082021 10493410082021 104934

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manns schnei den de Wi der le gung der La marckrsquo schen The o rie leicht fer tig vom Se zier tisch wisch te Die Maumlu se be merk te der Dich ter haumlt ten gar kei ne An stren gun gen un ter nom men ihre Schwaumln ze zu ver lie ren waumlh rend sich die Tie re bei La marck ja da rum be muumlht haumlt ten sich zu ver aumln dern

Im Nach hi n ein also war es der pauml da go gi sche Op ti mis mus der La marck in die Irre ge fuumlhrt ha ben soll te So mach te die Hoff-nung auf ei nen ethisch an spre chen den E vo lu ti ons ver lauf ndash die Er war tung die Mensch heit ent wick le sich qua An pas sung an das so zi a le Mi li eu durch Selbst er zie hung zum Bes se ren ndash nur noch eine et was ab sei ti ge Kar ri e re im staats so zi a lis ti schen Bi o lo gie-un ter richt der Sow jet u ni on Wie kalt da ge gen der uumlber le ge ne raquoKampf ums Da seinlaquo der ja ein Kampf um die Fleisch toumlp fe ist ohne Hoff nung der Mensch wer de den kuumlh nen Geist statt sei-nes ma te ri a lis ti schen Gier hal ses nach Houml he rem stre cken Und ein zig die Kir che be wahr te un ver dros sen ei nen la marc kis ti schen Ge dan ken ndash al ler dings ei nen pes si mis ti schen und kei nen op ti-mis ti schen In bes ter Schuumlt zen hil fe fuumlr den fran zouml si schen Che-va li er ver tei digt sie bis heu te ihr mo le ku lar ge ne tisch be denk li-ches Dog ma Adams Un ge hor sam im Gar ten Eden habe zu ei ner raquoErb suumln delaquo ge fuumlhrt die da rauf hin auf alle zu kuumlnf ti gen Ge ne ra-ti o nen uumlber ge gan gen sei

Im mer hin sind in den bei den letz ten Jahr zehn ten ei ni ge Bi o-lo gen wie der et was of fe ner da fuumlr ge wor den der Ver er bung er-wor be ner Ei gen schaf ten ei nen Platz in der Ge ne tik zu las sen Zwar ver er ben sich psy chi sche und phy si sche Le bens er fah run-gen nicht durch ver aumln der te Gene Aber es koumlnn te doch sein dass jene Schal ter die da ruuml ber be stim men wel che ge ne ti sche In for-ma ti on wei ter ge ge ben wird und wel che nicht durch Um welt-ein fuumls se ver aumln dert wer den Uumlber le gun gen wie die se be schaumlf ti-gen so ge nann te Epi gen eti ker seit ei ni ger Zeit sie ha ben ei nen wach sen den Ein fuss auf un se re Vor stel lung von der Evo lu ti on

Die heu ti ge Leit dis zip lin die uns die Ver wandt schaft des Le-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 429783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 42 10082021 10493410082021 104934

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bens ent schluumls seln soll ist die Ge ne tik Wir un ter su chen die Sum-me al ler ge ne ti schen In for ma ti o nen und re gist rie ren da bei Uumlber-ein stim mun gen und Ab wei chun gen mit an de ren Ar ten Doch der Pro zess die Na tur un se rer Na tur zu er ken nen ist noch lan ge nicht ab ge schlos sen und wird wohl auch nie ab ge schlos sen sein Wir wen den Ord nungs sche ma ta auf The o ri en und The o ri en auf Be ob ach tun gen an Nur so kom men wir zu Kau sa li tauml ten und Ge-set zen Doch ihre Be deu tung ver aumln dert sich in dem Maszlige wie wir den Blick punkt un se rer Auf merk sam keit wie der ver la gern Die ser Vor gang des Ent dec kens und des Ver de ckens durch neue Denk sche ma ta ist prin zi pi ell nicht ab schlieszlig bar denn selbst ge-gen waumlr ti ge Evo lu ti ons the o ri en un ter lie gen wei ter hin der Evo-lu ti on

Er staun li cher wei se hat die mo der ne Evo lu ti ons the o rie nur zu ei ner ge ring fuuml gi gen Kor rek tur al ter Denk sche ma ta ge fuumlhrt Wie fruuml her in der Na tur ge schich te er ken nen wir heu te in der Bi o lo gie uumlber all Re gel haf tigk eit Not wen dig keit und Vor tei-le Doch bei nauml he rer Sicht er weist sich die Evo lu ti on ge ra de zu als Herr schafts ge biet der Aus nah men uumlber die Re geln Sie ist eine raquoZweck mauml szligig keit ohne Zwecklaquo wenn auch al lein fuumlr die 01 Pro zent der heu te noch ndash oder ge ra de ndash exis tie ren den Spe-zi es nicht aber fuumlr die 999 Pro zent die in den Ur fu ten dem Ord ovizium dem Perm der Krei de oder dem Ter ti aumlr das Welt-li che seg ne ten E vo lu ti ons bi o lo gen su chen in der Ge schich te der Na tur uumlber all nach Vor tei len die das Uumlber le ben von Ar ten er-klauml ren sol len Da bei ver men gen sie oft zwei ver schie de ne Vor-teils be grif fe Ein mal geht es um Mu ta ti o nen die si tu a tiv vor teil-haf te Ei gen schaf ten fuumlr eine Tier art her vor ge bracht ha ben sol len Eine grouml szlige re Sta tur ein pom pouml se res Ge weih ein staumlr ke res Ge biss sol len Weib chen be ein dru cken und die Nach kom men schaft er-houml hen Da die se Ei gen schaf ten aber oft nichts nuumlt zen wenn der Zu fall die Spiel re geln der Um welt aumln dert gibt es ei nen zwei ten Vor teils be griff Da nach ist das vor teil haft in der Evo lu ti on was

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 439783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 43 10082021 10493410082021 104934

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vom Ende her be trach tet dazu ge fuumlhrt hat dass eine Art uumlber-lebt Nach die ser Sicht wei se kann der mick rigs te Pa vi an auf dem Fel sen sei ne Gene wei ter ge ben wenn die staumlr ke ren Kon kur ren-ten bei ei nem Erd be ben ums Le ben ge kom men sind

An ge sichts zwei er so un ter schied li cher Be deu tun gen von raquoVor teillaquo fragt es sich ob der Be griff in der Evo lu ti ons the o rie uumlber haupt sinn voll ver wen det wer den kann Tat saumlch lich ist er ein Erbe der The o lo gie des 17 und 18 Jahr hun derts die uumlber-all in der Na tur nach der klu gen Ver nunft Got tes such te Dar win kann te die se Tra di ti on gut Als Stu dent ver ehr te er den The o lo-gen Will iam Pa ley (1743 ndash 1805) der na tur kund lich be schla gen die goumltt li che Vo raus sicht auf den neu es ten Stand ge bracht hat te Als Dar win sich von Gott ver ab schie de te und die na tuumlr li che Se-lek ti on er kann te er setz te er uumlber all wo Pa ley raquoGod doeslaquo ge-schrie ben hat te den Satz durch raquoNat ure doeslaquo An Pa leys Vor-stel lung dass die Na tur zweck mauml szligig ein ge rich tet sei und Vor tei le be loh ne hielt Dar win eben so fest wie vie le spauml te re E vo lu ti ons-the o re ti ker

Die Fra ge ist des halb wich tig weil sie zeigt wie eng un se re Vor stel lung von der Na tur bis hi nein in die mo der ne Evo lu ti-ons the o rie von sehr mensch li chen Vor stel lun gen durch setzt ist Statt Vor tei le zu be nen nen wuumlr de es naumlm lich auch aus rei chen zu sa gen dass al les in der Na tur uumlber le ben kann das fuumlr eine Art kei nen toumld li chen Nach teil hat te Ver mut lich uumlber lebt in der Evo lu ti on nicht nur Zweck mauml szligi ges son dern jede Ver aumln de rung die zu min dest nicht zum Aus ster ben fuumlhr t und moumlg li cher wei se liegt ge ra de hie rin der Grund fuumlr eine gro szlige Ar ten viel falt

Die tra di ti o nell ver eng te Sicht wei se gilt ins be son de re bei der Be trach tung des Men schen E vo lu ti ons bi o lo gen koumln nen zahl-rei che Vor tei le be nen nen die er klauml ren wa rum die mensch li che Art so er folg reich ist Men schen sind aumlu szligerst an pas sungs fauml hig und be sie deln fast alle Le bens raumlu me sie sind Al les fres ser mit ei ner gro szligen Nah rungs band brei te sie ha ben eine fe xib le So zi-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 449783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 44 10082021 10493410082021 104934

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al struk tur und ver fuuml gen uumlber ein Selbst be wusst sein das es ih-nen er moumlg licht ihr Ver hal ten zu kor ri gie ren So ge se hen ist der Mensch gleich sam das op ti mal ste al ler Tie re Doch alldem zum Trotz exis tie ren Men schen der Gat tung Homo sap iens erst seit rund 100 000 Jah ren und ihre lang fris ti gen Zu kunfts chan cen ste hen schlecht Denn mit all den vor teil haf ten Ei gen schaf ten ha-ben Men schen in Re kord zeit ihre Um welt zer stoumlrt und das lang-fris ti ge Uumlber le ben der Spe zi es dra ma tisch in fra ge ge stellt Die mit we ni ger spek ta ku lauml ren Vor tei len aus ge stat te ten Di no sau ri-er exis tier ten auf un se rem Pla ne ten hun dert fuumlnf zig Mil li o nen Jah re ganz zu schwei gen von den seit uumlber vier hun dert Mil li o-nen Jah ren na he zu un ver aumln der ten Nau til iden und Ur schne cken

Ge si chert in der Evo lu ti ons the o rie ist dass kei ne ih rer An nah-men ge si chert ist E vo lu ti ons bi o lo gen die ihre Sa che ernst neh-men muumls sen im mer auch die E vo lu ti ons be dingt heit ih res ei ge-nen Er kennt nis ap pa rats ref ek tie ren also mit hin die Evo lu ti on al ler mensch li chen Er kennt nis raquoLetzt lich istlaquo wie der Neuro bio-lo ge Ger hard Roth schreibt raquoje des Nach den ken uumlber die ob jek-ti ve Re a li taumlt sei es wis sen schaft lich oder nicht an die Be din gun-gen mensch li chen Den kens Spre chens und Han delns ge bun den und muss sich da rin be waumlh renlaquo9

Man muss ref ek tie ren dass die un ver meid li chen Ord nungs-mit tel des Geis tes das Den ken und die Spra che nicht die Wirk-lich keit raquoan sichlaquo auf raumlu men Sie sind Mo del le die die un ver-fuumlg ba re Wirk lich keit nach Maszlig ga be der ei ge nen Spiel re geln er klauml ren Nicht erst seit Er for schung der Evo lu ti on in den letz-ten zwei hun dert Jah ren muumlht sich der mensch li che Geist dem Lauf der Welt ei nen ndash nach mensch li chem Er mes sen ndash raquover nuumlnf-ti genlaquo Sinn zu ge ben Doch das Pa ra do xe der Ge schich te liegt da rin dass der mensch li che Geist selbst Pro dukt evo lu ti o nauml rer Pro zes se ist Er ist Maszlig stab und Ge mes se nes zu gleich

An eine tat saumlch lich ob jek ti ve Er kennt nis der Evo lu ti on waumlre nur halb wegs sinn voll zu den ken wenn die Evo lu ti on des Men-9

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 459783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 45 10082021 10493410082021 104934

schen ab ge schlos sen ist und da mit die Stu fe der groumlszligt moumlg li chen Voll kom men heit er reicht hat In den Zei ten vor La marck und Dar win ha ben das nicht nur The o lo gen son dern auch die Na tur-for scher fast al le samt ge glaubt Das mensch li che Be wusst sein sei die un uuml ber trof fe ne Spit zen leis tung des Schoumlp fer got tes ge schaf-fen die Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Sei nen schoumlns-ten Aus druck fand die se Sicht in ei nem Aus spruch des jun gen Phi lo so phen Fried rich Wil helm Jo seph Schel ling (1775 ndash 1854) Er mein te dass der Mensch je nes We sen sei raquoin dem die Na tur das Auge auf schlaumlgtlaquo und sich da mit ih rer selbst be wusst wird Ein huumlb scher Satz aber doch viel zu pa the tisch for mu liert Von der vol len Er kennt nis der Na tur und un se rer selbst sind wir noch im mer weit ent fernt Aber wir koumln nen da ruuml ber stau nen dass die Evo lu ti on mit uns ein Le be we sen her vor ge bracht hat in dem die Na tur sich fuumlr sich selbst fa szi nier bar ge macht hat Wie hat te es dazu kom men koumln nen

bull Der Pri mat Was ist ein Mensch

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 469783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 46 10082021 10493410082021 104934

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ver waist sein Die Mensch heit wird er wacht sein und die Welt je-nes Ge sicht er hal ten ha ben das uns ge gen waumlr tig er scheint Doch wie sah das aus als die Na tur das ers te Mal in ei nem af fen aumlhn-li chen We sen die Au gen auf schlug War es auf ei ner Wald wie-se in ei nem Hain an ei nem Berg hang oder auf ei ner Lich tung War das er leuch te te We sen ein Maumlnn chen oder ein Weib chen Ging es den gan zen Tag auf recht oder saszlig es noch ger ne in der Ho cke eng ge kau ert an sei ne Bruuml der und Schwes tern Und war es eine Ein ge bung ein Blitz schlag als das Selbst be wusst sein das ers te Mal die Fes seln des Pri ma ten ge hirns spreng te

Wir wis sen nicht wo ran Schel ling dach te als er mein te die Na tur habe im Men schen ihr Auge auf ge schla gen Si cher dach te er nicht an ei nen ein zi gen Mo ment dem Mil li o nen an de re folg-ten Er dach te an den raquoMen schen an sichlaquo Und er wuss te nichts vom ost af ri ka ni schen Great Rift Val ley und von haa ri gen Vor-men schen die dort einst haus ten Er leb te in Jena und in Muumln-chen und ei nen Men schen af fen hat te Schel ling nie ge se hen Der ein zig ar ti ge Mo ment in dem die Na tur sich ih rer selbst be wusst wird bleibt eine Me ta pher

Doch wie wur de der Mensch nun tat saumlch lich zum Men-schen Die For mu lie rung ist dop pel deu tig Denn wie der Mensch zum Men schen wur de ndash das ist nicht ein evo lu ti o nauml rer Pro-zess auf der lee ren Welt buumlh ne son dern ein Spiel von Be ob ach-ter und Be ob ach te tem Schau spie ler und Zu schau er Ge schich-te auch Ent wick lungs ge schich te ist nichts Vor ge fun de nes Der Mensch schrieb der fran zouml si sche Phi lo soph JeanshyPaul Sart re (1905 ndash 1980) macht sich selbst wie der Ro man schrift stel ler sei ne Fi gu ren Er ist ge fer tigt aus bi o lo gi schen (ana to mi schen neu ro lo gi schen und phy si o lo gi schen) Be stand tei len zu al ler meist je doch durch jene we nig bi o lo gi schen Weis hei ten mit de nen sich die se Subs tan zen selbst zum raquoMen schenlaquo er ko ren

Das Glei che gilt fuumlr die mensch li che Stam mes ge schich te Auch sie ist zu naumlchst ein mal eine Ge schich te Ihre Ur spruumln ge lie gen im

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al ten Grie chen land als Aris to te les den Men schen und den Af-fen ver wandt schaft lich na he ruumlckt raquoMan che Tie re ste hen zwi-schen Mensch und Vier fuumlszlig ler in ih rem We sen wie Af fen Meer-kat zen und Pa vi a ne hellip Ihr Ge sicht hat vie le Aumlhn lich kei ten mit dem des Men schen Nase und Oh ren glei chen den sei nen und Zaumlh ne hat er auch wie ein Mensch die Vor der zaumlh ne wie die Ba cken zaumlhnelaquo10 Auch Aris to te lesrsquo Schuuml ler The oph rast (ca 370 v Chr ndash ca 288 v Chr) be steht auf der Aumlhn lich keit zwi schen Men schen und Tie ren Er lehnt es so gar ab Fleisch zu es sen oder Tie re zu op fern da man sei ne Ver wand ten nicht ver spei se

Aris to te les und The oph rast stell ten den Men schen zwar ne-ben den Af fen ndash Men schen af fen kann te man noch nicht ndash aber die al ten Grie chen hat ten ihn nur sehr un ge faumlhr zu ei nem Tier un ter Tie ren er klaumlrt Den naumlchs ten Schritt mach te mehr als zwei-tau send Jah re spauml ter Carl von Linneacute An der Zu ge houml rig keit des Men schen zu den Saumlu ge tie ren be stand fuumlr den Schwe den kein Zwei fel die Be haa rung und das Stil len der Jun gen be lehr ten un-miss ver staumlnd lich da ruuml ber Auch die Ver wandt schaft mit Af fen und Men schen af fen stand au szliger Fra ge Hier wa ren es die fa chen Fin ger- und Fuszlig nauml gel statt der Klau en der ab ge spreiz te Dau-men die Greif haumln de die zwei Zit zen der Weib chen und der frei he run ter haumln gen de statt am Un ter leib an lie gen de Pe nis ndash Merk-ma le die groumlszlig ten teils auch schon Aris to te les auf ge fal len wa ren

Doch Linneacute zouml ger te vor der Kon se quenz Haumln de rin gend such-te der got tes fuumlrch ti ge Ana tom nach ei nem Un ter schied zwi schen dem Men schen und den uumlb ri gen von ihm so ge nann ten raquoPri ma-tenlaquo raquoIch ver lan gelaquo schrieb er 1747 sei nem deut schen Freund Jo hann Ge org Gme lin raquovon Ih nen und von der gan zen Welt dass Sie mir ein Gat tungs merk mal zei gen hellip auf grund des sen man zwi schen Mensch und Affe un ter schei den kann Ich weiszlig selbst mit aumlu szligers ter Ge wiss heit von kei nemlaquo11

Nach sei nen Kri te ri en haumlt te Linneacute den Men schen zu min dest mit dem Schim pan sen ge mein sam in die sel be Gat tung ein ord-10

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nen muumls sen Der Ge dan ke schweb te zeit gleich auch dem Phi lo so-phen JeanshyJacques Rous seau (1712 ndash 1778) vor als er Schim pan-sen Orang-Ut ans und Men schen so gar als Ver tre ter der Spe zi es Mensch an sah Rous seau hat te nie ei nen Men schen af fen ge se-hen Aber die Be rich te die er von Ex pe di ti o nen nach Af ri ka und Suumld ost a si en las lie szligen in ihm kei nen Zwei fel dass die da rin be schrie be nen Men schen af fen raquowe der Tie re noch Goumlt ter son-dern Men schenlaquo sei en12 Fuumlr den Auf klauml rer wa ren Men schen af-fen edle Wil de die von kei ner Zi vi li sa ti on in ih rem fried fer ti gen We sen zer stoumlrt sei en an ders als die Men schen in Eu ro pa Eben-so dach te we nig spauml ter der schot ti sche Sprach for scher James Bur nett Lord Mon boddo (1714 ndash 1799) Auch er be trach te te den Orang-Utan als ei nen Men schen naumlm lich als ei nen raquosprach-losen Wil denlaquo

In ter pre ta ti o nen wie Rous seau sie in Pa ris und Bur nett bald da rauf in Kin card ines hire wag ten wa ren Linneacute im schwe di schen Upp sa la fremd Den Men schen ins Tier reich ein zu ord nen war in den Au gen der stren gen pro tes tan ti schen Kir che Suumln de ge nug und Linneacute zouml ger te den letz ten Schritt zu tun In sei ner Not sor-tier te er 1758 ach sel zu ckend Mensch und Schim pan se in un ter-schied li che Gat tun gen zu sam men ge fasst in der Ord nung der Pri ma ten in der sie auch heu te noch mehr schlecht als recht huumlbsch ge trennt ne ben ei nan der ho cken Homo sap iens der raquoin-tel ligi ble Menschlaquo und Pan trog lody tes der raquohoumlh len be woh nen-de Faunlaquo

So weit so schoumln Der Mensch wur de der obers te Pri mat das houmlchs te raquoHer ren tierlaquo Linneacute be kam kei nen Aumlr ger mit der Kir-che und die Na tur wis sen schaft den gro szligen Wurf des Linneacute rsquoschen Sys tems Wenn nur die se Nach barn nicht wauml ren Seit Be kannt-wer den der Men schen af fen be muumlh ten sich Wis sen schaft ler und The o lo gen im mer wie der um den Ver such den klei nen Gra ben mit gro szligen Was sern zu fuumll len der Homo sap iens und Pan troshyglody tes bei ih rer ord nungs ge mauml szligen Ver ge sell schaf tung auf der 12

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 509783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 50 10082021 10493510082021 104935

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Af fen in sel trennt Sie eva ku ier ten den Men schen vom Pri ma ten-fel sen und schu fen ihm eine ei ge ne Ord nung

In die ser Vor stel lungs welt wuchs auch der The o lo gie stu dent Charles Dar win auf Das fruuml he 19 Jahr hun dert war eine got-tes fuumlrch ti ge bie der mei er li che Zeit Doch je mehr er sich mit der Ver aumln de rung der Ar ten be schaumlf tig te umso deut li cher wur de Dar win dass es mit der of fi zi ell be kun de ten Son der stel lung des Men schen im Uni ver sum nicht weit her sein konn te So no tier te er schon er staun lich fruumlh in sein Ta ge buch raquoDer Mensch haumllt sich in sei ner Ar ro ganz fuumlr ein groszlig ar ti ges Werk des be son de ren Ein grei fens ei ner Gott heit wuumlr dig Es duumlrf te be schei de ner und wie ich glau be auch rich tig sein ihn als aus den Tie ren ent stan-den an zu se henlaquo13

Dar win hat te den noch zwoumllf Jah re ge zouml gert bis er sich schlieszlig lich ge trau te nach der all ge mei nen Dar stel lung ei ner Evo-lu ti ons the o rie im Jahr 1859 sei ne Schluss fol ge run gen in Be zug auf den Men schen in Druck zu ge ben Die Ab stam mung des Men schen aus dem Jahr 1871 ist ein ge maumlch li ches Buch in ver-soumlhn li chem Ton fall Der Na tur for scher er zaumlhlt da rin wie ein gu-ter al ter Groszlig va ter wo her die Pfan zen die Tie re und die Eng-laumln der kom men Die raquoAb wer tunglaquo des Men schen geht da bei ein her mit ei ner kon ti nu ier li chen raquoAuf wer tunglaquo der Tie re raquoWir ha ben ge se henlaquo schreibt Dar win raquodass die Emp fin dun gen und Ein druuml cke die ver schie de nen Er re gun gen und Fauml hig kei ten wie Lie be Ge daumlcht nis Auf merk sam keit Neu gier de Nach ah mung Ver stand usw de ren sich der Mensch ruumlhmt in ei nem be gin nen-den oder zu wei len selbst in ei nem gut ent wi ckel ten Zu stand bei den nie de ren Tie ren ge fun den wer denlaquo14

La marck und Dar win wa ren die Ers ten die mit Mit teln der mo der nen Na tur wis sen schaft be haup te ten was vie le Kul tu ren und Zei ten schon zu vor re li gi oumls ge ahnt hat ten raquoNa tuumlr lichlaquo ist es ab surd eine Tei lung des Tier reichs in zwei Ka te go ri en vor zu-neh men ndash in eine mensch li che und eine nicht mensch li che Ka-13

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9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 519783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 51 10082021 10493510082021 104935

Page 10: Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen · Leseprobe Professor Dr. Richard David Precht Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen »Fazit:

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tin der Theo lo gin Hei ke Bar anzke ver bin det mich seit dem eine lan ge Freund schaft Auch die Front kaumlmp fer fehl ten nicht Die Tier rechts or ga ni sa ti on Ani mal Peace er leb te ge ra de ei nen Boom an Spen dern und der Tier recht ler Hel mut Kap lan be feu er te die Ak ti vis ten mit ra di ka len Schrif ten und kuumlh nen Spruuml chen

Die Ge dan ken die wir in Vor trauml gen und Ge sprauml chen ver kuumln-de ten dis ku tier ten und uumlber dach ten hat ten da mals noch et was sehr Neu es Zwar hat te der aust ra li sche Phi lo soph Pe ter Sin ger be reits 1975 sein be ruumlhm tes Buch uumlber Die Be frei ung der Tie re ge schrie ben Aber eine Tier rechts be we gung ent stand an ders als in Eng land und den USA in Deutsch land erst lang sam in den spauml ten Acht zi ger jah ren Nun in der Mit te der Neun zi ger jah re war das The ma end lich ge sell schaft lich re le vant ge wor den Koumln-nen wir un se ren all taumlg li chen Um gang mit Tie ren wei ter hin mo-ra lisch recht fer ti gen Die Mas sen me di en grif fen das The ma auf Der Jour na list Man fred Kar re mann dreh te Fil me uumlber Mas sen-tier hal tung Schlacht haumlu ser und Tier trans por te und brach te das Elend der Tie re da mit in die deut schen Wohn zim mer Die in zwi-schen ein ge stell te Zei tung Die Wo che nahm da ge gen den ra di-ka len Fluuml gel der Be we gung ins Vi sier Sie be rich te te uumlber an ge-saumlg te Hoch sit ze ein ge schla ge ne Schau fens ter von Metz ge rei en und warn te auf ei ner Dop pel sei te vor raquoTier schutz ter ro ris muslaquo

In die sem Kli ma er schien im Herbst 1997 mein Buch No ahs Erbe Sei ne Zu stim mung und Ab leh nung ver lief wie ich es mir er hofft hat te oft quer zu den etab lier ten Freund-Feind-Li ni en zwi schen Tier schuumlt zern Ar ten schuumlt zern und Tier recht lern Be-dau ert habe ich da bei ei gent lich nur jene Kri ti ken die mir von ei nem pa tho lo gi schen Men schen bild bis hin zu ei ner raquooumlko fa-schis ti schenlaquo Ge sin nung so ziem lich al les un ter stell ten wo von ich selbst in den fins ters ten Win keln mei nes Wir bel tier ge hirns nie mals ge traumlumt hat te

Seit dem ist viel und we nig ge sche hen Seit No vem ber 1999 er-freu en sich die Men schen af fen in Neu see land und wa ren es da-

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mals auch nur acht an der Zahl ei nes un an tast ba ren Rechts auf Le ben Der Tier schutz wur de 2002 als Staats ziel im deut schen Grund ge setz ver an kert Die gra vie rend ste Ver aumln de rung aber sind ohne Zwei fel die vie len Men schen die sich feisch los oder ve-gan er naumlh ren Das Wort raquove ganlaquo in den Neun zi gern noch et-was houmlchst Obs ku res das nur von we ni gen selt sam blut lee ren Bio-Vam pi ren be trie ben wur de ist heu te in al ler Mun de Ein vega nes Koch buch er reich te juumlngst eine Mil li o nen auf a ge Und na he zu je der kennt ei nen Vega ner oder haumlu fi ger eine Ve gan erin Nach ei ner Um fra ge des Al len sba cher Ins ti tuts aus dem Jahr 2015 gibt es in Deutsch land in zwi schen 78 Mil li o nen Ve ge ta-rier und 900 000 Vega ner1

In den west li chen In dust rie na ti o nen steigt die Sen si bi li taumlt im Um gang mit Tie ren un auf halt sam an ins be son de re bei jun gen Frau en Doch die se Hal tung hat zu gleich et was sehr Pri va tes Schoumln heit Fit ness Ge sund heit und Tier lie be sind meist auf ei-nen Nah ho ri zont be schraumlnkt Wa ren der Kampf fuumlr Tier rech te und die veg ane Er naumlh rung fruuml her fast un trenn bar mit ei nan der ver bun den ge we sen so hat sich das eine heu te vom an de ren ge-loumlst In West eu ro pa gibt es in zwi schen mehr Mas sen tier hal tung mehr Le ge bat te ri en und mehr in dust ri el les Tier elend als je zu-vor Gut ver steckt vor der Oumlf fent lich keit ar bei tet die se Ma schi-ne rie trotz ge le gent li chen Pro tes ten hef ti ger denn je Noch nie war die Kluft so groszlig die das was Men schen im Um gang mit Tie ren fuumlr rich tig hal ten und das was tat saumlch lich prak ti ziert wird von ei nan der trennt So lan ge wir un se re Er naumlh rung und un ser per soumln li ches Ver haumllt nis zu Tie ren als Pri vat sa che auf fas-sen so lan ge wird die mil li o nen fa che Grau sam keit ge gen Tie re wei ter hin ge sell schaft lich ak zep tiert

In die ser Lage stel len sich man che Fra gen die in No ahs Erbe be han delt wur den an ders und neu Auch vie le Zah len sind wie koumlnn te es auch an ders sein ver al tet In den Wis sen schaf ten wie der Pal aumlo anth ro po lo gie der Prim atolo gie und der Ver hal tens-1

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oumlko lo gie ist in den letz ten bei den Jahr zehn ten ei ni ges ge sche-hen das es zu be ruumlck sich ti gen gilt Die his to ri sche For schung uumlber das Ver haumllt nis von Mensch und Tier hat man ches Neue zu ta ge ge foumlr dert eben so in den Re li gi o nen wie in der Phi lo so-phie Die aka de mi sche De bat te uumlber eine an ge mes se ne raquoTier-ethiklaquo hat stark an Fahrt auf ge nom men Und nicht zu letzt hat mei ne ei ge ne Be schaumlf ti gung mit dem We sen und den Spiel re geln mo ra li schen Han delns zu man cher neu en Ein schaumlt zung und Be-wer tung ge fuumlhrt Man ches von dem was Men schen tun oder las sen er scheint mir mit uumlber fuumlnf zig in ei nem an de ren Licht als mit An fang drei szligig hellip

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Be lan ge re gelt eben so wie jene des Maul wurfs das Tier schutz-ge setz Maul wuumlr fe und Schim pan sen sind kei ne Rechts sub jek-te Man darf sie in enge Kauml fi ge ein pfer chen man darf sie mit Elektro schocks fol tern mit toumld li chen Kei men in fi zie ren sie am le ben di gen Leib ver aumlt zen sie ver stuumlm meln und ver gif ten

Das ver nuumlnf ti ge und sitt li che Le ben und das un ver nuumlnf ti ge rohe Le ben tei len die Welt in zwei Herr schafts be rei che Ei ner da von be sitzt ein mo ra li sches Sie gel Der an de re da ge gen ist ein na he zu un be schrie be nes Blatt Fast hun dert sech zig Jah re ist es her dass der bri ti sche Na tur for scher Charles Dar win den ge-mein sa men Ur sprung die fie szligen den Uumlber gaumln ge und zar ten Ver-aumls te lun gen al len Le bens be wies Doch Men schen gel ten we der all tags sprach lich noch recht lich als Tie re Eine alte Ge wohn heit trennt den Men schen von sei nen ani ma li schen Ver wand ten Es ge houmlrt zu den ei gen tuumlm li chen Fol gen der Dar win rsquoschen Wen de dass sie mit ei ni gen klei ne ren Kor rek tu ren das anth ro po zent ri-sche Welt bild un an ge tas tet lieszlig Kaum je mand duumlrf te sich als je-ner Tro cken na sen pri mat in der Ver wandt schaft von Men schen-af fen Meer kat zen und Pa vi a nen se hen als den uns die Zo o lo gie klas si fi ziert Statt des sen de fi nie ren wir uns als Men schen und ge-ben uns alle Muumlhe un se re ani ma li sche Na tur zu ver ges sen und zu ver ber gen

Das Band zu den an de ren Tie ren ha ben wir vor lan ger Zeit zer schnit ten Vor etwa 10 000 Jah ren hat der Mensch ge lernt die Roh stoff re ser ve raquoTierlaquo plan mauml szligig zu zuumlch ten Er haumllt sie von nun an in Form ei nes le ben den Ver sor gungs vor rats zum ei-ge nen Nut zen und From men In den An faumln gen der Tier zucht leg ten man che sess haft ge wor de nen Jauml ger ge stor be ne Hun de in da fuumlr vor ge se he ne Gru ben und be stat te ten so gar Mut ter Kind und Rin der ge mein sam Wel ten klaf fen zwi schen dem ani mis ti-schen Glau ben der ers ten Vieh zuumlch ter und der ma te ri a lis ti schen Mas sen tier hal tung der mo der nen Ge sell schaft Mit dem Ende der Kon kur renz schwand die Not wen dig keit sich mit dem Tier

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als ei nem Le be we sen aus ei nan der zu set zen Heu te nut zen wir die Res sour ce raquoTierlaquo voumll lig frag los fuumlr die An spruuml che des Men schen Das Ge mein sa me von Tier und Mensch trat in den Hin ter grund Zwar leb te das Tier noch im mer in der kul tu rel len Fan ta sie fort als ma gi sche oder fan tas ti sche Ge stalt als Freund Ge faumlhr te oder Be dro hung Doch die Be deu tung in der All tags welt er mat te te auf Schwund stu fen der Na tur wie Schoszlig hund Zier gup py Le ge hen-ne und Zir kus pferd Gren zen los uumlber le gen und un ab haumln gig ge-gen uumlber den Tie ren sei ner Um welt ent wi ckel te sich im mensch-li chen Be wusst sein ein voumll lig ent frem de tes Ver haumllt nis Nicht nur ra di ka le Aus nut zung und Sa dis mus auch falsch ver stan de ne Lie-be De na tu rie rung und un frei wil li ge Quauml le rei be stim men seit her den mensch li chen Um gang mit dem Tier

Bis ins fruuml he Mit tel al ter uumlber wog die Zahl der wil den Tie re die An zahl der Nutz- und Haus tie re die der Mensch in sei nen Dienst ge stellt hat te Doch spauml tes tens mit dem Sie ges zug des Ka pi ta lis mus in West eu ro pa und Nord a me ri ka ver schwan den die Res te der Ehr furcht in die Maumlr chen buuml cher und Zir kus dar-bie tun gen Mo der ne Agrar un ter neh men In dust rie met ro po len Au to bah nen und Hoch span nungs mas ten bil den das Or na ment un se rer Um welt die wir seit meh re ren hun dert Jah ren raquoLand-schaftlaquo nen nen Nir gend wo in der All tags welt ei nes Men schen der west li chen Zi vi li sa ti on be geg net uns das Tier noch als Kon-kur rent nicht bei der Er naumlh rung nicht im Kampf um den Le-bens raum und nicht als Fress feind des sen Zaumlh ne und Klau en ernst haft Furcht er re gen koumlnn ten Das ein zig Be droh li che das heu te bleibt sind aus ge rech net ein paar klei ne Tie re etwa Rat-ten und Maumlu se die letz ten ge faumlhr li chen Fress kon kur ren ten des Men schen Dazu kom men In sek ten Mik ro ben und Vi ren

Das Band zwi schen uns und den an de ren Tie ren wuchs auch nicht da durch wie der zu sam men dass wir die Tie re uumlber die Wis-sen schaft als Ver wand te wie der ent deck ten Seit mehr als zwei-tau send Jah ren sieht sich der Mensch als le gi ti mer Herr scher

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uumlber eine be herrsch ba re Um welt dazu ge schaf fen sie zu nut zen und aus zu beu ten Un se re Evo lu ti on hat sich da bei ra sant be-schleu nigt Laumlngst fin det sie kaum noch in un se rem Koumlr per statt son dern vor al lem in un se rer Tech nik und Kul tur Und schon lan ge dient sie nicht mehr dazu sich der Na tur an zu pas sen Sie dient ei ner im mer wie der neu ge schaf fe nen mensch li chen Kul-tur An pas sung be deu tet heu te sich an den ei ge nen Fort schritt an zu pas sen mit all den be kann ten Fol gen fuumlr un se re Um welt Dra ma ti sche Kli ma wech sel die Zer stouml rung der schuumlt zen den Ozon schicht die Ver step pung wei ter Land stri che auf al len Suumld-kon ti nen ten und die Ver gif tung der Mee re ver nich ten nicht nur die nicht mensch li che Tier welt sie be tref fen mehr und mehr den Men schen selbst

In atem be rau ben dem Tem po be schleu nig te das in dust ri a li sier-te 20 Jahr hun dert die Be herr schung und Aus beu tung der Na-tur und mit ihr die der Tie re Schon in den ver gan ge nen Jahr-tau sen den hat te Homo sap iens den ge sam ten Pla ne ten in Be sitz ge nom men Kein grouml szlige res Wir bel tier be sitzt ein sol ches Ver brei-tungs ge biet be wohnt Wuumls ten Re gen waumll der und Po lar re gi o nen glei cher ma szligen Und kein grouml szlige res Wir bel tier hat sich zu Mil li ar-den ver mehrt Ruumlck sichts lo se Pluumln de rung der Roh stof fe und ein un ge heu res Be voumll ke rungs wachs tum der Spe zi es Homo sap iens schaf fen ei nen erd ge schicht li chen Aus nah me zu stand

Der Mensch be herrscht heu te den Pla ne ten aber of fen sicht-lich nicht sich selbst Es koumlnn te da ran lie gen dass es raquoden Men-schenlaquo gar nicht gibt Statt des sen gibt es mehr als sie ben Mil li-ar den un ter schied li che In di vi du en Und nie mand da von ist fuumlr die Mensch heit zu staumln dig Sie ist eine Ge mein de der an zu ge houml-ren nicht dazu ver pfich tet sich um das Gan ze zu sor gen und zu kuumlm mern

Zu herr schen be deu tet Ord nun gen zu etab lie ren und Re geln da fuumlr auf zu stel len was wich tig ist und un wich tig rich tig oder falsch Jahr hun der te lang sah die Mo ral der abend laumln di schen

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Zivi li sa ti on in der Aus rot tung der Wild tie re und Aus beu tung der Nutz tie re na he zu kein Pro blem Eine kla re Grenz zie hung er-laub te je den Um gang mit dem Tier von der Lie be bis zur Fol ter von der Zucht bis zur Touml tung Das Ar gu ment war schlicht Der Mensch ist eine Son der an fer ti gung Got tes und mit dem Tier ge-ra de mal durch den lo sen Fa den der goumltt li chen Schoumlp fung stat ver bun den So kam in den Wor ten des deutsch-fran zouml si schen The o lo gen und Arz tes Al bert Schweit zer raquodie An sicht auf dass es wert lo ses Le ben gaumlbe des sen Schauml di gung und Ver nich tung nichts auf sich habe Un ter wert lo sem Le ben wer den dann je nach den Um staumln den Ar ten von In sek ten oder pri mi ti ve Voumll ker ver stan denlaquo2 (Eine Kli en tel die sich uumlber dies noch um Frau en er wei tern lie szlige)

Die se Gren ze wur de und wird in der abend laumln di schen Kul-tur ge schich te va ri an ten reich ver tei digt Doch je ge nau er wir sie be trach ten umso selt sa mer er scheint sie uns Denn sie laumlsst sich im mer schlech ter be gruumln den und zwar so wohl phi lo so phisch als auch bi o lo gisch Seit etwa vier zig Jah ren be steht in der Ge-sell schaft eine De bat te die un se ren Um gang mit Tie ren grund-saumltz lich in fra ge stellt Tier e thi ker wie Pe ter Sin ger und sein US-ame ri ka ni scher Phi lo so phen kol le ge Tom Re gan for dern Rech te auch fuumlr Tie re Der Aus schluss der Tie re aus der Ethik sei ein mo ra li scher Skan dal Das Tier heu te mo ra lisch drau szligen vor der Tuumlr zu las sen sei das Erbe ei nes re li gi ouml sen Aber glau bens Da der Mensch kei ne Son der an fer ti gung Got tes sei son dern ein in tel-li gen tes Tier muumlss ten wir die Reich wei te der Mo ral eben so auf die raquoan de ren Tie relaquo aus deh nen Ha ben wir nicht nach und nach ge lernt die Skla ve rei zu aumlch ten und Frau en als gleich be rech tig-te Men schen zu ach ten Und ist es nun nicht an der Zeit neu uumlber Tie re nach zu den ken und sie mo ra lisch an ge mes sen zu be-ur tei len

Doch wie koumlnn te ein sol cher an ge mes se ner Um gang mit den an de ren Tie ren aus se hen Den Men schen als ein Tier un ter an-2

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de ren an zu se hen koumlnn te ja auch be deu ten ihn ab zu wer ten statt die Tie re mo ra lisch erns ter zu neh men Das Un heil des So zi-al dar wi nis mus und der bar ba ri schen Ras sen the o rie ste ht uns mah nend vor Au gen Und was ist uumlber haupt das Kri te ri um da-fuumlr Tie re mo ra lisch zu ach ten Ist es ihre Lei dens fauml hig keit ihr Le bens wil le oder ihre In tel li genz Ha ben klu ge Tie re ein houml he-res Le bens recht als duumlm me re Das Ver haumllt nis des Men schen zu den an de ren Tie ren neu zu be wer ten ist eine gro szlige und schwie-ri ge Auf ga be

Ich moumlch te in die sem Buch ver su chen die se Fra gen neu zu stel len und zu durch den ken Da bei be trach te ich den Men schen als ein be son de res Tier un ter vie len auf an de re Wei se be son de ren Tie ren Ich moumlch te mich nicht da rauf fest le gen den Men schen all ge mein uumlber be stimm te Ei gen schaf ten zu de fi nie ren die ihn ethisch wert voll ma chen sol len Ich moumlch te ihm aber auch nicht im Um kehr schluss alle ge mein hin als raquomensch lichlaquo be zeich ne ten Ei gen schaf ten ab spre chen weil nicht alle Men schen Trauml ger all die ser Ei gen schaf ten sind Viel leicht ist be reits das Su chen nach sol chen ex klu si ven Ei gen schaf ten der fal sche Weg Der Denk-feh ler koumlnn te be reits da rin lie gen ei gen staumln di ge Dis zip li nen wie raquoAnth ro po lo gielaquo oder raquoMo ral phi lo so phielaquo be trei ben zu wol len die eine sol che enge De fi ni ti on des Men schen vo raus set zen Waumlre es nicht bes ser die Enge des Be griffs zu spren gen Statt Anth-ro po lo gie zu be trei ben soll te man sich lie ber mit ei ner Anthroshyzo o lo gie be schaumlf ti gen ndash eine Leh re vom Men schen tier und den an de ren Tie ren

Der Be griff ist neu er wur de erst vor we ni gen Jah ren un ter an de rem von dem US-ame ri ka ni schen Psy cho lo gen Hal Her zog ein ge fuumlhrt3 Die neue Dis zip lin der Hu manshyAni mal Stu dies kon-zent riert sich weit rei chend da rauf was Men schen und an de re Tie re ver bin det Da bei ver wen de ich den Be griff raquoAn thro zo o-lo gielaquo al ler dings et was an ders als Her zog und die Ver tre ter der Hu man-Ani mal Stu dies Es ist ein et was ein touml ni ger Sport al les 3

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was ge mein hin als raquomensch lichlaquo be trach tet wird als My thos zu ent zau bern Ich moumlch te es lie ber an ders ein bet ten und be wer ten Denn ich mei ne dass die Ver tre ter der Hu man-Ani mal Stu dies ihre De fi ni ti on des Men schen als ein Tier un ter Tie ren nicht ganz zu Ende den ken Denn waumlre der Mensch durch nichts Mensch-li ches grund saumltz lich vom Tier un ter schie den wie sie an neh men so lieszlige sich auch nicht ein for dern dass Men schen sich aus vershynuumlnf ti ger Ein sicht an ge mes sen ge gen uumlber Tie ren ver hal ten sol len

Um mensch li ches Han deln zu ver ste hen muumls sen wir ver ste-hen in wel chem Rah men Men schen die Welt se hen sich ori en-tie ren und han deln Die bei den ers ten Tei le des Bu ches skiz zie-ren die sen bi o lo gi schen und den kul tu rel len Rah men In ih nen moumlch te ich zei gen auf wel che Art und Wei se Men schen sich un-ter Tie ren ver hiel ten und ver hal ten Da bei be schaumlf tigt sich der ers te Teil mit der Fra ge was fuumlr ein spe zi el les Tier der Mensch ei gent lich ist Wie ist sei ne Rol le in der Evo lu ti on Und nach wel chen Denk mus tern ha ben Men schen die se Chro nik un se rer selbst seit der An ti ke ge schrie ben (Die Ord nung der Schoumlpshyfung) Wel che Stel lung hat sich Homo sap iens in der Na tur da-durch ge si chert dass er sie sich zu schrieb (Der Pri mat)

In je der mensch li chen Wis sen schaft vom Le ben be steht bis heu te still schwei gend oder laut hals ver kuumln det zwi schen Mensch und Tier eine Gren ze Doch weiszlig we der die E vo lu ti ons bi o lo-gie noch die Pal aumlo anth ro po lo gie mit Ge wiss heit zu sa gen an wel chem Punkt sich nur ani ma li sches von mensch li chem Le ben schei det Was ha ben Pal aumlo anth ro po lo gen in den letz ten hun dert Jah ren da ruuml ber ge glaubt Und was den ken sie heu te (Der aufshyrech te Affe) Da bei wer den wir se hen dass es mit der Gren ze zwi schen dem Men schen und den an de ren Tie ren eine aumlu szligerst komp li zier te Sa che ist Seit Jahr zehn ten mes sen und ver glei chen Ver hal tens for scher die kog ni ti ven Leis tun gen von Tie ren mit je-nen des Men schen mit dem uumlber ra schen den Er geb nis dass Tie re in na he zu al len raquowich ti genlaquo Punk ten un ter le gen sind bei Kul tur-

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leis tun gen wie Werk zeug ge brauch und Re li gi on eben so wie beim Er werb der mensch li chen Spra che Doch ha ben wir bei sol chen Mes sun gen tat saumlch lich den rich ti gen den fai ren Maszlig stab Ist es sinn voll die In tel li genz von Men schen af fen mit uns zu ver glei-chen (Sinn und Sinn lich keit)

Die Mo le ku lar ge ne tik zeigt uns dass Men schen bi o lo gisch Schim pan sen sind Wel che Kon se quen zen zie hen wir da raus (Eins Kom ma sechs Pro zent) Nach dem wir den Men schen auf die se Wei se bi o lo gisch ein ge kreist ha ben wer fen wir noch ei nen Blick da rauf wie ob jek tiv un ser Wis sen vom Men schen und den an de ren Tie ren ist Was koumln nen wir uumlber haupt uumlber das Be wusst-sein an de rer Tie re wis sen Stellt es nicht eine so gro szlige Bar ri e re dar dass wir zu ge ben muumls sen nichts De fi ni ti ves sa gen zu koumln-nen (Die Tuuml cke des Sub jekts)

Im zwei ten Teil wer fe ich ei nen Blick in die Kul tur ge schich te des Mensch-Tier-Ver haumllt nis ses Was ha ben Men schen zu wel cher Zeit uumlber Tie re ge dacht und wa rum Wie hat man sie be han delt Und wel che Sen si bi li taumlt oder Kaumll te setz te sich wa rum durch Was wis sen wir da ruuml ber aus der Jung stein zeit (Die Tund ra des Ge wis sens) Was glaub ten und dach ten die al ten Aumlgyp ter (raquoIch habe kein Tier miss han deltlaquo) Und wa rum ent zau ber te das alte Ju den tum die Tie re (Hir ten und Herr scher)

In der abend laumln di schen Phi lo so phie gibt es seit der An ti ke sehr un ter schied li che Deu tun gen von Tie ren Mal se hen die Den ker eine gro szlige spi ri tu el le oder na tur ge schicht li che Naumlhe mal er he-ben sie den Menschen qua sei ner Ver nunft zum un ein ge schraumlnk-ten Wel ten herr scher (Das ver lo re ne Pa ra dies) In der christ li chen Re li gi on da ge gen wer den Men schen und Tie re deut lich von ei-nan der ge schie den eine Son der an fer ti gung hier eine Drein ga-be dort Das Chris ten tum ent fernt die tier freund li chen Mo men-te der juuml di schen Re li gi on aus den Glau bens leh ren (raquoKuumlm mert sich Gott etwa um die Och senlaquo) An ders ver laumluft der Weg in In di en Chi na und Suumld ost a si en Das Welt bild und die Tier ethik

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von Hin dus und Bud dhis ten un ter schei den sich von der un se-ren (Schein hei li ge Kuumlhe) Im Abend land da ge gen do mi niert in der Nach fol ge des fran zouml si schen Phi lo so phen Reneacute Des car tes eine raquora ti o na lis ti schelaquo kal te Pers pek ti ve auf das Tier Tie re weil sie nicht ver nunft fauml hig sei en wer den kaum noch als Le be we sen wahr ge nom men ndash eine Po si ti on die im 18 Jahr hun dert al ler-dings ziem lich kont ro vers dis ku tiert wird (Die Den ker und das lie be Vieh) Nach und nach ent ste hen im spauml ten 18 Jahr hun dert eine neue Mit leids ethik und so gar ers te For de run gen nach Rech-ten fuumlr Tie re (raquoKoumln nen sie lei denlaquo)

Im drit ten Teil moumlch te ich eine ei ge ne ethi sche Hal tung ent-wi ckeln Zu naumlchst wer den The o ri en von Phi lo so phen des 20 Jahr hun derts vor ge stellt die wie Al bert Schweit zer raquoEhr furcht vor dem Le benlaquo ver lan gen oder Tie ren ei nen ho hen mo ra li schen Sta tus zu spre chen wie Pe ter Sin ger und Tom Re gan (Das ei sershyne Tor) Die se Po si ti o nen zwin gen dazu grund saumltz li cher da ruuml-ber nach zu den ken was das raquoTier rechtlaquo vom raquoTier schutzlaquo un-ter schei den soll (Schutz oder Recht) An schlie szligend moumlch te ich die Schwach stel len der gaumln gi gen Tier rechts phi lo so phi en he raus-ar bei ten und zei gen wa rum ich sie we der dem Men schen fuumlr an-ge mes sen hal te noch fuumlr all ge mein prak ti ka bel (Eine art ge rech te Mo ral) Da ran schlie szligen sich mei ne Uumlber le gun gen an was ein an ge mes se ner Um gang mit Tie ren sein koumlnn te (Gut besser am besten)

Sol cher ma szligen ge ruumls tet koumln nen wir uns im vier ten Teil mit den vie len Prob le men be fas sen die sich im All tag stel len Das ers te die ser Ka pi tel bi lan ziert das all taumlg li che Cha os im Um gang mit Tie ren (Lie ben ndash Has sen ndash Es sen) Da nach wen den wir den Blick auf die recht li che Si tu a ti on und un ter zie hen die Lo gik un-se res Tier schutz ge set zes ei ner ge nau e ren Pruuml fung (Ein kur zer Text uumlber das Touml ten) Das naumlchs te Ka pi tel gilt der Jagd Ist Ja gen art ty pi sches Ver hal ten des Men schen oder eine staat lich le gi ti-mier te Per ver si on (Na tur schutz oder Lust mord) Und wie sieht

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es mit un se rer Er naumlh rung aus Wel che Ar gu men te spre chen da-fuumlr dass Men schen in un se ren heu ti gen west li chen Ge sell schaf-ten noch Tie re touml ten duumlr fen um sich von ih nen zu er naumlh ren Und wel che Ar gu men te spre chen da ge gen Viel leicht gibt es so gar schon in Kuumlr ze ei nen Aus weg der uns end lich hilft die Mas sen-tier hal tung zu be sei ti gen (Jen seits von Wurst und Kaumlse) Eben so stellt sich die Fra ge un ter wel chen Um staumln den Tier ver su che zu-kuumlnf tig er laubt sein soll ten und un ter wel chen nicht (Das Tier als Dum my) Ist es mo ra lisch ver tret bar Tie re in Zo o lo gi schen Gaumlr ten zu hal ten Und wenn ja wel che und wel che nicht (Alshycat raz oder Psycho top) Zoos ver ste hen sich heu te als raquoNa tur-schutz zent renlaquo die Tie re er hal ten die in ih ren Hei mat laumln dern vom Aus ster ben be droht sind Wie ist dies zu be wer ten (Das Zeit al ter der Ein sam keit) Da bei sto szligen wir auf die Schwie rig-keit dass Tier schutz Tier recht und Ar ten schutz kei ne na tuumlr li-chen Ver buumln de ten sind son dern sich in ih rer Phi lo so phie ih rer Welt an schau ung und ih ren Ziel set zun gen stark un ter schei den (Das un ver soumlhn li che Tri um vi rat) Das Schluss wort bi lan ziert die se Er kennt nis se und fragt was wir aus al le dem prag ma tisch fol gern soll ten und in wel chen Schrit ten es ge sche hen koumlnn te (Scho pen hau ers Trep pe)

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Das Men schen tier

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Wahr heit zu hal ten Aber die ses Bild hat sich schon oft ver aumln-dert und es wird sich ge wiss noch wei ter ver aumln dern

Men schen nei gen dazu die Welt in der sie le ben auf zu raumlu-men Es ist eine ziem lich art ty pi sche Ver hal tens wei se Wir sor tie-ren die all taumlg li chen Din ge un se res Le bens und eben so sor tie ren wir die Ge dan ken uumlber die Welt die uns um gibt Jede Ord nung auch die der Na tur ist also ein mensch li cher Ent wurf Und al-lem An schein nach ent stand das Be duumlrf nis die Welt zu ord nen in un se rer Ent wick lungs ge schich te pa ral lel zur Ent wick lung der Spra che Denn ohne die kuumlnst li che Auf raumlum ar beit der Spra che waumlre die Vor stel lung von ei ner raquoOrd nung der Schoumlp funglaquo oder der raquoNa turlaquo nicht moumlg lich

Wer auf die Ord nung an ge wie sen ist be wegt sich gern in den si che ren Gren zen ei nes Sys tems Nur in ner halb ei nes sol chen Ord nungs ge fuuml ges fragt man nach Wahr heit und Gel tung Rich-tig keit Me tho de und Be deu tung Zu leicht uumlber sieht der Ord ner dann die kuumlnst li che Be hau sung und die selbst ge zim mer ten Re-ga le in die er die Welt so sorg faumll tig hi nein sor tiert Sel ten ge lingt ihm ein Blick aus dem Fens ter in die un ge wis se Land schaft die ihn um gibt Und nur ein ge wal ti ger Sturm ein Blitz schlag oder eine Er schuumlt te rung zwingt den Ver wal ter der Welt die si che re Wohn statt zu ver las sen und sich ein an de res Haus zu bau en das den An fein dun gen des neu en Kli mas wi der steht

Erst im Ruumlck blick auf die vie len Irr tuuml mer der Ver gan gen heit er ken nen wir dann un se re ei ge ne Un zu laumlng lich keit beim Auf-raumlu men In der Ge gen wart er scheint uns die je wei li ge Ord nung meis tens so selbst ver staumlnd lich dass wir gern uumlber jede Moumlg-lich keit der Ver aumln de rung lauml cheln So ha ben Men schen mit voumll li-ger Ge wiss heit an ge nom men dass die Erde eine Schei be ist und dass Frau en und Skla ven kei ne Rech te zu ste hen Und mit ei nem eben sol chen Lauml cheln be trach ten wir heu te die Gruumln de mit de-nen Men schen sich im Lau fe der Jahr hun der te von den Tie ren zu un ter schei den glaub ten

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Schon die al ten Grie chen ins be son de re Aris to te les (384 v Chr ndash 322 v Chr) ha ben sich fuumlr die Ge schich te und das in vie len De tails ver bor ge ne Sys tem der Na tur in te res siert Er teilt die Tie re in Klas sen ein ver sucht zu er gruumln den was Le ben ist und schafft da mit die Grund la gen der Zo o lo gie Aber Aris to te-les kennt nur we ni ge hun dert Tie re Eine raquovoll staumln di ge Na tur-ge schich telaquo wird das ers te Mal im 18 Jahr hun dert ge schrie-ben ndash und auch sie ist aumlu szligerst un voll staumln dig Seit dem ver fuuml gen wir nicht nur uumlber ei nen rei chen Vor rat an ge dach ten Ord nun-gen von den Schoumlp fungs my then bis hin zur Mo le ku lar bi o lo gie Wir ken nen auch eine Wis sen schaft die sich raquoTax ono mielaquo nennt und jede Pfan ze und je des Tier sys te ma tisch in eine In ven tar liste der Na tur ein traumlgt

Da bei ver ra ten die Denk sche ma ta der Na tur for scher nicht nur et was uumlber die klas si fi zier te Na tur selbst son dern eben so uumlber das Ord nungs be duumlrf nis und die Pfif fig keit des mensch li-chen Geis tes Das 18 Jahr hun dert ist eine Zeit in der das Buumlr-ger tum an die Macht draumlngt und sich zu neh mend ge gen den Adel auf ehnt Sei ne schaumlrfs te Waf fe ist et was das man raquoVer nunftlaquo oder raquoRa ti o na li taumltlaquo nennt und das man ge gen den Glau ben ins Feld fuumlhrt Fuumlr die Phi lo so phen der Ra ti o na li taumlt ist die Welt kei-ne vor ge fun de ne Schoumlp fung mit fes ter Ord nung son dern et was dass man geis tig durch drin gen und auf sei ne Lo gik und Wi der-spruuml che un ter su chen kann Da bei ge ben zu naumlchst die Phy sik und die Ma the ma tik das Sche ma vor nach dem alle Er kennt nis auch jene von Pfan zen und Tie ren funk ti o nie ren soll Die Sys te ma ti-ker der Na tur ge schich te su chen nach un ver ruumlck ba ren Kri te ri en ob jek ti ven Ge setz mauml szligig kei ten und lo gi schen Ver bin dun gen um die un uuml ber sicht li che Welt der Le be we sen ih rer raquowah ren An ord-nunglaquo ge maumlszlig ein zu tei len Aber nicht alle Na tur for scher glau-ben dass ein sol ches Vor ha ben tat saumlch lich ge lin gen kann Man-che hal ten die Na tur fuumlr zu reich hal tig um sie auf die se Wei se zu klas si fi zie ren Welt an schau un gen tref fen auf ei nan der auf der

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ei nen Sei te der Glau be an ein vom Men schen prin zi pi ell voumll lig durch schau ba res Na tur sys tem auf der an de ren Sei te eine un er-gruumlnd li che Schoumlp fung in der der Mensch sich im mer nur tas-tend fort be wegt

Die ers te Va ri an te gilt im 18 Jahr hun dert als der mo der ne-re An satz Man ori en tiert sich da bei an ei nem Ra ti o na lis mus den Reneacute Des car tes (1596 ndash 1650) schon hun dert Jah re zu vor neu be gruumln det hat Die ser Ra ti o na lis mus ori en tiert sich an der Me cha nik Die Schoumlp fung Got tes er scheint als eine ein zi ge klug aus ge tuumlf tel te Ma schi ne die der Mensch Stuumlck fuumlr Stuumlck zu be-herr schen lernt Und das Uni ver sum be steht aus Ma te rie in Be-we gung or ga ni siert nach ma the ma ti schen Ge set zen Ob gleich das 18 Jahr hun dert zent ra le Spe ku la ti o nen des Phi lo so phen wi-der legt ori en tiert es sich in vie lem an Des car tesrsquo me cha nis ti scher Denk wei se Sie tut dies vor zugs wei se in je nen Dis zip li nen de-ren Er kennt nis fort schritt zu naumlchst ge ring bleibt Und nir gend-wo trifft dies in ei nem sol chen Maszlig zu wie bei der Er for schung der bi o lo gi schen Na tur

Doch die ses Welt bild hat prob le ma ti sche Fol gen Wer die Welt kon se quent nach me cha nis ti schen Grund saumlt zen be trach tet hat fuumlr den Be reich der nicht mensch li chen Na tur we nig Ver staumlnd nis Fuumlr Des car tes sind Tie re nichts als Ma schi nen Es macht kei nen Un ter schied ob eine Ma schi ne die aumlu szlige re Ge stalt und die in ne-ren Or ga ne ei nes Af fen hat oder ob es sich da bei tat saumlch lich um ein le ben des Tier han delt Denn relevantes Le ben kommt fuumlr den Den ker nicht durch zir ku lie ren des Blut und Reizempfindungen in den Koumlrper Son dern bedeutsames Le ben ga ran tie ren ein zig und al lein der er leuch te te Geist und sei ne Spra che

Des car tesrsquo Zeit kennt we der den Be griff des raquoOr ga nis muslaquo die Be son der heit des Le bens noch die Evo lu ti on son dern eben nur die Me cha nik Trotz dem ist sei ne The o rie von den Tie ren als see len lo se Au to ma ten im 17 und 18 Jahr hun dert aumlu szligerst um-strit ten Fran zouml si sche Phi lo so phen schrei ben Buch um Buch uumlber

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 329783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 32 10082021 10493410082021 104934

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die Tier-Fra ge und be feh den sich da bei uumlber mehr als hun dert Jah re Noch weiszlig man nichts von ei ner raquoBi o lo gielaquo Man be treibt eine neue Dis zip lin die sich raquoNa tur ge schich telaquo nennt und da-mit auf raumlumt die Ge schich te von Le be we sen als eine wahl lo se Samm lung von Er zaumlh lun gen an zu se hen Bis her schrie ben Au to-ren um stands los von der Fang wei se der Tie re ih rer Ana to mie ih rer bib li schen und al le go ri schen Be deu tung ih rem prak ti schen Ge brauch ih rer Ver meh rung ih ren Stim men und Spra chen ih-ren Be we gun gen ih rem Al ter und von der Sym pa thie oder An-ti pa thie des Ver fas sers Auch Koch re zep te wur den von Fall zu Fall hin zu ge fuumlgt

Ein zo o lo gi sches Sys tem ist zu An fang des 18 Jahr hun derts weit ge hend un be kannt die Ver wandt schafts ver haumllt nis se der Pfan zen und Tie re sind dif fus ge ahnt und wer den eher nach Le-bens raumlu men be stimmt als nach koumlr per li chen Merk ma len Tie re die nachts ja gen ste hen da bei eben so in ei nem Ord nungs ge fuuml ge wie Tie re die fie gen koumln nen im Wald oder in ei nem See le ben Be reits die Pries ter schrift der bib li schen Ge ne sis hat te die Welt der Tie re und Pfan zen nicht nach ana to mi schen Merk ma len un-ter teilt son dern in Be zug auf den Le bens raum Pfan zen und Tie re des Mee res der Luft und der Erde Uumlber mehr als tau send Jah re kann ten auch der Is lam und die Hin dus Ord nungs sys teme die Tie re in ih rem Oumlko sys tem ver an ker ten

In der hin du is ti schen Samk hya-Tra di ti on exis tie ren vier zehn Klas sen un ter schied li cher Le be we sen ein ge teilt in acht For men himm li scher und sechs ir di scher Le be we sen zu de nen auch der Mensch ge houmlrt Als wei te res Un ter schei dungs merk mal dient die Art und Wei se der Ge burt Im gro szligen in di schen Na ti o nal epos aus dem 4 Jahr hun dert dem Ma hab har ata heiszligt es raquoAuf die ser Erde gibt es zwei Ar ten von Le be we sen die Be weg li chen und die Un be weg li chen Die Be weg li chen ha ben ei nen drei fa chen Schoszlig Sie sind aus dem Ei aus feuch ter Hit ze und Le ben dig-Ge bo re ne Von al len be weg li chen Le be we sen wie de rum sind die je ni gen die

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 339783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 33 10082021 10493410082021 104934

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le ben dig ge bo ren sind hellip die bes ten Die bes ten un ter den le ben-dig Ge bo re nen sind die die zum Men schen ge schlecht ge houml ren und die Nutz tie relaquo4

Die neu en Sys te me des 18 Jahr hun derts be frei en die Na tur-ge schich te von al lem was sich mit den Me tho den der Zeit nicht wis sen schaft lich exakt be schrei ben laumlsst Koch re zep te fal len so-wie so un ter den Tisch aber auch man che Ver hal tens be ob ach-tun gen und vor mals wich ti ge Ei gen schaf ten wie zum Bei spiel der Ge ruch Ge forscht wird mit Lupe und Mik ros kop Li ne al und Pin zet te Der wich tigs te Mann auf die sem Ge biet ist der schwe-di sche Na tur for scher Carl von Linneacute (1707 ndash 1778) Er ori en-tiert sich an Aris to te les den er be wun dert nicht an Des car tes Ge ra de zu re vo lu ti o naumlr de mo kra tisch ent wi ckelt der auf ge klaumlr te Schwe de im 18 Jahr hun dert ein be schrei ben des Sys tem der Na-tur frei vom the o lo gi schen Fir le fanz sei ner Zeit Mit der Ak ri bie ei nes Brief mar ken samm lers dem Voll staumln dig keit mehr be deu tet als das Be stau nen ein zel ner Wer te ord net er die be leb te Na tur nach Ar ten Gat tun gen Ord nun gen und Klas sen Vier Va ri ab len die Form der Ele men te ihre An zahl die raumlum li che An ord nung der Ele men te und ihre re la ti ve Grouml szlige be stimm ten von nun an den Platz im Sys tem

Un ter der Leit dis zip lin der Bo ta nik wan delt sich die Na tur ge-schich te in eine ge ord ne te Welt aus Li ni en und Flauml chen Ent schei-dend sind die sicht ba ren Un ter schei dungs merk ma le wie Bluuml ten und Staub ge fauml szlige Blaumlt ter und Fruumlch te Fuumlszlige und Hufe Fe dern und Flos sen So setzt Linneacute fuumlr jede Pfan zen- und Tier klas se jede Ord nung und Gat tung be stimm te Merk ma le fest die er als die wich ti ge ren er ach te t Denn nur un ter der An nah me sol cher pri vi-le gier ter Struk tu ren ist es ihm moumlg lich die ver schie de nen Spe zi es im Ge samt sys tem un miss ver staumlnd lich zu ras tern Der mensch li che Ord ner be schreibt also nicht ein fach die be leb te Na tur Er fuumlgt ihr auch et was hin zu die Ent schei dung naumlm lich was in der For men-viel falt der Le be we sen wich ti ge Merk ma le sind und was nicht4

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 349783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 34 10082021 10493410082021 104934

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Wie alle da ma li gen Na tur for scher nimmt Linneacute an dass die Ein tei lun gen die der mensch li che Ver stand macht tat saumlch lich ei ner ob jek ti ven Ord nung der Na tur ent spre chen Doch Lin neacutes Sys tem ist wie er selbst weiszlig nicht raquona tuumlr lichlaquo Sei ne Struk tu ren sind kei ne die er in der Na tur als Un ter schei dungs kri te ri en vor-fin det Denn was sich am Schreib tisch nun muumlh sam in Ord nun-gen pres sen laumlsst liegt wie der fran zouml si sche Na tur for scher Mishychel Adan son (1727 ndash 1806) fest stellt in der Wild nis wie Kraut und Ruuml ben durch ei nan der raquohellip eine kon fu se Mi schung aus We-sen hellip die der Zu fall ei nan der an ge nauml hert zu ha ben scheint Hier wird das Gold mit ei nem an de ren Me tall mit ei nem Stein oder mit Erde ge mischt Dort waumlchst die Ei che ne ben dem Veil chen Un ter die sen Pfan zen ir ren eben falls der Vier fuumlszlig ler das Rep til und das In sekt um her Die Fi sche mi schen sich so zu sa gen mit dem waumlss ri gen Ele ment in dem sie schwim men und mit den Pfan zen die auf dem Grun de der Ge waumls ser wach sen hellip Die se Mi schung ist so gar so all ge mein und so viel faumll tig dass sie ei nes der Na tur ge set ze zu sein scheintlaquo5

Der Wi der spruch zwi schen ei ner tax ono mi schen und ei ner oumlko lo gi schen Ord nung der Na tur ist of fen sicht lich Er fin det sich noch heu te in der Dis kus si on um die Aumls the tik von Zoo an la gen Soll man die Tie re nach Ver wandt schafts ver haumllt nis sen sam meln also in Raub tier haumlu sern An ti lo pen haumlu sern und Hirsch an la gen so dass der Be su cher zwi schen den ana to mi schen Be son der hei-ten der Ar ten ndash mit un ter so gar den ge o gra fi schen Va ri an ten ei ner ein zi gen Art ndash zu un ter schei den lernt Oder ge waumlhrt die Nach-ge stal tung ei nes Na tur bi o tops ei ner af ri ka ni schen Sa van ne oder ei nes al pi nen Pa no ra mas den wich ti ge ren Ein blick in die Ord-nung der Na tur

Zwar steht fuumlr Linneacute und sei ne Kol le gen fest dass die raquowah-re Ord nunglaquo der Na tur sich an den koumlr per li chen Merk ma len zu ori en tie ren hat doch muss eine Er klauml rung da fuumlr ge fun den wer-den wa rum die se Ord nung in der frei en Na tur nicht von al lein 5

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sicht bar wird Ohne Zwei fel ist das Sys tem der Na tur kei ne zeit-lo se Schoumlp fung son dern durch Ver aumln de run gen ge kenn zeich net die sich in der Erd ge schich te er eig net ha ben Pa ral lel meh ren sich die Fun de von Fos si li en also von Tie ren die mut maszlig lich aus-ge stor ben sind Es hat al lem An schein nach grouml szlige re ge o lo gi sche Ka tast ro phen in un be kann ter Zahl ge ge ben de nen vie le Ar ten zum Op fer ge fal len sind Doch ha ben die se De sas ter auch zur Ent ste hung von neu en For men ge fuumlhrt

Um den Fak tor der Zeit und sei ne Fol gen fuumlr das Sys tem der Na tur ein zu schaumlt zen gibt es vie le Moumlg lich kei ten Die ein fachs te und mensch lichs te al ler zeit li chen Ord nungs vor stel lun gen ist die Idee al les fol ge ei nem Plan und sei auf ein Ziel hin aus ge rich-tet (Te le o lo gie) Re li gi o nen Phi lo so phi en und Ide o lo gi en funk-ti o nie ren na he zu al le samt ziel ge rich tet Es geht um ein bes se res Le ben auf Er den im Jen seits in ei nem ge rech ten Staat um die Herr schaft uumlber die an de ren uumlber die Pro duk ti ons mit tel oder das Boumlse Selbst un ser All tag ge stal tet sich weit ge hend te le o lo-gisch durch traumlnkt von zu kuumlnf ti ger Er war tung Mo tor jed we-der Te le o lo gie ist der Fort schritts ge dan ke Sein ima gi nauml res Ziel ist der voll kom me ne Zu stand So glau ben christ lich-abend laumln-di sche Ge sell schaf ten gern an eine staumln di ge Ver bes se rung durch An stren gung eine Tu gend die nach cal vi nis ti scher Tra di ti on im Him mel wie auf Er den von Gott ma te ri ell ent lohnt wird Wie na he lie gend also auch in der Na tur die Ent ste hung raquohouml he rerlaquo Le bens for men durch Fort schritt er ken nen zu wol len mit dem End ziel des Men schen

Die Un ord nung der Schoumlp fung mit ei nem goumltt li chen Fort-schritts plan in Ein klang zu brin gen ist das Le bens werk des Schwei zer Na tur for schers und Phi lo so phen Charles Bon net (1720 ndash 1793) Fuumlr Bon net ist die Zahl der Ar ten und ihre aumlu-szlige re Ge stalt von Gott ein fuumlr al le Mal fest ge legt Doch kann sich ein je des Le be we sen per fek ti o nie ren Der Weg vom simp-len Ge muumlt zur ge ni a li schen Leis tung ist vom Schoumlp fer vor ge-

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zeich net Und alle Tie re be schrei ten ihn zeit lich ver setzt nach dem glei chen Mus ter das der Mensch ih nen vor ge lebt hat raquoEs wird ei nen mehr oder we ni ger lang sa men und kon ti nu ier li chen Fort schritt al ler Ar ten zu ei ner houml he ren Ver voll komm nung ge-ben so dass alle Gra de der Stu fen lei ter in ei ner de ter mi nie ren den und kons tan ten Be zie hung fort ge setzt va ri a bel sein wer den hellip Es wird un ter den Af fen Leu te wie New ton und un ter Bi bern wie (den Fes tungs bau meis ter RDP) Vau ban ge ben Die Aus-tern und die Po ly pen wer den in Be zie hung zu den houmlchs ten Ar-ten das sein was die Vouml gel fuumlr die Vier fuumlszlig ler im Ver haumllt nis zum Men schen sindlaquo6

Seit Bon net ist die Vor stel lung von der raquoLei ter der Na turlaquo der Sca la nat urae ein wich ti ges In ven tar des na tur ge schicht-li chen Den kens Fort schritt Ver voll komm nung und goumltt li cher Plan ndash die se drei Grouml szligen be stim men die Vor stel lung vom Wer-den der Na tur vom 18 Jahr hun dert bis in die Ge gen wart hi nein Das Prin zip nach dem die Evo lu ti on Le ben her vor bringt sei un ver meid lich und von An fang an vor her be stimmt Nicht we-ni ge E vo lu ti ons the o re ti ker ha ben dies eben falls ge glaubt und zwar mit be acht li cher Kon ti nu i taumlt Der eng li sche Na tur for scher Alf red Rus sel Wall ace (1823 ndash 1913) der ge mein sam mit Dar win die The o rie der na tuumlr li chen Se lek ti on ent wi ckelt hat te hielt nicht nur den mensch li chen Geist und sein Mo ral emp fin den son dern zu dem auch die wei che nack te emp find sa me Haut des Men-schen fuumlr das Re sul tat ei ner not wen di gen Ent wick lung

Doch schon im 18 Jahr hun dert reg ten sich zu gleich vor sich-ti ge Zwei fel an der Stim mig keit ei ner sol chen Vor ge formt heit Denn wie soll te man Na tur ka tast ro phen be wer ten Waumlh rend die meis ten Na tur for scher sie als Teil des goumltt li chen Schoumlp-fungs plans in ter pre tier ten zo gen an de re ver gleichs wei se fins te-re Schluumls se Und so wur de tat saumlch lich ein gro szliges Erd be ben zum in di rek ten Aus louml ser der Evo lu ti ons the o rie naumlm lich je nes von Lis sa bon im Jahr 1755 Wer uumlber die Ka tast ro phe nach dach te 6

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konn te star ken Zwei fel da ran he gen dass die Welt ord nung aus-ge kluuml gelt und har mo nisch sei

Die wei test rei chen den Schluss fol ge run gen zog der eng li-sche Pfar rer und Na ti o nal oumlko nom Tho mas Ro bert Malt hus (1766 ndash 1834) Nicht nur die ge o lo gi sche Na tur und ihr Ge-fah ren ri si ko son dern auch die Ver meh rung der Be voumll ke rung wur de nun als Uumlbel er kannt Im Jahr 1798 pub li zier te Malt-hus sei nen Es say on the Princi ple of Po pu la ti on (Das Be voumllshyke rungs ge setz) die ers te Mahn schrift vor den Ge fah ren ei ner Be voumll ke rungs ex plo si on Bei ei ner Ver dop pe lungs ra te der Welt-be voumll ke rung in ner halb von fuumlnf und zwan zig Jah ren er rech ne-te Malt hus wer de ihr exponent iel les An wach sen auf grund der von der Um welt ge setz ten Gren zen not wen dig zu Ar mut Ka-tast ro phen und Tod fuumlh ren Der bib li sche Auf trag raquoSeid frucht-bar und meh ret euchlaquo er schien mit ei nem Mal als ein Fluch Ein gna den lo ser raquoKampf ums Da seinlaquo (strugg le for life) war ent fes selt Das Ein zi ge was blieb war die Hoff nung die ka-tast ro pha len Fol gen der goumltt li chen An wei sung so weit wie moumlg lich ein daumlm men zu koumln nen

In ei ner Zeit als die Ge sell schafts the o rie noch der Bi o lo-gie den Leuch ter vo ran und nicht wie heu te die Schlep pe hin-terh er traumlgt be geis tert sich vor al lem ein eng li scher Dorf pfar rer Charles Dar win (1809 ndash 1882) fuumlr die Malt hus rsquoschen Ge set ze Denn wenn es rich tig ist dass sich ein Tier mit ei ner so ge rin-gen Ver meh rungs ra te wie der Mensch ge gen uumlber sei nen Art ge-nos sen durch setz te so gab es sicht lich an de re Kri te ri en fuumlr die Uumlber le bens fauml hig keit ei ner Po pu la ti on als die Zahl ih rer Ge bur-ten Der Maszlig stab fuumlr den Er folg ei ner Spe zi es war ihr Durch set-zungs ver mouml gen oder wie Dar win es spauml ter in den Prin zi pi en der Bio logie des jun gen Phi lo so phen Her bert Spen cer (1820 ndash 1903) le sen konn te raquothe sur vi val of the fit testlaquo

Dar wins na tur kund li che Stu di en wa ren ur spruumlng lich von dem Ge dan ken be seelt die nicht a ni ma li sche Iden ti taumlt des Men schen

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 389783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 38 10082021 10493410082021 104934

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zu be wei sen Erst der Sieg des Ent de cker stol zes uumlber das Ent-set zen ver lieh ihm schlieszlig lich den Mut den be ruumlhm ten Satz zu schrei ben raquoUnd ich bin bei na he uumlber zeugt (der Mei nung mit der ich an die Fra ge he ran ge tre ten bin voumll lig ent ge gen ge setzt) dass die Spe zi es (mir ist es als ge staumln de ich ei nen Mord ein) nicht un ver aumln der lich sindlaquo7

Dar wins kuumlh ne Ver mu tung war nicht ganz neu Be reits ein hal bes Jahr hun dert zu vor hat ten der fran zouml si sche Na tur for scher GeorgesshyLou is Lec lerc Comte de Buf fon (1707 ndash 1788) und der Phi lo soph De nis Dide rot (1713 ndash 1784) uumlber eine Ver aumln de-rung der Ar ten spe ku liert Be son ders JeanshyBap tiste de La marck (1744 ndash 1829) be haup te te die all maumlh li che Ent wick lung der Ar-ten aus pri mi ti ve ren Vor for men die so ge nann te Trans mu ta ti on La marck war nicht nur ein Pi o nier der mit Jahr mil li o nen han-tier te als alle Welt die Erde noch ei ni ge tau send bis hun dert tau-send Jah re jung waumlhn te son dern er praumlg te (zur glei chen Zeit wie zwei deut sche Na tur for scher) das Wort Bi o lo gie Bei ihm wan del ten sich die Le be we sen da durch dass sich ihre koumlr per-li chen An stren gun gen auf ihr Erb gut aus wir ken Da bei nahm er al ler dings nicht an dass die Ar ten aus ei nan der her vor ge hen wie Dar win es spauml ter tat La ma rcks The o rie ist nauml her an je ner von Bon net Fuumlr ihn ver voll komm nen die ein zel nen Tier ar ten im Lau fe der Zeit ihre An la gen und ent wi ckeln sich da durch im-mer houml her Be son ders voll kom me ne Tie re wie der Mensch sind dem nach sehr alt denn sie ha ben ei nen wei ten Weg von ei nem pri mi ti ven Or ga nis mus bis hin zur heu ti gen Ge stalt hin ter sich ge las sen An de re wie der pri mi ti ve Suumlszlig was ser po lyp ha ben ihre Rei se durch die Zeit ge ra de erst an ge fan gen

La marck war kein Charis mati ker und die zo o lo gi sche All-macht sei nes Vor ge setz ten am Jar din des Plan tes in Pa ris des Ba rons George Cu vier (1769 ndash 1832) ver hin der te dass man sich all zu sehr mit sei nen The o ri en be schaumlf tig te Cu vier war ein be-deu ten der Mann An die Stel le ei ner nach bo ta ni schem Mus ter 7

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 399783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 39 10082021 10493410082021 104934

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ver fah ren den Zo o lo gie setz te er eine neue Wis sen schaft die sich we ni ger an aumlu szlige ren Merk ma len als am Or ga nis mus der Tie-re ori en tier te Doch was die Trans mu ta ti on an be lang te blieb der Ober auf se her der pro tes tan tisch-the o lo gi schen Fa kul tauml ten Frank reichs beim kon ser va ti ven Mo dell Er ver brei te te wei-ter hin eine Ket te von Na tur ka tast ro phen habe als mo di fi zier-te Sint fu ten gan zen Klas sen von Tie ren den Gar aus ge macht Die se The o rie ist weit ge hend rich tig al ler dings schlieszligt sie die Trans mu ta ti on nicht aus

Das wirk lich Re vo lu ti o nauml re an La marck war die Idee die Ge schich te der Na tur nicht vom Men schen aus bis hi nun ter zur Bak te rie zu schrei ben son dern um ge kehrt von der Bak te rie zum Men schen Aus ei nem Mo dell der raumlum li chen Hie rar chie wur de ein Mo dell der zeit li chen Ent wick lung La marck er kann te zu-dem dass das Be wusst sein ei nes Tie res an die Phy si o lo gie und Neu ro lo gie sei nes Koumlr pers ge bun den ist Dem nach ist je der Geist ers tens be grenzt und zwei tens ver aumln der lich

Die phi lo so phi sche Kon se quenz aus La ma rcks Den ken ist so ra di kal dass sie fast ein hun dert fuumlnf zig Jah re lang von nie man-dem ernst haft in Be tracht ge zo gen wur de Wie kann ein Geist der den Ge set zen der Evo lu ti on un ter wor fen ist sich ei gent lich an ma szligen die Na tur der Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Von die ser Schluss fol ge rung woll te die Bi o lo gie al ler dings bis weit ins 20 Jahr hun dert hi nein nicht viel wis sen

Auch Dar wins The o rie von der na tuumlr li chen Se lek ti on der Le be we sen im Rin gen um ihr Le ben und mit der Um welt ent-wi ckel te sich wei ter Ge witz ten Zeit ge nos sen wie Karl Marx (1818 ndash 1883) war auf ge fal len wie stark Dar wins Den ken dem Zeit geist des Vik to ri a ni schen Zeit al ters ver haf tet war raquoEs ist merk wuumlr dig wie Dar win un ter Bes ti en und Pfan zen sei ne eng li-sche Ge sell schaft mit ih rer Tei lung der Ar beit Kon kur renz Auf-schluss neu er Maumlrk te rsaquoEr fin dun genlsaquo und Malt hus schem rsaquoKampf ums Da seinlsaquo wie der er kenntlaquo8 Die Be to nung des Malt hus rsquoschen 8

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 409783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 40 10082021 10493410082021 104934

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Kamp fes von je dem ge gen je den und auch der Fort schritts glau-be in Dar wins Den ken zei gen ihn stark sei ner Zeit ver haf tet

Eine an de re Kri tik kam aus der Bi o lo gie selbst Dar win hat-te noch nichts von Ge nen ge wusst So konn te er nicht er klauml ren was sich bi o che misch er eig ne te wenn Ar ten sich ver aumln der ten Der raquoDar wi nis muslaquo der Jahr hun dert wen de gab schlieszlig lich die Hoff nung auf die Evo lu ti on lie szlige sich al lein durch die na tuumlr li-che Se lek ti on der Ar ten nach Maszlig ga be ih rer An pas sungs fauml hig-keit an die Um welt be gruumln den Man ent deck te die Rol le der Ge-ne tik und zum neu en Er klauml rungs prin zip wur de das Mo dell der zwei Kons t ruk teu re Das Spiel des Le bens er hielt ei nen Wuumlr fel zu faumll li ge Ver aumln de run gen im Gen ma te ri al also so ge nann te Mu tashyti o nen Im Tri alshyandshyEr ror-Ver fah ren ent ste hen im Erb gut ge le-gent lich Ab wei chun gen die dann er folg reich sind wenn sie sich in der Um welt be waumlh ren Da mit war die Idee vom Tisch dass sich neu er wor be ne Ei gen schaf ten oder raquodie ana to mi schen Aus-wir kun gen koumlr per li cher An stren gun genlaquo wie La marck mein te ver er ben koumlnn ten Noch Dar win hat te dies fuumlr denk bar ge hal ten So ver trau te er Er zaumlh lun gen wo nach bei je nen Volks grup pen zu de ren Ri ten die re gel mauml szligi ge Be schnei dung der Pe nis vor haut ge houmlrt sich die Vor haut all maumlh lich ver kuumlrz te Das haumlt te zwar die Be schnei dung uumlber fuumls sig ge macht aber Dar win hat te ge ra-de an de res Ge wich ti ges zu be den ken als da ruuml ber nach zu sin nen

Die Ver kuumlr zung der Vor haut blieb im Wis sens schatz der Dar wi nis ten bis Au gust Weis mann (1834 ndash 1914) im spauml ten 19 Jahr hun dert nach wies dass ein sol cher In for ma ti ons fuss vom aumlu szlige ren Er schei nungs bild zum Erb ma te ri al nicht moumlg lich sei Uumlber fuumlnf Ge ne ra ti o nen kuumlrz te Weis mann ei nem Stamm von Maumlu sen ihre Schwaumln ze ohne dass eine Nach richt uumlber die sen Ein griff die Keim bah nen der Maumlu se er reich te Denn sie he da Auch die Schwaumln ze der nach fol gen den Maumlu se ge ne ra ti o nen blie-ben gleich lang Da be durf te es schon der Spitz fin dig keit des iri schen Dich ters George Bern ard Shaw (1856 ndash 1950) der Weis-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 419783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 41 10082021 10493410082021 104934

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manns schnei den de Wi der le gung der La marckrsquo schen The o rie leicht fer tig vom Se zier tisch wisch te Die Maumlu se be merk te der Dich ter haumlt ten gar kei ne An stren gun gen un ter nom men ihre Schwaumln ze zu ver lie ren waumlh rend sich die Tie re bei La marck ja da rum be muumlht haumlt ten sich zu ver aumln dern

Im Nach hi n ein also war es der pauml da go gi sche Op ti mis mus der La marck in die Irre ge fuumlhrt ha ben soll te So mach te die Hoff-nung auf ei nen ethisch an spre chen den E vo lu ti ons ver lauf ndash die Er war tung die Mensch heit ent wick le sich qua An pas sung an das so zi a le Mi li eu durch Selbst er zie hung zum Bes se ren ndash nur noch eine et was ab sei ti ge Kar ri e re im staats so zi a lis ti schen Bi o lo gie-un ter richt der Sow jet u ni on Wie kalt da ge gen der uumlber le ge ne raquoKampf ums Da seinlaquo der ja ein Kampf um die Fleisch toumlp fe ist ohne Hoff nung der Mensch wer de den kuumlh nen Geist statt sei-nes ma te ri a lis ti schen Gier hal ses nach Houml he rem stre cken Und ein zig die Kir che be wahr te un ver dros sen ei nen la marc kis ti schen Ge dan ken ndash al ler dings ei nen pes si mis ti schen und kei nen op ti-mis ti schen In bes ter Schuumlt zen hil fe fuumlr den fran zouml si schen Che-va li er ver tei digt sie bis heu te ihr mo le ku lar ge ne tisch be denk li-ches Dog ma Adams Un ge hor sam im Gar ten Eden habe zu ei ner raquoErb suumln delaquo ge fuumlhrt die da rauf hin auf alle zu kuumlnf ti gen Ge ne ra-ti o nen uumlber ge gan gen sei

Im mer hin sind in den bei den letz ten Jahr zehn ten ei ni ge Bi o-lo gen wie der et was of fe ner da fuumlr ge wor den der Ver er bung er-wor be ner Ei gen schaf ten ei nen Platz in der Ge ne tik zu las sen Zwar ver er ben sich psy chi sche und phy si sche Le bens er fah run-gen nicht durch ver aumln der te Gene Aber es koumlnn te doch sein dass jene Schal ter die da ruuml ber be stim men wel che ge ne ti sche In for-ma ti on wei ter ge ge ben wird und wel che nicht durch Um welt-ein fuumls se ver aumln dert wer den Uumlber le gun gen wie die se be schaumlf ti-gen so ge nann te Epi gen eti ker seit ei ni ger Zeit sie ha ben ei nen wach sen den Ein fuss auf un se re Vor stel lung von der Evo lu ti on

Die heu ti ge Leit dis zip lin die uns die Ver wandt schaft des Le-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 429783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 42 10082021 10493410082021 104934

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bens ent schluumls seln soll ist die Ge ne tik Wir un ter su chen die Sum-me al ler ge ne ti schen In for ma ti o nen und re gist rie ren da bei Uumlber-ein stim mun gen und Ab wei chun gen mit an de ren Ar ten Doch der Pro zess die Na tur un se rer Na tur zu er ken nen ist noch lan ge nicht ab ge schlos sen und wird wohl auch nie ab ge schlos sen sein Wir wen den Ord nungs sche ma ta auf The o ri en und The o ri en auf Be ob ach tun gen an Nur so kom men wir zu Kau sa li tauml ten und Ge-set zen Doch ihre Be deu tung ver aumln dert sich in dem Maszlige wie wir den Blick punkt un se rer Auf merk sam keit wie der ver la gern Die ser Vor gang des Ent dec kens und des Ver de ckens durch neue Denk sche ma ta ist prin zi pi ell nicht ab schlieszlig bar denn selbst ge-gen waumlr ti ge Evo lu ti ons the o ri en un ter lie gen wei ter hin der Evo-lu ti on

Er staun li cher wei se hat die mo der ne Evo lu ti ons the o rie nur zu ei ner ge ring fuuml gi gen Kor rek tur al ter Denk sche ma ta ge fuumlhrt Wie fruuml her in der Na tur ge schich te er ken nen wir heu te in der Bi o lo gie uumlber all Re gel haf tigk eit Not wen dig keit und Vor tei-le Doch bei nauml he rer Sicht er weist sich die Evo lu ti on ge ra de zu als Herr schafts ge biet der Aus nah men uumlber die Re geln Sie ist eine raquoZweck mauml szligig keit ohne Zwecklaquo wenn auch al lein fuumlr die 01 Pro zent der heu te noch ndash oder ge ra de ndash exis tie ren den Spe-zi es nicht aber fuumlr die 999 Pro zent die in den Ur fu ten dem Ord ovizium dem Perm der Krei de oder dem Ter ti aumlr das Welt-li che seg ne ten E vo lu ti ons bi o lo gen su chen in der Ge schich te der Na tur uumlber all nach Vor tei len die das Uumlber le ben von Ar ten er-klauml ren sol len Da bei ver men gen sie oft zwei ver schie de ne Vor-teils be grif fe Ein mal geht es um Mu ta ti o nen die si tu a tiv vor teil-haf te Ei gen schaf ten fuumlr eine Tier art her vor ge bracht ha ben sol len Eine grouml szlige re Sta tur ein pom pouml se res Ge weih ein staumlr ke res Ge biss sol len Weib chen be ein dru cken und die Nach kom men schaft er-houml hen Da die se Ei gen schaf ten aber oft nichts nuumlt zen wenn der Zu fall die Spiel re geln der Um welt aumln dert gibt es ei nen zwei ten Vor teils be griff Da nach ist das vor teil haft in der Evo lu ti on was

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 439783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 43 10082021 10493410082021 104934

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vom Ende her be trach tet dazu ge fuumlhrt hat dass eine Art uumlber-lebt Nach die ser Sicht wei se kann der mick rigs te Pa vi an auf dem Fel sen sei ne Gene wei ter ge ben wenn die staumlr ke ren Kon kur ren-ten bei ei nem Erd be ben ums Le ben ge kom men sind

An ge sichts zwei er so un ter schied li cher Be deu tun gen von raquoVor teillaquo fragt es sich ob der Be griff in der Evo lu ti ons the o rie uumlber haupt sinn voll ver wen det wer den kann Tat saumlch lich ist er ein Erbe der The o lo gie des 17 und 18 Jahr hun derts die uumlber-all in der Na tur nach der klu gen Ver nunft Got tes such te Dar win kann te die se Tra di ti on gut Als Stu dent ver ehr te er den The o lo-gen Will iam Pa ley (1743 ndash 1805) der na tur kund lich be schla gen die goumltt li che Vo raus sicht auf den neu es ten Stand ge bracht hat te Als Dar win sich von Gott ver ab schie de te und die na tuumlr li che Se-lek ti on er kann te er setz te er uumlber all wo Pa ley raquoGod doeslaquo ge-schrie ben hat te den Satz durch raquoNat ure doeslaquo An Pa leys Vor-stel lung dass die Na tur zweck mauml szligig ein ge rich tet sei und Vor tei le be loh ne hielt Dar win eben so fest wie vie le spauml te re E vo lu ti ons-the o re ti ker

Die Fra ge ist des halb wich tig weil sie zeigt wie eng un se re Vor stel lung von der Na tur bis hi nein in die mo der ne Evo lu ti-ons the o rie von sehr mensch li chen Vor stel lun gen durch setzt ist Statt Vor tei le zu be nen nen wuumlr de es naumlm lich auch aus rei chen zu sa gen dass al les in der Na tur uumlber le ben kann das fuumlr eine Art kei nen toumld li chen Nach teil hat te Ver mut lich uumlber lebt in der Evo lu ti on nicht nur Zweck mauml szligi ges son dern jede Ver aumln de rung die zu min dest nicht zum Aus ster ben fuumlhr t und moumlg li cher wei se liegt ge ra de hie rin der Grund fuumlr eine gro szlige Ar ten viel falt

Die tra di ti o nell ver eng te Sicht wei se gilt ins be son de re bei der Be trach tung des Men schen E vo lu ti ons bi o lo gen koumln nen zahl-rei che Vor tei le be nen nen die er klauml ren wa rum die mensch li che Art so er folg reich ist Men schen sind aumlu szligerst an pas sungs fauml hig und be sie deln fast alle Le bens raumlu me sie sind Al les fres ser mit ei ner gro szligen Nah rungs band brei te sie ha ben eine fe xib le So zi-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 449783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 44 10082021 10493410082021 104934

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al struk tur und ver fuuml gen uumlber ein Selbst be wusst sein das es ih-nen er moumlg licht ihr Ver hal ten zu kor ri gie ren So ge se hen ist der Mensch gleich sam das op ti mal ste al ler Tie re Doch alldem zum Trotz exis tie ren Men schen der Gat tung Homo sap iens erst seit rund 100 000 Jah ren und ihre lang fris ti gen Zu kunfts chan cen ste hen schlecht Denn mit all den vor teil haf ten Ei gen schaf ten ha-ben Men schen in Re kord zeit ihre Um welt zer stoumlrt und das lang-fris ti ge Uumlber le ben der Spe zi es dra ma tisch in fra ge ge stellt Die mit we ni ger spek ta ku lauml ren Vor tei len aus ge stat te ten Di no sau ri-er exis tier ten auf un se rem Pla ne ten hun dert fuumlnf zig Mil li o nen Jah re ganz zu schwei gen von den seit uumlber vier hun dert Mil li o-nen Jah ren na he zu un ver aumln der ten Nau til iden und Ur schne cken

Ge si chert in der Evo lu ti ons the o rie ist dass kei ne ih rer An nah-men ge si chert ist E vo lu ti ons bi o lo gen die ihre Sa che ernst neh-men muumls sen im mer auch die E vo lu ti ons be dingt heit ih res ei ge-nen Er kennt nis ap pa rats ref ek tie ren also mit hin die Evo lu ti on al ler mensch li chen Er kennt nis raquoLetzt lich istlaquo wie der Neuro bio-lo ge Ger hard Roth schreibt raquoje des Nach den ken uumlber die ob jek-ti ve Re a li taumlt sei es wis sen schaft lich oder nicht an die Be din gun-gen mensch li chen Den kens Spre chens und Han delns ge bun den und muss sich da rin be waumlh renlaquo9

Man muss ref ek tie ren dass die un ver meid li chen Ord nungs-mit tel des Geis tes das Den ken und die Spra che nicht die Wirk-lich keit raquoan sichlaquo auf raumlu men Sie sind Mo del le die die un ver-fuumlg ba re Wirk lich keit nach Maszlig ga be der ei ge nen Spiel re geln er klauml ren Nicht erst seit Er for schung der Evo lu ti on in den letz-ten zwei hun dert Jah ren muumlht sich der mensch li che Geist dem Lauf der Welt ei nen ndash nach mensch li chem Er mes sen ndash raquover nuumlnf-ti genlaquo Sinn zu ge ben Doch das Pa ra do xe der Ge schich te liegt da rin dass der mensch li che Geist selbst Pro dukt evo lu ti o nauml rer Pro zes se ist Er ist Maszlig stab und Ge mes se nes zu gleich

An eine tat saumlch lich ob jek ti ve Er kennt nis der Evo lu ti on waumlre nur halb wegs sinn voll zu den ken wenn die Evo lu ti on des Men-9

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 459783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 45 10082021 10493410082021 104934

schen ab ge schlos sen ist und da mit die Stu fe der groumlszligt moumlg li chen Voll kom men heit er reicht hat In den Zei ten vor La marck und Dar win ha ben das nicht nur The o lo gen son dern auch die Na tur-for scher fast al le samt ge glaubt Das mensch li che Be wusst sein sei die un uuml ber trof fe ne Spit zen leis tung des Schoumlp fer got tes ge schaf-fen die Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Sei nen schoumlns-ten Aus druck fand die se Sicht in ei nem Aus spruch des jun gen Phi lo so phen Fried rich Wil helm Jo seph Schel ling (1775 ndash 1854) Er mein te dass der Mensch je nes We sen sei raquoin dem die Na tur das Auge auf schlaumlgtlaquo und sich da mit ih rer selbst be wusst wird Ein huumlb scher Satz aber doch viel zu pa the tisch for mu liert Von der vol len Er kennt nis der Na tur und un se rer selbst sind wir noch im mer weit ent fernt Aber wir koumln nen da ruuml ber stau nen dass die Evo lu ti on mit uns ein Le be we sen her vor ge bracht hat in dem die Na tur sich fuumlr sich selbst fa szi nier bar ge macht hat Wie hat te es dazu kom men koumln nen

bull Der Pri mat Was ist ein Mensch

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 469783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 46 10082021 10493410082021 104934

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ver waist sein Die Mensch heit wird er wacht sein und die Welt je-nes Ge sicht er hal ten ha ben das uns ge gen waumlr tig er scheint Doch wie sah das aus als die Na tur das ers te Mal in ei nem af fen aumlhn-li chen We sen die Au gen auf schlug War es auf ei ner Wald wie-se in ei nem Hain an ei nem Berg hang oder auf ei ner Lich tung War das er leuch te te We sen ein Maumlnn chen oder ein Weib chen Ging es den gan zen Tag auf recht oder saszlig es noch ger ne in der Ho cke eng ge kau ert an sei ne Bruuml der und Schwes tern Und war es eine Ein ge bung ein Blitz schlag als das Selbst be wusst sein das ers te Mal die Fes seln des Pri ma ten ge hirns spreng te

Wir wis sen nicht wo ran Schel ling dach te als er mein te die Na tur habe im Men schen ihr Auge auf ge schla gen Si cher dach te er nicht an ei nen ein zi gen Mo ment dem Mil li o nen an de re folg-ten Er dach te an den raquoMen schen an sichlaquo Und er wuss te nichts vom ost af ri ka ni schen Great Rift Val ley und von haa ri gen Vor-men schen die dort einst haus ten Er leb te in Jena und in Muumln-chen und ei nen Men schen af fen hat te Schel ling nie ge se hen Der ein zig ar ti ge Mo ment in dem die Na tur sich ih rer selbst be wusst wird bleibt eine Me ta pher

Doch wie wur de der Mensch nun tat saumlch lich zum Men-schen Die For mu lie rung ist dop pel deu tig Denn wie der Mensch zum Men schen wur de ndash das ist nicht ein evo lu ti o nauml rer Pro-zess auf der lee ren Welt buumlh ne son dern ein Spiel von Be ob ach-ter und Be ob ach te tem Schau spie ler und Zu schau er Ge schich-te auch Ent wick lungs ge schich te ist nichts Vor ge fun de nes Der Mensch schrieb der fran zouml si sche Phi lo soph JeanshyPaul Sart re (1905 ndash 1980) macht sich selbst wie der Ro man schrift stel ler sei ne Fi gu ren Er ist ge fer tigt aus bi o lo gi schen (ana to mi schen neu ro lo gi schen und phy si o lo gi schen) Be stand tei len zu al ler meist je doch durch jene we nig bi o lo gi schen Weis hei ten mit de nen sich die se Subs tan zen selbst zum raquoMen schenlaquo er ko ren

Das Glei che gilt fuumlr die mensch li che Stam mes ge schich te Auch sie ist zu naumlchst ein mal eine Ge schich te Ihre Ur spruumln ge lie gen im

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al ten Grie chen land als Aris to te les den Men schen und den Af-fen ver wandt schaft lich na he ruumlckt raquoMan che Tie re ste hen zwi-schen Mensch und Vier fuumlszlig ler in ih rem We sen wie Af fen Meer-kat zen und Pa vi a ne hellip Ihr Ge sicht hat vie le Aumlhn lich kei ten mit dem des Men schen Nase und Oh ren glei chen den sei nen und Zaumlh ne hat er auch wie ein Mensch die Vor der zaumlh ne wie die Ba cken zaumlhnelaquo10 Auch Aris to te lesrsquo Schuuml ler The oph rast (ca 370 v Chr ndash ca 288 v Chr) be steht auf der Aumlhn lich keit zwi schen Men schen und Tie ren Er lehnt es so gar ab Fleisch zu es sen oder Tie re zu op fern da man sei ne Ver wand ten nicht ver spei se

Aris to te les und The oph rast stell ten den Men schen zwar ne-ben den Af fen ndash Men schen af fen kann te man noch nicht ndash aber die al ten Grie chen hat ten ihn nur sehr un ge faumlhr zu ei nem Tier un ter Tie ren er klaumlrt Den naumlchs ten Schritt mach te mehr als zwei-tau send Jah re spauml ter Carl von Linneacute An der Zu ge houml rig keit des Men schen zu den Saumlu ge tie ren be stand fuumlr den Schwe den kein Zwei fel die Be haa rung und das Stil len der Jun gen be lehr ten un-miss ver staumlnd lich da ruuml ber Auch die Ver wandt schaft mit Af fen und Men schen af fen stand au szliger Fra ge Hier wa ren es die fa chen Fin ger- und Fuszlig nauml gel statt der Klau en der ab ge spreiz te Dau-men die Greif haumln de die zwei Zit zen der Weib chen und der frei he run ter haumln gen de statt am Un ter leib an lie gen de Pe nis ndash Merk-ma le die groumlszlig ten teils auch schon Aris to te les auf ge fal len wa ren

Doch Linneacute zouml ger te vor der Kon se quenz Haumln de rin gend such-te der got tes fuumlrch ti ge Ana tom nach ei nem Un ter schied zwi schen dem Men schen und den uumlb ri gen von ihm so ge nann ten raquoPri ma-tenlaquo raquoIch ver lan gelaquo schrieb er 1747 sei nem deut schen Freund Jo hann Ge org Gme lin raquovon Ih nen und von der gan zen Welt dass Sie mir ein Gat tungs merk mal zei gen hellip auf grund des sen man zwi schen Mensch und Affe un ter schei den kann Ich weiszlig selbst mit aumlu szligers ter Ge wiss heit von kei nemlaquo11

Nach sei nen Kri te ri en haumlt te Linneacute den Men schen zu min dest mit dem Schim pan sen ge mein sam in die sel be Gat tung ein ord-10

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nen muumls sen Der Ge dan ke schweb te zeit gleich auch dem Phi lo so-phen JeanshyJacques Rous seau (1712 ndash 1778) vor als er Schim pan-sen Orang-Ut ans und Men schen so gar als Ver tre ter der Spe zi es Mensch an sah Rous seau hat te nie ei nen Men schen af fen ge se-hen Aber die Be rich te die er von Ex pe di ti o nen nach Af ri ka und Suumld ost a si en las lie szligen in ihm kei nen Zwei fel dass die da rin be schrie be nen Men schen af fen raquowe der Tie re noch Goumlt ter son-dern Men schenlaquo sei en12 Fuumlr den Auf klauml rer wa ren Men schen af-fen edle Wil de die von kei ner Zi vi li sa ti on in ih rem fried fer ti gen We sen zer stoumlrt sei en an ders als die Men schen in Eu ro pa Eben-so dach te we nig spauml ter der schot ti sche Sprach for scher James Bur nett Lord Mon boddo (1714 ndash 1799) Auch er be trach te te den Orang-Utan als ei nen Men schen naumlm lich als ei nen raquosprach-losen Wil denlaquo

In ter pre ta ti o nen wie Rous seau sie in Pa ris und Bur nett bald da rauf in Kin card ines hire wag ten wa ren Linneacute im schwe di schen Upp sa la fremd Den Men schen ins Tier reich ein zu ord nen war in den Au gen der stren gen pro tes tan ti schen Kir che Suumln de ge nug und Linneacute zouml ger te den letz ten Schritt zu tun In sei ner Not sor-tier te er 1758 ach sel zu ckend Mensch und Schim pan se in un ter-schied li che Gat tun gen zu sam men ge fasst in der Ord nung der Pri ma ten in der sie auch heu te noch mehr schlecht als recht huumlbsch ge trennt ne ben ei nan der ho cken Homo sap iens der raquoin-tel ligi ble Menschlaquo und Pan trog lody tes der raquohoumlh len be woh nen-de Faunlaquo

So weit so schoumln Der Mensch wur de der obers te Pri mat das houmlchs te raquoHer ren tierlaquo Linneacute be kam kei nen Aumlr ger mit der Kir-che und die Na tur wis sen schaft den gro szligen Wurf des Linneacute rsquoschen Sys tems Wenn nur die se Nach barn nicht wauml ren Seit Be kannt-wer den der Men schen af fen be muumlh ten sich Wis sen schaft ler und The o lo gen im mer wie der um den Ver such den klei nen Gra ben mit gro szligen Was sern zu fuumll len der Homo sap iens und Pan troshyglody tes bei ih rer ord nungs ge mauml szligen Ver ge sell schaf tung auf der 12

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 509783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 50 10082021 10493510082021 104935

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Af fen in sel trennt Sie eva ku ier ten den Men schen vom Pri ma ten-fel sen und schu fen ihm eine ei ge ne Ord nung

In die ser Vor stel lungs welt wuchs auch der The o lo gie stu dent Charles Dar win auf Das fruuml he 19 Jahr hun dert war eine got-tes fuumlrch ti ge bie der mei er li che Zeit Doch je mehr er sich mit der Ver aumln de rung der Ar ten be schaumlf tig te umso deut li cher wur de Dar win dass es mit der of fi zi ell be kun de ten Son der stel lung des Men schen im Uni ver sum nicht weit her sein konn te So no tier te er schon er staun lich fruumlh in sein Ta ge buch raquoDer Mensch haumllt sich in sei ner Ar ro ganz fuumlr ein groszlig ar ti ges Werk des be son de ren Ein grei fens ei ner Gott heit wuumlr dig Es duumlrf te be schei de ner und wie ich glau be auch rich tig sein ihn als aus den Tie ren ent stan-den an zu se henlaquo13

Dar win hat te den noch zwoumllf Jah re ge zouml gert bis er sich schlieszlig lich ge trau te nach der all ge mei nen Dar stel lung ei ner Evo-lu ti ons the o rie im Jahr 1859 sei ne Schluss fol ge run gen in Be zug auf den Men schen in Druck zu ge ben Die Ab stam mung des Men schen aus dem Jahr 1871 ist ein ge maumlch li ches Buch in ver-soumlhn li chem Ton fall Der Na tur for scher er zaumlhlt da rin wie ein gu-ter al ter Groszlig va ter wo her die Pfan zen die Tie re und die Eng-laumln der kom men Die raquoAb wer tunglaquo des Men schen geht da bei ein her mit ei ner kon ti nu ier li chen raquoAuf wer tunglaquo der Tie re raquoWir ha ben ge se henlaquo schreibt Dar win raquodass die Emp fin dun gen und Ein druuml cke die ver schie de nen Er re gun gen und Fauml hig kei ten wie Lie be Ge daumlcht nis Auf merk sam keit Neu gier de Nach ah mung Ver stand usw de ren sich der Mensch ruumlhmt in ei nem be gin nen-den oder zu wei len selbst in ei nem gut ent wi ckel ten Zu stand bei den nie de ren Tie ren ge fun den wer denlaquo14

La marck und Dar win wa ren die Ers ten die mit Mit teln der mo der nen Na tur wis sen schaft be haup te ten was vie le Kul tu ren und Zei ten schon zu vor re li gi oumls ge ahnt hat ten raquoNa tuumlr lichlaquo ist es ab surd eine Tei lung des Tier reichs in zwei Ka te go ri en vor zu-neh men ndash in eine mensch li che und eine nicht mensch li che Ka-13

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Page 11: Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen · Leseprobe Professor Dr. Richard David Precht Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen »Fazit:

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mals auch nur acht an der Zahl ei nes un an tast ba ren Rechts auf Le ben Der Tier schutz wur de 2002 als Staats ziel im deut schen Grund ge setz ver an kert Die gra vie rend ste Ver aumln de rung aber sind ohne Zwei fel die vie len Men schen die sich feisch los oder ve-gan er naumlh ren Das Wort raquove ganlaquo in den Neun zi gern noch et-was houmlchst Obs ku res das nur von we ni gen selt sam blut lee ren Bio-Vam pi ren be trie ben wur de ist heu te in al ler Mun de Ein vega nes Koch buch er reich te juumlngst eine Mil li o nen auf a ge Und na he zu je der kennt ei nen Vega ner oder haumlu fi ger eine Ve gan erin Nach ei ner Um fra ge des Al len sba cher Ins ti tuts aus dem Jahr 2015 gibt es in Deutsch land in zwi schen 78 Mil li o nen Ve ge ta-rier und 900 000 Vega ner1

In den west li chen In dust rie na ti o nen steigt die Sen si bi li taumlt im Um gang mit Tie ren un auf halt sam an ins be son de re bei jun gen Frau en Doch die se Hal tung hat zu gleich et was sehr Pri va tes Schoumln heit Fit ness Ge sund heit und Tier lie be sind meist auf ei-nen Nah ho ri zont be schraumlnkt Wa ren der Kampf fuumlr Tier rech te und die veg ane Er naumlh rung fruuml her fast un trenn bar mit ei nan der ver bun den ge we sen so hat sich das eine heu te vom an de ren ge-loumlst In West eu ro pa gibt es in zwi schen mehr Mas sen tier hal tung mehr Le ge bat te ri en und mehr in dust ri el les Tier elend als je zu-vor Gut ver steckt vor der Oumlf fent lich keit ar bei tet die se Ma schi-ne rie trotz ge le gent li chen Pro tes ten hef ti ger denn je Noch nie war die Kluft so groszlig die das was Men schen im Um gang mit Tie ren fuumlr rich tig hal ten und das was tat saumlch lich prak ti ziert wird von ei nan der trennt So lan ge wir un se re Er naumlh rung und un ser per soumln li ches Ver haumllt nis zu Tie ren als Pri vat sa che auf fas-sen so lan ge wird die mil li o nen fa che Grau sam keit ge gen Tie re wei ter hin ge sell schaft lich ak zep tiert

In die ser Lage stel len sich man che Fra gen die in No ahs Erbe be han delt wur den an ders und neu Auch vie le Zah len sind wie koumlnn te es auch an ders sein ver al tet In den Wis sen schaf ten wie der Pal aumlo anth ro po lo gie der Prim atolo gie und der Ver hal tens-1

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oumlko lo gie ist in den letz ten bei den Jahr zehn ten ei ni ges ge sche-hen das es zu be ruumlck sich ti gen gilt Die his to ri sche For schung uumlber das Ver haumllt nis von Mensch und Tier hat man ches Neue zu ta ge ge foumlr dert eben so in den Re li gi o nen wie in der Phi lo so-phie Die aka de mi sche De bat te uumlber eine an ge mes se ne raquoTier-ethiklaquo hat stark an Fahrt auf ge nom men Und nicht zu letzt hat mei ne ei ge ne Be schaumlf ti gung mit dem We sen und den Spiel re geln mo ra li schen Han delns zu man cher neu en Ein schaumlt zung und Be-wer tung ge fuumlhrt Man ches von dem was Men schen tun oder las sen er scheint mir mit uumlber fuumlnf zig in ei nem an de ren Licht als mit An fang drei szligig hellip

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Be lan ge re gelt eben so wie jene des Maul wurfs das Tier schutz-ge setz Maul wuumlr fe und Schim pan sen sind kei ne Rechts sub jek-te Man darf sie in enge Kauml fi ge ein pfer chen man darf sie mit Elektro schocks fol tern mit toumld li chen Kei men in fi zie ren sie am le ben di gen Leib ver aumlt zen sie ver stuumlm meln und ver gif ten

Das ver nuumlnf ti ge und sitt li che Le ben und das un ver nuumlnf ti ge rohe Le ben tei len die Welt in zwei Herr schafts be rei che Ei ner da von be sitzt ein mo ra li sches Sie gel Der an de re da ge gen ist ein na he zu un be schrie be nes Blatt Fast hun dert sech zig Jah re ist es her dass der bri ti sche Na tur for scher Charles Dar win den ge-mein sa men Ur sprung die fie szligen den Uumlber gaumln ge und zar ten Ver-aumls te lun gen al len Le bens be wies Doch Men schen gel ten we der all tags sprach lich noch recht lich als Tie re Eine alte Ge wohn heit trennt den Men schen von sei nen ani ma li schen Ver wand ten Es ge houmlrt zu den ei gen tuumlm li chen Fol gen der Dar win rsquoschen Wen de dass sie mit ei ni gen klei ne ren Kor rek tu ren das anth ro po zent ri-sche Welt bild un an ge tas tet lieszlig Kaum je mand duumlrf te sich als je-ner Tro cken na sen pri mat in der Ver wandt schaft von Men schen-af fen Meer kat zen und Pa vi a nen se hen als den uns die Zo o lo gie klas si fi ziert Statt des sen de fi nie ren wir uns als Men schen und ge-ben uns alle Muumlhe un se re ani ma li sche Na tur zu ver ges sen und zu ver ber gen

Das Band zu den an de ren Tie ren ha ben wir vor lan ger Zeit zer schnit ten Vor etwa 10 000 Jah ren hat der Mensch ge lernt die Roh stoff re ser ve raquoTierlaquo plan mauml szligig zu zuumlch ten Er haumllt sie von nun an in Form ei nes le ben den Ver sor gungs vor rats zum ei-ge nen Nut zen und From men In den An faumln gen der Tier zucht leg ten man che sess haft ge wor de nen Jauml ger ge stor be ne Hun de in da fuumlr vor ge se he ne Gru ben und be stat te ten so gar Mut ter Kind und Rin der ge mein sam Wel ten klaf fen zwi schen dem ani mis ti-schen Glau ben der ers ten Vieh zuumlch ter und der ma te ri a lis ti schen Mas sen tier hal tung der mo der nen Ge sell schaft Mit dem Ende der Kon kur renz schwand die Not wen dig keit sich mit dem Tier

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als ei nem Le be we sen aus ei nan der zu set zen Heu te nut zen wir die Res sour ce raquoTierlaquo voumll lig frag los fuumlr die An spruuml che des Men schen Das Ge mein sa me von Tier und Mensch trat in den Hin ter grund Zwar leb te das Tier noch im mer in der kul tu rel len Fan ta sie fort als ma gi sche oder fan tas ti sche Ge stalt als Freund Ge faumlhr te oder Be dro hung Doch die Be deu tung in der All tags welt er mat te te auf Schwund stu fen der Na tur wie Schoszlig hund Zier gup py Le ge hen-ne und Zir kus pferd Gren zen los uumlber le gen und un ab haumln gig ge-gen uumlber den Tie ren sei ner Um welt ent wi ckel te sich im mensch-li chen Be wusst sein ein voumll lig ent frem de tes Ver haumllt nis Nicht nur ra di ka le Aus nut zung und Sa dis mus auch falsch ver stan de ne Lie-be De na tu rie rung und un frei wil li ge Quauml le rei be stim men seit her den mensch li chen Um gang mit dem Tier

Bis ins fruuml he Mit tel al ter uumlber wog die Zahl der wil den Tie re die An zahl der Nutz- und Haus tie re die der Mensch in sei nen Dienst ge stellt hat te Doch spauml tes tens mit dem Sie ges zug des Ka pi ta lis mus in West eu ro pa und Nord a me ri ka ver schwan den die Res te der Ehr furcht in die Maumlr chen buuml cher und Zir kus dar-bie tun gen Mo der ne Agrar un ter neh men In dust rie met ro po len Au to bah nen und Hoch span nungs mas ten bil den das Or na ment un se rer Um welt die wir seit meh re ren hun dert Jah ren raquoLand-schaftlaquo nen nen Nir gend wo in der All tags welt ei nes Men schen der west li chen Zi vi li sa ti on be geg net uns das Tier noch als Kon-kur rent nicht bei der Er naumlh rung nicht im Kampf um den Le-bens raum und nicht als Fress feind des sen Zaumlh ne und Klau en ernst haft Furcht er re gen koumlnn ten Das ein zig Be droh li che das heu te bleibt sind aus ge rech net ein paar klei ne Tie re etwa Rat-ten und Maumlu se die letz ten ge faumlhr li chen Fress kon kur ren ten des Men schen Dazu kom men In sek ten Mik ro ben und Vi ren

Das Band zwi schen uns und den an de ren Tie ren wuchs auch nicht da durch wie der zu sam men dass wir die Tie re uumlber die Wis-sen schaft als Ver wand te wie der ent deck ten Seit mehr als zwei-tau send Jah ren sieht sich der Mensch als le gi ti mer Herr scher

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uumlber eine be herrsch ba re Um welt dazu ge schaf fen sie zu nut zen und aus zu beu ten Un se re Evo lu ti on hat sich da bei ra sant be-schleu nigt Laumlngst fin det sie kaum noch in un se rem Koumlr per statt son dern vor al lem in un se rer Tech nik und Kul tur Und schon lan ge dient sie nicht mehr dazu sich der Na tur an zu pas sen Sie dient ei ner im mer wie der neu ge schaf fe nen mensch li chen Kul-tur An pas sung be deu tet heu te sich an den ei ge nen Fort schritt an zu pas sen mit all den be kann ten Fol gen fuumlr un se re Um welt Dra ma ti sche Kli ma wech sel die Zer stouml rung der schuumlt zen den Ozon schicht die Ver step pung wei ter Land stri che auf al len Suumld-kon ti nen ten und die Ver gif tung der Mee re ver nich ten nicht nur die nicht mensch li che Tier welt sie be tref fen mehr und mehr den Men schen selbst

In atem be rau ben dem Tem po be schleu nig te das in dust ri a li sier-te 20 Jahr hun dert die Be herr schung und Aus beu tung der Na-tur und mit ihr die der Tie re Schon in den ver gan ge nen Jahr-tau sen den hat te Homo sap iens den ge sam ten Pla ne ten in Be sitz ge nom men Kein grouml szlige res Wir bel tier be sitzt ein sol ches Ver brei-tungs ge biet be wohnt Wuumls ten Re gen waumll der und Po lar re gi o nen glei cher ma szligen Und kein grouml szlige res Wir bel tier hat sich zu Mil li ar-den ver mehrt Ruumlck sichts lo se Pluumln de rung der Roh stof fe und ein un ge heu res Be voumll ke rungs wachs tum der Spe zi es Homo sap iens schaf fen ei nen erd ge schicht li chen Aus nah me zu stand

Der Mensch be herrscht heu te den Pla ne ten aber of fen sicht-lich nicht sich selbst Es koumlnn te da ran lie gen dass es raquoden Men-schenlaquo gar nicht gibt Statt des sen gibt es mehr als sie ben Mil li-ar den un ter schied li che In di vi du en Und nie mand da von ist fuumlr die Mensch heit zu staumln dig Sie ist eine Ge mein de der an zu ge houml-ren nicht dazu ver pfich tet sich um das Gan ze zu sor gen und zu kuumlm mern

Zu herr schen be deu tet Ord nun gen zu etab lie ren und Re geln da fuumlr auf zu stel len was wich tig ist und un wich tig rich tig oder falsch Jahr hun der te lang sah die Mo ral der abend laumln di schen

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Zivi li sa ti on in der Aus rot tung der Wild tie re und Aus beu tung der Nutz tie re na he zu kein Pro blem Eine kla re Grenz zie hung er-laub te je den Um gang mit dem Tier von der Lie be bis zur Fol ter von der Zucht bis zur Touml tung Das Ar gu ment war schlicht Der Mensch ist eine Son der an fer ti gung Got tes und mit dem Tier ge-ra de mal durch den lo sen Fa den der goumltt li chen Schoumlp fung stat ver bun den So kam in den Wor ten des deutsch-fran zouml si schen The o lo gen und Arz tes Al bert Schweit zer raquodie An sicht auf dass es wert lo ses Le ben gaumlbe des sen Schauml di gung und Ver nich tung nichts auf sich habe Un ter wert lo sem Le ben wer den dann je nach den Um staumln den Ar ten von In sek ten oder pri mi ti ve Voumll ker ver stan denlaquo2 (Eine Kli en tel die sich uumlber dies noch um Frau en er wei tern lie szlige)

Die se Gren ze wur de und wird in der abend laumln di schen Kul-tur ge schich te va ri an ten reich ver tei digt Doch je ge nau er wir sie be trach ten umso selt sa mer er scheint sie uns Denn sie laumlsst sich im mer schlech ter be gruumln den und zwar so wohl phi lo so phisch als auch bi o lo gisch Seit etwa vier zig Jah ren be steht in der Ge-sell schaft eine De bat te die un se ren Um gang mit Tie ren grund-saumltz lich in fra ge stellt Tier e thi ker wie Pe ter Sin ger und sein US-ame ri ka ni scher Phi lo so phen kol le ge Tom Re gan for dern Rech te auch fuumlr Tie re Der Aus schluss der Tie re aus der Ethik sei ein mo ra li scher Skan dal Das Tier heu te mo ra lisch drau szligen vor der Tuumlr zu las sen sei das Erbe ei nes re li gi ouml sen Aber glau bens Da der Mensch kei ne Son der an fer ti gung Got tes sei son dern ein in tel-li gen tes Tier muumlss ten wir die Reich wei te der Mo ral eben so auf die raquoan de ren Tie relaquo aus deh nen Ha ben wir nicht nach und nach ge lernt die Skla ve rei zu aumlch ten und Frau en als gleich be rech tig-te Men schen zu ach ten Und ist es nun nicht an der Zeit neu uumlber Tie re nach zu den ken und sie mo ra lisch an ge mes sen zu be-ur tei len

Doch wie koumlnn te ein sol cher an ge mes se ner Um gang mit den an de ren Tie ren aus se hen Den Men schen als ein Tier un ter an-2

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de ren an zu se hen koumlnn te ja auch be deu ten ihn ab zu wer ten statt die Tie re mo ra lisch erns ter zu neh men Das Un heil des So zi-al dar wi nis mus und der bar ba ri schen Ras sen the o rie ste ht uns mah nend vor Au gen Und was ist uumlber haupt das Kri te ri um da-fuumlr Tie re mo ra lisch zu ach ten Ist es ihre Lei dens fauml hig keit ihr Le bens wil le oder ihre In tel li genz Ha ben klu ge Tie re ein houml he-res Le bens recht als duumlm me re Das Ver haumllt nis des Men schen zu den an de ren Tie ren neu zu be wer ten ist eine gro szlige und schwie-ri ge Auf ga be

Ich moumlch te in die sem Buch ver su chen die se Fra gen neu zu stel len und zu durch den ken Da bei be trach te ich den Men schen als ein be son de res Tier un ter vie len auf an de re Wei se be son de ren Tie ren Ich moumlch te mich nicht da rauf fest le gen den Men schen all ge mein uumlber be stimm te Ei gen schaf ten zu de fi nie ren die ihn ethisch wert voll ma chen sol len Ich moumlch te ihm aber auch nicht im Um kehr schluss alle ge mein hin als raquomensch lichlaquo be zeich ne ten Ei gen schaf ten ab spre chen weil nicht alle Men schen Trauml ger all die ser Ei gen schaf ten sind Viel leicht ist be reits das Su chen nach sol chen ex klu si ven Ei gen schaf ten der fal sche Weg Der Denk-feh ler koumlnn te be reits da rin lie gen ei gen staumln di ge Dis zip li nen wie raquoAnth ro po lo gielaquo oder raquoMo ral phi lo so phielaquo be trei ben zu wol len die eine sol che enge De fi ni ti on des Men schen vo raus set zen Waumlre es nicht bes ser die Enge des Be griffs zu spren gen Statt Anth-ro po lo gie zu be trei ben soll te man sich lie ber mit ei ner Anthroshyzo o lo gie be schaumlf ti gen ndash eine Leh re vom Men schen tier und den an de ren Tie ren

Der Be griff ist neu er wur de erst vor we ni gen Jah ren un ter an de rem von dem US-ame ri ka ni schen Psy cho lo gen Hal Her zog ein ge fuumlhrt3 Die neue Dis zip lin der Hu manshyAni mal Stu dies kon-zent riert sich weit rei chend da rauf was Men schen und an de re Tie re ver bin det Da bei ver wen de ich den Be griff raquoAn thro zo o-lo gielaquo al ler dings et was an ders als Her zog und die Ver tre ter der Hu man-Ani mal Stu dies Es ist ein et was ein touml ni ger Sport al les 3

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was ge mein hin als raquomensch lichlaquo be trach tet wird als My thos zu ent zau bern Ich moumlch te es lie ber an ders ein bet ten und be wer ten Denn ich mei ne dass die Ver tre ter der Hu man-Ani mal Stu dies ihre De fi ni ti on des Men schen als ein Tier un ter Tie ren nicht ganz zu Ende den ken Denn waumlre der Mensch durch nichts Mensch-li ches grund saumltz lich vom Tier un ter schie den wie sie an neh men so lieszlige sich auch nicht ein for dern dass Men schen sich aus vershynuumlnf ti ger Ein sicht an ge mes sen ge gen uumlber Tie ren ver hal ten sol len

Um mensch li ches Han deln zu ver ste hen muumls sen wir ver ste-hen in wel chem Rah men Men schen die Welt se hen sich ori en-tie ren und han deln Die bei den ers ten Tei le des Bu ches skiz zie-ren die sen bi o lo gi schen und den kul tu rel len Rah men In ih nen moumlch te ich zei gen auf wel che Art und Wei se Men schen sich un-ter Tie ren ver hiel ten und ver hal ten Da bei be schaumlf tigt sich der ers te Teil mit der Fra ge was fuumlr ein spe zi el les Tier der Mensch ei gent lich ist Wie ist sei ne Rol le in der Evo lu ti on Und nach wel chen Denk mus tern ha ben Men schen die se Chro nik un se rer selbst seit der An ti ke ge schrie ben (Die Ord nung der Schoumlpshyfung) Wel che Stel lung hat sich Homo sap iens in der Na tur da-durch ge si chert dass er sie sich zu schrieb (Der Pri mat)

In je der mensch li chen Wis sen schaft vom Le ben be steht bis heu te still schwei gend oder laut hals ver kuumln det zwi schen Mensch und Tier eine Gren ze Doch weiszlig we der die E vo lu ti ons bi o lo-gie noch die Pal aumlo anth ro po lo gie mit Ge wiss heit zu sa gen an wel chem Punkt sich nur ani ma li sches von mensch li chem Le ben schei det Was ha ben Pal aumlo anth ro po lo gen in den letz ten hun dert Jah ren da ruuml ber ge glaubt Und was den ken sie heu te (Der aufshyrech te Affe) Da bei wer den wir se hen dass es mit der Gren ze zwi schen dem Men schen und den an de ren Tie ren eine aumlu szligerst komp li zier te Sa che ist Seit Jahr zehn ten mes sen und ver glei chen Ver hal tens for scher die kog ni ti ven Leis tun gen von Tie ren mit je-nen des Men schen mit dem uumlber ra schen den Er geb nis dass Tie re in na he zu al len raquowich ti genlaquo Punk ten un ter le gen sind bei Kul tur-

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leis tun gen wie Werk zeug ge brauch und Re li gi on eben so wie beim Er werb der mensch li chen Spra che Doch ha ben wir bei sol chen Mes sun gen tat saumlch lich den rich ti gen den fai ren Maszlig stab Ist es sinn voll die In tel li genz von Men schen af fen mit uns zu ver glei-chen (Sinn und Sinn lich keit)

Die Mo le ku lar ge ne tik zeigt uns dass Men schen bi o lo gisch Schim pan sen sind Wel che Kon se quen zen zie hen wir da raus (Eins Kom ma sechs Pro zent) Nach dem wir den Men schen auf die se Wei se bi o lo gisch ein ge kreist ha ben wer fen wir noch ei nen Blick da rauf wie ob jek tiv un ser Wis sen vom Men schen und den an de ren Tie ren ist Was koumln nen wir uumlber haupt uumlber das Be wusst-sein an de rer Tie re wis sen Stellt es nicht eine so gro szlige Bar ri e re dar dass wir zu ge ben muumls sen nichts De fi ni ti ves sa gen zu koumln-nen (Die Tuuml cke des Sub jekts)

Im zwei ten Teil wer fe ich ei nen Blick in die Kul tur ge schich te des Mensch-Tier-Ver haumllt nis ses Was ha ben Men schen zu wel cher Zeit uumlber Tie re ge dacht und wa rum Wie hat man sie be han delt Und wel che Sen si bi li taumlt oder Kaumll te setz te sich wa rum durch Was wis sen wir da ruuml ber aus der Jung stein zeit (Die Tund ra des Ge wis sens) Was glaub ten und dach ten die al ten Aumlgyp ter (raquoIch habe kein Tier miss han deltlaquo) Und wa rum ent zau ber te das alte Ju den tum die Tie re (Hir ten und Herr scher)

In der abend laumln di schen Phi lo so phie gibt es seit der An ti ke sehr un ter schied li che Deu tun gen von Tie ren Mal se hen die Den ker eine gro szlige spi ri tu el le oder na tur ge schicht li che Naumlhe mal er he-ben sie den Menschen qua sei ner Ver nunft zum un ein ge schraumlnk-ten Wel ten herr scher (Das ver lo re ne Pa ra dies) In der christ li chen Re li gi on da ge gen wer den Men schen und Tie re deut lich von ei-nan der ge schie den eine Son der an fer ti gung hier eine Drein ga-be dort Das Chris ten tum ent fernt die tier freund li chen Mo men-te der juuml di schen Re li gi on aus den Glau bens leh ren (raquoKuumlm mert sich Gott etwa um die Och senlaquo) An ders ver laumluft der Weg in In di en Chi na und Suumld ost a si en Das Welt bild und die Tier ethik

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von Hin dus und Bud dhis ten un ter schei den sich von der un se-ren (Schein hei li ge Kuumlhe) Im Abend land da ge gen do mi niert in der Nach fol ge des fran zouml si schen Phi lo so phen Reneacute Des car tes eine raquora ti o na lis ti schelaquo kal te Pers pek ti ve auf das Tier Tie re weil sie nicht ver nunft fauml hig sei en wer den kaum noch als Le be we sen wahr ge nom men ndash eine Po si ti on die im 18 Jahr hun dert al ler-dings ziem lich kont ro vers dis ku tiert wird (Die Den ker und das lie be Vieh) Nach und nach ent ste hen im spauml ten 18 Jahr hun dert eine neue Mit leids ethik und so gar ers te For de run gen nach Rech-ten fuumlr Tie re (raquoKoumln nen sie lei denlaquo)

Im drit ten Teil moumlch te ich eine ei ge ne ethi sche Hal tung ent-wi ckeln Zu naumlchst wer den The o ri en von Phi lo so phen des 20 Jahr hun derts vor ge stellt die wie Al bert Schweit zer raquoEhr furcht vor dem Le benlaquo ver lan gen oder Tie ren ei nen ho hen mo ra li schen Sta tus zu spre chen wie Pe ter Sin ger und Tom Re gan (Das ei sershyne Tor) Die se Po si ti o nen zwin gen dazu grund saumltz li cher da ruuml-ber nach zu den ken was das raquoTier rechtlaquo vom raquoTier schutzlaquo un-ter schei den soll (Schutz oder Recht) An schlie szligend moumlch te ich die Schwach stel len der gaumln gi gen Tier rechts phi lo so phi en he raus-ar bei ten und zei gen wa rum ich sie we der dem Men schen fuumlr an-ge mes sen hal te noch fuumlr all ge mein prak ti ka bel (Eine art ge rech te Mo ral) Da ran schlie szligen sich mei ne Uumlber le gun gen an was ein an ge mes se ner Um gang mit Tie ren sein koumlnn te (Gut besser am besten)

Sol cher ma szligen ge ruumls tet koumln nen wir uns im vier ten Teil mit den vie len Prob le men be fas sen die sich im All tag stel len Das ers te die ser Ka pi tel bi lan ziert das all taumlg li che Cha os im Um gang mit Tie ren (Lie ben ndash Has sen ndash Es sen) Da nach wen den wir den Blick auf die recht li che Si tu a ti on und un ter zie hen die Lo gik un-se res Tier schutz ge set zes ei ner ge nau e ren Pruuml fung (Ein kur zer Text uumlber das Touml ten) Das naumlchs te Ka pi tel gilt der Jagd Ist Ja gen art ty pi sches Ver hal ten des Men schen oder eine staat lich le gi ti-mier te Per ver si on (Na tur schutz oder Lust mord) Und wie sieht

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es mit un se rer Er naumlh rung aus Wel che Ar gu men te spre chen da-fuumlr dass Men schen in un se ren heu ti gen west li chen Ge sell schaf-ten noch Tie re touml ten duumlr fen um sich von ih nen zu er naumlh ren Und wel che Ar gu men te spre chen da ge gen Viel leicht gibt es so gar schon in Kuumlr ze ei nen Aus weg der uns end lich hilft die Mas sen-tier hal tung zu be sei ti gen (Jen seits von Wurst und Kaumlse) Eben so stellt sich die Fra ge un ter wel chen Um staumln den Tier ver su che zu-kuumlnf tig er laubt sein soll ten und un ter wel chen nicht (Das Tier als Dum my) Ist es mo ra lisch ver tret bar Tie re in Zo o lo gi schen Gaumlr ten zu hal ten Und wenn ja wel che und wel che nicht (Alshycat raz oder Psycho top) Zoos ver ste hen sich heu te als raquoNa tur-schutz zent renlaquo die Tie re er hal ten die in ih ren Hei mat laumln dern vom Aus ster ben be droht sind Wie ist dies zu be wer ten (Das Zeit al ter der Ein sam keit) Da bei sto szligen wir auf die Schwie rig-keit dass Tier schutz Tier recht und Ar ten schutz kei ne na tuumlr li-chen Ver buumln de ten sind son dern sich in ih rer Phi lo so phie ih rer Welt an schau ung und ih ren Ziel set zun gen stark un ter schei den (Das un ver soumlhn li che Tri um vi rat) Das Schluss wort bi lan ziert die se Er kennt nis se und fragt was wir aus al le dem prag ma tisch fol gern soll ten und in wel chen Schrit ten es ge sche hen koumlnn te (Scho pen hau ers Trep pe)

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Das Men schen tier

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Wahr heit zu hal ten Aber die ses Bild hat sich schon oft ver aumln-dert und es wird sich ge wiss noch wei ter ver aumln dern

Men schen nei gen dazu die Welt in der sie le ben auf zu raumlu-men Es ist eine ziem lich art ty pi sche Ver hal tens wei se Wir sor tie-ren die all taumlg li chen Din ge un se res Le bens und eben so sor tie ren wir die Ge dan ken uumlber die Welt die uns um gibt Jede Ord nung auch die der Na tur ist also ein mensch li cher Ent wurf Und al-lem An schein nach ent stand das Be duumlrf nis die Welt zu ord nen in un se rer Ent wick lungs ge schich te pa ral lel zur Ent wick lung der Spra che Denn ohne die kuumlnst li che Auf raumlum ar beit der Spra che waumlre die Vor stel lung von ei ner raquoOrd nung der Schoumlp funglaquo oder der raquoNa turlaquo nicht moumlg lich

Wer auf die Ord nung an ge wie sen ist be wegt sich gern in den si che ren Gren zen ei nes Sys tems Nur in ner halb ei nes sol chen Ord nungs ge fuuml ges fragt man nach Wahr heit und Gel tung Rich-tig keit Me tho de und Be deu tung Zu leicht uumlber sieht der Ord ner dann die kuumlnst li che Be hau sung und die selbst ge zim mer ten Re-ga le in die er die Welt so sorg faumll tig hi nein sor tiert Sel ten ge lingt ihm ein Blick aus dem Fens ter in die un ge wis se Land schaft die ihn um gibt Und nur ein ge wal ti ger Sturm ein Blitz schlag oder eine Er schuumlt te rung zwingt den Ver wal ter der Welt die si che re Wohn statt zu ver las sen und sich ein an de res Haus zu bau en das den An fein dun gen des neu en Kli mas wi der steht

Erst im Ruumlck blick auf die vie len Irr tuuml mer der Ver gan gen heit er ken nen wir dann un se re ei ge ne Un zu laumlng lich keit beim Auf-raumlu men In der Ge gen wart er scheint uns die je wei li ge Ord nung meis tens so selbst ver staumlnd lich dass wir gern uumlber jede Moumlg-lich keit der Ver aumln de rung lauml cheln So ha ben Men schen mit voumll li-ger Ge wiss heit an ge nom men dass die Erde eine Schei be ist und dass Frau en und Skla ven kei ne Rech te zu ste hen Und mit ei nem eben sol chen Lauml cheln be trach ten wir heu te die Gruumln de mit de-nen Men schen sich im Lau fe der Jahr hun der te von den Tie ren zu un ter schei den glaub ten

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Schon die al ten Grie chen ins be son de re Aris to te les (384 v Chr ndash 322 v Chr) ha ben sich fuumlr die Ge schich te und das in vie len De tails ver bor ge ne Sys tem der Na tur in te res siert Er teilt die Tie re in Klas sen ein ver sucht zu er gruumln den was Le ben ist und schafft da mit die Grund la gen der Zo o lo gie Aber Aris to te-les kennt nur we ni ge hun dert Tie re Eine raquovoll staumln di ge Na tur-ge schich telaquo wird das ers te Mal im 18 Jahr hun dert ge schrie-ben ndash und auch sie ist aumlu szligerst un voll staumln dig Seit dem ver fuuml gen wir nicht nur uumlber ei nen rei chen Vor rat an ge dach ten Ord nun-gen von den Schoumlp fungs my then bis hin zur Mo le ku lar bi o lo gie Wir ken nen auch eine Wis sen schaft die sich raquoTax ono mielaquo nennt und jede Pfan ze und je des Tier sys te ma tisch in eine In ven tar liste der Na tur ein traumlgt

Da bei ver ra ten die Denk sche ma ta der Na tur for scher nicht nur et was uumlber die klas si fi zier te Na tur selbst son dern eben so uumlber das Ord nungs be duumlrf nis und die Pfif fig keit des mensch li-chen Geis tes Das 18 Jahr hun dert ist eine Zeit in der das Buumlr-ger tum an die Macht draumlngt und sich zu neh mend ge gen den Adel auf ehnt Sei ne schaumlrfs te Waf fe ist et was das man raquoVer nunftlaquo oder raquoRa ti o na li taumltlaquo nennt und das man ge gen den Glau ben ins Feld fuumlhrt Fuumlr die Phi lo so phen der Ra ti o na li taumlt ist die Welt kei-ne vor ge fun de ne Schoumlp fung mit fes ter Ord nung son dern et was dass man geis tig durch drin gen und auf sei ne Lo gik und Wi der-spruuml che un ter su chen kann Da bei ge ben zu naumlchst die Phy sik und die Ma the ma tik das Sche ma vor nach dem alle Er kennt nis auch jene von Pfan zen und Tie ren funk ti o nie ren soll Die Sys te ma ti-ker der Na tur ge schich te su chen nach un ver ruumlck ba ren Kri te ri en ob jek ti ven Ge setz mauml szligig kei ten und lo gi schen Ver bin dun gen um die un uuml ber sicht li che Welt der Le be we sen ih rer raquowah ren An ord-nunglaquo ge maumlszlig ein zu tei len Aber nicht alle Na tur for scher glau-ben dass ein sol ches Vor ha ben tat saumlch lich ge lin gen kann Man-che hal ten die Na tur fuumlr zu reich hal tig um sie auf die se Wei se zu klas si fi zie ren Welt an schau un gen tref fen auf ei nan der auf der

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ei nen Sei te der Glau be an ein vom Men schen prin zi pi ell voumll lig durch schau ba res Na tur sys tem auf der an de ren Sei te eine un er-gruumlnd li che Schoumlp fung in der der Mensch sich im mer nur tas-tend fort be wegt

Die ers te Va ri an te gilt im 18 Jahr hun dert als der mo der ne-re An satz Man ori en tiert sich da bei an ei nem Ra ti o na lis mus den Reneacute Des car tes (1596 ndash 1650) schon hun dert Jah re zu vor neu be gruumln det hat Die ser Ra ti o na lis mus ori en tiert sich an der Me cha nik Die Schoumlp fung Got tes er scheint als eine ein zi ge klug aus ge tuumlf tel te Ma schi ne die der Mensch Stuumlck fuumlr Stuumlck zu be-herr schen lernt Und das Uni ver sum be steht aus Ma te rie in Be-we gung or ga ni siert nach ma the ma ti schen Ge set zen Ob gleich das 18 Jahr hun dert zent ra le Spe ku la ti o nen des Phi lo so phen wi-der legt ori en tiert es sich in vie lem an Des car tesrsquo me cha nis ti scher Denk wei se Sie tut dies vor zugs wei se in je nen Dis zip li nen de-ren Er kennt nis fort schritt zu naumlchst ge ring bleibt Und nir gend-wo trifft dies in ei nem sol chen Maszlig zu wie bei der Er for schung der bi o lo gi schen Na tur

Doch die ses Welt bild hat prob le ma ti sche Fol gen Wer die Welt kon se quent nach me cha nis ti schen Grund saumlt zen be trach tet hat fuumlr den Be reich der nicht mensch li chen Na tur we nig Ver staumlnd nis Fuumlr Des car tes sind Tie re nichts als Ma schi nen Es macht kei nen Un ter schied ob eine Ma schi ne die aumlu szlige re Ge stalt und die in ne-ren Or ga ne ei nes Af fen hat oder ob es sich da bei tat saumlch lich um ein le ben des Tier han delt Denn relevantes Le ben kommt fuumlr den Den ker nicht durch zir ku lie ren des Blut und Reizempfindungen in den Koumlrper Son dern bedeutsames Le ben ga ran tie ren ein zig und al lein der er leuch te te Geist und sei ne Spra che

Des car tesrsquo Zeit kennt we der den Be griff des raquoOr ga nis muslaquo die Be son der heit des Le bens noch die Evo lu ti on son dern eben nur die Me cha nik Trotz dem ist sei ne The o rie von den Tie ren als see len lo se Au to ma ten im 17 und 18 Jahr hun dert aumlu szligerst um-strit ten Fran zouml si sche Phi lo so phen schrei ben Buch um Buch uumlber

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die Tier-Fra ge und be feh den sich da bei uumlber mehr als hun dert Jah re Noch weiszlig man nichts von ei ner raquoBi o lo gielaquo Man be treibt eine neue Dis zip lin die sich raquoNa tur ge schich telaquo nennt und da-mit auf raumlumt die Ge schich te von Le be we sen als eine wahl lo se Samm lung von Er zaumlh lun gen an zu se hen Bis her schrie ben Au to-ren um stands los von der Fang wei se der Tie re ih rer Ana to mie ih rer bib li schen und al le go ri schen Be deu tung ih rem prak ti schen Ge brauch ih rer Ver meh rung ih ren Stim men und Spra chen ih-ren Be we gun gen ih rem Al ter und von der Sym pa thie oder An-ti pa thie des Ver fas sers Auch Koch re zep te wur den von Fall zu Fall hin zu ge fuumlgt

Ein zo o lo gi sches Sys tem ist zu An fang des 18 Jahr hun derts weit ge hend un be kannt die Ver wandt schafts ver haumllt nis se der Pfan zen und Tie re sind dif fus ge ahnt und wer den eher nach Le-bens raumlu men be stimmt als nach koumlr per li chen Merk ma len Tie re die nachts ja gen ste hen da bei eben so in ei nem Ord nungs ge fuuml ge wie Tie re die fie gen koumln nen im Wald oder in ei nem See le ben Be reits die Pries ter schrift der bib li schen Ge ne sis hat te die Welt der Tie re und Pfan zen nicht nach ana to mi schen Merk ma len un-ter teilt son dern in Be zug auf den Le bens raum Pfan zen und Tie re des Mee res der Luft und der Erde Uumlber mehr als tau send Jah re kann ten auch der Is lam und die Hin dus Ord nungs sys teme die Tie re in ih rem Oumlko sys tem ver an ker ten

In der hin du is ti schen Samk hya-Tra di ti on exis tie ren vier zehn Klas sen un ter schied li cher Le be we sen ein ge teilt in acht For men himm li scher und sechs ir di scher Le be we sen zu de nen auch der Mensch ge houmlrt Als wei te res Un ter schei dungs merk mal dient die Art und Wei se der Ge burt Im gro szligen in di schen Na ti o nal epos aus dem 4 Jahr hun dert dem Ma hab har ata heiszligt es raquoAuf die ser Erde gibt es zwei Ar ten von Le be we sen die Be weg li chen und die Un be weg li chen Die Be weg li chen ha ben ei nen drei fa chen Schoszlig Sie sind aus dem Ei aus feuch ter Hit ze und Le ben dig-Ge bo re ne Von al len be weg li chen Le be we sen wie de rum sind die je ni gen die

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le ben dig ge bo ren sind hellip die bes ten Die bes ten un ter den le ben-dig Ge bo re nen sind die die zum Men schen ge schlecht ge houml ren und die Nutz tie relaquo4

Die neu en Sys te me des 18 Jahr hun derts be frei en die Na tur-ge schich te von al lem was sich mit den Me tho den der Zeit nicht wis sen schaft lich exakt be schrei ben laumlsst Koch re zep te fal len so-wie so un ter den Tisch aber auch man che Ver hal tens be ob ach-tun gen und vor mals wich ti ge Ei gen schaf ten wie zum Bei spiel der Ge ruch Ge forscht wird mit Lupe und Mik ros kop Li ne al und Pin zet te Der wich tigs te Mann auf die sem Ge biet ist der schwe-di sche Na tur for scher Carl von Linneacute (1707 ndash 1778) Er ori en-tiert sich an Aris to te les den er be wun dert nicht an Des car tes Ge ra de zu re vo lu ti o naumlr de mo kra tisch ent wi ckelt der auf ge klaumlr te Schwe de im 18 Jahr hun dert ein be schrei ben des Sys tem der Na-tur frei vom the o lo gi schen Fir le fanz sei ner Zeit Mit der Ak ri bie ei nes Brief mar ken samm lers dem Voll staumln dig keit mehr be deu tet als das Be stau nen ein zel ner Wer te ord net er die be leb te Na tur nach Ar ten Gat tun gen Ord nun gen und Klas sen Vier Va ri ab len die Form der Ele men te ihre An zahl die raumlum li che An ord nung der Ele men te und ihre re la ti ve Grouml szlige be stimm ten von nun an den Platz im Sys tem

Un ter der Leit dis zip lin der Bo ta nik wan delt sich die Na tur ge-schich te in eine ge ord ne te Welt aus Li ni en und Flauml chen Ent schei-dend sind die sicht ba ren Un ter schei dungs merk ma le wie Bluuml ten und Staub ge fauml szlige Blaumlt ter und Fruumlch te Fuumlszlige und Hufe Fe dern und Flos sen So setzt Linneacute fuumlr jede Pfan zen- und Tier klas se jede Ord nung und Gat tung be stimm te Merk ma le fest die er als die wich ti ge ren er ach te t Denn nur un ter der An nah me sol cher pri vi-le gier ter Struk tu ren ist es ihm moumlg lich die ver schie de nen Spe zi es im Ge samt sys tem un miss ver staumlnd lich zu ras tern Der mensch li che Ord ner be schreibt also nicht ein fach die be leb te Na tur Er fuumlgt ihr auch et was hin zu die Ent schei dung naumlm lich was in der For men-viel falt der Le be we sen wich ti ge Merk ma le sind und was nicht4

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Wie alle da ma li gen Na tur for scher nimmt Linneacute an dass die Ein tei lun gen die der mensch li che Ver stand macht tat saumlch lich ei ner ob jek ti ven Ord nung der Na tur ent spre chen Doch Lin neacutes Sys tem ist wie er selbst weiszlig nicht raquona tuumlr lichlaquo Sei ne Struk tu ren sind kei ne die er in der Na tur als Un ter schei dungs kri te ri en vor-fin det Denn was sich am Schreib tisch nun muumlh sam in Ord nun-gen pres sen laumlsst liegt wie der fran zouml si sche Na tur for scher Mishychel Adan son (1727 ndash 1806) fest stellt in der Wild nis wie Kraut und Ruuml ben durch ei nan der raquohellip eine kon fu se Mi schung aus We-sen hellip die der Zu fall ei nan der an ge nauml hert zu ha ben scheint Hier wird das Gold mit ei nem an de ren Me tall mit ei nem Stein oder mit Erde ge mischt Dort waumlchst die Ei che ne ben dem Veil chen Un ter die sen Pfan zen ir ren eben falls der Vier fuumlszlig ler das Rep til und das In sekt um her Die Fi sche mi schen sich so zu sa gen mit dem waumlss ri gen Ele ment in dem sie schwim men und mit den Pfan zen die auf dem Grun de der Ge waumls ser wach sen hellip Die se Mi schung ist so gar so all ge mein und so viel faumll tig dass sie ei nes der Na tur ge set ze zu sein scheintlaquo5

Der Wi der spruch zwi schen ei ner tax ono mi schen und ei ner oumlko lo gi schen Ord nung der Na tur ist of fen sicht lich Er fin det sich noch heu te in der Dis kus si on um die Aumls the tik von Zoo an la gen Soll man die Tie re nach Ver wandt schafts ver haumllt nis sen sam meln also in Raub tier haumlu sern An ti lo pen haumlu sern und Hirsch an la gen so dass der Be su cher zwi schen den ana to mi schen Be son der hei-ten der Ar ten ndash mit un ter so gar den ge o gra fi schen Va ri an ten ei ner ein zi gen Art ndash zu un ter schei den lernt Oder ge waumlhrt die Nach-ge stal tung ei nes Na tur bi o tops ei ner af ri ka ni schen Sa van ne oder ei nes al pi nen Pa no ra mas den wich ti ge ren Ein blick in die Ord-nung der Na tur

Zwar steht fuumlr Linneacute und sei ne Kol le gen fest dass die raquowah-re Ord nunglaquo der Na tur sich an den koumlr per li chen Merk ma len zu ori en tie ren hat doch muss eine Er klauml rung da fuumlr ge fun den wer-den wa rum die se Ord nung in der frei en Na tur nicht von al lein 5

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sicht bar wird Ohne Zwei fel ist das Sys tem der Na tur kei ne zeit-lo se Schoumlp fung son dern durch Ver aumln de run gen ge kenn zeich net die sich in der Erd ge schich te er eig net ha ben Pa ral lel meh ren sich die Fun de von Fos si li en also von Tie ren die mut maszlig lich aus-ge stor ben sind Es hat al lem An schein nach grouml szlige re ge o lo gi sche Ka tast ro phen in un be kann ter Zahl ge ge ben de nen vie le Ar ten zum Op fer ge fal len sind Doch ha ben die se De sas ter auch zur Ent ste hung von neu en For men ge fuumlhrt

Um den Fak tor der Zeit und sei ne Fol gen fuumlr das Sys tem der Na tur ein zu schaumlt zen gibt es vie le Moumlg lich kei ten Die ein fachs te und mensch lichs te al ler zeit li chen Ord nungs vor stel lun gen ist die Idee al les fol ge ei nem Plan und sei auf ein Ziel hin aus ge rich-tet (Te le o lo gie) Re li gi o nen Phi lo so phi en und Ide o lo gi en funk-ti o nie ren na he zu al le samt ziel ge rich tet Es geht um ein bes se res Le ben auf Er den im Jen seits in ei nem ge rech ten Staat um die Herr schaft uumlber die an de ren uumlber die Pro duk ti ons mit tel oder das Boumlse Selbst un ser All tag ge stal tet sich weit ge hend te le o lo-gisch durch traumlnkt von zu kuumlnf ti ger Er war tung Mo tor jed we-der Te le o lo gie ist der Fort schritts ge dan ke Sein ima gi nauml res Ziel ist der voll kom me ne Zu stand So glau ben christ lich-abend laumln-di sche Ge sell schaf ten gern an eine staumln di ge Ver bes se rung durch An stren gung eine Tu gend die nach cal vi nis ti scher Tra di ti on im Him mel wie auf Er den von Gott ma te ri ell ent lohnt wird Wie na he lie gend also auch in der Na tur die Ent ste hung raquohouml he rerlaquo Le bens for men durch Fort schritt er ken nen zu wol len mit dem End ziel des Men schen

Die Un ord nung der Schoumlp fung mit ei nem goumltt li chen Fort-schritts plan in Ein klang zu brin gen ist das Le bens werk des Schwei zer Na tur for schers und Phi lo so phen Charles Bon net (1720 ndash 1793) Fuumlr Bon net ist die Zahl der Ar ten und ihre aumlu-szlige re Ge stalt von Gott ein fuumlr al le Mal fest ge legt Doch kann sich ein je des Le be we sen per fek ti o nie ren Der Weg vom simp-len Ge muumlt zur ge ni a li schen Leis tung ist vom Schoumlp fer vor ge-

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zeich net Und alle Tie re be schrei ten ihn zeit lich ver setzt nach dem glei chen Mus ter das der Mensch ih nen vor ge lebt hat raquoEs wird ei nen mehr oder we ni ger lang sa men und kon ti nu ier li chen Fort schritt al ler Ar ten zu ei ner houml he ren Ver voll komm nung ge-ben so dass alle Gra de der Stu fen lei ter in ei ner de ter mi nie ren den und kons tan ten Be zie hung fort ge setzt va ri a bel sein wer den hellip Es wird un ter den Af fen Leu te wie New ton und un ter Bi bern wie (den Fes tungs bau meis ter RDP) Vau ban ge ben Die Aus-tern und die Po ly pen wer den in Be zie hung zu den houmlchs ten Ar-ten das sein was die Vouml gel fuumlr die Vier fuumlszlig ler im Ver haumllt nis zum Men schen sindlaquo6

Seit Bon net ist die Vor stel lung von der raquoLei ter der Na turlaquo der Sca la nat urae ein wich ti ges In ven tar des na tur ge schicht-li chen Den kens Fort schritt Ver voll komm nung und goumltt li cher Plan ndash die se drei Grouml szligen be stim men die Vor stel lung vom Wer-den der Na tur vom 18 Jahr hun dert bis in die Ge gen wart hi nein Das Prin zip nach dem die Evo lu ti on Le ben her vor bringt sei un ver meid lich und von An fang an vor her be stimmt Nicht we-ni ge E vo lu ti ons the o re ti ker ha ben dies eben falls ge glaubt und zwar mit be acht li cher Kon ti nu i taumlt Der eng li sche Na tur for scher Alf red Rus sel Wall ace (1823 ndash 1913) der ge mein sam mit Dar win die The o rie der na tuumlr li chen Se lek ti on ent wi ckelt hat te hielt nicht nur den mensch li chen Geist und sein Mo ral emp fin den son dern zu dem auch die wei che nack te emp find sa me Haut des Men-schen fuumlr das Re sul tat ei ner not wen di gen Ent wick lung

Doch schon im 18 Jahr hun dert reg ten sich zu gleich vor sich-ti ge Zwei fel an der Stim mig keit ei ner sol chen Vor ge formt heit Denn wie soll te man Na tur ka tast ro phen be wer ten Waumlh rend die meis ten Na tur for scher sie als Teil des goumltt li chen Schoumlp-fungs plans in ter pre tier ten zo gen an de re ver gleichs wei se fins te-re Schluumls se Und so wur de tat saumlch lich ein gro szliges Erd be ben zum in di rek ten Aus louml ser der Evo lu ti ons the o rie naumlm lich je nes von Lis sa bon im Jahr 1755 Wer uumlber die Ka tast ro phe nach dach te 6

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konn te star ken Zwei fel da ran he gen dass die Welt ord nung aus-ge kluuml gelt und har mo nisch sei

Die wei test rei chen den Schluss fol ge run gen zog der eng li-sche Pfar rer und Na ti o nal oumlko nom Tho mas Ro bert Malt hus (1766 ndash 1834) Nicht nur die ge o lo gi sche Na tur und ihr Ge-fah ren ri si ko son dern auch die Ver meh rung der Be voumll ke rung wur de nun als Uumlbel er kannt Im Jahr 1798 pub li zier te Malt-hus sei nen Es say on the Princi ple of Po pu la ti on (Das Be voumllshyke rungs ge setz) die ers te Mahn schrift vor den Ge fah ren ei ner Be voumll ke rungs ex plo si on Bei ei ner Ver dop pe lungs ra te der Welt-be voumll ke rung in ner halb von fuumlnf und zwan zig Jah ren er rech ne-te Malt hus wer de ihr exponent iel les An wach sen auf grund der von der Um welt ge setz ten Gren zen not wen dig zu Ar mut Ka-tast ro phen und Tod fuumlh ren Der bib li sche Auf trag raquoSeid frucht-bar und meh ret euchlaquo er schien mit ei nem Mal als ein Fluch Ein gna den lo ser raquoKampf ums Da seinlaquo (strugg le for life) war ent fes selt Das Ein zi ge was blieb war die Hoff nung die ka-tast ro pha len Fol gen der goumltt li chen An wei sung so weit wie moumlg lich ein daumlm men zu koumln nen

In ei ner Zeit als die Ge sell schafts the o rie noch der Bi o lo-gie den Leuch ter vo ran und nicht wie heu te die Schlep pe hin-terh er traumlgt be geis tert sich vor al lem ein eng li scher Dorf pfar rer Charles Dar win (1809 ndash 1882) fuumlr die Malt hus rsquoschen Ge set ze Denn wenn es rich tig ist dass sich ein Tier mit ei ner so ge rin-gen Ver meh rungs ra te wie der Mensch ge gen uumlber sei nen Art ge-nos sen durch setz te so gab es sicht lich an de re Kri te ri en fuumlr die Uumlber le bens fauml hig keit ei ner Po pu la ti on als die Zahl ih rer Ge bur-ten Der Maszlig stab fuumlr den Er folg ei ner Spe zi es war ihr Durch set-zungs ver mouml gen oder wie Dar win es spauml ter in den Prin zi pi en der Bio logie des jun gen Phi lo so phen Her bert Spen cer (1820 ndash 1903) le sen konn te raquothe sur vi val of the fit testlaquo

Dar wins na tur kund li che Stu di en wa ren ur spruumlng lich von dem Ge dan ken be seelt die nicht a ni ma li sche Iden ti taumlt des Men schen

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zu be wei sen Erst der Sieg des Ent de cker stol zes uumlber das Ent-set zen ver lieh ihm schlieszlig lich den Mut den be ruumlhm ten Satz zu schrei ben raquoUnd ich bin bei na he uumlber zeugt (der Mei nung mit der ich an die Fra ge he ran ge tre ten bin voumll lig ent ge gen ge setzt) dass die Spe zi es (mir ist es als ge staumln de ich ei nen Mord ein) nicht un ver aumln der lich sindlaquo7

Dar wins kuumlh ne Ver mu tung war nicht ganz neu Be reits ein hal bes Jahr hun dert zu vor hat ten der fran zouml si sche Na tur for scher GeorgesshyLou is Lec lerc Comte de Buf fon (1707 ndash 1788) und der Phi lo soph De nis Dide rot (1713 ndash 1784) uumlber eine Ver aumln de-rung der Ar ten spe ku liert Be son ders JeanshyBap tiste de La marck (1744 ndash 1829) be haup te te die all maumlh li che Ent wick lung der Ar-ten aus pri mi ti ve ren Vor for men die so ge nann te Trans mu ta ti on La marck war nicht nur ein Pi o nier der mit Jahr mil li o nen han-tier te als alle Welt die Erde noch ei ni ge tau send bis hun dert tau-send Jah re jung waumlhn te son dern er praumlg te (zur glei chen Zeit wie zwei deut sche Na tur for scher) das Wort Bi o lo gie Bei ihm wan del ten sich die Le be we sen da durch dass sich ihre koumlr per-li chen An stren gun gen auf ihr Erb gut aus wir ken Da bei nahm er al ler dings nicht an dass die Ar ten aus ei nan der her vor ge hen wie Dar win es spauml ter tat La ma rcks The o rie ist nauml her an je ner von Bon net Fuumlr ihn ver voll komm nen die ein zel nen Tier ar ten im Lau fe der Zeit ihre An la gen und ent wi ckeln sich da durch im-mer houml her Be son ders voll kom me ne Tie re wie der Mensch sind dem nach sehr alt denn sie ha ben ei nen wei ten Weg von ei nem pri mi ti ven Or ga nis mus bis hin zur heu ti gen Ge stalt hin ter sich ge las sen An de re wie der pri mi ti ve Suumlszlig was ser po lyp ha ben ihre Rei se durch die Zeit ge ra de erst an ge fan gen

La marck war kein Charis mati ker und die zo o lo gi sche All-macht sei nes Vor ge setz ten am Jar din des Plan tes in Pa ris des Ba rons George Cu vier (1769 ndash 1832) ver hin der te dass man sich all zu sehr mit sei nen The o ri en be schaumlf tig te Cu vier war ein be-deu ten der Mann An die Stel le ei ner nach bo ta ni schem Mus ter 7

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ver fah ren den Zo o lo gie setz te er eine neue Wis sen schaft die sich we ni ger an aumlu szlige ren Merk ma len als am Or ga nis mus der Tie-re ori en tier te Doch was die Trans mu ta ti on an be lang te blieb der Ober auf se her der pro tes tan tisch-the o lo gi schen Fa kul tauml ten Frank reichs beim kon ser va ti ven Mo dell Er ver brei te te wei-ter hin eine Ket te von Na tur ka tast ro phen habe als mo di fi zier-te Sint fu ten gan zen Klas sen von Tie ren den Gar aus ge macht Die se The o rie ist weit ge hend rich tig al ler dings schlieszligt sie die Trans mu ta ti on nicht aus

Das wirk lich Re vo lu ti o nauml re an La marck war die Idee die Ge schich te der Na tur nicht vom Men schen aus bis hi nun ter zur Bak te rie zu schrei ben son dern um ge kehrt von der Bak te rie zum Men schen Aus ei nem Mo dell der raumlum li chen Hie rar chie wur de ein Mo dell der zeit li chen Ent wick lung La marck er kann te zu-dem dass das Be wusst sein ei nes Tie res an die Phy si o lo gie und Neu ro lo gie sei nes Koumlr pers ge bun den ist Dem nach ist je der Geist ers tens be grenzt und zwei tens ver aumln der lich

Die phi lo so phi sche Kon se quenz aus La ma rcks Den ken ist so ra di kal dass sie fast ein hun dert fuumlnf zig Jah re lang von nie man-dem ernst haft in Be tracht ge zo gen wur de Wie kann ein Geist der den Ge set zen der Evo lu ti on un ter wor fen ist sich ei gent lich an ma szligen die Na tur der Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Von die ser Schluss fol ge rung woll te die Bi o lo gie al ler dings bis weit ins 20 Jahr hun dert hi nein nicht viel wis sen

Auch Dar wins The o rie von der na tuumlr li chen Se lek ti on der Le be we sen im Rin gen um ihr Le ben und mit der Um welt ent-wi ckel te sich wei ter Ge witz ten Zeit ge nos sen wie Karl Marx (1818 ndash 1883) war auf ge fal len wie stark Dar wins Den ken dem Zeit geist des Vik to ri a ni schen Zeit al ters ver haf tet war raquoEs ist merk wuumlr dig wie Dar win un ter Bes ti en und Pfan zen sei ne eng li-sche Ge sell schaft mit ih rer Tei lung der Ar beit Kon kur renz Auf-schluss neu er Maumlrk te rsaquoEr fin dun genlsaquo und Malt hus schem rsaquoKampf ums Da seinlsaquo wie der er kenntlaquo8 Die Be to nung des Malt hus rsquoschen 8

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Kamp fes von je dem ge gen je den und auch der Fort schritts glau-be in Dar wins Den ken zei gen ihn stark sei ner Zeit ver haf tet

Eine an de re Kri tik kam aus der Bi o lo gie selbst Dar win hat-te noch nichts von Ge nen ge wusst So konn te er nicht er klauml ren was sich bi o che misch er eig ne te wenn Ar ten sich ver aumln der ten Der raquoDar wi nis muslaquo der Jahr hun dert wen de gab schlieszlig lich die Hoff nung auf die Evo lu ti on lie szlige sich al lein durch die na tuumlr li-che Se lek ti on der Ar ten nach Maszlig ga be ih rer An pas sungs fauml hig-keit an die Um welt be gruumln den Man ent deck te die Rol le der Ge-ne tik und zum neu en Er klauml rungs prin zip wur de das Mo dell der zwei Kons t ruk teu re Das Spiel des Le bens er hielt ei nen Wuumlr fel zu faumll li ge Ver aumln de run gen im Gen ma te ri al also so ge nann te Mu tashyti o nen Im Tri alshyandshyEr ror-Ver fah ren ent ste hen im Erb gut ge le-gent lich Ab wei chun gen die dann er folg reich sind wenn sie sich in der Um welt be waumlh ren Da mit war die Idee vom Tisch dass sich neu er wor be ne Ei gen schaf ten oder raquodie ana to mi schen Aus-wir kun gen koumlr per li cher An stren gun genlaquo wie La marck mein te ver er ben koumlnn ten Noch Dar win hat te dies fuumlr denk bar ge hal ten So ver trau te er Er zaumlh lun gen wo nach bei je nen Volks grup pen zu de ren Ri ten die re gel mauml szligi ge Be schnei dung der Pe nis vor haut ge houmlrt sich die Vor haut all maumlh lich ver kuumlrz te Das haumlt te zwar die Be schnei dung uumlber fuumls sig ge macht aber Dar win hat te ge ra-de an de res Ge wich ti ges zu be den ken als da ruuml ber nach zu sin nen

Die Ver kuumlr zung der Vor haut blieb im Wis sens schatz der Dar wi nis ten bis Au gust Weis mann (1834 ndash 1914) im spauml ten 19 Jahr hun dert nach wies dass ein sol cher In for ma ti ons fuss vom aumlu szlige ren Er schei nungs bild zum Erb ma te ri al nicht moumlg lich sei Uumlber fuumlnf Ge ne ra ti o nen kuumlrz te Weis mann ei nem Stamm von Maumlu sen ihre Schwaumln ze ohne dass eine Nach richt uumlber die sen Ein griff die Keim bah nen der Maumlu se er reich te Denn sie he da Auch die Schwaumln ze der nach fol gen den Maumlu se ge ne ra ti o nen blie-ben gleich lang Da be durf te es schon der Spitz fin dig keit des iri schen Dich ters George Bern ard Shaw (1856 ndash 1950) der Weis-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 419783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 41 10082021 10493410082021 104934

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manns schnei den de Wi der le gung der La marckrsquo schen The o rie leicht fer tig vom Se zier tisch wisch te Die Maumlu se be merk te der Dich ter haumlt ten gar kei ne An stren gun gen un ter nom men ihre Schwaumln ze zu ver lie ren waumlh rend sich die Tie re bei La marck ja da rum be muumlht haumlt ten sich zu ver aumln dern

Im Nach hi n ein also war es der pauml da go gi sche Op ti mis mus der La marck in die Irre ge fuumlhrt ha ben soll te So mach te die Hoff-nung auf ei nen ethisch an spre chen den E vo lu ti ons ver lauf ndash die Er war tung die Mensch heit ent wick le sich qua An pas sung an das so zi a le Mi li eu durch Selbst er zie hung zum Bes se ren ndash nur noch eine et was ab sei ti ge Kar ri e re im staats so zi a lis ti schen Bi o lo gie-un ter richt der Sow jet u ni on Wie kalt da ge gen der uumlber le ge ne raquoKampf ums Da seinlaquo der ja ein Kampf um die Fleisch toumlp fe ist ohne Hoff nung der Mensch wer de den kuumlh nen Geist statt sei-nes ma te ri a lis ti schen Gier hal ses nach Houml he rem stre cken Und ein zig die Kir che be wahr te un ver dros sen ei nen la marc kis ti schen Ge dan ken ndash al ler dings ei nen pes si mis ti schen und kei nen op ti-mis ti schen In bes ter Schuumlt zen hil fe fuumlr den fran zouml si schen Che-va li er ver tei digt sie bis heu te ihr mo le ku lar ge ne tisch be denk li-ches Dog ma Adams Un ge hor sam im Gar ten Eden habe zu ei ner raquoErb suumln delaquo ge fuumlhrt die da rauf hin auf alle zu kuumlnf ti gen Ge ne ra-ti o nen uumlber ge gan gen sei

Im mer hin sind in den bei den letz ten Jahr zehn ten ei ni ge Bi o-lo gen wie der et was of fe ner da fuumlr ge wor den der Ver er bung er-wor be ner Ei gen schaf ten ei nen Platz in der Ge ne tik zu las sen Zwar ver er ben sich psy chi sche und phy si sche Le bens er fah run-gen nicht durch ver aumln der te Gene Aber es koumlnn te doch sein dass jene Schal ter die da ruuml ber be stim men wel che ge ne ti sche In for-ma ti on wei ter ge ge ben wird und wel che nicht durch Um welt-ein fuumls se ver aumln dert wer den Uumlber le gun gen wie die se be schaumlf ti-gen so ge nann te Epi gen eti ker seit ei ni ger Zeit sie ha ben ei nen wach sen den Ein fuss auf un se re Vor stel lung von der Evo lu ti on

Die heu ti ge Leit dis zip lin die uns die Ver wandt schaft des Le-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 429783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 42 10082021 10493410082021 104934

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bens ent schluumls seln soll ist die Ge ne tik Wir un ter su chen die Sum-me al ler ge ne ti schen In for ma ti o nen und re gist rie ren da bei Uumlber-ein stim mun gen und Ab wei chun gen mit an de ren Ar ten Doch der Pro zess die Na tur un se rer Na tur zu er ken nen ist noch lan ge nicht ab ge schlos sen und wird wohl auch nie ab ge schlos sen sein Wir wen den Ord nungs sche ma ta auf The o ri en und The o ri en auf Be ob ach tun gen an Nur so kom men wir zu Kau sa li tauml ten und Ge-set zen Doch ihre Be deu tung ver aumln dert sich in dem Maszlige wie wir den Blick punkt un se rer Auf merk sam keit wie der ver la gern Die ser Vor gang des Ent dec kens und des Ver de ckens durch neue Denk sche ma ta ist prin zi pi ell nicht ab schlieszlig bar denn selbst ge-gen waumlr ti ge Evo lu ti ons the o ri en un ter lie gen wei ter hin der Evo-lu ti on

Er staun li cher wei se hat die mo der ne Evo lu ti ons the o rie nur zu ei ner ge ring fuuml gi gen Kor rek tur al ter Denk sche ma ta ge fuumlhrt Wie fruuml her in der Na tur ge schich te er ken nen wir heu te in der Bi o lo gie uumlber all Re gel haf tigk eit Not wen dig keit und Vor tei-le Doch bei nauml he rer Sicht er weist sich die Evo lu ti on ge ra de zu als Herr schafts ge biet der Aus nah men uumlber die Re geln Sie ist eine raquoZweck mauml szligig keit ohne Zwecklaquo wenn auch al lein fuumlr die 01 Pro zent der heu te noch ndash oder ge ra de ndash exis tie ren den Spe-zi es nicht aber fuumlr die 999 Pro zent die in den Ur fu ten dem Ord ovizium dem Perm der Krei de oder dem Ter ti aumlr das Welt-li che seg ne ten E vo lu ti ons bi o lo gen su chen in der Ge schich te der Na tur uumlber all nach Vor tei len die das Uumlber le ben von Ar ten er-klauml ren sol len Da bei ver men gen sie oft zwei ver schie de ne Vor-teils be grif fe Ein mal geht es um Mu ta ti o nen die si tu a tiv vor teil-haf te Ei gen schaf ten fuumlr eine Tier art her vor ge bracht ha ben sol len Eine grouml szlige re Sta tur ein pom pouml se res Ge weih ein staumlr ke res Ge biss sol len Weib chen be ein dru cken und die Nach kom men schaft er-houml hen Da die se Ei gen schaf ten aber oft nichts nuumlt zen wenn der Zu fall die Spiel re geln der Um welt aumln dert gibt es ei nen zwei ten Vor teils be griff Da nach ist das vor teil haft in der Evo lu ti on was

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 439783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 43 10082021 10493410082021 104934

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vom Ende her be trach tet dazu ge fuumlhrt hat dass eine Art uumlber-lebt Nach die ser Sicht wei se kann der mick rigs te Pa vi an auf dem Fel sen sei ne Gene wei ter ge ben wenn die staumlr ke ren Kon kur ren-ten bei ei nem Erd be ben ums Le ben ge kom men sind

An ge sichts zwei er so un ter schied li cher Be deu tun gen von raquoVor teillaquo fragt es sich ob der Be griff in der Evo lu ti ons the o rie uumlber haupt sinn voll ver wen det wer den kann Tat saumlch lich ist er ein Erbe der The o lo gie des 17 und 18 Jahr hun derts die uumlber-all in der Na tur nach der klu gen Ver nunft Got tes such te Dar win kann te die se Tra di ti on gut Als Stu dent ver ehr te er den The o lo-gen Will iam Pa ley (1743 ndash 1805) der na tur kund lich be schla gen die goumltt li che Vo raus sicht auf den neu es ten Stand ge bracht hat te Als Dar win sich von Gott ver ab schie de te und die na tuumlr li che Se-lek ti on er kann te er setz te er uumlber all wo Pa ley raquoGod doeslaquo ge-schrie ben hat te den Satz durch raquoNat ure doeslaquo An Pa leys Vor-stel lung dass die Na tur zweck mauml szligig ein ge rich tet sei und Vor tei le be loh ne hielt Dar win eben so fest wie vie le spauml te re E vo lu ti ons-the o re ti ker

Die Fra ge ist des halb wich tig weil sie zeigt wie eng un se re Vor stel lung von der Na tur bis hi nein in die mo der ne Evo lu ti-ons the o rie von sehr mensch li chen Vor stel lun gen durch setzt ist Statt Vor tei le zu be nen nen wuumlr de es naumlm lich auch aus rei chen zu sa gen dass al les in der Na tur uumlber le ben kann das fuumlr eine Art kei nen toumld li chen Nach teil hat te Ver mut lich uumlber lebt in der Evo lu ti on nicht nur Zweck mauml szligi ges son dern jede Ver aumln de rung die zu min dest nicht zum Aus ster ben fuumlhr t und moumlg li cher wei se liegt ge ra de hie rin der Grund fuumlr eine gro szlige Ar ten viel falt

Die tra di ti o nell ver eng te Sicht wei se gilt ins be son de re bei der Be trach tung des Men schen E vo lu ti ons bi o lo gen koumln nen zahl-rei che Vor tei le be nen nen die er klauml ren wa rum die mensch li che Art so er folg reich ist Men schen sind aumlu szligerst an pas sungs fauml hig und be sie deln fast alle Le bens raumlu me sie sind Al les fres ser mit ei ner gro szligen Nah rungs band brei te sie ha ben eine fe xib le So zi-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 449783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 44 10082021 10493410082021 104934

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al struk tur und ver fuuml gen uumlber ein Selbst be wusst sein das es ih-nen er moumlg licht ihr Ver hal ten zu kor ri gie ren So ge se hen ist der Mensch gleich sam das op ti mal ste al ler Tie re Doch alldem zum Trotz exis tie ren Men schen der Gat tung Homo sap iens erst seit rund 100 000 Jah ren und ihre lang fris ti gen Zu kunfts chan cen ste hen schlecht Denn mit all den vor teil haf ten Ei gen schaf ten ha-ben Men schen in Re kord zeit ihre Um welt zer stoumlrt und das lang-fris ti ge Uumlber le ben der Spe zi es dra ma tisch in fra ge ge stellt Die mit we ni ger spek ta ku lauml ren Vor tei len aus ge stat te ten Di no sau ri-er exis tier ten auf un se rem Pla ne ten hun dert fuumlnf zig Mil li o nen Jah re ganz zu schwei gen von den seit uumlber vier hun dert Mil li o-nen Jah ren na he zu un ver aumln der ten Nau til iden und Ur schne cken

Ge si chert in der Evo lu ti ons the o rie ist dass kei ne ih rer An nah-men ge si chert ist E vo lu ti ons bi o lo gen die ihre Sa che ernst neh-men muumls sen im mer auch die E vo lu ti ons be dingt heit ih res ei ge-nen Er kennt nis ap pa rats ref ek tie ren also mit hin die Evo lu ti on al ler mensch li chen Er kennt nis raquoLetzt lich istlaquo wie der Neuro bio-lo ge Ger hard Roth schreibt raquoje des Nach den ken uumlber die ob jek-ti ve Re a li taumlt sei es wis sen schaft lich oder nicht an die Be din gun-gen mensch li chen Den kens Spre chens und Han delns ge bun den und muss sich da rin be waumlh renlaquo9

Man muss ref ek tie ren dass die un ver meid li chen Ord nungs-mit tel des Geis tes das Den ken und die Spra che nicht die Wirk-lich keit raquoan sichlaquo auf raumlu men Sie sind Mo del le die die un ver-fuumlg ba re Wirk lich keit nach Maszlig ga be der ei ge nen Spiel re geln er klauml ren Nicht erst seit Er for schung der Evo lu ti on in den letz-ten zwei hun dert Jah ren muumlht sich der mensch li che Geist dem Lauf der Welt ei nen ndash nach mensch li chem Er mes sen ndash raquover nuumlnf-ti genlaquo Sinn zu ge ben Doch das Pa ra do xe der Ge schich te liegt da rin dass der mensch li che Geist selbst Pro dukt evo lu ti o nauml rer Pro zes se ist Er ist Maszlig stab und Ge mes se nes zu gleich

An eine tat saumlch lich ob jek ti ve Er kennt nis der Evo lu ti on waumlre nur halb wegs sinn voll zu den ken wenn die Evo lu ti on des Men-9

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 459783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 45 10082021 10493410082021 104934

schen ab ge schlos sen ist und da mit die Stu fe der groumlszligt moumlg li chen Voll kom men heit er reicht hat In den Zei ten vor La marck und Dar win ha ben das nicht nur The o lo gen son dern auch die Na tur-for scher fast al le samt ge glaubt Das mensch li che Be wusst sein sei die un uuml ber trof fe ne Spit zen leis tung des Schoumlp fer got tes ge schaf-fen die Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Sei nen schoumlns-ten Aus druck fand die se Sicht in ei nem Aus spruch des jun gen Phi lo so phen Fried rich Wil helm Jo seph Schel ling (1775 ndash 1854) Er mein te dass der Mensch je nes We sen sei raquoin dem die Na tur das Auge auf schlaumlgtlaquo und sich da mit ih rer selbst be wusst wird Ein huumlb scher Satz aber doch viel zu pa the tisch for mu liert Von der vol len Er kennt nis der Na tur und un se rer selbst sind wir noch im mer weit ent fernt Aber wir koumln nen da ruuml ber stau nen dass die Evo lu ti on mit uns ein Le be we sen her vor ge bracht hat in dem die Na tur sich fuumlr sich selbst fa szi nier bar ge macht hat Wie hat te es dazu kom men koumln nen

bull Der Pri mat Was ist ein Mensch

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ver waist sein Die Mensch heit wird er wacht sein und die Welt je-nes Ge sicht er hal ten ha ben das uns ge gen waumlr tig er scheint Doch wie sah das aus als die Na tur das ers te Mal in ei nem af fen aumlhn-li chen We sen die Au gen auf schlug War es auf ei ner Wald wie-se in ei nem Hain an ei nem Berg hang oder auf ei ner Lich tung War das er leuch te te We sen ein Maumlnn chen oder ein Weib chen Ging es den gan zen Tag auf recht oder saszlig es noch ger ne in der Ho cke eng ge kau ert an sei ne Bruuml der und Schwes tern Und war es eine Ein ge bung ein Blitz schlag als das Selbst be wusst sein das ers te Mal die Fes seln des Pri ma ten ge hirns spreng te

Wir wis sen nicht wo ran Schel ling dach te als er mein te die Na tur habe im Men schen ihr Auge auf ge schla gen Si cher dach te er nicht an ei nen ein zi gen Mo ment dem Mil li o nen an de re folg-ten Er dach te an den raquoMen schen an sichlaquo Und er wuss te nichts vom ost af ri ka ni schen Great Rift Val ley und von haa ri gen Vor-men schen die dort einst haus ten Er leb te in Jena und in Muumln-chen und ei nen Men schen af fen hat te Schel ling nie ge se hen Der ein zig ar ti ge Mo ment in dem die Na tur sich ih rer selbst be wusst wird bleibt eine Me ta pher

Doch wie wur de der Mensch nun tat saumlch lich zum Men-schen Die For mu lie rung ist dop pel deu tig Denn wie der Mensch zum Men schen wur de ndash das ist nicht ein evo lu ti o nauml rer Pro-zess auf der lee ren Welt buumlh ne son dern ein Spiel von Be ob ach-ter und Be ob ach te tem Schau spie ler und Zu schau er Ge schich-te auch Ent wick lungs ge schich te ist nichts Vor ge fun de nes Der Mensch schrieb der fran zouml si sche Phi lo soph JeanshyPaul Sart re (1905 ndash 1980) macht sich selbst wie der Ro man schrift stel ler sei ne Fi gu ren Er ist ge fer tigt aus bi o lo gi schen (ana to mi schen neu ro lo gi schen und phy si o lo gi schen) Be stand tei len zu al ler meist je doch durch jene we nig bi o lo gi schen Weis hei ten mit de nen sich die se Subs tan zen selbst zum raquoMen schenlaquo er ko ren

Das Glei che gilt fuumlr die mensch li che Stam mes ge schich te Auch sie ist zu naumlchst ein mal eine Ge schich te Ihre Ur spruumln ge lie gen im

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al ten Grie chen land als Aris to te les den Men schen und den Af-fen ver wandt schaft lich na he ruumlckt raquoMan che Tie re ste hen zwi-schen Mensch und Vier fuumlszlig ler in ih rem We sen wie Af fen Meer-kat zen und Pa vi a ne hellip Ihr Ge sicht hat vie le Aumlhn lich kei ten mit dem des Men schen Nase und Oh ren glei chen den sei nen und Zaumlh ne hat er auch wie ein Mensch die Vor der zaumlh ne wie die Ba cken zaumlhnelaquo10 Auch Aris to te lesrsquo Schuuml ler The oph rast (ca 370 v Chr ndash ca 288 v Chr) be steht auf der Aumlhn lich keit zwi schen Men schen und Tie ren Er lehnt es so gar ab Fleisch zu es sen oder Tie re zu op fern da man sei ne Ver wand ten nicht ver spei se

Aris to te les und The oph rast stell ten den Men schen zwar ne-ben den Af fen ndash Men schen af fen kann te man noch nicht ndash aber die al ten Grie chen hat ten ihn nur sehr un ge faumlhr zu ei nem Tier un ter Tie ren er klaumlrt Den naumlchs ten Schritt mach te mehr als zwei-tau send Jah re spauml ter Carl von Linneacute An der Zu ge houml rig keit des Men schen zu den Saumlu ge tie ren be stand fuumlr den Schwe den kein Zwei fel die Be haa rung und das Stil len der Jun gen be lehr ten un-miss ver staumlnd lich da ruuml ber Auch die Ver wandt schaft mit Af fen und Men schen af fen stand au szliger Fra ge Hier wa ren es die fa chen Fin ger- und Fuszlig nauml gel statt der Klau en der ab ge spreiz te Dau-men die Greif haumln de die zwei Zit zen der Weib chen und der frei he run ter haumln gen de statt am Un ter leib an lie gen de Pe nis ndash Merk-ma le die groumlszlig ten teils auch schon Aris to te les auf ge fal len wa ren

Doch Linneacute zouml ger te vor der Kon se quenz Haumln de rin gend such-te der got tes fuumlrch ti ge Ana tom nach ei nem Un ter schied zwi schen dem Men schen und den uumlb ri gen von ihm so ge nann ten raquoPri ma-tenlaquo raquoIch ver lan gelaquo schrieb er 1747 sei nem deut schen Freund Jo hann Ge org Gme lin raquovon Ih nen und von der gan zen Welt dass Sie mir ein Gat tungs merk mal zei gen hellip auf grund des sen man zwi schen Mensch und Affe un ter schei den kann Ich weiszlig selbst mit aumlu szligers ter Ge wiss heit von kei nemlaquo11

Nach sei nen Kri te ri en haumlt te Linneacute den Men schen zu min dest mit dem Schim pan sen ge mein sam in die sel be Gat tung ein ord-10

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nen muumls sen Der Ge dan ke schweb te zeit gleich auch dem Phi lo so-phen JeanshyJacques Rous seau (1712 ndash 1778) vor als er Schim pan-sen Orang-Ut ans und Men schen so gar als Ver tre ter der Spe zi es Mensch an sah Rous seau hat te nie ei nen Men schen af fen ge se-hen Aber die Be rich te die er von Ex pe di ti o nen nach Af ri ka und Suumld ost a si en las lie szligen in ihm kei nen Zwei fel dass die da rin be schrie be nen Men schen af fen raquowe der Tie re noch Goumlt ter son-dern Men schenlaquo sei en12 Fuumlr den Auf klauml rer wa ren Men schen af-fen edle Wil de die von kei ner Zi vi li sa ti on in ih rem fried fer ti gen We sen zer stoumlrt sei en an ders als die Men schen in Eu ro pa Eben-so dach te we nig spauml ter der schot ti sche Sprach for scher James Bur nett Lord Mon boddo (1714 ndash 1799) Auch er be trach te te den Orang-Utan als ei nen Men schen naumlm lich als ei nen raquosprach-losen Wil denlaquo

In ter pre ta ti o nen wie Rous seau sie in Pa ris und Bur nett bald da rauf in Kin card ines hire wag ten wa ren Linneacute im schwe di schen Upp sa la fremd Den Men schen ins Tier reich ein zu ord nen war in den Au gen der stren gen pro tes tan ti schen Kir che Suumln de ge nug und Linneacute zouml ger te den letz ten Schritt zu tun In sei ner Not sor-tier te er 1758 ach sel zu ckend Mensch und Schim pan se in un ter-schied li che Gat tun gen zu sam men ge fasst in der Ord nung der Pri ma ten in der sie auch heu te noch mehr schlecht als recht huumlbsch ge trennt ne ben ei nan der ho cken Homo sap iens der raquoin-tel ligi ble Menschlaquo und Pan trog lody tes der raquohoumlh len be woh nen-de Faunlaquo

So weit so schoumln Der Mensch wur de der obers te Pri mat das houmlchs te raquoHer ren tierlaquo Linneacute be kam kei nen Aumlr ger mit der Kir-che und die Na tur wis sen schaft den gro szligen Wurf des Linneacute rsquoschen Sys tems Wenn nur die se Nach barn nicht wauml ren Seit Be kannt-wer den der Men schen af fen be muumlh ten sich Wis sen schaft ler und The o lo gen im mer wie der um den Ver such den klei nen Gra ben mit gro szligen Was sern zu fuumll len der Homo sap iens und Pan troshyglody tes bei ih rer ord nungs ge mauml szligen Ver ge sell schaf tung auf der 12

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 509783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 50 10082021 10493510082021 104935

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Af fen in sel trennt Sie eva ku ier ten den Men schen vom Pri ma ten-fel sen und schu fen ihm eine ei ge ne Ord nung

In die ser Vor stel lungs welt wuchs auch der The o lo gie stu dent Charles Dar win auf Das fruuml he 19 Jahr hun dert war eine got-tes fuumlrch ti ge bie der mei er li che Zeit Doch je mehr er sich mit der Ver aumln de rung der Ar ten be schaumlf tig te umso deut li cher wur de Dar win dass es mit der of fi zi ell be kun de ten Son der stel lung des Men schen im Uni ver sum nicht weit her sein konn te So no tier te er schon er staun lich fruumlh in sein Ta ge buch raquoDer Mensch haumllt sich in sei ner Ar ro ganz fuumlr ein groszlig ar ti ges Werk des be son de ren Ein grei fens ei ner Gott heit wuumlr dig Es duumlrf te be schei de ner und wie ich glau be auch rich tig sein ihn als aus den Tie ren ent stan-den an zu se henlaquo13

Dar win hat te den noch zwoumllf Jah re ge zouml gert bis er sich schlieszlig lich ge trau te nach der all ge mei nen Dar stel lung ei ner Evo-lu ti ons the o rie im Jahr 1859 sei ne Schluss fol ge run gen in Be zug auf den Men schen in Druck zu ge ben Die Ab stam mung des Men schen aus dem Jahr 1871 ist ein ge maumlch li ches Buch in ver-soumlhn li chem Ton fall Der Na tur for scher er zaumlhlt da rin wie ein gu-ter al ter Groszlig va ter wo her die Pfan zen die Tie re und die Eng-laumln der kom men Die raquoAb wer tunglaquo des Men schen geht da bei ein her mit ei ner kon ti nu ier li chen raquoAuf wer tunglaquo der Tie re raquoWir ha ben ge se henlaquo schreibt Dar win raquodass die Emp fin dun gen und Ein druuml cke die ver schie de nen Er re gun gen und Fauml hig kei ten wie Lie be Ge daumlcht nis Auf merk sam keit Neu gier de Nach ah mung Ver stand usw de ren sich der Mensch ruumlhmt in ei nem be gin nen-den oder zu wei len selbst in ei nem gut ent wi ckel ten Zu stand bei den nie de ren Tie ren ge fun den wer denlaquo14

La marck und Dar win wa ren die Ers ten die mit Mit teln der mo der nen Na tur wis sen schaft be haup te ten was vie le Kul tu ren und Zei ten schon zu vor re li gi oumls ge ahnt hat ten raquoNa tuumlr lichlaquo ist es ab surd eine Tei lung des Tier reichs in zwei Ka te go ri en vor zu-neh men ndash in eine mensch li che und eine nicht mensch li che Ka-13

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Page 12: Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen · Leseprobe Professor Dr. Richard David Precht Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen »Fazit:

oumlko lo gie ist in den letz ten bei den Jahr zehn ten ei ni ges ge sche-hen das es zu be ruumlck sich ti gen gilt Die his to ri sche For schung uumlber das Ver haumllt nis von Mensch und Tier hat man ches Neue zu ta ge ge foumlr dert eben so in den Re li gi o nen wie in der Phi lo so-phie Die aka de mi sche De bat te uumlber eine an ge mes se ne raquoTier-ethiklaquo hat stark an Fahrt auf ge nom men Und nicht zu letzt hat mei ne ei ge ne Be schaumlf ti gung mit dem We sen und den Spiel re geln mo ra li schen Han delns zu man cher neu en Ein schaumlt zung und Be-wer tung ge fuumlhrt Man ches von dem was Men schen tun oder las sen er scheint mir mit uumlber fuumlnf zig in ei nem an de ren Licht als mit An fang drei szligig hellip

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Be lan ge re gelt eben so wie jene des Maul wurfs das Tier schutz-ge setz Maul wuumlr fe und Schim pan sen sind kei ne Rechts sub jek-te Man darf sie in enge Kauml fi ge ein pfer chen man darf sie mit Elektro schocks fol tern mit toumld li chen Kei men in fi zie ren sie am le ben di gen Leib ver aumlt zen sie ver stuumlm meln und ver gif ten

Das ver nuumlnf ti ge und sitt li che Le ben und das un ver nuumlnf ti ge rohe Le ben tei len die Welt in zwei Herr schafts be rei che Ei ner da von be sitzt ein mo ra li sches Sie gel Der an de re da ge gen ist ein na he zu un be schrie be nes Blatt Fast hun dert sech zig Jah re ist es her dass der bri ti sche Na tur for scher Charles Dar win den ge-mein sa men Ur sprung die fie szligen den Uumlber gaumln ge und zar ten Ver-aumls te lun gen al len Le bens be wies Doch Men schen gel ten we der all tags sprach lich noch recht lich als Tie re Eine alte Ge wohn heit trennt den Men schen von sei nen ani ma li schen Ver wand ten Es ge houmlrt zu den ei gen tuumlm li chen Fol gen der Dar win rsquoschen Wen de dass sie mit ei ni gen klei ne ren Kor rek tu ren das anth ro po zent ri-sche Welt bild un an ge tas tet lieszlig Kaum je mand duumlrf te sich als je-ner Tro cken na sen pri mat in der Ver wandt schaft von Men schen-af fen Meer kat zen und Pa vi a nen se hen als den uns die Zo o lo gie klas si fi ziert Statt des sen de fi nie ren wir uns als Men schen und ge-ben uns alle Muumlhe un se re ani ma li sche Na tur zu ver ges sen und zu ver ber gen

Das Band zu den an de ren Tie ren ha ben wir vor lan ger Zeit zer schnit ten Vor etwa 10 000 Jah ren hat der Mensch ge lernt die Roh stoff re ser ve raquoTierlaquo plan mauml szligig zu zuumlch ten Er haumllt sie von nun an in Form ei nes le ben den Ver sor gungs vor rats zum ei-ge nen Nut zen und From men In den An faumln gen der Tier zucht leg ten man che sess haft ge wor de nen Jauml ger ge stor be ne Hun de in da fuumlr vor ge se he ne Gru ben und be stat te ten so gar Mut ter Kind und Rin der ge mein sam Wel ten klaf fen zwi schen dem ani mis ti-schen Glau ben der ers ten Vieh zuumlch ter und der ma te ri a lis ti schen Mas sen tier hal tung der mo der nen Ge sell schaft Mit dem Ende der Kon kur renz schwand die Not wen dig keit sich mit dem Tier

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als ei nem Le be we sen aus ei nan der zu set zen Heu te nut zen wir die Res sour ce raquoTierlaquo voumll lig frag los fuumlr die An spruuml che des Men schen Das Ge mein sa me von Tier und Mensch trat in den Hin ter grund Zwar leb te das Tier noch im mer in der kul tu rel len Fan ta sie fort als ma gi sche oder fan tas ti sche Ge stalt als Freund Ge faumlhr te oder Be dro hung Doch die Be deu tung in der All tags welt er mat te te auf Schwund stu fen der Na tur wie Schoszlig hund Zier gup py Le ge hen-ne und Zir kus pferd Gren zen los uumlber le gen und un ab haumln gig ge-gen uumlber den Tie ren sei ner Um welt ent wi ckel te sich im mensch-li chen Be wusst sein ein voumll lig ent frem de tes Ver haumllt nis Nicht nur ra di ka le Aus nut zung und Sa dis mus auch falsch ver stan de ne Lie-be De na tu rie rung und un frei wil li ge Quauml le rei be stim men seit her den mensch li chen Um gang mit dem Tier

Bis ins fruuml he Mit tel al ter uumlber wog die Zahl der wil den Tie re die An zahl der Nutz- und Haus tie re die der Mensch in sei nen Dienst ge stellt hat te Doch spauml tes tens mit dem Sie ges zug des Ka pi ta lis mus in West eu ro pa und Nord a me ri ka ver schwan den die Res te der Ehr furcht in die Maumlr chen buuml cher und Zir kus dar-bie tun gen Mo der ne Agrar un ter neh men In dust rie met ro po len Au to bah nen und Hoch span nungs mas ten bil den das Or na ment un se rer Um welt die wir seit meh re ren hun dert Jah ren raquoLand-schaftlaquo nen nen Nir gend wo in der All tags welt ei nes Men schen der west li chen Zi vi li sa ti on be geg net uns das Tier noch als Kon-kur rent nicht bei der Er naumlh rung nicht im Kampf um den Le-bens raum und nicht als Fress feind des sen Zaumlh ne und Klau en ernst haft Furcht er re gen koumlnn ten Das ein zig Be droh li che das heu te bleibt sind aus ge rech net ein paar klei ne Tie re etwa Rat-ten und Maumlu se die letz ten ge faumlhr li chen Fress kon kur ren ten des Men schen Dazu kom men In sek ten Mik ro ben und Vi ren

Das Band zwi schen uns und den an de ren Tie ren wuchs auch nicht da durch wie der zu sam men dass wir die Tie re uumlber die Wis-sen schaft als Ver wand te wie der ent deck ten Seit mehr als zwei-tau send Jah ren sieht sich der Mensch als le gi ti mer Herr scher

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uumlber eine be herrsch ba re Um welt dazu ge schaf fen sie zu nut zen und aus zu beu ten Un se re Evo lu ti on hat sich da bei ra sant be-schleu nigt Laumlngst fin det sie kaum noch in un se rem Koumlr per statt son dern vor al lem in un se rer Tech nik und Kul tur Und schon lan ge dient sie nicht mehr dazu sich der Na tur an zu pas sen Sie dient ei ner im mer wie der neu ge schaf fe nen mensch li chen Kul-tur An pas sung be deu tet heu te sich an den ei ge nen Fort schritt an zu pas sen mit all den be kann ten Fol gen fuumlr un se re Um welt Dra ma ti sche Kli ma wech sel die Zer stouml rung der schuumlt zen den Ozon schicht die Ver step pung wei ter Land stri che auf al len Suumld-kon ti nen ten und die Ver gif tung der Mee re ver nich ten nicht nur die nicht mensch li che Tier welt sie be tref fen mehr und mehr den Men schen selbst

In atem be rau ben dem Tem po be schleu nig te das in dust ri a li sier-te 20 Jahr hun dert die Be herr schung und Aus beu tung der Na-tur und mit ihr die der Tie re Schon in den ver gan ge nen Jahr-tau sen den hat te Homo sap iens den ge sam ten Pla ne ten in Be sitz ge nom men Kein grouml szlige res Wir bel tier be sitzt ein sol ches Ver brei-tungs ge biet be wohnt Wuumls ten Re gen waumll der und Po lar re gi o nen glei cher ma szligen Und kein grouml szlige res Wir bel tier hat sich zu Mil li ar-den ver mehrt Ruumlck sichts lo se Pluumln de rung der Roh stof fe und ein un ge heu res Be voumll ke rungs wachs tum der Spe zi es Homo sap iens schaf fen ei nen erd ge schicht li chen Aus nah me zu stand

Der Mensch be herrscht heu te den Pla ne ten aber of fen sicht-lich nicht sich selbst Es koumlnn te da ran lie gen dass es raquoden Men-schenlaquo gar nicht gibt Statt des sen gibt es mehr als sie ben Mil li-ar den un ter schied li che In di vi du en Und nie mand da von ist fuumlr die Mensch heit zu staumln dig Sie ist eine Ge mein de der an zu ge houml-ren nicht dazu ver pfich tet sich um das Gan ze zu sor gen und zu kuumlm mern

Zu herr schen be deu tet Ord nun gen zu etab lie ren und Re geln da fuumlr auf zu stel len was wich tig ist und un wich tig rich tig oder falsch Jahr hun der te lang sah die Mo ral der abend laumln di schen

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Zivi li sa ti on in der Aus rot tung der Wild tie re und Aus beu tung der Nutz tie re na he zu kein Pro blem Eine kla re Grenz zie hung er-laub te je den Um gang mit dem Tier von der Lie be bis zur Fol ter von der Zucht bis zur Touml tung Das Ar gu ment war schlicht Der Mensch ist eine Son der an fer ti gung Got tes und mit dem Tier ge-ra de mal durch den lo sen Fa den der goumltt li chen Schoumlp fung stat ver bun den So kam in den Wor ten des deutsch-fran zouml si schen The o lo gen und Arz tes Al bert Schweit zer raquodie An sicht auf dass es wert lo ses Le ben gaumlbe des sen Schauml di gung und Ver nich tung nichts auf sich habe Un ter wert lo sem Le ben wer den dann je nach den Um staumln den Ar ten von In sek ten oder pri mi ti ve Voumll ker ver stan denlaquo2 (Eine Kli en tel die sich uumlber dies noch um Frau en er wei tern lie szlige)

Die se Gren ze wur de und wird in der abend laumln di schen Kul-tur ge schich te va ri an ten reich ver tei digt Doch je ge nau er wir sie be trach ten umso selt sa mer er scheint sie uns Denn sie laumlsst sich im mer schlech ter be gruumln den und zwar so wohl phi lo so phisch als auch bi o lo gisch Seit etwa vier zig Jah ren be steht in der Ge-sell schaft eine De bat te die un se ren Um gang mit Tie ren grund-saumltz lich in fra ge stellt Tier e thi ker wie Pe ter Sin ger und sein US-ame ri ka ni scher Phi lo so phen kol le ge Tom Re gan for dern Rech te auch fuumlr Tie re Der Aus schluss der Tie re aus der Ethik sei ein mo ra li scher Skan dal Das Tier heu te mo ra lisch drau szligen vor der Tuumlr zu las sen sei das Erbe ei nes re li gi ouml sen Aber glau bens Da der Mensch kei ne Son der an fer ti gung Got tes sei son dern ein in tel-li gen tes Tier muumlss ten wir die Reich wei te der Mo ral eben so auf die raquoan de ren Tie relaquo aus deh nen Ha ben wir nicht nach und nach ge lernt die Skla ve rei zu aumlch ten und Frau en als gleich be rech tig-te Men schen zu ach ten Und ist es nun nicht an der Zeit neu uumlber Tie re nach zu den ken und sie mo ra lisch an ge mes sen zu be-ur tei len

Doch wie koumlnn te ein sol cher an ge mes se ner Um gang mit den an de ren Tie ren aus se hen Den Men schen als ein Tier un ter an-2

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de ren an zu se hen koumlnn te ja auch be deu ten ihn ab zu wer ten statt die Tie re mo ra lisch erns ter zu neh men Das Un heil des So zi-al dar wi nis mus und der bar ba ri schen Ras sen the o rie ste ht uns mah nend vor Au gen Und was ist uumlber haupt das Kri te ri um da-fuumlr Tie re mo ra lisch zu ach ten Ist es ihre Lei dens fauml hig keit ihr Le bens wil le oder ihre In tel li genz Ha ben klu ge Tie re ein houml he-res Le bens recht als duumlm me re Das Ver haumllt nis des Men schen zu den an de ren Tie ren neu zu be wer ten ist eine gro szlige und schwie-ri ge Auf ga be

Ich moumlch te in die sem Buch ver su chen die se Fra gen neu zu stel len und zu durch den ken Da bei be trach te ich den Men schen als ein be son de res Tier un ter vie len auf an de re Wei se be son de ren Tie ren Ich moumlch te mich nicht da rauf fest le gen den Men schen all ge mein uumlber be stimm te Ei gen schaf ten zu de fi nie ren die ihn ethisch wert voll ma chen sol len Ich moumlch te ihm aber auch nicht im Um kehr schluss alle ge mein hin als raquomensch lichlaquo be zeich ne ten Ei gen schaf ten ab spre chen weil nicht alle Men schen Trauml ger all die ser Ei gen schaf ten sind Viel leicht ist be reits das Su chen nach sol chen ex klu si ven Ei gen schaf ten der fal sche Weg Der Denk-feh ler koumlnn te be reits da rin lie gen ei gen staumln di ge Dis zip li nen wie raquoAnth ro po lo gielaquo oder raquoMo ral phi lo so phielaquo be trei ben zu wol len die eine sol che enge De fi ni ti on des Men schen vo raus set zen Waumlre es nicht bes ser die Enge des Be griffs zu spren gen Statt Anth-ro po lo gie zu be trei ben soll te man sich lie ber mit ei ner Anthroshyzo o lo gie be schaumlf ti gen ndash eine Leh re vom Men schen tier und den an de ren Tie ren

Der Be griff ist neu er wur de erst vor we ni gen Jah ren un ter an de rem von dem US-ame ri ka ni schen Psy cho lo gen Hal Her zog ein ge fuumlhrt3 Die neue Dis zip lin der Hu manshyAni mal Stu dies kon-zent riert sich weit rei chend da rauf was Men schen und an de re Tie re ver bin det Da bei ver wen de ich den Be griff raquoAn thro zo o-lo gielaquo al ler dings et was an ders als Her zog und die Ver tre ter der Hu man-Ani mal Stu dies Es ist ein et was ein touml ni ger Sport al les 3

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 229783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 22 10082021 10493410082021 104934

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was ge mein hin als raquomensch lichlaquo be trach tet wird als My thos zu ent zau bern Ich moumlch te es lie ber an ders ein bet ten und be wer ten Denn ich mei ne dass die Ver tre ter der Hu man-Ani mal Stu dies ihre De fi ni ti on des Men schen als ein Tier un ter Tie ren nicht ganz zu Ende den ken Denn waumlre der Mensch durch nichts Mensch-li ches grund saumltz lich vom Tier un ter schie den wie sie an neh men so lieszlige sich auch nicht ein for dern dass Men schen sich aus vershynuumlnf ti ger Ein sicht an ge mes sen ge gen uumlber Tie ren ver hal ten sol len

Um mensch li ches Han deln zu ver ste hen muumls sen wir ver ste-hen in wel chem Rah men Men schen die Welt se hen sich ori en-tie ren und han deln Die bei den ers ten Tei le des Bu ches skiz zie-ren die sen bi o lo gi schen und den kul tu rel len Rah men In ih nen moumlch te ich zei gen auf wel che Art und Wei se Men schen sich un-ter Tie ren ver hiel ten und ver hal ten Da bei be schaumlf tigt sich der ers te Teil mit der Fra ge was fuumlr ein spe zi el les Tier der Mensch ei gent lich ist Wie ist sei ne Rol le in der Evo lu ti on Und nach wel chen Denk mus tern ha ben Men schen die se Chro nik un se rer selbst seit der An ti ke ge schrie ben (Die Ord nung der Schoumlpshyfung) Wel che Stel lung hat sich Homo sap iens in der Na tur da-durch ge si chert dass er sie sich zu schrieb (Der Pri mat)

In je der mensch li chen Wis sen schaft vom Le ben be steht bis heu te still schwei gend oder laut hals ver kuumln det zwi schen Mensch und Tier eine Gren ze Doch weiszlig we der die E vo lu ti ons bi o lo-gie noch die Pal aumlo anth ro po lo gie mit Ge wiss heit zu sa gen an wel chem Punkt sich nur ani ma li sches von mensch li chem Le ben schei det Was ha ben Pal aumlo anth ro po lo gen in den letz ten hun dert Jah ren da ruuml ber ge glaubt Und was den ken sie heu te (Der aufshyrech te Affe) Da bei wer den wir se hen dass es mit der Gren ze zwi schen dem Men schen und den an de ren Tie ren eine aumlu szligerst komp li zier te Sa che ist Seit Jahr zehn ten mes sen und ver glei chen Ver hal tens for scher die kog ni ti ven Leis tun gen von Tie ren mit je-nen des Men schen mit dem uumlber ra schen den Er geb nis dass Tie re in na he zu al len raquowich ti genlaquo Punk ten un ter le gen sind bei Kul tur-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 239783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 23 10082021 10493410082021 104934

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leis tun gen wie Werk zeug ge brauch und Re li gi on eben so wie beim Er werb der mensch li chen Spra che Doch ha ben wir bei sol chen Mes sun gen tat saumlch lich den rich ti gen den fai ren Maszlig stab Ist es sinn voll die In tel li genz von Men schen af fen mit uns zu ver glei-chen (Sinn und Sinn lich keit)

Die Mo le ku lar ge ne tik zeigt uns dass Men schen bi o lo gisch Schim pan sen sind Wel che Kon se quen zen zie hen wir da raus (Eins Kom ma sechs Pro zent) Nach dem wir den Men schen auf die se Wei se bi o lo gisch ein ge kreist ha ben wer fen wir noch ei nen Blick da rauf wie ob jek tiv un ser Wis sen vom Men schen und den an de ren Tie ren ist Was koumln nen wir uumlber haupt uumlber das Be wusst-sein an de rer Tie re wis sen Stellt es nicht eine so gro szlige Bar ri e re dar dass wir zu ge ben muumls sen nichts De fi ni ti ves sa gen zu koumln-nen (Die Tuuml cke des Sub jekts)

Im zwei ten Teil wer fe ich ei nen Blick in die Kul tur ge schich te des Mensch-Tier-Ver haumllt nis ses Was ha ben Men schen zu wel cher Zeit uumlber Tie re ge dacht und wa rum Wie hat man sie be han delt Und wel che Sen si bi li taumlt oder Kaumll te setz te sich wa rum durch Was wis sen wir da ruuml ber aus der Jung stein zeit (Die Tund ra des Ge wis sens) Was glaub ten und dach ten die al ten Aumlgyp ter (raquoIch habe kein Tier miss han deltlaquo) Und wa rum ent zau ber te das alte Ju den tum die Tie re (Hir ten und Herr scher)

In der abend laumln di schen Phi lo so phie gibt es seit der An ti ke sehr un ter schied li che Deu tun gen von Tie ren Mal se hen die Den ker eine gro szlige spi ri tu el le oder na tur ge schicht li che Naumlhe mal er he-ben sie den Menschen qua sei ner Ver nunft zum un ein ge schraumlnk-ten Wel ten herr scher (Das ver lo re ne Pa ra dies) In der christ li chen Re li gi on da ge gen wer den Men schen und Tie re deut lich von ei-nan der ge schie den eine Son der an fer ti gung hier eine Drein ga-be dort Das Chris ten tum ent fernt die tier freund li chen Mo men-te der juuml di schen Re li gi on aus den Glau bens leh ren (raquoKuumlm mert sich Gott etwa um die Och senlaquo) An ders ver laumluft der Weg in In di en Chi na und Suumld ost a si en Das Welt bild und die Tier ethik

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 249783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 24 10082021 10493410082021 104934

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von Hin dus und Bud dhis ten un ter schei den sich von der un se-ren (Schein hei li ge Kuumlhe) Im Abend land da ge gen do mi niert in der Nach fol ge des fran zouml si schen Phi lo so phen Reneacute Des car tes eine raquora ti o na lis ti schelaquo kal te Pers pek ti ve auf das Tier Tie re weil sie nicht ver nunft fauml hig sei en wer den kaum noch als Le be we sen wahr ge nom men ndash eine Po si ti on die im 18 Jahr hun dert al ler-dings ziem lich kont ro vers dis ku tiert wird (Die Den ker und das lie be Vieh) Nach und nach ent ste hen im spauml ten 18 Jahr hun dert eine neue Mit leids ethik und so gar ers te For de run gen nach Rech-ten fuumlr Tie re (raquoKoumln nen sie lei denlaquo)

Im drit ten Teil moumlch te ich eine ei ge ne ethi sche Hal tung ent-wi ckeln Zu naumlchst wer den The o ri en von Phi lo so phen des 20 Jahr hun derts vor ge stellt die wie Al bert Schweit zer raquoEhr furcht vor dem Le benlaquo ver lan gen oder Tie ren ei nen ho hen mo ra li schen Sta tus zu spre chen wie Pe ter Sin ger und Tom Re gan (Das ei sershyne Tor) Die se Po si ti o nen zwin gen dazu grund saumltz li cher da ruuml-ber nach zu den ken was das raquoTier rechtlaquo vom raquoTier schutzlaquo un-ter schei den soll (Schutz oder Recht) An schlie szligend moumlch te ich die Schwach stel len der gaumln gi gen Tier rechts phi lo so phi en he raus-ar bei ten und zei gen wa rum ich sie we der dem Men schen fuumlr an-ge mes sen hal te noch fuumlr all ge mein prak ti ka bel (Eine art ge rech te Mo ral) Da ran schlie szligen sich mei ne Uumlber le gun gen an was ein an ge mes se ner Um gang mit Tie ren sein koumlnn te (Gut besser am besten)

Sol cher ma szligen ge ruumls tet koumln nen wir uns im vier ten Teil mit den vie len Prob le men be fas sen die sich im All tag stel len Das ers te die ser Ka pi tel bi lan ziert das all taumlg li che Cha os im Um gang mit Tie ren (Lie ben ndash Has sen ndash Es sen) Da nach wen den wir den Blick auf die recht li che Si tu a ti on und un ter zie hen die Lo gik un-se res Tier schutz ge set zes ei ner ge nau e ren Pruuml fung (Ein kur zer Text uumlber das Touml ten) Das naumlchs te Ka pi tel gilt der Jagd Ist Ja gen art ty pi sches Ver hal ten des Men schen oder eine staat lich le gi ti-mier te Per ver si on (Na tur schutz oder Lust mord) Und wie sieht

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es mit un se rer Er naumlh rung aus Wel che Ar gu men te spre chen da-fuumlr dass Men schen in un se ren heu ti gen west li chen Ge sell schaf-ten noch Tie re touml ten duumlr fen um sich von ih nen zu er naumlh ren Und wel che Ar gu men te spre chen da ge gen Viel leicht gibt es so gar schon in Kuumlr ze ei nen Aus weg der uns end lich hilft die Mas sen-tier hal tung zu be sei ti gen (Jen seits von Wurst und Kaumlse) Eben so stellt sich die Fra ge un ter wel chen Um staumln den Tier ver su che zu-kuumlnf tig er laubt sein soll ten und un ter wel chen nicht (Das Tier als Dum my) Ist es mo ra lisch ver tret bar Tie re in Zo o lo gi schen Gaumlr ten zu hal ten Und wenn ja wel che und wel che nicht (Alshycat raz oder Psycho top) Zoos ver ste hen sich heu te als raquoNa tur-schutz zent renlaquo die Tie re er hal ten die in ih ren Hei mat laumln dern vom Aus ster ben be droht sind Wie ist dies zu be wer ten (Das Zeit al ter der Ein sam keit) Da bei sto szligen wir auf die Schwie rig-keit dass Tier schutz Tier recht und Ar ten schutz kei ne na tuumlr li-chen Ver buumln de ten sind son dern sich in ih rer Phi lo so phie ih rer Welt an schau ung und ih ren Ziel set zun gen stark un ter schei den (Das un ver soumlhn li che Tri um vi rat) Das Schluss wort bi lan ziert die se Er kennt nis se und fragt was wir aus al le dem prag ma tisch fol gern soll ten und in wel chen Schrit ten es ge sche hen koumlnn te (Scho pen hau ers Trep pe)

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Das Men schen tier

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Wahr heit zu hal ten Aber die ses Bild hat sich schon oft ver aumln-dert und es wird sich ge wiss noch wei ter ver aumln dern

Men schen nei gen dazu die Welt in der sie le ben auf zu raumlu-men Es ist eine ziem lich art ty pi sche Ver hal tens wei se Wir sor tie-ren die all taumlg li chen Din ge un se res Le bens und eben so sor tie ren wir die Ge dan ken uumlber die Welt die uns um gibt Jede Ord nung auch die der Na tur ist also ein mensch li cher Ent wurf Und al-lem An schein nach ent stand das Be duumlrf nis die Welt zu ord nen in un se rer Ent wick lungs ge schich te pa ral lel zur Ent wick lung der Spra che Denn ohne die kuumlnst li che Auf raumlum ar beit der Spra che waumlre die Vor stel lung von ei ner raquoOrd nung der Schoumlp funglaquo oder der raquoNa turlaquo nicht moumlg lich

Wer auf die Ord nung an ge wie sen ist be wegt sich gern in den si che ren Gren zen ei nes Sys tems Nur in ner halb ei nes sol chen Ord nungs ge fuuml ges fragt man nach Wahr heit und Gel tung Rich-tig keit Me tho de und Be deu tung Zu leicht uumlber sieht der Ord ner dann die kuumlnst li che Be hau sung und die selbst ge zim mer ten Re-ga le in die er die Welt so sorg faumll tig hi nein sor tiert Sel ten ge lingt ihm ein Blick aus dem Fens ter in die un ge wis se Land schaft die ihn um gibt Und nur ein ge wal ti ger Sturm ein Blitz schlag oder eine Er schuumlt te rung zwingt den Ver wal ter der Welt die si che re Wohn statt zu ver las sen und sich ein an de res Haus zu bau en das den An fein dun gen des neu en Kli mas wi der steht

Erst im Ruumlck blick auf die vie len Irr tuuml mer der Ver gan gen heit er ken nen wir dann un se re ei ge ne Un zu laumlng lich keit beim Auf-raumlu men In der Ge gen wart er scheint uns die je wei li ge Ord nung meis tens so selbst ver staumlnd lich dass wir gern uumlber jede Moumlg-lich keit der Ver aumln de rung lauml cheln So ha ben Men schen mit voumll li-ger Ge wiss heit an ge nom men dass die Erde eine Schei be ist und dass Frau en und Skla ven kei ne Rech te zu ste hen Und mit ei nem eben sol chen Lauml cheln be trach ten wir heu te die Gruumln de mit de-nen Men schen sich im Lau fe der Jahr hun der te von den Tie ren zu un ter schei den glaub ten

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 309783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 30 10082021 10493410082021 104934

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Schon die al ten Grie chen ins be son de re Aris to te les (384 v Chr ndash 322 v Chr) ha ben sich fuumlr die Ge schich te und das in vie len De tails ver bor ge ne Sys tem der Na tur in te res siert Er teilt die Tie re in Klas sen ein ver sucht zu er gruumln den was Le ben ist und schafft da mit die Grund la gen der Zo o lo gie Aber Aris to te-les kennt nur we ni ge hun dert Tie re Eine raquovoll staumln di ge Na tur-ge schich telaquo wird das ers te Mal im 18 Jahr hun dert ge schrie-ben ndash und auch sie ist aumlu szligerst un voll staumln dig Seit dem ver fuuml gen wir nicht nur uumlber ei nen rei chen Vor rat an ge dach ten Ord nun-gen von den Schoumlp fungs my then bis hin zur Mo le ku lar bi o lo gie Wir ken nen auch eine Wis sen schaft die sich raquoTax ono mielaquo nennt und jede Pfan ze und je des Tier sys te ma tisch in eine In ven tar liste der Na tur ein traumlgt

Da bei ver ra ten die Denk sche ma ta der Na tur for scher nicht nur et was uumlber die klas si fi zier te Na tur selbst son dern eben so uumlber das Ord nungs be duumlrf nis und die Pfif fig keit des mensch li-chen Geis tes Das 18 Jahr hun dert ist eine Zeit in der das Buumlr-ger tum an die Macht draumlngt und sich zu neh mend ge gen den Adel auf ehnt Sei ne schaumlrfs te Waf fe ist et was das man raquoVer nunftlaquo oder raquoRa ti o na li taumltlaquo nennt und das man ge gen den Glau ben ins Feld fuumlhrt Fuumlr die Phi lo so phen der Ra ti o na li taumlt ist die Welt kei-ne vor ge fun de ne Schoumlp fung mit fes ter Ord nung son dern et was dass man geis tig durch drin gen und auf sei ne Lo gik und Wi der-spruuml che un ter su chen kann Da bei ge ben zu naumlchst die Phy sik und die Ma the ma tik das Sche ma vor nach dem alle Er kennt nis auch jene von Pfan zen und Tie ren funk ti o nie ren soll Die Sys te ma ti-ker der Na tur ge schich te su chen nach un ver ruumlck ba ren Kri te ri en ob jek ti ven Ge setz mauml szligig kei ten und lo gi schen Ver bin dun gen um die un uuml ber sicht li che Welt der Le be we sen ih rer raquowah ren An ord-nunglaquo ge maumlszlig ein zu tei len Aber nicht alle Na tur for scher glau-ben dass ein sol ches Vor ha ben tat saumlch lich ge lin gen kann Man-che hal ten die Na tur fuumlr zu reich hal tig um sie auf die se Wei se zu klas si fi zie ren Welt an schau un gen tref fen auf ei nan der auf der

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 319783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 31 10082021 10493410082021 104934

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ei nen Sei te der Glau be an ein vom Men schen prin zi pi ell voumll lig durch schau ba res Na tur sys tem auf der an de ren Sei te eine un er-gruumlnd li che Schoumlp fung in der der Mensch sich im mer nur tas-tend fort be wegt

Die ers te Va ri an te gilt im 18 Jahr hun dert als der mo der ne-re An satz Man ori en tiert sich da bei an ei nem Ra ti o na lis mus den Reneacute Des car tes (1596 ndash 1650) schon hun dert Jah re zu vor neu be gruumln det hat Die ser Ra ti o na lis mus ori en tiert sich an der Me cha nik Die Schoumlp fung Got tes er scheint als eine ein zi ge klug aus ge tuumlf tel te Ma schi ne die der Mensch Stuumlck fuumlr Stuumlck zu be-herr schen lernt Und das Uni ver sum be steht aus Ma te rie in Be-we gung or ga ni siert nach ma the ma ti schen Ge set zen Ob gleich das 18 Jahr hun dert zent ra le Spe ku la ti o nen des Phi lo so phen wi-der legt ori en tiert es sich in vie lem an Des car tesrsquo me cha nis ti scher Denk wei se Sie tut dies vor zugs wei se in je nen Dis zip li nen de-ren Er kennt nis fort schritt zu naumlchst ge ring bleibt Und nir gend-wo trifft dies in ei nem sol chen Maszlig zu wie bei der Er for schung der bi o lo gi schen Na tur

Doch die ses Welt bild hat prob le ma ti sche Fol gen Wer die Welt kon se quent nach me cha nis ti schen Grund saumlt zen be trach tet hat fuumlr den Be reich der nicht mensch li chen Na tur we nig Ver staumlnd nis Fuumlr Des car tes sind Tie re nichts als Ma schi nen Es macht kei nen Un ter schied ob eine Ma schi ne die aumlu szlige re Ge stalt und die in ne-ren Or ga ne ei nes Af fen hat oder ob es sich da bei tat saumlch lich um ein le ben des Tier han delt Denn relevantes Le ben kommt fuumlr den Den ker nicht durch zir ku lie ren des Blut und Reizempfindungen in den Koumlrper Son dern bedeutsames Le ben ga ran tie ren ein zig und al lein der er leuch te te Geist und sei ne Spra che

Des car tesrsquo Zeit kennt we der den Be griff des raquoOr ga nis muslaquo die Be son der heit des Le bens noch die Evo lu ti on son dern eben nur die Me cha nik Trotz dem ist sei ne The o rie von den Tie ren als see len lo se Au to ma ten im 17 und 18 Jahr hun dert aumlu szligerst um-strit ten Fran zouml si sche Phi lo so phen schrei ben Buch um Buch uumlber

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die Tier-Fra ge und be feh den sich da bei uumlber mehr als hun dert Jah re Noch weiszlig man nichts von ei ner raquoBi o lo gielaquo Man be treibt eine neue Dis zip lin die sich raquoNa tur ge schich telaquo nennt und da-mit auf raumlumt die Ge schich te von Le be we sen als eine wahl lo se Samm lung von Er zaumlh lun gen an zu se hen Bis her schrie ben Au to-ren um stands los von der Fang wei se der Tie re ih rer Ana to mie ih rer bib li schen und al le go ri schen Be deu tung ih rem prak ti schen Ge brauch ih rer Ver meh rung ih ren Stim men und Spra chen ih-ren Be we gun gen ih rem Al ter und von der Sym pa thie oder An-ti pa thie des Ver fas sers Auch Koch re zep te wur den von Fall zu Fall hin zu ge fuumlgt

Ein zo o lo gi sches Sys tem ist zu An fang des 18 Jahr hun derts weit ge hend un be kannt die Ver wandt schafts ver haumllt nis se der Pfan zen und Tie re sind dif fus ge ahnt und wer den eher nach Le-bens raumlu men be stimmt als nach koumlr per li chen Merk ma len Tie re die nachts ja gen ste hen da bei eben so in ei nem Ord nungs ge fuuml ge wie Tie re die fie gen koumln nen im Wald oder in ei nem See le ben Be reits die Pries ter schrift der bib li schen Ge ne sis hat te die Welt der Tie re und Pfan zen nicht nach ana to mi schen Merk ma len un-ter teilt son dern in Be zug auf den Le bens raum Pfan zen und Tie re des Mee res der Luft und der Erde Uumlber mehr als tau send Jah re kann ten auch der Is lam und die Hin dus Ord nungs sys teme die Tie re in ih rem Oumlko sys tem ver an ker ten

In der hin du is ti schen Samk hya-Tra di ti on exis tie ren vier zehn Klas sen un ter schied li cher Le be we sen ein ge teilt in acht For men himm li scher und sechs ir di scher Le be we sen zu de nen auch der Mensch ge houmlrt Als wei te res Un ter schei dungs merk mal dient die Art und Wei se der Ge burt Im gro szligen in di schen Na ti o nal epos aus dem 4 Jahr hun dert dem Ma hab har ata heiszligt es raquoAuf die ser Erde gibt es zwei Ar ten von Le be we sen die Be weg li chen und die Un be weg li chen Die Be weg li chen ha ben ei nen drei fa chen Schoszlig Sie sind aus dem Ei aus feuch ter Hit ze und Le ben dig-Ge bo re ne Von al len be weg li chen Le be we sen wie de rum sind die je ni gen die

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le ben dig ge bo ren sind hellip die bes ten Die bes ten un ter den le ben-dig Ge bo re nen sind die die zum Men schen ge schlecht ge houml ren und die Nutz tie relaquo4

Die neu en Sys te me des 18 Jahr hun derts be frei en die Na tur-ge schich te von al lem was sich mit den Me tho den der Zeit nicht wis sen schaft lich exakt be schrei ben laumlsst Koch re zep te fal len so-wie so un ter den Tisch aber auch man che Ver hal tens be ob ach-tun gen und vor mals wich ti ge Ei gen schaf ten wie zum Bei spiel der Ge ruch Ge forscht wird mit Lupe und Mik ros kop Li ne al und Pin zet te Der wich tigs te Mann auf die sem Ge biet ist der schwe-di sche Na tur for scher Carl von Linneacute (1707 ndash 1778) Er ori en-tiert sich an Aris to te les den er be wun dert nicht an Des car tes Ge ra de zu re vo lu ti o naumlr de mo kra tisch ent wi ckelt der auf ge klaumlr te Schwe de im 18 Jahr hun dert ein be schrei ben des Sys tem der Na-tur frei vom the o lo gi schen Fir le fanz sei ner Zeit Mit der Ak ri bie ei nes Brief mar ken samm lers dem Voll staumln dig keit mehr be deu tet als das Be stau nen ein zel ner Wer te ord net er die be leb te Na tur nach Ar ten Gat tun gen Ord nun gen und Klas sen Vier Va ri ab len die Form der Ele men te ihre An zahl die raumlum li che An ord nung der Ele men te und ihre re la ti ve Grouml szlige be stimm ten von nun an den Platz im Sys tem

Un ter der Leit dis zip lin der Bo ta nik wan delt sich die Na tur ge-schich te in eine ge ord ne te Welt aus Li ni en und Flauml chen Ent schei-dend sind die sicht ba ren Un ter schei dungs merk ma le wie Bluuml ten und Staub ge fauml szlige Blaumlt ter und Fruumlch te Fuumlszlige und Hufe Fe dern und Flos sen So setzt Linneacute fuumlr jede Pfan zen- und Tier klas se jede Ord nung und Gat tung be stimm te Merk ma le fest die er als die wich ti ge ren er ach te t Denn nur un ter der An nah me sol cher pri vi-le gier ter Struk tu ren ist es ihm moumlg lich die ver schie de nen Spe zi es im Ge samt sys tem un miss ver staumlnd lich zu ras tern Der mensch li che Ord ner be schreibt also nicht ein fach die be leb te Na tur Er fuumlgt ihr auch et was hin zu die Ent schei dung naumlm lich was in der For men-viel falt der Le be we sen wich ti ge Merk ma le sind und was nicht4

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Wie alle da ma li gen Na tur for scher nimmt Linneacute an dass die Ein tei lun gen die der mensch li che Ver stand macht tat saumlch lich ei ner ob jek ti ven Ord nung der Na tur ent spre chen Doch Lin neacutes Sys tem ist wie er selbst weiszlig nicht raquona tuumlr lichlaquo Sei ne Struk tu ren sind kei ne die er in der Na tur als Un ter schei dungs kri te ri en vor-fin det Denn was sich am Schreib tisch nun muumlh sam in Ord nun-gen pres sen laumlsst liegt wie der fran zouml si sche Na tur for scher Mishychel Adan son (1727 ndash 1806) fest stellt in der Wild nis wie Kraut und Ruuml ben durch ei nan der raquohellip eine kon fu se Mi schung aus We-sen hellip die der Zu fall ei nan der an ge nauml hert zu ha ben scheint Hier wird das Gold mit ei nem an de ren Me tall mit ei nem Stein oder mit Erde ge mischt Dort waumlchst die Ei che ne ben dem Veil chen Un ter die sen Pfan zen ir ren eben falls der Vier fuumlszlig ler das Rep til und das In sekt um her Die Fi sche mi schen sich so zu sa gen mit dem waumlss ri gen Ele ment in dem sie schwim men und mit den Pfan zen die auf dem Grun de der Ge waumls ser wach sen hellip Die se Mi schung ist so gar so all ge mein und so viel faumll tig dass sie ei nes der Na tur ge set ze zu sein scheintlaquo5

Der Wi der spruch zwi schen ei ner tax ono mi schen und ei ner oumlko lo gi schen Ord nung der Na tur ist of fen sicht lich Er fin det sich noch heu te in der Dis kus si on um die Aumls the tik von Zoo an la gen Soll man die Tie re nach Ver wandt schafts ver haumllt nis sen sam meln also in Raub tier haumlu sern An ti lo pen haumlu sern und Hirsch an la gen so dass der Be su cher zwi schen den ana to mi schen Be son der hei-ten der Ar ten ndash mit un ter so gar den ge o gra fi schen Va ri an ten ei ner ein zi gen Art ndash zu un ter schei den lernt Oder ge waumlhrt die Nach-ge stal tung ei nes Na tur bi o tops ei ner af ri ka ni schen Sa van ne oder ei nes al pi nen Pa no ra mas den wich ti ge ren Ein blick in die Ord-nung der Na tur

Zwar steht fuumlr Linneacute und sei ne Kol le gen fest dass die raquowah-re Ord nunglaquo der Na tur sich an den koumlr per li chen Merk ma len zu ori en tie ren hat doch muss eine Er klauml rung da fuumlr ge fun den wer-den wa rum die se Ord nung in der frei en Na tur nicht von al lein 5

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sicht bar wird Ohne Zwei fel ist das Sys tem der Na tur kei ne zeit-lo se Schoumlp fung son dern durch Ver aumln de run gen ge kenn zeich net die sich in der Erd ge schich te er eig net ha ben Pa ral lel meh ren sich die Fun de von Fos si li en also von Tie ren die mut maszlig lich aus-ge stor ben sind Es hat al lem An schein nach grouml szlige re ge o lo gi sche Ka tast ro phen in un be kann ter Zahl ge ge ben de nen vie le Ar ten zum Op fer ge fal len sind Doch ha ben die se De sas ter auch zur Ent ste hung von neu en For men ge fuumlhrt

Um den Fak tor der Zeit und sei ne Fol gen fuumlr das Sys tem der Na tur ein zu schaumlt zen gibt es vie le Moumlg lich kei ten Die ein fachs te und mensch lichs te al ler zeit li chen Ord nungs vor stel lun gen ist die Idee al les fol ge ei nem Plan und sei auf ein Ziel hin aus ge rich-tet (Te le o lo gie) Re li gi o nen Phi lo so phi en und Ide o lo gi en funk-ti o nie ren na he zu al le samt ziel ge rich tet Es geht um ein bes se res Le ben auf Er den im Jen seits in ei nem ge rech ten Staat um die Herr schaft uumlber die an de ren uumlber die Pro duk ti ons mit tel oder das Boumlse Selbst un ser All tag ge stal tet sich weit ge hend te le o lo-gisch durch traumlnkt von zu kuumlnf ti ger Er war tung Mo tor jed we-der Te le o lo gie ist der Fort schritts ge dan ke Sein ima gi nauml res Ziel ist der voll kom me ne Zu stand So glau ben christ lich-abend laumln-di sche Ge sell schaf ten gern an eine staumln di ge Ver bes se rung durch An stren gung eine Tu gend die nach cal vi nis ti scher Tra di ti on im Him mel wie auf Er den von Gott ma te ri ell ent lohnt wird Wie na he lie gend also auch in der Na tur die Ent ste hung raquohouml he rerlaquo Le bens for men durch Fort schritt er ken nen zu wol len mit dem End ziel des Men schen

Die Un ord nung der Schoumlp fung mit ei nem goumltt li chen Fort-schritts plan in Ein klang zu brin gen ist das Le bens werk des Schwei zer Na tur for schers und Phi lo so phen Charles Bon net (1720 ndash 1793) Fuumlr Bon net ist die Zahl der Ar ten und ihre aumlu-szlige re Ge stalt von Gott ein fuumlr al le Mal fest ge legt Doch kann sich ein je des Le be we sen per fek ti o nie ren Der Weg vom simp-len Ge muumlt zur ge ni a li schen Leis tung ist vom Schoumlp fer vor ge-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 369783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 36 10082021 10493410082021 104934

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zeich net Und alle Tie re be schrei ten ihn zeit lich ver setzt nach dem glei chen Mus ter das der Mensch ih nen vor ge lebt hat raquoEs wird ei nen mehr oder we ni ger lang sa men und kon ti nu ier li chen Fort schritt al ler Ar ten zu ei ner houml he ren Ver voll komm nung ge-ben so dass alle Gra de der Stu fen lei ter in ei ner de ter mi nie ren den und kons tan ten Be zie hung fort ge setzt va ri a bel sein wer den hellip Es wird un ter den Af fen Leu te wie New ton und un ter Bi bern wie (den Fes tungs bau meis ter RDP) Vau ban ge ben Die Aus-tern und die Po ly pen wer den in Be zie hung zu den houmlchs ten Ar-ten das sein was die Vouml gel fuumlr die Vier fuumlszlig ler im Ver haumllt nis zum Men schen sindlaquo6

Seit Bon net ist die Vor stel lung von der raquoLei ter der Na turlaquo der Sca la nat urae ein wich ti ges In ven tar des na tur ge schicht-li chen Den kens Fort schritt Ver voll komm nung und goumltt li cher Plan ndash die se drei Grouml szligen be stim men die Vor stel lung vom Wer-den der Na tur vom 18 Jahr hun dert bis in die Ge gen wart hi nein Das Prin zip nach dem die Evo lu ti on Le ben her vor bringt sei un ver meid lich und von An fang an vor her be stimmt Nicht we-ni ge E vo lu ti ons the o re ti ker ha ben dies eben falls ge glaubt und zwar mit be acht li cher Kon ti nu i taumlt Der eng li sche Na tur for scher Alf red Rus sel Wall ace (1823 ndash 1913) der ge mein sam mit Dar win die The o rie der na tuumlr li chen Se lek ti on ent wi ckelt hat te hielt nicht nur den mensch li chen Geist und sein Mo ral emp fin den son dern zu dem auch die wei che nack te emp find sa me Haut des Men-schen fuumlr das Re sul tat ei ner not wen di gen Ent wick lung

Doch schon im 18 Jahr hun dert reg ten sich zu gleich vor sich-ti ge Zwei fel an der Stim mig keit ei ner sol chen Vor ge formt heit Denn wie soll te man Na tur ka tast ro phen be wer ten Waumlh rend die meis ten Na tur for scher sie als Teil des goumltt li chen Schoumlp-fungs plans in ter pre tier ten zo gen an de re ver gleichs wei se fins te-re Schluumls se Und so wur de tat saumlch lich ein gro szliges Erd be ben zum in di rek ten Aus louml ser der Evo lu ti ons the o rie naumlm lich je nes von Lis sa bon im Jahr 1755 Wer uumlber die Ka tast ro phe nach dach te 6

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 379783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 37 10082021 10493410082021 104934

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konn te star ken Zwei fel da ran he gen dass die Welt ord nung aus-ge kluuml gelt und har mo nisch sei

Die wei test rei chen den Schluss fol ge run gen zog der eng li-sche Pfar rer und Na ti o nal oumlko nom Tho mas Ro bert Malt hus (1766 ndash 1834) Nicht nur die ge o lo gi sche Na tur und ihr Ge-fah ren ri si ko son dern auch die Ver meh rung der Be voumll ke rung wur de nun als Uumlbel er kannt Im Jahr 1798 pub li zier te Malt-hus sei nen Es say on the Princi ple of Po pu la ti on (Das Be voumllshyke rungs ge setz) die ers te Mahn schrift vor den Ge fah ren ei ner Be voumll ke rungs ex plo si on Bei ei ner Ver dop pe lungs ra te der Welt-be voumll ke rung in ner halb von fuumlnf und zwan zig Jah ren er rech ne-te Malt hus wer de ihr exponent iel les An wach sen auf grund der von der Um welt ge setz ten Gren zen not wen dig zu Ar mut Ka-tast ro phen und Tod fuumlh ren Der bib li sche Auf trag raquoSeid frucht-bar und meh ret euchlaquo er schien mit ei nem Mal als ein Fluch Ein gna den lo ser raquoKampf ums Da seinlaquo (strugg le for life) war ent fes selt Das Ein zi ge was blieb war die Hoff nung die ka-tast ro pha len Fol gen der goumltt li chen An wei sung so weit wie moumlg lich ein daumlm men zu koumln nen

In ei ner Zeit als die Ge sell schafts the o rie noch der Bi o lo-gie den Leuch ter vo ran und nicht wie heu te die Schlep pe hin-terh er traumlgt be geis tert sich vor al lem ein eng li scher Dorf pfar rer Charles Dar win (1809 ndash 1882) fuumlr die Malt hus rsquoschen Ge set ze Denn wenn es rich tig ist dass sich ein Tier mit ei ner so ge rin-gen Ver meh rungs ra te wie der Mensch ge gen uumlber sei nen Art ge-nos sen durch setz te so gab es sicht lich an de re Kri te ri en fuumlr die Uumlber le bens fauml hig keit ei ner Po pu la ti on als die Zahl ih rer Ge bur-ten Der Maszlig stab fuumlr den Er folg ei ner Spe zi es war ihr Durch set-zungs ver mouml gen oder wie Dar win es spauml ter in den Prin zi pi en der Bio logie des jun gen Phi lo so phen Her bert Spen cer (1820 ndash 1903) le sen konn te raquothe sur vi val of the fit testlaquo

Dar wins na tur kund li che Stu di en wa ren ur spruumlng lich von dem Ge dan ken be seelt die nicht a ni ma li sche Iden ti taumlt des Men schen

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zu be wei sen Erst der Sieg des Ent de cker stol zes uumlber das Ent-set zen ver lieh ihm schlieszlig lich den Mut den be ruumlhm ten Satz zu schrei ben raquoUnd ich bin bei na he uumlber zeugt (der Mei nung mit der ich an die Fra ge he ran ge tre ten bin voumll lig ent ge gen ge setzt) dass die Spe zi es (mir ist es als ge staumln de ich ei nen Mord ein) nicht un ver aumln der lich sindlaquo7

Dar wins kuumlh ne Ver mu tung war nicht ganz neu Be reits ein hal bes Jahr hun dert zu vor hat ten der fran zouml si sche Na tur for scher GeorgesshyLou is Lec lerc Comte de Buf fon (1707 ndash 1788) und der Phi lo soph De nis Dide rot (1713 ndash 1784) uumlber eine Ver aumln de-rung der Ar ten spe ku liert Be son ders JeanshyBap tiste de La marck (1744 ndash 1829) be haup te te die all maumlh li che Ent wick lung der Ar-ten aus pri mi ti ve ren Vor for men die so ge nann te Trans mu ta ti on La marck war nicht nur ein Pi o nier der mit Jahr mil li o nen han-tier te als alle Welt die Erde noch ei ni ge tau send bis hun dert tau-send Jah re jung waumlhn te son dern er praumlg te (zur glei chen Zeit wie zwei deut sche Na tur for scher) das Wort Bi o lo gie Bei ihm wan del ten sich die Le be we sen da durch dass sich ihre koumlr per-li chen An stren gun gen auf ihr Erb gut aus wir ken Da bei nahm er al ler dings nicht an dass die Ar ten aus ei nan der her vor ge hen wie Dar win es spauml ter tat La ma rcks The o rie ist nauml her an je ner von Bon net Fuumlr ihn ver voll komm nen die ein zel nen Tier ar ten im Lau fe der Zeit ihre An la gen und ent wi ckeln sich da durch im-mer houml her Be son ders voll kom me ne Tie re wie der Mensch sind dem nach sehr alt denn sie ha ben ei nen wei ten Weg von ei nem pri mi ti ven Or ga nis mus bis hin zur heu ti gen Ge stalt hin ter sich ge las sen An de re wie der pri mi ti ve Suumlszlig was ser po lyp ha ben ihre Rei se durch die Zeit ge ra de erst an ge fan gen

La marck war kein Charis mati ker und die zo o lo gi sche All-macht sei nes Vor ge setz ten am Jar din des Plan tes in Pa ris des Ba rons George Cu vier (1769 ndash 1832) ver hin der te dass man sich all zu sehr mit sei nen The o ri en be schaumlf tig te Cu vier war ein be-deu ten der Mann An die Stel le ei ner nach bo ta ni schem Mus ter 7

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 399783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 39 10082021 10493410082021 104934

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ver fah ren den Zo o lo gie setz te er eine neue Wis sen schaft die sich we ni ger an aumlu szlige ren Merk ma len als am Or ga nis mus der Tie-re ori en tier te Doch was die Trans mu ta ti on an be lang te blieb der Ober auf se her der pro tes tan tisch-the o lo gi schen Fa kul tauml ten Frank reichs beim kon ser va ti ven Mo dell Er ver brei te te wei-ter hin eine Ket te von Na tur ka tast ro phen habe als mo di fi zier-te Sint fu ten gan zen Klas sen von Tie ren den Gar aus ge macht Die se The o rie ist weit ge hend rich tig al ler dings schlieszligt sie die Trans mu ta ti on nicht aus

Das wirk lich Re vo lu ti o nauml re an La marck war die Idee die Ge schich te der Na tur nicht vom Men schen aus bis hi nun ter zur Bak te rie zu schrei ben son dern um ge kehrt von der Bak te rie zum Men schen Aus ei nem Mo dell der raumlum li chen Hie rar chie wur de ein Mo dell der zeit li chen Ent wick lung La marck er kann te zu-dem dass das Be wusst sein ei nes Tie res an die Phy si o lo gie und Neu ro lo gie sei nes Koumlr pers ge bun den ist Dem nach ist je der Geist ers tens be grenzt und zwei tens ver aumln der lich

Die phi lo so phi sche Kon se quenz aus La ma rcks Den ken ist so ra di kal dass sie fast ein hun dert fuumlnf zig Jah re lang von nie man-dem ernst haft in Be tracht ge zo gen wur de Wie kann ein Geist der den Ge set zen der Evo lu ti on un ter wor fen ist sich ei gent lich an ma szligen die Na tur der Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Von die ser Schluss fol ge rung woll te die Bi o lo gie al ler dings bis weit ins 20 Jahr hun dert hi nein nicht viel wis sen

Auch Dar wins The o rie von der na tuumlr li chen Se lek ti on der Le be we sen im Rin gen um ihr Le ben und mit der Um welt ent-wi ckel te sich wei ter Ge witz ten Zeit ge nos sen wie Karl Marx (1818 ndash 1883) war auf ge fal len wie stark Dar wins Den ken dem Zeit geist des Vik to ri a ni schen Zeit al ters ver haf tet war raquoEs ist merk wuumlr dig wie Dar win un ter Bes ti en und Pfan zen sei ne eng li-sche Ge sell schaft mit ih rer Tei lung der Ar beit Kon kur renz Auf-schluss neu er Maumlrk te rsaquoEr fin dun genlsaquo und Malt hus schem rsaquoKampf ums Da seinlsaquo wie der er kenntlaquo8 Die Be to nung des Malt hus rsquoschen 8

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 409783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 40 10082021 10493410082021 104934

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Kamp fes von je dem ge gen je den und auch der Fort schritts glau-be in Dar wins Den ken zei gen ihn stark sei ner Zeit ver haf tet

Eine an de re Kri tik kam aus der Bi o lo gie selbst Dar win hat-te noch nichts von Ge nen ge wusst So konn te er nicht er klauml ren was sich bi o che misch er eig ne te wenn Ar ten sich ver aumln der ten Der raquoDar wi nis muslaquo der Jahr hun dert wen de gab schlieszlig lich die Hoff nung auf die Evo lu ti on lie szlige sich al lein durch die na tuumlr li-che Se lek ti on der Ar ten nach Maszlig ga be ih rer An pas sungs fauml hig-keit an die Um welt be gruumln den Man ent deck te die Rol le der Ge-ne tik und zum neu en Er klauml rungs prin zip wur de das Mo dell der zwei Kons t ruk teu re Das Spiel des Le bens er hielt ei nen Wuumlr fel zu faumll li ge Ver aumln de run gen im Gen ma te ri al also so ge nann te Mu tashyti o nen Im Tri alshyandshyEr ror-Ver fah ren ent ste hen im Erb gut ge le-gent lich Ab wei chun gen die dann er folg reich sind wenn sie sich in der Um welt be waumlh ren Da mit war die Idee vom Tisch dass sich neu er wor be ne Ei gen schaf ten oder raquodie ana to mi schen Aus-wir kun gen koumlr per li cher An stren gun genlaquo wie La marck mein te ver er ben koumlnn ten Noch Dar win hat te dies fuumlr denk bar ge hal ten So ver trau te er Er zaumlh lun gen wo nach bei je nen Volks grup pen zu de ren Ri ten die re gel mauml szligi ge Be schnei dung der Pe nis vor haut ge houmlrt sich die Vor haut all maumlh lich ver kuumlrz te Das haumlt te zwar die Be schnei dung uumlber fuumls sig ge macht aber Dar win hat te ge ra-de an de res Ge wich ti ges zu be den ken als da ruuml ber nach zu sin nen

Die Ver kuumlr zung der Vor haut blieb im Wis sens schatz der Dar wi nis ten bis Au gust Weis mann (1834 ndash 1914) im spauml ten 19 Jahr hun dert nach wies dass ein sol cher In for ma ti ons fuss vom aumlu szlige ren Er schei nungs bild zum Erb ma te ri al nicht moumlg lich sei Uumlber fuumlnf Ge ne ra ti o nen kuumlrz te Weis mann ei nem Stamm von Maumlu sen ihre Schwaumln ze ohne dass eine Nach richt uumlber die sen Ein griff die Keim bah nen der Maumlu se er reich te Denn sie he da Auch die Schwaumln ze der nach fol gen den Maumlu se ge ne ra ti o nen blie-ben gleich lang Da be durf te es schon der Spitz fin dig keit des iri schen Dich ters George Bern ard Shaw (1856 ndash 1950) der Weis-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 419783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 41 10082021 10493410082021 104934

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manns schnei den de Wi der le gung der La marckrsquo schen The o rie leicht fer tig vom Se zier tisch wisch te Die Maumlu se be merk te der Dich ter haumlt ten gar kei ne An stren gun gen un ter nom men ihre Schwaumln ze zu ver lie ren waumlh rend sich die Tie re bei La marck ja da rum be muumlht haumlt ten sich zu ver aumln dern

Im Nach hi n ein also war es der pauml da go gi sche Op ti mis mus der La marck in die Irre ge fuumlhrt ha ben soll te So mach te die Hoff-nung auf ei nen ethisch an spre chen den E vo lu ti ons ver lauf ndash die Er war tung die Mensch heit ent wick le sich qua An pas sung an das so zi a le Mi li eu durch Selbst er zie hung zum Bes se ren ndash nur noch eine et was ab sei ti ge Kar ri e re im staats so zi a lis ti schen Bi o lo gie-un ter richt der Sow jet u ni on Wie kalt da ge gen der uumlber le ge ne raquoKampf ums Da seinlaquo der ja ein Kampf um die Fleisch toumlp fe ist ohne Hoff nung der Mensch wer de den kuumlh nen Geist statt sei-nes ma te ri a lis ti schen Gier hal ses nach Houml he rem stre cken Und ein zig die Kir che be wahr te un ver dros sen ei nen la marc kis ti schen Ge dan ken ndash al ler dings ei nen pes si mis ti schen und kei nen op ti-mis ti schen In bes ter Schuumlt zen hil fe fuumlr den fran zouml si schen Che-va li er ver tei digt sie bis heu te ihr mo le ku lar ge ne tisch be denk li-ches Dog ma Adams Un ge hor sam im Gar ten Eden habe zu ei ner raquoErb suumln delaquo ge fuumlhrt die da rauf hin auf alle zu kuumlnf ti gen Ge ne ra-ti o nen uumlber ge gan gen sei

Im mer hin sind in den bei den letz ten Jahr zehn ten ei ni ge Bi o-lo gen wie der et was of fe ner da fuumlr ge wor den der Ver er bung er-wor be ner Ei gen schaf ten ei nen Platz in der Ge ne tik zu las sen Zwar ver er ben sich psy chi sche und phy si sche Le bens er fah run-gen nicht durch ver aumln der te Gene Aber es koumlnn te doch sein dass jene Schal ter die da ruuml ber be stim men wel che ge ne ti sche In for-ma ti on wei ter ge ge ben wird und wel che nicht durch Um welt-ein fuumls se ver aumln dert wer den Uumlber le gun gen wie die se be schaumlf ti-gen so ge nann te Epi gen eti ker seit ei ni ger Zeit sie ha ben ei nen wach sen den Ein fuss auf un se re Vor stel lung von der Evo lu ti on

Die heu ti ge Leit dis zip lin die uns die Ver wandt schaft des Le-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 429783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 42 10082021 10493410082021 104934

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bens ent schluumls seln soll ist die Ge ne tik Wir un ter su chen die Sum-me al ler ge ne ti schen In for ma ti o nen und re gist rie ren da bei Uumlber-ein stim mun gen und Ab wei chun gen mit an de ren Ar ten Doch der Pro zess die Na tur un se rer Na tur zu er ken nen ist noch lan ge nicht ab ge schlos sen und wird wohl auch nie ab ge schlos sen sein Wir wen den Ord nungs sche ma ta auf The o ri en und The o ri en auf Be ob ach tun gen an Nur so kom men wir zu Kau sa li tauml ten und Ge-set zen Doch ihre Be deu tung ver aumln dert sich in dem Maszlige wie wir den Blick punkt un se rer Auf merk sam keit wie der ver la gern Die ser Vor gang des Ent dec kens und des Ver de ckens durch neue Denk sche ma ta ist prin zi pi ell nicht ab schlieszlig bar denn selbst ge-gen waumlr ti ge Evo lu ti ons the o ri en un ter lie gen wei ter hin der Evo-lu ti on

Er staun li cher wei se hat die mo der ne Evo lu ti ons the o rie nur zu ei ner ge ring fuuml gi gen Kor rek tur al ter Denk sche ma ta ge fuumlhrt Wie fruuml her in der Na tur ge schich te er ken nen wir heu te in der Bi o lo gie uumlber all Re gel haf tigk eit Not wen dig keit und Vor tei-le Doch bei nauml he rer Sicht er weist sich die Evo lu ti on ge ra de zu als Herr schafts ge biet der Aus nah men uumlber die Re geln Sie ist eine raquoZweck mauml szligig keit ohne Zwecklaquo wenn auch al lein fuumlr die 01 Pro zent der heu te noch ndash oder ge ra de ndash exis tie ren den Spe-zi es nicht aber fuumlr die 999 Pro zent die in den Ur fu ten dem Ord ovizium dem Perm der Krei de oder dem Ter ti aumlr das Welt-li che seg ne ten E vo lu ti ons bi o lo gen su chen in der Ge schich te der Na tur uumlber all nach Vor tei len die das Uumlber le ben von Ar ten er-klauml ren sol len Da bei ver men gen sie oft zwei ver schie de ne Vor-teils be grif fe Ein mal geht es um Mu ta ti o nen die si tu a tiv vor teil-haf te Ei gen schaf ten fuumlr eine Tier art her vor ge bracht ha ben sol len Eine grouml szlige re Sta tur ein pom pouml se res Ge weih ein staumlr ke res Ge biss sol len Weib chen be ein dru cken und die Nach kom men schaft er-houml hen Da die se Ei gen schaf ten aber oft nichts nuumlt zen wenn der Zu fall die Spiel re geln der Um welt aumln dert gibt es ei nen zwei ten Vor teils be griff Da nach ist das vor teil haft in der Evo lu ti on was

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 439783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 43 10082021 10493410082021 104934

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vom Ende her be trach tet dazu ge fuumlhrt hat dass eine Art uumlber-lebt Nach die ser Sicht wei se kann der mick rigs te Pa vi an auf dem Fel sen sei ne Gene wei ter ge ben wenn die staumlr ke ren Kon kur ren-ten bei ei nem Erd be ben ums Le ben ge kom men sind

An ge sichts zwei er so un ter schied li cher Be deu tun gen von raquoVor teillaquo fragt es sich ob der Be griff in der Evo lu ti ons the o rie uumlber haupt sinn voll ver wen det wer den kann Tat saumlch lich ist er ein Erbe der The o lo gie des 17 und 18 Jahr hun derts die uumlber-all in der Na tur nach der klu gen Ver nunft Got tes such te Dar win kann te die se Tra di ti on gut Als Stu dent ver ehr te er den The o lo-gen Will iam Pa ley (1743 ndash 1805) der na tur kund lich be schla gen die goumltt li che Vo raus sicht auf den neu es ten Stand ge bracht hat te Als Dar win sich von Gott ver ab schie de te und die na tuumlr li che Se-lek ti on er kann te er setz te er uumlber all wo Pa ley raquoGod doeslaquo ge-schrie ben hat te den Satz durch raquoNat ure doeslaquo An Pa leys Vor-stel lung dass die Na tur zweck mauml szligig ein ge rich tet sei und Vor tei le be loh ne hielt Dar win eben so fest wie vie le spauml te re E vo lu ti ons-the o re ti ker

Die Fra ge ist des halb wich tig weil sie zeigt wie eng un se re Vor stel lung von der Na tur bis hi nein in die mo der ne Evo lu ti-ons the o rie von sehr mensch li chen Vor stel lun gen durch setzt ist Statt Vor tei le zu be nen nen wuumlr de es naumlm lich auch aus rei chen zu sa gen dass al les in der Na tur uumlber le ben kann das fuumlr eine Art kei nen toumld li chen Nach teil hat te Ver mut lich uumlber lebt in der Evo lu ti on nicht nur Zweck mauml szligi ges son dern jede Ver aumln de rung die zu min dest nicht zum Aus ster ben fuumlhr t und moumlg li cher wei se liegt ge ra de hie rin der Grund fuumlr eine gro szlige Ar ten viel falt

Die tra di ti o nell ver eng te Sicht wei se gilt ins be son de re bei der Be trach tung des Men schen E vo lu ti ons bi o lo gen koumln nen zahl-rei che Vor tei le be nen nen die er klauml ren wa rum die mensch li che Art so er folg reich ist Men schen sind aumlu szligerst an pas sungs fauml hig und be sie deln fast alle Le bens raumlu me sie sind Al les fres ser mit ei ner gro szligen Nah rungs band brei te sie ha ben eine fe xib le So zi-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 449783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 44 10082021 10493410082021 104934

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al struk tur und ver fuuml gen uumlber ein Selbst be wusst sein das es ih-nen er moumlg licht ihr Ver hal ten zu kor ri gie ren So ge se hen ist der Mensch gleich sam das op ti mal ste al ler Tie re Doch alldem zum Trotz exis tie ren Men schen der Gat tung Homo sap iens erst seit rund 100 000 Jah ren und ihre lang fris ti gen Zu kunfts chan cen ste hen schlecht Denn mit all den vor teil haf ten Ei gen schaf ten ha-ben Men schen in Re kord zeit ihre Um welt zer stoumlrt und das lang-fris ti ge Uumlber le ben der Spe zi es dra ma tisch in fra ge ge stellt Die mit we ni ger spek ta ku lauml ren Vor tei len aus ge stat te ten Di no sau ri-er exis tier ten auf un se rem Pla ne ten hun dert fuumlnf zig Mil li o nen Jah re ganz zu schwei gen von den seit uumlber vier hun dert Mil li o-nen Jah ren na he zu un ver aumln der ten Nau til iden und Ur schne cken

Ge si chert in der Evo lu ti ons the o rie ist dass kei ne ih rer An nah-men ge si chert ist E vo lu ti ons bi o lo gen die ihre Sa che ernst neh-men muumls sen im mer auch die E vo lu ti ons be dingt heit ih res ei ge-nen Er kennt nis ap pa rats ref ek tie ren also mit hin die Evo lu ti on al ler mensch li chen Er kennt nis raquoLetzt lich istlaquo wie der Neuro bio-lo ge Ger hard Roth schreibt raquoje des Nach den ken uumlber die ob jek-ti ve Re a li taumlt sei es wis sen schaft lich oder nicht an die Be din gun-gen mensch li chen Den kens Spre chens und Han delns ge bun den und muss sich da rin be waumlh renlaquo9

Man muss ref ek tie ren dass die un ver meid li chen Ord nungs-mit tel des Geis tes das Den ken und die Spra che nicht die Wirk-lich keit raquoan sichlaquo auf raumlu men Sie sind Mo del le die die un ver-fuumlg ba re Wirk lich keit nach Maszlig ga be der ei ge nen Spiel re geln er klauml ren Nicht erst seit Er for schung der Evo lu ti on in den letz-ten zwei hun dert Jah ren muumlht sich der mensch li che Geist dem Lauf der Welt ei nen ndash nach mensch li chem Er mes sen ndash raquover nuumlnf-ti genlaquo Sinn zu ge ben Doch das Pa ra do xe der Ge schich te liegt da rin dass der mensch li che Geist selbst Pro dukt evo lu ti o nauml rer Pro zes se ist Er ist Maszlig stab und Ge mes se nes zu gleich

An eine tat saumlch lich ob jek ti ve Er kennt nis der Evo lu ti on waumlre nur halb wegs sinn voll zu den ken wenn die Evo lu ti on des Men-9

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 459783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 45 10082021 10493410082021 104934

schen ab ge schlos sen ist und da mit die Stu fe der groumlszligt moumlg li chen Voll kom men heit er reicht hat In den Zei ten vor La marck und Dar win ha ben das nicht nur The o lo gen son dern auch die Na tur-for scher fast al le samt ge glaubt Das mensch li che Be wusst sein sei die un uuml ber trof fe ne Spit zen leis tung des Schoumlp fer got tes ge schaf-fen die Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Sei nen schoumlns-ten Aus druck fand die se Sicht in ei nem Aus spruch des jun gen Phi lo so phen Fried rich Wil helm Jo seph Schel ling (1775 ndash 1854) Er mein te dass der Mensch je nes We sen sei raquoin dem die Na tur das Auge auf schlaumlgtlaquo und sich da mit ih rer selbst be wusst wird Ein huumlb scher Satz aber doch viel zu pa the tisch for mu liert Von der vol len Er kennt nis der Na tur und un se rer selbst sind wir noch im mer weit ent fernt Aber wir koumln nen da ruuml ber stau nen dass die Evo lu ti on mit uns ein Le be we sen her vor ge bracht hat in dem die Na tur sich fuumlr sich selbst fa szi nier bar ge macht hat Wie hat te es dazu kom men koumln nen

bull Der Pri mat Was ist ein Mensch

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 469783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 46 10082021 10493410082021 104934

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ver waist sein Die Mensch heit wird er wacht sein und die Welt je-nes Ge sicht er hal ten ha ben das uns ge gen waumlr tig er scheint Doch wie sah das aus als die Na tur das ers te Mal in ei nem af fen aumlhn-li chen We sen die Au gen auf schlug War es auf ei ner Wald wie-se in ei nem Hain an ei nem Berg hang oder auf ei ner Lich tung War das er leuch te te We sen ein Maumlnn chen oder ein Weib chen Ging es den gan zen Tag auf recht oder saszlig es noch ger ne in der Ho cke eng ge kau ert an sei ne Bruuml der und Schwes tern Und war es eine Ein ge bung ein Blitz schlag als das Selbst be wusst sein das ers te Mal die Fes seln des Pri ma ten ge hirns spreng te

Wir wis sen nicht wo ran Schel ling dach te als er mein te die Na tur habe im Men schen ihr Auge auf ge schla gen Si cher dach te er nicht an ei nen ein zi gen Mo ment dem Mil li o nen an de re folg-ten Er dach te an den raquoMen schen an sichlaquo Und er wuss te nichts vom ost af ri ka ni schen Great Rift Val ley und von haa ri gen Vor-men schen die dort einst haus ten Er leb te in Jena und in Muumln-chen und ei nen Men schen af fen hat te Schel ling nie ge se hen Der ein zig ar ti ge Mo ment in dem die Na tur sich ih rer selbst be wusst wird bleibt eine Me ta pher

Doch wie wur de der Mensch nun tat saumlch lich zum Men-schen Die For mu lie rung ist dop pel deu tig Denn wie der Mensch zum Men schen wur de ndash das ist nicht ein evo lu ti o nauml rer Pro-zess auf der lee ren Welt buumlh ne son dern ein Spiel von Be ob ach-ter und Be ob ach te tem Schau spie ler und Zu schau er Ge schich-te auch Ent wick lungs ge schich te ist nichts Vor ge fun de nes Der Mensch schrieb der fran zouml si sche Phi lo soph JeanshyPaul Sart re (1905 ndash 1980) macht sich selbst wie der Ro man schrift stel ler sei ne Fi gu ren Er ist ge fer tigt aus bi o lo gi schen (ana to mi schen neu ro lo gi schen und phy si o lo gi schen) Be stand tei len zu al ler meist je doch durch jene we nig bi o lo gi schen Weis hei ten mit de nen sich die se Subs tan zen selbst zum raquoMen schenlaquo er ko ren

Das Glei che gilt fuumlr die mensch li che Stam mes ge schich te Auch sie ist zu naumlchst ein mal eine Ge schich te Ihre Ur spruumln ge lie gen im

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 489783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 48 10082021 10493510082021 104935

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al ten Grie chen land als Aris to te les den Men schen und den Af-fen ver wandt schaft lich na he ruumlckt raquoMan che Tie re ste hen zwi-schen Mensch und Vier fuumlszlig ler in ih rem We sen wie Af fen Meer-kat zen und Pa vi a ne hellip Ihr Ge sicht hat vie le Aumlhn lich kei ten mit dem des Men schen Nase und Oh ren glei chen den sei nen und Zaumlh ne hat er auch wie ein Mensch die Vor der zaumlh ne wie die Ba cken zaumlhnelaquo10 Auch Aris to te lesrsquo Schuuml ler The oph rast (ca 370 v Chr ndash ca 288 v Chr) be steht auf der Aumlhn lich keit zwi schen Men schen und Tie ren Er lehnt es so gar ab Fleisch zu es sen oder Tie re zu op fern da man sei ne Ver wand ten nicht ver spei se

Aris to te les und The oph rast stell ten den Men schen zwar ne-ben den Af fen ndash Men schen af fen kann te man noch nicht ndash aber die al ten Grie chen hat ten ihn nur sehr un ge faumlhr zu ei nem Tier un ter Tie ren er klaumlrt Den naumlchs ten Schritt mach te mehr als zwei-tau send Jah re spauml ter Carl von Linneacute An der Zu ge houml rig keit des Men schen zu den Saumlu ge tie ren be stand fuumlr den Schwe den kein Zwei fel die Be haa rung und das Stil len der Jun gen be lehr ten un-miss ver staumlnd lich da ruuml ber Auch die Ver wandt schaft mit Af fen und Men schen af fen stand au szliger Fra ge Hier wa ren es die fa chen Fin ger- und Fuszlig nauml gel statt der Klau en der ab ge spreiz te Dau-men die Greif haumln de die zwei Zit zen der Weib chen und der frei he run ter haumln gen de statt am Un ter leib an lie gen de Pe nis ndash Merk-ma le die groumlszlig ten teils auch schon Aris to te les auf ge fal len wa ren

Doch Linneacute zouml ger te vor der Kon se quenz Haumln de rin gend such-te der got tes fuumlrch ti ge Ana tom nach ei nem Un ter schied zwi schen dem Men schen und den uumlb ri gen von ihm so ge nann ten raquoPri ma-tenlaquo raquoIch ver lan gelaquo schrieb er 1747 sei nem deut schen Freund Jo hann Ge org Gme lin raquovon Ih nen und von der gan zen Welt dass Sie mir ein Gat tungs merk mal zei gen hellip auf grund des sen man zwi schen Mensch und Affe un ter schei den kann Ich weiszlig selbst mit aumlu szligers ter Ge wiss heit von kei nemlaquo11

Nach sei nen Kri te ri en haumlt te Linneacute den Men schen zu min dest mit dem Schim pan sen ge mein sam in die sel be Gat tung ein ord-10

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9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 499783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 49 10082021 10493510082021 104935

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nen muumls sen Der Ge dan ke schweb te zeit gleich auch dem Phi lo so-phen JeanshyJacques Rous seau (1712 ndash 1778) vor als er Schim pan-sen Orang-Ut ans und Men schen so gar als Ver tre ter der Spe zi es Mensch an sah Rous seau hat te nie ei nen Men schen af fen ge se-hen Aber die Be rich te die er von Ex pe di ti o nen nach Af ri ka und Suumld ost a si en las lie szligen in ihm kei nen Zwei fel dass die da rin be schrie be nen Men schen af fen raquowe der Tie re noch Goumlt ter son-dern Men schenlaquo sei en12 Fuumlr den Auf klauml rer wa ren Men schen af-fen edle Wil de die von kei ner Zi vi li sa ti on in ih rem fried fer ti gen We sen zer stoumlrt sei en an ders als die Men schen in Eu ro pa Eben-so dach te we nig spauml ter der schot ti sche Sprach for scher James Bur nett Lord Mon boddo (1714 ndash 1799) Auch er be trach te te den Orang-Utan als ei nen Men schen naumlm lich als ei nen raquosprach-losen Wil denlaquo

In ter pre ta ti o nen wie Rous seau sie in Pa ris und Bur nett bald da rauf in Kin card ines hire wag ten wa ren Linneacute im schwe di schen Upp sa la fremd Den Men schen ins Tier reich ein zu ord nen war in den Au gen der stren gen pro tes tan ti schen Kir che Suumln de ge nug und Linneacute zouml ger te den letz ten Schritt zu tun In sei ner Not sor-tier te er 1758 ach sel zu ckend Mensch und Schim pan se in un ter-schied li che Gat tun gen zu sam men ge fasst in der Ord nung der Pri ma ten in der sie auch heu te noch mehr schlecht als recht huumlbsch ge trennt ne ben ei nan der ho cken Homo sap iens der raquoin-tel ligi ble Menschlaquo und Pan trog lody tes der raquohoumlh len be woh nen-de Faunlaquo

So weit so schoumln Der Mensch wur de der obers te Pri mat das houmlchs te raquoHer ren tierlaquo Linneacute be kam kei nen Aumlr ger mit der Kir-che und die Na tur wis sen schaft den gro szligen Wurf des Linneacute rsquoschen Sys tems Wenn nur die se Nach barn nicht wauml ren Seit Be kannt-wer den der Men schen af fen be muumlh ten sich Wis sen schaft ler und The o lo gen im mer wie der um den Ver such den klei nen Gra ben mit gro szligen Was sern zu fuumll len der Homo sap iens und Pan troshyglody tes bei ih rer ord nungs ge mauml szligen Ver ge sell schaf tung auf der 12

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 509783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 50 10082021 10493510082021 104935

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Af fen in sel trennt Sie eva ku ier ten den Men schen vom Pri ma ten-fel sen und schu fen ihm eine ei ge ne Ord nung

In die ser Vor stel lungs welt wuchs auch der The o lo gie stu dent Charles Dar win auf Das fruuml he 19 Jahr hun dert war eine got-tes fuumlrch ti ge bie der mei er li che Zeit Doch je mehr er sich mit der Ver aumln de rung der Ar ten be schaumlf tig te umso deut li cher wur de Dar win dass es mit der of fi zi ell be kun de ten Son der stel lung des Men schen im Uni ver sum nicht weit her sein konn te So no tier te er schon er staun lich fruumlh in sein Ta ge buch raquoDer Mensch haumllt sich in sei ner Ar ro ganz fuumlr ein groszlig ar ti ges Werk des be son de ren Ein grei fens ei ner Gott heit wuumlr dig Es duumlrf te be schei de ner und wie ich glau be auch rich tig sein ihn als aus den Tie ren ent stan-den an zu se henlaquo13

Dar win hat te den noch zwoumllf Jah re ge zouml gert bis er sich schlieszlig lich ge trau te nach der all ge mei nen Dar stel lung ei ner Evo-lu ti ons the o rie im Jahr 1859 sei ne Schluss fol ge run gen in Be zug auf den Men schen in Druck zu ge ben Die Ab stam mung des Men schen aus dem Jahr 1871 ist ein ge maumlch li ches Buch in ver-soumlhn li chem Ton fall Der Na tur for scher er zaumlhlt da rin wie ein gu-ter al ter Groszlig va ter wo her die Pfan zen die Tie re und die Eng-laumln der kom men Die raquoAb wer tunglaquo des Men schen geht da bei ein her mit ei ner kon ti nu ier li chen raquoAuf wer tunglaquo der Tie re raquoWir ha ben ge se henlaquo schreibt Dar win raquodass die Emp fin dun gen und Ein druuml cke die ver schie de nen Er re gun gen und Fauml hig kei ten wie Lie be Ge daumlcht nis Auf merk sam keit Neu gier de Nach ah mung Ver stand usw de ren sich der Mensch ruumlhmt in ei nem be gin nen-den oder zu wei len selbst in ei nem gut ent wi ckel ten Zu stand bei den nie de ren Tie ren ge fun den wer denlaquo14

La marck und Dar win wa ren die Ers ten die mit Mit teln der mo der nen Na tur wis sen schaft be haup te ten was vie le Kul tu ren und Zei ten schon zu vor re li gi oumls ge ahnt hat ten raquoNa tuumlr lichlaquo ist es ab surd eine Tei lung des Tier reichs in zwei Ka te go ri en vor zu-neh men ndash in eine mensch li che und eine nicht mensch li che Ka-13

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9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 519783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 51 10082021 10493510082021 104935

Page 13: Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen · Leseprobe Professor Dr. Richard David Precht Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen »Fazit:

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Be lan ge re gelt eben so wie jene des Maul wurfs das Tier schutz-ge setz Maul wuumlr fe und Schim pan sen sind kei ne Rechts sub jek-te Man darf sie in enge Kauml fi ge ein pfer chen man darf sie mit Elektro schocks fol tern mit toumld li chen Kei men in fi zie ren sie am le ben di gen Leib ver aumlt zen sie ver stuumlm meln und ver gif ten

Das ver nuumlnf ti ge und sitt li che Le ben und das un ver nuumlnf ti ge rohe Le ben tei len die Welt in zwei Herr schafts be rei che Ei ner da von be sitzt ein mo ra li sches Sie gel Der an de re da ge gen ist ein na he zu un be schrie be nes Blatt Fast hun dert sech zig Jah re ist es her dass der bri ti sche Na tur for scher Charles Dar win den ge-mein sa men Ur sprung die fie szligen den Uumlber gaumln ge und zar ten Ver-aumls te lun gen al len Le bens be wies Doch Men schen gel ten we der all tags sprach lich noch recht lich als Tie re Eine alte Ge wohn heit trennt den Men schen von sei nen ani ma li schen Ver wand ten Es ge houmlrt zu den ei gen tuumlm li chen Fol gen der Dar win rsquoschen Wen de dass sie mit ei ni gen klei ne ren Kor rek tu ren das anth ro po zent ri-sche Welt bild un an ge tas tet lieszlig Kaum je mand duumlrf te sich als je-ner Tro cken na sen pri mat in der Ver wandt schaft von Men schen-af fen Meer kat zen und Pa vi a nen se hen als den uns die Zo o lo gie klas si fi ziert Statt des sen de fi nie ren wir uns als Men schen und ge-ben uns alle Muumlhe un se re ani ma li sche Na tur zu ver ges sen und zu ver ber gen

Das Band zu den an de ren Tie ren ha ben wir vor lan ger Zeit zer schnit ten Vor etwa 10 000 Jah ren hat der Mensch ge lernt die Roh stoff re ser ve raquoTierlaquo plan mauml szligig zu zuumlch ten Er haumllt sie von nun an in Form ei nes le ben den Ver sor gungs vor rats zum ei-ge nen Nut zen und From men In den An faumln gen der Tier zucht leg ten man che sess haft ge wor de nen Jauml ger ge stor be ne Hun de in da fuumlr vor ge se he ne Gru ben und be stat te ten so gar Mut ter Kind und Rin der ge mein sam Wel ten klaf fen zwi schen dem ani mis ti-schen Glau ben der ers ten Vieh zuumlch ter und der ma te ri a lis ti schen Mas sen tier hal tung der mo der nen Ge sell schaft Mit dem Ende der Kon kur renz schwand die Not wen dig keit sich mit dem Tier

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als ei nem Le be we sen aus ei nan der zu set zen Heu te nut zen wir die Res sour ce raquoTierlaquo voumll lig frag los fuumlr die An spruuml che des Men schen Das Ge mein sa me von Tier und Mensch trat in den Hin ter grund Zwar leb te das Tier noch im mer in der kul tu rel len Fan ta sie fort als ma gi sche oder fan tas ti sche Ge stalt als Freund Ge faumlhr te oder Be dro hung Doch die Be deu tung in der All tags welt er mat te te auf Schwund stu fen der Na tur wie Schoszlig hund Zier gup py Le ge hen-ne und Zir kus pferd Gren zen los uumlber le gen und un ab haumln gig ge-gen uumlber den Tie ren sei ner Um welt ent wi ckel te sich im mensch-li chen Be wusst sein ein voumll lig ent frem de tes Ver haumllt nis Nicht nur ra di ka le Aus nut zung und Sa dis mus auch falsch ver stan de ne Lie-be De na tu rie rung und un frei wil li ge Quauml le rei be stim men seit her den mensch li chen Um gang mit dem Tier

Bis ins fruuml he Mit tel al ter uumlber wog die Zahl der wil den Tie re die An zahl der Nutz- und Haus tie re die der Mensch in sei nen Dienst ge stellt hat te Doch spauml tes tens mit dem Sie ges zug des Ka pi ta lis mus in West eu ro pa und Nord a me ri ka ver schwan den die Res te der Ehr furcht in die Maumlr chen buuml cher und Zir kus dar-bie tun gen Mo der ne Agrar un ter neh men In dust rie met ro po len Au to bah nen und Hoch span nungs mas ten bil den das Or na ment un se rer Um welt die wir seit meh re ren hun dert Jah ren raquoLand-schaftlaquo nen nen Nir gend wo in der All tags welt ei nes Men schen der west li chen Zi vi li sa ti on be geg net uns das Tier noch als Kon-kur rent nicht bei der Er naumlh rung nicht im Kampf um den Le-bens raum und nicht als Fress feind des sen Zaumlh ne und Klau en ernst haft Furcht er re gen koumlnn ten Das ein zig Be droh li che das heu te bleibt sind aus ge rech net ein paar klei ne Tie re etwa Rat-ten und Maumlu se die letz ten ge faumlhr li chen Fress kon kur ren ten des Men schen Dazu kom men In sek ten Mik ro ben und Vi ren

Das Band zwi schen uns und den an de ren Tie ren wuchs auch nicht da durch wie der zu sam men dass wir die Tie re uumlber die Wis-sen schaft als Ver wand te wie der ent deck ten Seit mehr als zwei-tau send Jah ren sieht sich der Mensch als le gi ti mer Herr scher

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uumlber eine be herrsch ba re Um welt dazu ge schaf fen sie zu nut zen und aus zu beu ten Un se re Evo lu ti on hat sich da bei ra sant be-schleu nigt Laumlngst fin det sie kaum noch in un se rem Koumlr per statt son dern vor al lem in un se rer Tech nik und Kul tur Und schon lan ge dient sie nicht mehr dazu sich der Na tur an zu pas sen Sie dient ei ner im mer wie der neu ge schaf fe nen mensch li chen Kul-tur An pas sung be deu tet heu te sich an den ei ge nen Fort schritt an zu pas sen mit all den be kann ten Fol gen fuumlr un se re Um welt Dra ma ti sche Kli ma wech sel die Zer stouml rung der schuumlt zen den Ozon schicht die Ver step pung wei ter Land stri che auf al len Suumld-kon ti nen ten und die Ver gif tung der Mee re ver nich ten nicht nur die nicht mensch li che Tier welt sie be tref fen mehr und mehr den Men schen selbst

In atem be rau ben dem Tem po be schleu nig te das in dust ri a li sier-te 20 Jahr hun dert die Be herr schung und Aus beu tung der Na-tur und mit ihr die der Tie re Schon in den ver gan ge nen Jahr-tau sen den hat te Homo sap iens den ge sam ten Pla ne ten in Be sitz ge nom men Kein grouml szlige res Wir bel tier be sitzt ein sol ches Ver brei-tungs ge biet be wohnt Wuumls ten Re gen waumll der und Po lar re gi o nen glei cher ma szligen Und kein grouml szlige res Wir bel tier hat sich zu Mil li ar-den ver mehrt Ruumlck sichts lo se Pluumln de rung der Roh stof fe und ein un ge heu res Be voumll ke rungs wachs tum der Spe zi es Homo sap iens schaf fen ei nen erd ge schicht li chen Aus nah me zu stand

Der Mensch be herrscht heu te den Pla ne ten aber of fen sicht-lich nicht sich selbst Es koumlnn te da ran lie gen dass es raquoden Men-schenlaquo gar nicht gibt Statt des sen gibt es mehr als sie ben Mil li-ar den un ter schied li che In di vi du en Und nie mand da von ist fuumlr die Mensch heit zu staumln dig Sie ist eine Ge mein de der an zu ge houml-ren nicht dazu ver pfich tet sich um das Gan ze zu sor gen und zu kuumlm mern

Zu herr schen be deu tet Ord nun gen zu etab lie ren und Re geln da fuumlr auf zu stel len was wich tig ist und un wich tig rich tig oder falsch Jahr hun der te lang sah die Mo ral der abend laumln di schen

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Zivi li sa ti on in der Aus rot tung der Wild tie re und Aus beu tung der Nutz tie re na he zu kein Pro blem Eine kla re Grenz zie hung er-laub te je den Um gang mit dem Tier von der Lie be bis zur Fol ter von der Zucht bis zur Touml tung Das Ar gu ment war schlicht Der Mensch ist eine Son der an fer ti gung Got tes und mit dem Tier ge-ra de mal durch den lo sen Fa den der goumltt li chen Schoumlp fung stat ver bun den So kam in den Wor ten des deutsch-fran zouml si schen The o lo gen und Arz tes Al bert Schweit zer raquodie An sicht auf dass es wert lo ses Le ben gaumlbe des sen Schauml di gung und Ver nich tung nichts auf sich habe Un ter wert lo sem Le ben wer den dann je nach den Um staumln den Ar ten von In sek ten oder pri mi ti ve Voumll ker ver stan denlaquo2 (Eine Kli en tel die sich uumlber dies noch um Frau en er wei tern lie szlige)

Die se Gren ze wur de und wird in der abend laumln di schen Kul-tur ge schich te va ri an ten reich ver tei digt Doch je ge nau er wir sie be trach ten umso selt sa mer er scheint sie uns Denn sie laumlsst sich im mer schlech ter be gruumln den und zwar so wohl phi lo so phisch als auch bi o lo gisch Seit etwa vier zig Jah ren be steht in der Ge-sell schaft eine De bat te die un se ren Um gang mit Tie ren grund-saumltz lich in fra ge stellt Tier e thi ker wie Pe ter Sin ger und sein US-ame ri ka ni scher Phi lo so phen kol le ge Tom Re gan for dern Rech te auch fuumlr Tie re Der Aus schluss der Tie re aus der Ethik sei ein mo ra li scher Skan dal Das Tier heu te mo ra lisch drau szligen vor der Tuumlr zu las sen sei das Erbe ei nes re li gi ouml sen Aber glau bens Da der Mensch kei ne Son der an fer ti gung Got tes sei son dern ein in tel-li gen tes Tier muumlss ten wir die Reich wei te der Mo ral eben so auf die raquoan de ren Tie relaquo aus deh nen Ha ben wir nicht nach und nach ge lernt die Skla ve rei zu aumlch ten und Frau en als gleich be rech tig-te Men schen zu ach ten Und ist es nun nicht an der Zeit neu uumlber Tie re nach zu den ken und sie mo ra lisch an ge mes sen zu be-ur tei len

Doch wie koumlnn te ein sol cher an ge mes se ner Um gang mit den an de ren Tie ren aus se hen Den Men schen als ein Tier un ter an-2

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de ren an zu se hen koumlnn te ja auch be deu ten ihn ab zu wer ten statt die Tie re mo ra lisch erns ter zu neh men Das Un heil des So zi-al dar wi nis mus und der bar ba ri schen Ras sen the o rie ste ht uns mah nend vor Au gen Und was ist uumlber haupt das Kri te ri um da-fuumlr Tie re mo ra lisch zu ach ten Ist es ihre Lei dens fauml hig keit ihr Le bens wil le oder ihre In tel li genz Ha ben klu ge Tie re ein houml he-res Le bens recht als duumlm me re Das Ver haumllt nis des Men schen zu den an de ren Tie ren neu zu be wer ten ist eine gro szlige und schwie-ri ge Auf ga be

Ich moumlch te in die sem Buch ver su chen die se Fra gen neu zu stel len und zu durch den ken Da bei be trach te ich den Men schen als ein be son de res Tier un ter vie len auf an de re Wei se be son de ren Tie ren Ich moumlch te mich nicht da rauf fest le gen den Men schen all ge mein uumlber be stimm te Ei gen schaf ten zu de fi nie ren die ihn ethisch wert voll ma chen sol len Ich moumlch te ihm aber auch nicht im Um kehr schluss alle ge mein hin als raquomensch lichlaquo be zeich ne ten Ei gen schaf ten ab spre chen weil nicht alle Men schen Trauml ger all die ser Ei gen schaf ten sind Viel leicht ist be reits das Su chen nach sol chen ex klu si ven Ei gen schaf ten der fal sche Weg Der Denk-feh ler koumlnn te be reits da rin lie gen ei gen staumln di ge Dis zip li nen wie raquoAnth ro po lo gielaquo oder raquoMo ral phi lo so phielaquo be trei ben zu wol len die eine sol che enge De fi ni ti on des Men schen vo raus set zen Waumlre es nicht bes ser die Enge des Be griffs zu spren gen Statt Anth-ro po lo gie zu be trei ben soll te man sich lie ber mit ei ner Anthroshyzo o lo gie be schaumlf ti gen ndash eine Leh re vom Men schen tier und den an de ren Tie ren

Der Be griff ist neu er wur de erst vor we ni gen Jah ren un ter an de rem von dem US-ame ri ka ni schen Psy cho lo gen Hal Her zog ein ge fuumlhrt3 Die neue Dis zip lin der Hu manshyAni mal Stu dies kon-zent riert sich weit rei chend da rauf was Men schen und an de re Tie re ver bin det Da bei ver wen de ich den Be griff raquoAn thro zo o-lo gielaquo al ler dings et was an ders als Her zog und die Ver tre ter der Hu man-Ani mal Stu dies Es ist ein et was ein touml ni ger Sport al les 3

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was ge mein hin als raquomensch lichlaquo be trach tet wird als My thos zu ent zau bern Ich moumlch te es lie ber an ders ein bet ten und be wer ten Denn ich mei ne dass die Ver tre ter der Hu man-Ani mal Stu dies ihre De fi ni ti on des Men schen als ein Tier un ter Tie ren nicht ganz zu Ende den ken Denn waumlre der Mensch durch nichts Mensch-li ches grund saumltz lich vom Tier un ter schie den wie sie an neh men so lieszlige sich auch nicht ein for dern dass Men schen sich aus vershynuumlnf ti ger Ein sicht an ge mes sen ge gen uumlber Tie ren ver hal ten sol len

Um mensch li ches Han deln zu ver ste hen muumls sen wir ver ste-hen in wel chem Rah men Men schen die Welt se hen sich ori en-tie ren und han deln Die bei den ers ten Tei le des Bu ches skiz zie-ren die sen bi o lo gi schen und den kul tu rel len Rah men In ih nen moumlch te ich zei gen auf wel che Art und Wei se Men schen sich un-ter Tie ren ver hiel ten und ver hal ten Da bei be schaumlf tigt sich der ers te Teil mit der Fra ge was fuumlr ein spe zi el les Tier der Mensch ei gent lich ist Wie ist sei ne Rol le in der Evo lu ti on Und nach wel chen Denk mus tern ha ben Men schen die se Chro nik un se rer selbst seit der An ti ke ge schrie ben (Die Ord nung der Schoumlpshyfung) Wel che Stel lung hat sich Homo sap iens in der Na tur da-durch ge si chert dass er sie sich zu schrieb (Der Pri mat)

In je der mensch li chen Wis sen schaft vom Le ben be steht bis heu te still schwei gend oder laut hals ver kuumln det zwi schen Mensch und Tier eine Gren ze Doch weiszlig we der die E vo lu ti ons bi o lo-gie noch die Pal aumlo anth ro po lo gie mit Ge wiss heit zu sa gen an wel chem Punkt sich nur ani ma li sches von mensch li chem Le ben schei det Was ha ben Pal aumlo anth ro po lo gen in den letz ten hun dert Jah ren da ruuml ber ge glaubt Und was den ken sie heu te (Der aufshyrech te Affe) Da bei wer den wir se hen dass es mit der Gren ze zwi schen dem Men schen und den an de ren Tie ren eine aumlu szligerst komp li zier te Sa che ist Seit Jahr zehn ten mes sen und ver glei chen Ver hal tens for scher die kog ni ti ven Leis tun gen von Tie ren mit je-nen des Men schen mit dem uumlber ra schen den Er geb nis dass Tie re in na he zu al len raquowich ti genlaquo Punk ten un ter le gen sind bei Kul tur-

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leis tun gen wie Werk zeug ge brauch und Re li gi on eben so wie beim Er werb der mensch li chen Spra che Doch ha ben wir bei sol chen Mes sun gen tat saumlch lich den rich ti gen den fai ren Maszlig stab Ist es sinn voll die In tel li genz von Men schen af fen mit uns zu ver glei-chen (Sinn und Sinn lich keit)

Die Mo le ku lar ge ne tik zeigt uns dass Men schen bi o lo gisch Schim pan sen sind Wel che Kon se quen zen zie hen wir da raus (Eins Kom ma sechs Pro zent) Nach dem wir den Men schen auf die se Wei se bi o lo gisch ein ge kreist ha ben wer fen wir noch ei nen Blick da rauf wie ob jek tiv un ser Wis sen vom Men schen und den an de ren Tie ren ist Was koumln nen wir uumlber haupt uumlber das Be wusst-sein an de rer Tie re wis sen Stellt es nicht eine so gro szlige Bar ri e re dar dass wir zu ge ben muumls sen nichts De fi ni ti ves sa gen zu koumln-nen (Die Tuuml cke des Sub jekts)

Im zwei ten Teil wer fe ich ei nen Blick in die Kul tur ge schich te des Mensch-Tier-Ver haumllt nis ses Was ha ben Men schen zu wel cher Zeit uumlber Tie re ge dacht und wa rum Wie hat man sie be han delt Und wel che Sen si bi li taumlt oder Kaumll te setz te sich wa rum durch Was wis sen wir da ruuml ber aus der Jung stein zeit (Die Tund ra des Ge wis sens) Was glaub ten und dach ten die al ten Aumlgyp ter (raquoIch habe kein Tier miss han deltlaquo) Und wa rum ent zau ber te das alte Ju den tum die Tie re (Hir ten und Herr scher)

In der abend laumln di schen Phi lo so phie gibt es seit der An ti ke sehr un ter schied li che Deu tun gen von Tie ren Mal se hen die Den ker eine gro szlige spi ri tu el le oder na tur ge schicht li che Naumlhe mal er he-ben sie den Menschen qua sei ner Ver nunft zum un ein ge schraumlnk-ten Wel ten herr scher (Das ver lo re ne Pa ra dies) In der christ li chen Re li gi on da ge gen wer den Men schen und Tie re deut lich von ei-nan der ge schie den eine Son der an fer ti gung hier eine Drein ga-be dort Das Chris ten tum ent fernt die tier freund li chen Mo men-te der juuml di schen Re li gi on aus den Glau bens leh ren (raquoKuumlm mert sich Gott etwa um die Och senlaquo) An ders ver laumluft der Weg in In di en Chi na und Suumld ost a si en Das Welt bild und die Tier ethik

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 249783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 24 10082021 10493410082021 104934

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von Hin dus und Bud dhis ten un ter schei den sich von der un se-ren (Schein hei li ge Kuumlhe) Im Abend land da ge gen do mi niert in der Nach fol ge des fran zouml si schen Phi lo so phen Reneacute Des car tes eine raquora ti o na lis ti schelaquo kal te Pers pek ti ve auf das Tier Tie re weil sie nicht ver nunft fauml hig sei en wer den kaum noch als Le be we sen wahr ge nom men ndash eine Po si ti on die im 18 Jahr hun dert al ler-dings ziem lich kont ro vers dis ku tiert wird (Die Den ker und das lie be Vieh) Nach und nach ent ste hen im spauml ten 18 Jahr hun dert eine neue Mit leids ethik und so gar ers te For de run gen nach Rech-ten fuumlr Tie re (raquoKoumln nen sie lei denlaquo)

Im drit ten Teil moumlch te ich eine ei ge ne ethi sche Hal tung ent-wi ckeln Zu naumlchst wer den The o ri en von Phi lo so phen des 20 Jahr hun derts vor ge stellt die wie Al bert Schweit zer raquoEhr furcht vor dem Le benlaquo ver lan gen oder Tie ren ei nen ho hen mo ra li schen Sta tus zu spre chen wie Pe ter Sin ger und Tom Re gan (Das ei sershyne Tor) Die se Po si ti o nen zwin gen dazu grund saumltz li cher da ruuml-ber nach zu den ken was das raquoTier rechtlaquo vom raquoTier schutzlaquo un-ter schei den soll (Schutz oder Recht) An schlie szligend moumlch te ich die Schwach stel len der gaumln gi gen Tier rechts phi lo so phi en he raus-ar bei ten und zei gen wa rum ich sie we der dem Men schen fuumlr an-ge mes sen hal te noch fuumlr all ge mein prak ti ka bel (Eine art ge rech te Mo ral) Da ran schlie szligen sich mei ne Uumlber le gun gen an was ein an ge mes se ner Um gang mit Tie ren sein koumlnn te (Gut besser am besten)

Sol cher ma szligen ge ruumls tet koumln nen wir uns im vier ten Teil mit den vie len Prob le men be fas sen die sich im All tag stel len Das ers te die ser Ka pi tel bi lan ziert das all taumlg li che Cha os im Um gang mit Tie ren (Lie ben ndash Has sen ndash Es sen) Da nach wen den wir den Blick auf die recht li che Si tu a ti on und un ter zie hen die Lo gik un-se res Tier schutz ge set zes ei ner ge nau e ren Pruuml fung (Ein kur zer Text uumlber das Touml ten) Das naumlchs te Ka pi tel gilt der Jagd Ist Ja gen art ty pi sches Ver hal ten des Men schen oder eine staat lich le gi ti-mier te Per ver si on (Na tur schutz oder Lust mord) Und wie sieht

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 259783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 25 10082021 10493410082021 104934

es mit un se rer Er naumlh rung aus Wel che Ar gu men te spre chen da-fuumlr dass Men schen in un se ren heu ti gen west li chen Ge sell schaf-ten noch Tie re touml ten duumlr fen um sich von ih nen zu er naumlh ren Und wel che Ar gu men te spre chen da ge gen Viel leicht gibt es so gar schon in Kuumlr ze ei nen Aus weg der uns end lich hilft die Mas sen-tier hal tung zu be sei ti gen (Jen seits von Wurst und Kaumlse) Eben so stellt sich die Fra ge un ter wel chen Um staumln den Tier ver su che zu-kuumlnf tig er laubt sein soll ten und un ter wel chen nicht (Das Tier als Dum my) Ist es mo ra lisch ver tret bar Tie re in Zo o lo gi schen Gaumlr ten zu hal ten Und wenn ja wel che und wel che nicht (Alshycat raz oder Psycho top) Zoos ver ste hen sich heu te als raquoNa tur-schutz zent renlaquo die Tie re er hal ten die in ih ren Hei mat laumln dern vom Aus ster ben be droht sind Wie ist dies zu be wer ten (Das Zeit al ter der Ein sam keit) Da bei sto szligen wir auf die Schwie rig-keit dass Tier schutz Tier recht und Ar ten schutz kei ne na tuumlr li-chen Ver buumln de ten sind son dern sich in ih rer Phi lo so phie ih rer Welt an schau ung und ih ren Ziel set zun gen stark un ter schei den (Das un ver soumlhn li che Tri um vi rat) Das Schluss wort bi lan ziert die se Er kennt nis se und fragt was wir aus al le dem prag ma tisch fol gern soll ten und in wel chen Schrit ten es ge sche hen koumlnn te (Scho pen hau ers Trep pe)

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Das Men schen tier

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Wahr heit zu hal ten Aber die ses Bild hat sich schon oft ver aumln-dert und es wird sich ge wiss noch wei ter ver aumln dern

Men schen nei gen dazu die Welt in der sie le ben auf zu raumlu-men Es ist eine ziem lich art ty pi sche Ver hal tens wei se Wir sor tie-ren die all taumlg li chen Din ge un se res Le bens und eben so sor tie ren wir die Ge dan ken uumlber die Welt die uns um gibt Jede Ord nung auch die der Na tur ist also ein mensch li cher Ent wurf Und al-lem An schein nach ent stand das Be duumlrf nis die Welt zu ord nen in un se rer Ent wick lungs ge schich te pa ral lel zur Ent wick lung der Spra che Denn ohne die kuumlnst li che Auf raumlum ar beit der Spra che waumlre die Vor stel lung von ei ner raquoOrd nung der Schoumlp funglaquo oder der raquoNa turlaquo nicht moumlg lich

Wer auf die Ord nung an ge wie sen ist be wegt sich gern in den si che ren Gren zen ei nes Sys tems Nur in ner halb ei nes sol chen Ord nungs ge fuuml ges fragt man nach Wahr heit und Gel tung Rich-tig keit Me tho de und Be deu tung Zu leicht uumlber sieht der Ord ner dann die kuumlnst li che Be hau sung und die selbst ge zim mer ten Re-ga le in die er die Welt so sorg faumll tig hi nein sor tiert Sel ten ge lingt ihm ein Blick aus dem Fens ter in die un ge wis se Land schaft die ihn um gibt Und nur ein ge wal ti ger Sturm ein Blitz schlag oder eine Er schuumlt te rung zwingt den Ver wal ter der Welt die si che re Wohn statt zu ver las sen und sich ein an de res Haus zu bau en das den An fein dun gen des neu en Kli mas wi der steht

Erst im Ruumlck blick auf die vie len Irr tuuml mer der Ver gan gen heit er ken nen wir dann un se re ei ge ne Un zu laumlng lich keit beim Auf-raumlu men In der Ge gen wart er scheint uns die je wei li ge Ord nung meis tens so selbst ver staumlnd lich dass wir gern uumlber jede Moumlg-lich keit der Ver aumln de rung lauml cheln So ha ben Men schen mit voumll li-ger Ge wiss heit an ge nom men dass die Erde eine Schei be ist und dass Frau en und Skla ven kei ne Rech te zu ste hen Und mit ei nem eben sol chen Lauml cheln be trach ten wir heu te die Gruumln de mit de-nen Men schen sich im Lau fe der Jahr hun der te von den Tie ren zu un ter schei den glaub ten

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 309783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 30 10082021 10493410082021 104934

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Schon die al ten Grie chen ins be son de re Aris to te les (384 v Chr ndash 322 v Chr) ha ben sich fuumlr die Ge schich te und das in vie len De tails ver bor ge ne Sys tem der Na tur in te res siert Er teilt die Tie re in Klas sen ein ver sucht zu er gruumln den was Le ben ist und schafft da mit die Grund la gen der Zo o lo gie Aber Aris to te-les kennt nur we ni ge hun dert Tie re Eine raquovoll staumln di ge Na tur-ge schich telaquo wird das ers te Mal im 18 Jahr hun dert ge schrie-ben ndash und auch sie ist aumlu szligerst un voll staumln dig Seit dem ver fuuml gen wir nicht nur uumlber ei nen rei chen Vor rat an ge dach ten Ord nun-gen von den Schoumlp fungs my then bis hin zur Mo le ku lar bi o lo gie Wir ken nen auch eine Wis sen schaft die sich raquoTax ono mielaquo nennt und jede Pfan ze und je des Tier sys te ma tisch in eine In ven tar liste der Na tur ein traumlgt

Da bei ver ra ten die Denk sche ma ta der Na tur for scher nicht nur et was uumlber die klas si fi zier te Na tur selbst son dern eben so uumlber das Ord nungs be duumlrf nis und die Pfif fig keit des mensch li-chen Geis tes Das 18 Jahr hun dert ist eine Zeit in der das Buumlr-ger tum an die Macht draumlngt und sich zu neh mend ge gen den Adel auf ehnt Sei ne schaumlrfs te Waf fe ist et was das man raquoVer nunftlaquo oder raquoRa ti o na li taumltlaquo nennt und das man ge gen den Glau ben ins Feld fuumlhrt Fuumlr die Phi lo so phen der Ra ti o na li taumlt ist die Welt kei-ne vor ge fun de ne Schoumlp fung mit fes ter Ord nung son dern et was dass man geis tig durch drin gen und auf sei ne Lo gik und Wi der-spruuml che un ter su chen kann Da bei ge ben zu naumlchst die Phy sik und die Ma the ma tik das Sche ma vor nach dem alle Er kennt nis auch jene von Pfan zen und Tie ren funk ti o nie ren soll Die Sys te ma ti-ker der Na tur ge schich te su chen nach un ver ruumlck ba ren Kri te ri en ob jek ti ven Ge setz mauml szligig kei ten und lo gi schen Ver bin dun gen um die un uuml ber sicht li che Welt der Le be we sen ih rer raquowah ren An ord-nunglaquo ge maumlszlig ein zu tei len Aber nicht alle Na tur for scher glau-ben dass ein sol ches Vor ha ben tat saumlch lich ge lin gen kann Man-che hal ten die Na tur fuumlr zu reich hal tig um sie auf die se Wei se zu klas si fi zie ren Welt an schau un gen tref fen auf ei nan der auf der

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 319783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 31 10082021 10493410082021 104934

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ei nen Sei te der Glau be an ein vom Men schen prin zi pi ell voumll lig durch schau ba res Na tur sys tem auf der an de ren Sei te eine un er-gruumlnd li che Schoumlp fung in der der Mensch sich im mer nur tas-tend fort be wegt

Die ers te Va ri an te gilt im 18 Jahr hun dert als der mo der ne-re An satz Man ori en tiert sich da bei an ei nem Ra ti o na lis mus den Reneacute Des car tes (1596 ndash 1650) schon hun dert Jah re zu vor neu be gruumln det hat Die ser Ra ti o na lis mus ori en tiert sich an der Me cha nik Die Schoumlp fung Got tes er scheint als eine ein zi ge klug aus ge tuumlf tel te Ma schi ne die der Mensch Stuumlck fuumlr Stuumlck zu be-herr schen lernt Und das Uni ver sum be steht aus Ma te rie in Be-we gung or ga ni siert nach ma the ma ti schen Ge set zen Ob gleich das 18 Jahr hun dert zent ra le Spe ku la ti o nen des Phi lo so phen wi-der legt ori en tiert es sich in vie lem an Des car tesrsquo me cha nis ti scher Denk wei se Sie tut dies vor zugs wei se in je nen Dis zip li nen de-ren Er kennt nis fort schritt zu naumlchst ge ring bleibt Und nir gend-wo trifft dies in ei nem sol chen Maszlig zu wie bei der Er for schung der bi o lo gi schen Na tur

Doch die ses Welt bild hat prob le ma ti sche Fol gen Wer die Welt kon se quent nach me cha nis ti schen Grund saumlt zen be trach tet hat fuumlr den Be reich der nicht mensch li chen Na tur we nig Ver staumlnd nis Fuumlr Des car tes sind Tie re nichts als Ma schi nen Es macht kei nen Un ter schied ob eine Ma schi ne die aumlu szlige re Ge stalt und die in ne-ren Or ga ne ei nes Af fen hat oder ob es sich da bei tat saumlch lich um ein le ben des Tier han delt Denn relevantes Le ben kommt fuumlr den Den ker nicht durch zir ku lie ren des Blut und Reizempfindungen in den Koumlrper Son dern bedeutsames Le ben ga ran tie ren ein zig und al lein der er leuch te te Geist und sei ne Spra che

Des car tesrsquo Zeit kennt we der den Be griff des raquoOr ga nis muslaquo die Be son der heit des Le bens noch die Evo lu ti on son dern eben nur die Me cha nik Trotz dem ist sei ne The o rie von den Tie ren als see len lo se Au to ma ten im 17 und 18 Jahr hun dert aumlu szligerst um-strit ten Fran zouml si sche Phi lo so phen schrei ben Buch um Buch uumlber

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 329783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 32 10082021 10493410082021 104934

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die Tier-Fra ge und be feh den sich da bei uumlber mehr als hun dert Jah re Noch weiszlig man nichts von ei ner raquoBi o lo gielaquo Man be treibt eine neue Dis zip lin die sich raquoNa tur ge schich telaquo nennt und da-mit auf raumlumt die Ge schich te von Le be we sen als eine wahl lo se Samm lung von Er zaumlh lun gen an zu se hen Bis her schrie ben Au to-ren um stands los von der Fang wei se der Tie re ih rer Ana to mie ih rer bib li schen und al le go ri schen Be deu tung ih rem prak ti schen Ge brauch ih rer Ver meh rung ih ren Stim men und Spra chen ih-ren Be we gun gen ih rem Al ter und von der Sym pa thie oder An-ti pa thie des Ver fas sers Auch Koch re zep te wur den von Fall zu Fall hin zu ge fuumlgt

Ein zo o lo gi sches Sys tem ist zu An fang des 18 Jahr hun derts weit ge hend un be kannt die Ver wandt schafts ver haumllt nis se der Pfan zen und Tie re sind dif fus ge ahnt und wer den eher nach Le-bens raumlu men be stimmt als nach koumlr per li chen Merk ma len Tie re die nachts ja gen ste hen da bei eben so in ei nem Ord nungs ge fuuml ge wie Tie re die fie gen koumln nen im Wald oder in ei nem See le ben Be reits die Pries ter schrift der bib li schen Ge ne sis hat te die Welt der Tie re und Pfan zen nicht nach ana to mi schen Merk ma len un-ter teilt son dern in Be zug auf den Le bens raum Pfan zen und Tie re des Mee res der Luft und der Erde Uumlber mehr als tau send Jah re kann ten auch der Is lam und die Hin dus Ord nungs sys teme die Tie re in ih rem Oumlko sys tem ver an ker ten

In der hin du is ti schen Samk hya-Tra di ti on exis tie ren vier zehn Klas sen un ter schied li cher Le be we sen ein ge teilt in acht For men himm li scher und sechs ir di scher Le be we sen zu de nen auch der Mensch ge houmlrt Als wei te res Un ter schei dungs merk mal dient die Art und Wei se der Ge burt Im gro szligen in di schen Na ti o nal epos aus dem 4 Jahr hun dert dem Ma hab har ata heiszligt es raquoAuf die ser Erde gibt es zwei Ar ten von Le be we sen die Be weg li chen und die Un be weg li chen Die Be weg li chen ha ben ei nen drei fa chen Schoszlig Sie sind aus dem Ei aus feuch ter Hit ze und Le ben dig-Ge bo re ne Von al len be weg li chen Le be we sen wie de rum sind die je ni gen die

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le ben dig ge bo ren sind hellip die bes ten Die bes ten un ter den le ben-dig Ge bo re nen sind die die zum Men schen ge schlecht ge houml ren und die Nutz tie relaquo4

Die neu en Sys te me des 18 Jahr hun derts be frei en die Na tur-ge schich te von al lem was sich mit den Me tho den der Zeit nicht wis sen schaft lich exakt be schrei ben laumlsst Koch re zep te fal len so-wie so un ter den Tisch aber auch man che Ver hal tens be ob ach-tun gen und vor mals wich ti ge Ei gen schaf ten wie zum Bei spiel der Ge ruch Ge forscht wird mit Lupe und Mik ros kop Li ne al und Pin zet te Der wich tigs te Mann auf die sem Ge biet ist der schwe-di sche Na tur for scher Carl von Linneacute (1707 ndash 1778) Er ori en-tiert sich an Aris to te les den er be wun dert nicht an Des car tes Ge ra de zu re vo lu ti o naumlr de mo kra tisch ent wi ckelt der auf ge klaumlr te Schwe de im 18 Jahr hun dert ein be schrei ben des Sys tem der Na-tur frei vom the o lo gi schen Fir le fanz sei ner Zeit Mit der Ak ri bie ei nes Brief mar ken samm lers dem Voll staumln dig keit mehr be deu tet als das Be stau nen ein zel ner Wer te ord net er die be leb te Na tur nach Ar ten Gat tun gen Ord nun gen und Klas sen Vier Va ri ab len die Form der Ele men te ihre An zahl die raumlum li che An ord nung der Ele men te und ihre re la ti ve Grouml szlige be stimm ten von nun an den Platz im Sys tem

Un ter der Leit dis zip lin der Bo ta nik wan delt sich die Na tur ge-schich te in eine ge ord ne te Welt aus Li ni en und Flauml chen Ent schei-dend sind die sicht ba ren Un ter schei dungs merk ma le wie Bluuml ten und Staub ge fauml szlige Blaumlt ter und Fruumlch te Fuumlszlige und Hufe Fe dern und Flos sen So setzt Linneacute fuumlr jede Pfan zen- und Tier klas se jede Ord nung und Gat tung be stimm te Merk ma le fest die er als die wich ti ge ren er ach te t Denn nur un ter der An nah me sol cher pri vi-le gier ter Struk tu ren ist es ihm moumlg lich die ver schie de nen Spe zi es im Ge samt sys tem un miss ver staumlnd lich zu ras tern Der mensch li che Ord ner be schreibt also nicht ein fach die be leb te Na tur Er fuumlgt ihr auch et was hin zu die Ent schei dung naumlm lich was in der For men-viel falt der Le be we sen wich ti ge Merk ma le sind und was nicht4

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 349783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 34 10082021 10493410082021 104934

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Wie alle da ma li gen Na tur for scher nimmt Linneacute an dass die Ein tei lun gen die der mensch li che Ver stand macht tat saumlch lich ei ner ob jek ti ven Ord nung der Na tur ent spre chen Doch Lin neacutes Sys tem ist wie er selbst weiszlig nicht raquona tuumlr lichlaquo Sei ne Struk tu ren sind kei ne die er in der Na tur als Un ter schei dungs kri te ri en vor-fin det Denn was sich am Schreib tisch nun muumlh sam in Ord nun-gen pres sen laumlsst liegt wie der fran zouml si sche Na tur for scher Mishychel Adan son (1727 ndash 1806) fest stellt in der Wild nis wie Kraut und Ruuml ben durch ei nan der raquohellip eine kon fu se Mi schung aus We-sen hellip die der Zu fall ei nan der an ge nauml hert zu ha ben scheint Hier wird das Gold mit ei nem an de ren Me tall mit ei nem Stein oder mit Erde ge mischt Dort waumlchst die Ei che ne ben dem Veil chen Un ter die sen Pfan zen ir ren eben falls der Vier fuumlszlig ler das Rep til und das In sekt um her Die Fi sche mi schen sich so zu sa gen mit dem waumlss ri gen Ele ment in dem sie schwim men und mit den Pfan zen die auf dem Grun de der Ge waumls ser wach sen hellip Die se Mi schung ist so gar so all ge mein und so viel faumll tig dass sie ei nes der Na tur ge set ze zu sein scheintlaquo5

Der Wi der spruch zwi schen ei ner tax ono mi schen und ei ner oumlko lo gi schen Ord nung der Na tur ist of fen sicht lich Er fin det sich noch heu te in der Dis kus si on um die Aumls the tik von Zoo an la gen Soll man die Tie re nach Ver wandt schafts ver haumllt nis sen sam meln also in Raub tier haumlu sern An ti lo pen haumlu sern und Hirsch an la gen so dass der Be su cher zwi schen den ana to mi schen Be son der hei-ten der Ar ten ndash mit un ter so gar den ge o gra fi schen Va ri an ten ei ner ein zi gen Art ndash zu un ter schei den lernt Oder ge waumlhrt die Nach-ge stal tung ei nes Na tur bi o tops ei ner af ri ka ni schen Sa van ne oder ei nes al pi nen Pa no ra mas den wich ti ge ren Ein blick in die Ord-nung der Na tur

Zwar steht fuumlr Linneacute und sei ne Kol le gen fest dass die raquowah-re Ord nunglaquo der Na tur sich an den koumlr per li chen Merk ma len zu ori en tie ren hat doch muss eine Er klauml rung da fuumlr ge fun den wer-den wa rum die se Ord nung in der frei en Na tur nicht von al lein 5

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sicht bar wird Ohne Zwei fel ist das Sys tem der Na tur kei ne zeit-lo se Schoumlp fung son dern durch Ver aumln de run gen ge kenn zeich net die sich in der Erd ge schich te er eig net ha ben Pa ral lel meh ren sich die Fun de von Fos si li en also von Tie ren die mut maszlig lich aus-ge stor ben sind Es hat al lem An schein nach grouml szlige re ge o lo gi sche Ka tast ro phen in un be kann ter Zahl ge ge ben de nen vie le Ar ten zum Op fer ge fal len sind Doch ha ben die se De sas ter auch zur Ent ste hung von neu en For men ge fuumlhrt

Um den Fak tor der Zeit und sei ne Fol gen fuumlr das Sys tem der Na tur ein zu schaumlt zen gibt es vie le Moumlg lich kei ten Die ein fachs te und mensch lichs te al ler zeit li chen Ord nungs vor stel lun gen ist die Idee al les fol ge ei nem Plan und sei auf ein Ziel hin aus ge rich-tet (Te le o lo gie) Re li gi o nen Phi lo so phi en und Ide o lo gi en funk-ti o nie ren na he zu al le samt ziel ge rich tet Es geht um ein bes se res Le ben auf Er den im Jen seits in ei nem ge rech ten Staat um die Herr schaft uumlber die an de ren uumlber die Pro duk ti ons mit tel oder das Boumlse Selbst un ser All tag ge stal tet sich weit ge hend te le o lo-gisch durch traumlnkt von zu kuumlnf ti ger Er war tung Mo tor jed we-der Te le o lo gie ist der Fort schritts ge dan ke Sein ima gi nauml res Ziel ist der voll kom me ne Zu stand So glau ben christ lich-abend laumln-di sche Ge sell schaf ten gern an eine staumln di ge Ver bes se rung durch An stren gung eine Tu gend die nach cal vi nis ti scher Tra di ti on im Him mel wie auf Er den von Gott ma te ri ell ent lohnt wird Wie na he lie gend also auch in der Na tur die Ent ste hung raquohouml he rerlaquo Le bens for men durch Fort schritt er ken nen zu wol len mit dem End ziel des Men schen

Die Un ord nung der Schoumlp fung mit ei nem goumltt li chen Fort-schritts plan in Ein klang zu brin gen ist das Le bens werk des Schwei zer Na tur for schers und Phi lo so phen Charles Bon net (1720 ndash 1793) Fuumlr Bon net ist die Zahl der Ar ten und ihre aumlu-szlige re Ge stalt von Gott ein fuumlr al le Mal fest ge legt Doch kann sich ein je des Le be we sen per fek ti o nie ren Der Weg vom simp-len Ge muumlt zur ge ni a li schen Leis tung ist vom Schoumlp fer vor ge-

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zeich net Und alle Tie re be schrei ten ihn zeit lich ver setzt nach dem glei chen Mus ter das der Mensch ih nen vor ge lebt hat raquoEs wird ei nen mehr oder we ni ger lang sa men und kon ti nu ier li chen Fort schritt al ler Ar ten zu ei ner houml he ren Ver voll komm nung ge-ben so dass alle Gra de der Stu fen lei ter in ei ner de ter mi nie ren den und kons tan ten Be zie hung fort ge setzt va ri a bel sein wer den hellip Es wird un ter den Af fen Leu te wie New ton und un ter Bi bern wie (den Fes tungs bau meis ter RDP) Vau ban ge ben Die Aus-tern und die Po ly pen wer den in Be zie hung zu den houmlchs ten Ar-ten das sein was die Vouml gel fuumlr die Vier fuumlszlig ler im Ver haumllt nis zum Men schen sindlaquo6

Seit Bon net ist die Vor stel lung von der raquoLei ter der Na turlaquo der Sca la nat urae ein wich ti ges In ven tar des na tur ge schicht-li chen Den kens Fort schritt Ver voll komm nung und goumltt li cher Plan ndash die se drei Grouml szligen be stim men die Vor stel lung vom Wer-den der Na tur vom 18 Jahr hun dert bis in die Ge gen wart hi nein Das Prin zip nach dem die Evo lu ti on Le ben her vor bringt sei un ver meid lich und von An fang an vor her be stimmt Nicht we-ni ge E vo lu ti ons the o re ti ker ha ben dies eben falls ge glaubt und zwar mit be acht li cher Kon ti nu i taumlt Der eng li sche Na tur for scher Alf red Rus sel Wall ace (1823 ndash 1913) der ge mein sam mit Dar win die The o rie der na tuumlr li chen Se lek ti on ent wi ckelt hat te hielt nicht nur den mensch li chen Geist und sein Mo ral emp fin den son dern zu dem auch die wei che nack te emp find sa me Haut des Men-schen fuumlr das Re sul tat ei ner not wen di gen Ent wick lung

Doch schon im 18 Jahr hun dert reg ten sich zu gleich vor sich-ti ge Zwei fel an der Stim mig keit ei ner sol chen Vor ge formt heit Denn wie soll te man Na tur ka tast ro phen be wer ten Waumlh rend die meis ten Na tur for scher sie als Teil des goumltt li chen Schoumlp-fungs plans in ter pre tier ten zo gen an de re ver gleichs wei se fins te-re Schluumls se Und so wur de tat saumlch lich ein gro szliges Erd be ben zum in di rek ten Aus louml ser der Evo lu ti ons the o rie naumlm lich je nes von Lis sa bon im Jahr 1755 Wer uumlber die Ka tast ro phe nach dach te 6

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 379783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 37 10082021 10493410082021 104934

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konn te star ken Zwei fel da ran he gen dass die Welt ord nung aus-ge kluuml gelt und har mo nisch sei

Die wei test rei chen den Schluss fol ge run gen zog der eng li-sche Pfar rer und Na ti o nal oumlko nom Tho mas Ro bert Malt hus (1766 ndash 1834) Nicht nur die ge o lo gi sche Na tur und ihr Ge-fah ren ri si ko son dern auch die Ver meh rung der Be voumll ke rung wur de nun als Uumlbel er kannt Im Jahr 1798 pub li zier te Malt-hus sei nen Es say on the Princi ple of Po pu la ti on (Das Be voumllshyke rungs ge setz) die ers te Mahn schrift vor den Ge fah ren ei ner Be voumll ke rungs ex plo si on Bei ei ner Ver dop pe lungs ra te der Welt-be voumll ke rung in ner halb von fuumlnf und zwan zig Jah ren er rech ne-te Malt hus wer de ihr exponent iel les An wach sen auf grund der von der Um welt ge setz ten Gren zen not wen dig zu Ar mut Ka-tast ro phen und Tod fuumlh ren Der bib li sche Auf trag raquoSeid frucht-bar und meh ret euchlaquo er schien mit ei nem Mal als ein Fluch Ein gna den lo ser raquoKampf ums Da seinlaquo (strugg le for life) war ent fes selt Das Ein zi ge was blieb war die Hoff nung die ka-tast ro pha len Fol gen der goumltt li chen An wei sung so weit wie moumlg lich ein daumlm men zu koumln nen

In ei ner Zeit als die Ge sell schafts the o rie noch der Bi o lo-gie den Leuch ter vo ran und nicht wie heu te die Schlep pe hin-terh er traumlgt be geis tert sich vor al lem ein eng li scher Dorf pfar rer Charles Dar win (1809 ndash 1882) fuumlr die Malt hus rsquoschen Ge set ze Denn wenn es rich tig ist dass sich ein Tier mit ei ner so ge rin-gen Ver meh rungs ra te wie der Mensch ge gen uumlber sei nen Art ge-nos sen durch setz te so gab es sicht lich an de re Kri te ri en fuumlr die Uumlber le bens fauml hig keit ei ner Po pu la ti on als die Zahl ih rer Ge bur-ten Der Maszlig stab fuumlr den Er folg ei ner Spe zi es war ihr Durch set-zungs ver mouml gen oder wie Dar win es spauml ter in den Prin zi pi en der Bio logie des jun gen Phi lo so phen Her bert Spen cer (1820 ndash 1903) le sen konn te raquothe sur vi val of the fit testlaquo

Dar wins na tur kund li che Stu di en wa ren ur spruumlng lich von dem Ge dan ken be seelt die nicht a ni ma li sche Iden ti taumlt des Men schen

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zu be wei sen Erst der Sieg des Ent de cker stol zes uumlber das Ent-set zen ver lieh ihm schlieszlig lich den Mut den be ruumlhm ten Satz zu schrei ben raquoUnd ich bin bei na he uumlber zeugt (der Mei nung mit der ich an die Fra ge he ran ge tre ten bin voumll lig ent ge gen ge setzt) dass die Spe zi es (mir ist es als ge staumln de ich ei nen Mord ein) nicht un ver aumln der lich sindlaquo7

Dar wins kuumlh ne Ver mu tung war nicht ganz neu Be reits ein hal bes Jahr hun dert zu vor hat ten der fran zouml si sche Na tur for scher GeorgesshyLou is Lec lerc Comte de Buf fon (1707 ndash 1788) und der Phi lo soph De nis Dide rot (1713 ndash 1784) uumlber eine Ver aumln de-rung der Ar ten spe ku liert Be son ders JeanshyBap tiste de La marck (1744 ndash 1829) be haup te te die all maumlh li che Ent wick lung der Ar-ten aus pri mi ti ve ren Vor for men die so ge nann te Trans mu ta ti on La marck war nicht nur ein Pi o nier der mit Jahr mil li o nen han-tier te als alle Welt die Erde noch ei ni ge tau send bis hun dert tau-send Jah re jung waumlhn te son dern er praumlg te (zur glei chen Zeit wie zwei deut sche Na tur for scher) das Wort Bi o lo gie Bei ihm wan del ten sich die Le be we sen da durch dass sich ihre koumlr per-li chen An stren gun gen auf ihr Erb gut aus wir ken Da bei nahm er al ler dings nicht an dass die Ar ten aus ei nan der her vor ge hen wie Dar win es spauml ter tat La ma rcks The o rie ist nauml her an je ner von Bon net Fuumlr ihn ver voll komm nen die ein zel nen Tier ar ten im Lau fe der Zeit ihre An la gen und ent wi ckeln sich da durch im-mer houml her Be son ders voll kom me ne Tie re wie der Mensch sind dem nach sehr alt denn sie ha ben ei nen wei ten Weg von ei nem pri mi ti ven Or ga nis mus bis hin zur heu ti gen Ge stalt hin ter sich ge las sen An de re wie der pri mi ti ve Suumlszlig was ser po lyp ha ben ihre Rei se durch die Zeit ge ra de erst an ge fan gen

La marck war kein Charis mati ker und die zo o lo gi sche All-macht sei nes Vor ge setz ten am Jar din des Plan tes in Pa ris des Ba rons George Cu vier (1769 ndash 1832) ver hin der te dass man sich all zu sehr mit sei nen The o ri en be schaumlf tig te Cu vier war ein be-deu ten der Mann An die Stel le ei ner nach bo ta ni schem Mus ter 7

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 399783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 39 10082021 10493410082021 104934

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ver fah ren den Zo o lo gie setz te er eine neue Wis sen schaft die sich we ni ger an aumlu szlige ren Merk ma len als am Or ga nis mus der Tie-re ori en tier te Doch was die Trans mu ta ti on an be lang te blieb der Ober auf se her der pro tes tan tisch-the o lo gi schen Fa kul tauml ten Frank reichs beim kon ser va ti ven Mo dell Er ver brei te te wei-ter hin eine Ket te von Na tur ka tast ro phen habe als mo di fi zier-te Sint fu ten gan zen Klas sen von Tie ren den Gar aus ge macht Die se The o rie ist weit ge hend rich tig al ler dings schlieszligt sie die Trans mu ta ti on nicht aus

Das wirk lich Re vo lu ti o nauml re an La marck war die Idee die Ge schich te der Na tur nicht vom Men schen aus bis hi nun ter zur Bak te rie zu schrei ben son dern um ge kehrt von der Bak te rie zum Men schen Aus ei nem Mo dell der raumlum li chen Hie rar chie wur de ein Mo dell der zeit li chen Ent wick lung La marck er kann te zu-dem dass das Be wusst sein ei nes Tie res an die Phy si o lo gie und Neu ro lo gie sei nes Koumlr pers ge bun den ist Dem nach ist je der Geist ers tens be grenzt und zwei tens ver aumln der lich

Die phi lo so phi sche Kon se quenz aus La ma rcks Den ken ist so ra di kal dass sie fast ein hun dert fuumlnf zig Jah re lang von nie man-dem ernst haft in Be tracht ge zo gen wur de Wie kann ein Geist der den Ge set zen der Evo lu ti on un ter wor fen ist sich ei gent lich an ma szligen die Na tur der Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Von die ser Schluss fol ge rung woll te die Bi o lo gie al ler dings bis weit ins 20 Jahr hun dert hi nein nicht viel wis sen

Auch Dar wins The o rie von der na tuumlr li chen Se lek ti on der Le be we sen im Rin gen um ihr Le ben und mit der Um welt ent-wi ckel te sich wei ter Ge witz ten Zeit ge nos sen wie Karl Marx (1818 ndash 1883) war auf ge fal len wie stark Dar wins Den ken dem Zeit geist des Vik to ri a ni schen Zeit al ters ver haf tet war raquoEs ist merk wuumlr dig wie Dar win un ter Bes ti en und Pfan zen sei ne eng li-sche Ge sell schaft mit ih rer Tei lung der Ar beit Kon kur renz Auf-schluss neu er Maumlrk te rsaquoEr fin dun genlsaquo und Malt hus schem rsaquoKampf ums Da seinlsaquo wie der er kenntlaquo8 Die Be to nung des Malt hus rsquoschen 8

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 409783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 40 10082021 10493410082021 104934

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Kamp fes von je dem ge gen je den und auch der Fort schritts glau-be in Dar wins Den ken zei gen ihn stark sei ner Zeit ver haf tet

Eine an de re Kri tik kam aus der Bi o lo gie selbst Dar win hat-te noch nichts von Ge nen ge wusst So konn te er nicht er klauml ren was sich bi o che misch er eig ne te wenn Ar ten sich ver aumln der ten Der raquoDar wi nis muslaquo der Jahr hun dert wen de gab schlieszlig lich die Hoff nung auf die Evo lu ti on lie szlige sich al lein durch die na tuumlr li-che Se lek ti on der Ar ten nach Maszlig ga be ih rer An pas sungs fauml hig-keit an die Um welt be gruumln den Man ent deck te die Rol le der Ge-ne tik und zum neu en Er klauml rungs prin zip wur de das Mo dell der zwei Kons t ruk teu re Das Spiel des Le bens er hielt ei nen Wuumlr fel zu faumll li ge Ver aumln de run gen im Gen ma te ri al also so ge nann te Mu tashyti o nen Im Tri alshyandshyEr ror-Ver fah ren ent ste hen im Erb gut ge le-gent lich Ab wei chun gen die dann er folg reich sind wenn sie sich in der Um welt be waumlh ren Da mit war die Idee vom Tisch dass sich neu er wor be ne Ei gen schaf ten oder raquodie ana to mi schen Aus-wir kun gen koumlr per li cher An stren gun genlaquo wie La marck mein te ver er ben koumlnn ten Noch Dar win hat te dies fuumlr denk bar ge hal ten So ver trau te er Er zaumlh lun gen wo nach bei je nen Volks grup pen zu de ren Ri ten die re gel mauml szligi ge Be schnei dung der Pe nis vor haut ge houmlrt sich die Vor haut all maumlh lich ver kuumlrz te Das haumlt te zwar die Be schnei dung uumlber fuumls sig ge macht aber Dar win hat te ge ra-de an de res Ge wich ti ges zu be den ken als da ruuml ber nach zu sin nen

Die Ver kuumlr zung der Vor haut blieb im Wis sens schatz der Dar wi nis ten bis Au gust Weis mann (1834 ndash 1914) im spauml ten 19 Jahr hun dert nach wies dass ein sol cher In for ma ti ons fuss vom aumlu szlige ren Er schei nungs bild zum Erb ma te ri al nicht moumlg lich sei Uumlber fuumlnf Ge ne ra ti o nen kuumlrz te Weis mann ei nem Stamm von Maumlu sen ihre Schwaumln ze ohne dass eine Nach richt uumlber die sen Ein griff die Keim bah nen der Maumlu se er reich te Denn sie he da Auch die Schwaumln ze der nach fol gen den Maumlu se ge ne ra ti o nen blie-ben gleich lang Da be durf te es schon der Spitz fin dig keit des iri schen Dich ters George Bern ard Shaw (1856 ndash 1950) der Weis-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 419783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 41 10082021 10493410082021 104934

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manns schnei den de Wi der le gung der La marckrsquo schen The o rie leicht fer tig vom Se zier tisch wisch te Die Maumlu se be merk te der Dich ter haumlt ten gar kei ne An stren gun gen un ter nom men ihre Schwaumln ze zu ver lie ren waumlh rend sich die Tie re bei La marck ja da rum be muumlht haumlt ten sich zu ver aumln dern

Im Nach hi n ein also war es der pauml da go gi sche Op ti mis mus der La marck in die Irre ge fuumlhrt ha ben soll te So mach te die Hoff-nung auf ei nen ethisch an spre chen den E vo lu ti ons ver lauf ndash die Er war tung die Mensch heit ent wick le sich qua An pas sung an das so zi a le Mi li eu durch Selbst er zie hung zum Bes se ren ndash nur noch eine et was ab sei ti ge Kar ri e re im staats so zi a lis ti schen Bi o lo gie-un ter richt der Sow jet u ni on Wie kalt da ge gen der uumlber le ge ne raquoKampf ums Da seinlaquo der ja ein Kampf um die Fleisch toumlp fe ist ohne Hoff nung der Mensch wer de den kuumlh nen Geist statt sei-nes ma te ri a lis ti schen Gier hal ses nach Houml he rem stre cken Und ein zig die Kir che be wahr te un ver dros sen ei nen la marc kis ti schen Ge dan ken ndash al ler dings ei nen pes si mis ti schen und kei nen op ti-mis ti schen In bes ter Schuumlt zen hil fe fuumlr den fran zouml si schen Che-va li er ver tei digt sie bis heu te ihr mo le ku lar ge ne tisch be denk li-ches Dog ma Adams Un ge hor sam im Gar ten Eden habe zu ei ner raquoErb suumln delaquo ge fuumlhrt die da rauf hin auf alle zu kuumlnf ti gen Ge ne ra-ti o nen uumlber ge gan gen sei

Im mer hin sind in den bei den letz ten Jahr zehn ten ei ni ge Bi o-lo gen wie der et was of fe ner da fuumlr ge wor den der Ver er bung er-wor be ner Ei gen schaf ten ei nen Platz in der Ge ne tik zu las sen Zwar ver er ben sich psy chi sche und phy si sche Le bens er fah run-gen nicht durch ver aumln der te Gene Aber es koumlnn te doch sein dass jene Schal ter die da ruuml ber be stim men wel che ge ne ti sche In for-ma ti on wei ter ge ge ben wird und wel che nicht durch Um welt-ein fuumls se ver aumln dert wer den Uumlber le gun gen wie die se be schaumlf ti-gen so ge nann te Epi gen eti ker seit ei ni ger Zeit sie ha ben ei nen wach sen den Ein fuss auf un se re Vor stel lung von der Evo lu ti on

Die heu ti ge Leit dis zip lin die uns die Ver wandt schaft des Le-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 429783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 42 10082021 10493410082021 104934

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bens ent schluumls seln soll ist die Ge ne tik Wir un ter su chen die Sum-me al ler ge ne ti schen In for ma ti o nen und re gist rie ren da bei Uumlber-ein stim mun gen und Ab wei chun gen mit an de ren Ar ten Doch der Pro zess die Na tur un se rer Na tur zu er ken nen ist noch lan ge nicht ab ge schlos sen und wird wohl auch nie ab ge schlos sen sein Wir wen den Ord nungs sche ma ta auf The o ri en und The o ri en auf Be ob ach tun gen an Nur so kom men wir zu Kau sa li tauml ten und Ge-set zen Doch ihre Be deu tung ver aumln dert sich in dem Maszlige wie wir den Blick punkt un se rer Auf merk sam keit wie der ver la gern Die ser Vor gang des Ent dec kens und des Ver de ckens durch neue Denk sche ma ta ist prin zi pi ell nicht ab schlieszlig bar denn selbst ge-gen waumlr ti ge Evo lu ti ons the o ri en un ter lie gen wei ter hin der Evo-lu ti on

Er staun li cher wei se hat die mo der ne Evo lu ti ons the o rie nur zu ei ner ge ring fuuml gi gen Kor rek tur al ter Denk sche ma ta ge fuumlhrt Wie fruuml her in der Na tur ge schich te er ken nen wir heu te in der Bi o lo gie uumlber all Re gel haf tigk eit Not wen dig keit und Vor tei-le Doch bei nauml he rer Sicht er weist sich die Evo lu ti on ge ra de zu als Herr schafts ge biet der Aus nah men uumlber die Re geln Sie ist eine raquoZweck mauml szligig keit ohne Zwecklaquo wenn auch al lein fuumlr die 01 Pro zent der heu te noch ndash oder ge ra de ndash exis tie ren den Spe-zi es nicht aber fuumlr die 999 Pro zent die in den Ur fu ten dem Ord ovizium dem Perm der Krei de oder dem Ter ti aumlr das Welt-li che seg ne ten E vo lu ti ons bi o lo gen su chen in der Ge schich te der Na tur uumlber all nach Vor tei len die das Uumlber le ben von Ar ten er-klauml ren sol len Da bei ver men gen sie oft zwei ver schie de ne Vor-teils be grif fe Ein mal geht es um Mu ta ti o nen die si tu a tiv vor teil-haf te Ei gen schaf ten fuumlr eine Tier art her vor ge bracht ha ben sol len Eine grouml szlige re Sta tur ein pom pouml se res Ge weih ein staumlr ke res Ge biss sol len Weib chen be ein dru cken und die Nach kom men schaft er-houml hen Da die se Ei gen schaf ten aber oft nichts nuumlt zen wenn der Zu fall die Spiel re geln der Um welt aumln dert gibt es ei nen zwei ten Vor teils be griff Da nach ist das vor teil haft in der Evo lu ti on was

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 439783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 43 10082021 10493410082021 104934

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vom Ende her be trach tet dazu ge fuumlhrt hat dass eine Art uumlber-lebt Nach die ser Sicht wei se kann der mick rigs te Pa vi an auf dem Fel sen sei ne Gene wei ter ge ben wenn die staumlr ke ren Kon kur ren-ten bei ei nem Erd be ben ums Le ben ge kom men sind

An ge sichts zwei er so un ter schied li cher Be deu tun gen von raquoVor teillaquo fragt es sich ob der Be griff in der Evo lu ti ons the o rie uumlber haupt sinn voll ver wen det wer den kann Tat saumlch lich ist er ein Erbe der The o lo gie des 17 und 18 Jahr hun derts die uumlber-all in der Na tur nach der klu gen Ver nunft Got tes such te Dar win kann te die se Tra di ti on gut Als Stu dent ver ehr te er den The o lo-gen Will iam Pa ley (1743 ndash 1805) der na tur kund lich be schla gen die goumltt li che Vo raus sicht auf den neu es ten Stand ge bracht hat te Als Dar win sich von Gott ver ab schie de te und die na tuumlr li che Se-lek ti on er kann te er setz te er uumlber all wo Pa ley raquoGod doeslaquo ge-schrie ben hat te den Satz durch raquoNat ure doeslaquo An Pa leys Vor-stel lung dass die Na tur zweck mauml szligig ein ge rich tet sei und Vor tei le be loh ne hielt Dar win eben so fest wie vie le spauml te re E vo lu ti ons-the o re ti ker

Die Fra ge ist des halb wich tig weil sie zeigt wie eng un se re Vor stel lung von der Na tur bis hi nein in die mo der ne Evo lu ti-ons the o rie von sehr mensch li chen Vor stel lun gen durch setzt ist Statt Vor tei le zu be nen nen wuumlr de es naumlm lich auch aus rei chen zu sa gen dass al les in der Na tur uumlber le ben kann das fuumlr eine Art kei nen toumld li chen Nach teil hat te Ver mut lich uumlber lebt in der Evo lu ti on nicht nur Zweck mauml szligi ges son dern jede Ver aumln de rung die zu min dest nicht zum Aus ster ben fuumlhr t und moumlg li cher wei se liegt ge ra de hie rin der Grund fuumlr eine gro szlige Ar ten viel falt

Die tra di ti o nell ver eng te Sicht wei se gilt ins be son de re bei der Be trach tung des Men schen E vo lu ti ons bi o lo gen koumln nen zahl-rei che Vor tei le be nen nen die er klauml ren wa rum die mensch li che Art so er folg reich ist Men schen sind aumlu szligerst an pas sungs fauml hig und be sie deln fast alle Le bens raumlu me sie sind Al les fres ser mit ei ner gro szligen Nah rungs band brei te sie ha ben eine fe xib le So zi-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 449783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 44 10082021 10493410082021 104934

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al struk tur und ver fuuml gen uumlber ein Selbst be wusst sein das es ih-nen er moumlg licht ihr Ver hal ten zu kor ri gie ren So ge se hen ist der Mensch gleich sam das op ti mal ste al ler Tie re Doch alldem zum Trotz exis tie ren Men schen der Gat tung Homo sap iens erst seit rund 100 000 Jah ren und ihre lang fris ti gen Zu kunfts chan cen ste hen schlecht Denn mit all den vor teil haf ten Ei gen schaf ten ha-ben Men schen in Re kord zeit ihre Um welt zer stoumlrt und das lang-fris ti ge Uumlber le ben der Spe zi es dra ma tisch in fra ge ge stellt Die mit we ni ger spek ta ku lauml ren Vor tei len aus ge stat te ten Di no sau ri-er exis tier ten auf un se rem Pla ne ten hun dert fuumlnf zig Mil li o nen Jah re ganz zu schwei gen von den seit uumlber vier hun dert Mil li o-nen Jah ren na he zu un ver aumln der ten Nau til iden und Ur schne cken

Ge si chert in der Evo lu ti ons the o rie ist dass kei ne ih rer An nah-men ge si chert ist E vo lu ti ons bi o lo gen die ihre Sa che ernst neh-men muumls sen im mer auch die E vo lu ti ons be dingt heit ih res ei ge-nen Er kennt nis ap pa rats ref ek tie ren also mit hin die Evo lu ti on al ler mensch li chen Er kennt nis raquoLetzt lich istlaquo wie der Neuro bio-lo ge Ger hard Roth schreibt raquoje des Nach den ken uumlber die ob jek-ti ve Re a li taumlt sei es wis sen schaft lich oder nicht an die Be din gun-gen mensch li chen Den kens Spre chens und Han delns ge bun den und muss sich da rin be waumlh renlaquo9

Man muss ref ek tie ren dass die un ver meid li chen Ord nungs-mit tel des Geis tes das Den ken und die Spra che nicht die Wirk-lich keit raquoan sichlaquo auf raumlu men Sie sind Mo del le die die un ver-fuumlg ba re Wirk lich keit nach Maszlig ga be der ei ge nen Spiel re geln er klauml ren Nicht erst seit Er for schung der Evo lu ti on in den letz-ten zwei hun dert Jah ren muumlht sich der mensch li che Geist dem Lauf der Welt ei nen ndash nach mensch li chem Er mes sen ndash raquover nuumlnf-ti genlaquo Sinn zu ge ben Doch das Pa ra do xe der Ge schich te liegt da rin dass der mensch li che Geist selbst Pro dukt evo lu ti o nauml rer Pro zes se ist Er ist Maszlig stab und Ge mes se nes zu gleich

An eine tat saumlch lich ob jek ti ve Er kennt nis der Evo lu ti on waumlre nur halb wegs sinn voll zu den ken wenn die Evo lu ti on des Men-9

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 459783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 45 10082021 10493410082021 104934

schen ab ge schlos sen ist und da mit die Stu fe der groumlszligt moumlg li chen Voll kom men heit er reicht hat In den Zei ten vor La marck und Dar win ha ben das nicht nur The o lo gen son dern auch die Na tur-for scher fast al le samt ge glaubt Das mensch li che Be wusst sein sei die un uuml ber trof fe ne Spit zen leis tung des Schoumlp fer got tes ge schaf-fen die Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Sei nen schoumlns-ten Aus druck fand die se Sicht in ei nem Aus spruch des jun gen Phi lo so phen Fried rich Wil helm Jo seph Schel ling (1775 ndash 1854) Er mein te dass der Mensch je nes We sen sei raquoin dem die Na tur das Auge auf schlaumlgtlaquo und sich da mit ih rer selbst be wusst wird Ein huumlb scher Satz aber doch viel zu pa the tisch for mu liert Von der vol len Er kennt nis der Na tur und un se rer selbst sind wir noch im mer weit ent fernt Aber wir koumln nen da ruuml ber stau nen dass die Evo lu ti on mit uns ein Le be we sen her vor ge bracht hat in dem die Na tur sich fuumlr sich selbst fa szi nier bar ge macht hat Wie hat te es dazu kom men koumln nen

bull Der Pri mat Was ist ein Mensch

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 469783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 46 10082021 10493410082021 104934

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ver waist sein Die Mensch heit wird er wacht sein und die Welt je-nes Ge sicht er hal ten ha ben das uns ge gen waumlr tig er scheint Doch wie sah das aus als die Na tur das ers te Mal in ei nem af fen aumlhn-li chen We sen die Au gen auf schlug War es auf ei ner Wald wie-se in ei nem Hain an ei nem Berg hang oder auf ei ner Lich tung War das er leuch te te We sen ein Maumlnn chen oder ein Weib chen Ging es den gan zen Tag auf recht oder saszlig es noch ger ne in der Ho cke eng ge kau ert an sei ne Bruuml der und Schwes tern Und war es eine Ein ge bung ein Blitz schlag als das Selbst be wusst sein das ers te Mal die Fes seln des Pri ma ten ge hirns spreng te

Wir wis sen nicht wo ran Schel ling dach te als er mein te die Na tur habe im Men schen ihr Auge auf ge schla gen Si cher dach te er nicht an ei nen ein zi gen Mo ment dem Mil li o nen an de re folg-ten Er dach te an den raquoMen schen an sichlaquo Und er wuss te nichts vom ost af ri ka ni schen Great Rift Val ley und von haa ri gen Vor-men schen die dort einst haus ten Er leb te in Jena und in Muumln-chen und ei nen Men schen af fen hat te Schel ling nie ge se hen Der ein zig ar ti ge Mo ment in dem die Na tur sich ih rer selbst be wusst wird bleibt eine Me ta pher

Doch wie wur de der Mensch nun tat saumlch lich zum Men-schen Die For mu lie rung ist dop pel deu tig Denn wie der Mensch zum Men schen wur de ndash das ist nicht ein evo lu ti o nauml rer Pro-zess auf der lee ren Welt buumlh ne son dern ein Spiel von Be ob ach-ter und Be ob ach te tem Schau spie ler und Zu schau er Ge schich-te auch Ent wick lungs ge schich te ist nichts Vor ge fun de nes Der Mensch schrieb der fran zouml si sche Phi lo soph JeanshyPaul Sart re (1905 ndash 1980) macht sich selbst wie der Ro man schrift stel ler sei ne Fi gu ren Er ist ge fer tigt aus bi o lo gi schen (ana to mi schen neu ro lo gi schen und phy si o lo gi schen) Be stand tei len zu al ler meist je doch durch jene we nig bi o lo gi schen Weis hei ten mit de nen sich die se Subs tan zen selbst zum raquoMen schenlaquo er ko ren

Das Glei che gilt fuumlr die mensch li che Stam mes ge schich te Auch sie ist zu naumlchst ein mal eine Ge schich te Ihre Ur spruumln ge lie gen im

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al ten Grie chen land als Aris to te les den Men schen und den Af-fen ver wandt schaft lich na he ruumlckt raquoMan che Tie re ste hen zwi-schen Mensch und Vier fuumlszlig ler in ih rem We sen wie Af fen Meer-kat zen und Pa vi a ne hellip Ihr Ge sicht hat vie le Aumlhn lich kei ten mit dem des Men schen Nase und Oh ren glei chen den sei nen und Zaumlh ne hat er auch wie ein Mensch die Vor der zaumlh ne wie die Ba cken zaumlhnelaquo10 Auch Aris to te lesrsquo Schuuml ler The oph rast (ca 370 v Chr ndash ca 288 v Chr) be steht auf der Aumlhn lich keit zwi schen Men schen und Tie ren Er lehnt es so gar ab Fleisch zu es sen oder Tie re zu op fern da man sei ne Ver wand ten nicht ver spei se

Aris to te les und The oph rast stell ten den Men schen zwar ne-ben den Af fen ndash Men schen af fen kann te man noch nicht ndash aber die al ten Grie chen hat ten ihn nur sehr un ge faumlhr zu ei nem Tier un ter Tie ren er klaumlrt Den naumlchs ten Schritt mach te mehr als zwei-tau send Jah re spauml ter Carl von Linneacute An der Zu ge houml rig keit des Men schen zu den Saumlu ge tie ren be stand fuumlr den Schwe den kein Zwei fel die Be haa rung und das Stil len der Jun gen be lehr ten un-miss ver staumlnd lich da ruuml ber Auch die Ver wandt schaft mit Af fen und Men schen af fen stand au szliger Fra ge Hier wa ren es die fa chen Fin ger- und Fuszlig nauml gel statt der Klau en der ab ge spreiz te Dau-men die Greif haumln de die zwei Zit zen der Weib chen und der frei he run ter haumln gen de statt am Un ter leib an lie gen de Pe nis ndash Merk-ma le die groumlszlig ten teils auch schon Aris to te les auf ge fal len wa ren

Doch Linneacute zouml ger te vor der Kon se quenz Haumln de rin gend such-te der got tes fuumlrch ti ge Ana tom nach ei nem Un ter schied zwi schen dem Men schen und den uumlb ri gen von ihm so ge nann ten raquoPri ma-tenlaquo raquoIch ver lan gelaquo schrieb er 1747 sei nem deut schen Freund Jo hann Ge org Gme lin raquovon Ih nen und von der gan zen Welt dass Sie mir ein Gat tungs merk mal zei gen hellip auf grund des sen man zwi schen Mensch und Affe un ter schei den kann Ich weiszlig selbst mit aumlu szligers ter Ge wiss heit von kei nemlaquo11

Nach sei nen Kri te ri en haumlt te Linneacute den Men schen zu min dest mit dem Schim pan sen ge mein sam in die sel be Gat tung ein ord-10

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nen muumls sen Der Ge dan ke schweb te zeit gleich auch dem Phi lo so-phen JeanshyJacques Rous seau (1712 ndash 1778) vor als er Schim pan-sen Orang-Ut ans und Men schen so gar als Ver tre ter der Spe zi es Mensch an sah Rous seau hat te nie ei nen Men schen af fen ge se-hen Aber die Be rich te die er von Ex pe di ti o nen nach Af ri ka und Suumld ost a si en las lie szligen in ihm kei nen Zwei fel dass die da rin be schrie be nen Men schen af fen raquowe der Tie re noch Goumlt ter son-dern Men schenlaquo sei en12 Fuumlr den Auf klauml rer wa ren Men schen af-fen edle Wil de die von kei ner Zi vi li sa ti on in ih rem fried fer ti gen We sen zer stoumlrt sei en an ders als die Men schen in Eu ro pa Eben-so dach te we nig spauml ter der schot ti sche Sprach for scher James Bur nett Lord Mon boddo (1714 ndash 1799) Auch er be trach te te den Orang-Utan als ei nen Men schen naumlm lich als ei nen raquosprach-losen Wil denlaquo

In ter pre ta ti o nen wie Rous seau sie in Pa ris und Bur nett bald da rauf in Kin card ines hire wag ten wa ren Linneacute im schwe di schen Upp sa la fremd Den Men schen ins Tier reich ein zu ord nen war in den Au gen der stren gen pro tes tan ti schen Kir che Suumln de ge nug und Linneacute zouml ger te den letz ten Schritt zu tun In sei ner Not sor-tier te er 1758 ach sel zu ckend Mensch und Schim pan se in un ter-schied li che Gat tun gen zu sam men ge fasst in der Ord nung der Pri ma ten in der sie auch heu te noch mehr schlecht als recht huumlbsch ge trennt ne ben ei nan der ho cken Homo sap iens der raquoin-tel ligi ble Menschlaquo und Pan trog lody tes der raquohoumlh len be woh nen-de Faunlaquo

So weit so schoumln Der Mensch wur de der obers te Pri mat das houmlchs te raquoHer ren tierlaquo Linneacute be kam kei nen Aumlr ger mit der Kir-che und die Na tur wis sen schaft den gro szligen Wurf des Linneacute rsquoschen Sys tems Wenn nur die se Nach barn nicht wauml ren Seit Be kannt-wer den der Men schen af fen be muumlh ten sich Wis sen schaft ler und The o lo gen im mer wie der um den Ver such den klei nen Gra ben mit gro szligen Was sern zu fuumll len der Homo sap iens und Pan troshyglody tes bei ih rer ord nungs ge mauml szligen Ver ge sell schaf tung auf der 12

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 509783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 50 10082021 10493510082021 104935

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Af fen in sel trennt Sie eva ku ier ten den Men schen vom Pri ma ten-fel sen und schu fen ihm eine ei ge ne Ord nung

In die ser Vor stel lungs welt wuchs auch der The o lo gie stu dent Charles Dar win auf Das fruuml he 19 Jahr hun dert war eine got-tes fuumlrch ti ge bie der mei er li che Zeit Doch je mehr er sich mit der Ver aumln de rung der Ar ten be schaumlf tig te umso deut li cher wur de Dar win dass es mit der of fi zi ell be kun de ten Son der stel lung des Men schen im Uni ver sum nicht weit her sein konn te So no tier te er schon er staun lich fruumlh in sein Ta ge buch raquoDer Mensch haumllt sich in sei ner Ar ro ganz fuumlr ein groszlig ar ti ges Werk des be son de ren Ein grei fens ei ner Gott heit wuumlr dig Es duumlrf te be schei de ner und wie ich glau be auch rich tig sein ihn als aus den Tie ren ent stan-den an zu se henlaquo13

Dar win hat te den noch zwoumllf Jah re ge zouml gert bis er sich schlieszlig lich ge trau te nach der all ge mei nen Dar stel lung ei ner Evo-lu ti ons the o rie im Jahr 1859 sei ne Schluss fol ge run gen in Be zug auf den Men schen in Druck zu ge ben Die Ab stam mung des Men schen aus dem Jahr 1871 ist ein ge maumlch li ches Buch in ver-soumlhn li chem Ton fall Der Na tur for scher er zaumlhlt da rin wie ein gu-ter al ter Groszlig va ter wo her die Pfan zen die Tie re und die Eng-laumln der kom men Die raquoAb wer tunglaquo des Men schen geht da bei ein her mit ei ner kon ti nu ier li chen raquoAuf wer tunglaquo der Tie re raquoWir ha ben ge se henlaquo schreibt Dar win raquodass die Emp fin dun gen und Ein druuml cke die ver schie de nen Er re gun gen und Fauml hig kei ten wie Lie be Ge daumlcht nis Auf merk sam keit Neu gier de Nach ah mung Ver stand usw de ren sich der Mensch ruumlhmt in ei nem be gin nen-den oder zu wei len selbst in ei nem gut ent wi ckel ten Zu stand bei den nie de ren Tie ren ge fun den wer denlaquo14

La marck und Dar win wa ren die Ers ten die mit Mit teln der mo der nen Na tur wis sen schaft be haup te ten was vie le Kul tu ren und Zei ten schon zu vor re li gi oumls ge ahnt hat ten raquoNa tuumlr lichlaquo ist es ab surd eine Tei lung des Tier reichs in zwei Ka te go ri en vor zu-neh men ndash in eine mensch li che und eine nicht mensch li che Ka-13

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9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 519783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 51 10082021 10493510082021 104935

Page 14: Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen · Leseprobe Professor Dr. Richard David Precht Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen »Fazit:

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als ei nem Le be we sen aus ei nan der zu set zen Heu te nut zen wir die Res sour ce raquoTierlaquo voumll lig frag los fuumlr die An spruuml che des Men schen Das Ge mein sa me von Tier und Mensch trat in den Hin ter grund Zwar leb te das Tier noch im mer in der kul tu rel len Fan ta sie fort als ma gi sche oder fan tas ti sche Ge stalt als Freund Ge faumlhr te oder Be dro hung Doch die Be deu tung in der All tags welt er mat te te auf Schwund stu fen der Na tur wie Schoszlig hund Zier gup py Le ge hen-ne und Zir kus pferd Gren zen los uumlber le gen und un ab haumln gig ge-gen uumlber den Tie ren sei ner Um welt ent wi ckel te sich im mensch-li chen Be wusst sein ein voumll lig ent frem de tes Ver haumllt nis Nicht nur ra di ka le Aus nut zung und Sa dis mus auch falsch ver stan de ne Lie-be De na tu rie rung und un frei wil li ge Quauml le rei be stim men seit her den mensch li chen Um gang mit dem Tier

Bis ins fruuml he Mit tel al ter uumlber wog die Zahl der wil den Tie re die An zahl der Nutz- und Haus tie re die der Mensch in sei nen Dienst ge stellt hat te Doch spauml tes tens mit dem Sie ges zug des Ka pi ta lis mus in West eu ro pa und Nord a me ri ka ver schwan den die Res te der Ehr furcht in die Maumlr chen buuml cher und Zir kus dar-bie tun gen Mo der ne Agrar un ter neh men In dust rie met ro po len Au to bah nen und Hoch span nungs mas ten bil den das Or na ment un se rer Um welt die wir seit meh re ren hun dert Jah ren raquoLand-schaftlaquo nen nen Nir gend wo in der All tags welt ei nes Men schen der west li chen Zi vi li sa ti on be geg net uns das Tier noch als Kon-kur rent nicht bei der Er naumlh rung nicht im Kampf um den Le-bens raum und nicht als Fress feind des sen Zaumlh ne und Klau en ernst haft Furcht er re gen koumlnn ten Das ein zig Be droh li che das heu te bleibt sind aus ge rech net ein paar klei ne Tie re etwa Rat-ten und Maumlu se die letz ten ge faumlhr li chen Fress kon kur ren ten des Men schen Dazu kom men In sek ten Mik ro ben und Vi ren

Das Band zwi schen uns und den an de ren Tie ren wuchs auch nicht da durch wie der zu sam men dass wir die Tie re uumlber die Wis-sen schaft als Ver wand te wie der ent deck ten Seit mehr als zwei-tau send Jah ren sieht sich der Mensch als le gi ti mer Herr scher

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 199783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 19 10082021 10493310082021 104933

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uumlber eine be herrsch ba re Um welt dazu ge schaf fen sie zu nut zen und aus zu beu ten Un se re Evo lu ti on hat sich da bei ra sant be-schleu nigt Laumlngst fin det sie kaum noch in un se rem Koumlr per statt son dern vor al lem in un se rer Tech nik und Kul tur Und schon lan ge dient sie nicht mehr dazu sich der Na tur an zu pas sen Sie dient ei ner im mer wie der neu ge schaf fe nen mensch li chen Kul-tur An pas sung be deu tet heu te sich an den ei ge nen Fort schritt an zu pas sen mit all den be kann ten Fol gen fuumlr un se re Um welt Dra ma ti sche Kli ma wech sel die Zer stouml rung der schuumlt zen den Ozon schicht die Ver step pung wei ter Land stri che auf al len Suumld-kon ti nen ten und die Ver gif tung der Mee re ver nich ten nicht nur die nicht mensch li che Tier welt sie be tref fen mehr und mehr den Men schen selbst

In atem be rau ben dem Tem po be schleu nig te das in dust ri a li sier-te 20 Jahr hun dert die Be herr schung und Aus beu tung der Na-tur und mit ihr die der Tie re Schon in den ver gan ge nen Jahr-tau sen den hat te Homo sap iens den ge sam ten Pla ne ten in Be sitz ge nom men Kein grouml szlige res Wir bel tier be sitzt ein sol ches Ver brei-tungs ge biet be wohnt Wuumls ten Re gen waumll der und Po lar re gi o nen glei cher ma szligen Und kein grouml szlige res Wir bel tier hat sich zu Mil li ar-den ver mehrt Ruumlck sichts lo se Pluumln de rung der Roh stof fe und ein un ge heu res Be voumll ke rungs wachs tum der Spe zi es Homo sap iens schaf fen ei nen erd ge schicht li chen Aus nah me zu stand

Der Mensch be herrscht heu te den Pla ne ten aber of fen sicht-lich nicht sich selbst Es koumlnn te da ran lie gen dass es raquoden Men-schenlaquo gar nicht gibt Statt des sen gibt es mehr als sie ben Mil li-ar den un ter schied li che In di vi du en Und nie mand da von ist fuumlr die Mensch heit zu staumln dig Sie ist eine Ge mein de der an zu ge houml-ren nicht dazu ver pfich tet sich um das Gan ze zu sor gen und zu kuumlm mern

Zu herr schen be deu tet Ord nun gen zu etab lie ren und Re geln da fuumlr auf zu stel len was wich tig ist und un wich tig rich tig oder falsch Jahr hun der te lang sah die Mo ral der abend laumln di schen

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Zivi li sa ti on in der Aus rot tung der Wild tie re und Aus beu tung der Nutz tie re na he zu kein Pro blem Eine kla re Grenz zie hung er-laub te je den Um gang mit dem Tier von der Lie be bis zur Fol ter von der Zucht bis zur Touml tung Das Ar gu ment war schlicht Der Mensch ist eine Son der an fer ti gung Got tes und mit dem Tier ge-ra de mal durch den lo sen Fa den der goumltt li chen Schoumlp fung stat ver bun den So kam in den Wor ten des deutsch-fran zouml si schen The o lo gen und Arz tes Al bert Schweit zer raquodie An sicht auf dass es wert lo ses Le ben gaumlbe des sen Schauml di gung und Ver nich tung nichts auf sich habe Un ter wert lo sem Le ben wer den dann je nach den Um staumln den Ar ten von In sek ten oder pri mi ti ve Voumll ker ver stan denlaquo2 (Eine Kli en tel die sich uumlber dies noch um Frau en er wei tern lie szlige)

Die se Gren ze wur de und wird in der abend laumln di schen Kul-tur ge schich te va ri an ten reich ver tei digt Doch je ge nau er wir sie be trach ten umso selt sa mer er scheint sie uns Denn sie laumlsst sich im mer schlech ter be gruumln den und zwar so wohl phi lo so phisch als auch bi o lo gisch Seit etwa vier zig Jah ren be steht in der Ge-sell schaft eine De bat te die un se ren Um gang mit Tie ren grund-saumltz lich in fra ge stellt Tier e thi ker wie Pe ter Sin ger und sein US-ame ri ka ni scher Phi lo so phen kol le ge Tom Re gan for dern Rech te auch fuumlr Tie re Der Aus schluss der Tie re aus der Ethik sei ein mo ra li scher Skan dal Das Tier heu te mo ra lisch drau szligen vor der Tuumlr zu las sen sei das Erbe ei nes re li gi ouml sen Aber glau bens Da der Mensch kei ne Son der an fer ti gung Got tes sei son dern ein in tel-li gen tes Tier muumlss ten wir die Reich wei te der Mo ral eben so auf die raquoan de ren Tie relaquo aus deh nen Ha ben wir nicht nach und nach ge lernt die Skla ve rei zu aumlch ten und Frau en als gleich be rech tig-te Men schen zu ach ten Und ist es nun nicht an der Zeit neu uumlber Tie re nach zu den ken und sie mo ra lisch an ge mes sen zu be-ur tei len

Doch wie koumlnn te ein sol cher an ge mes se ner Um gang mit den an de ren Tie ren aus se hen Den Men schen als ein Tier un ter an-2

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de ren an zu se hen koumlnn te ja auch be deu ten ihn ab zu wer ten statt die Tie re mo ra lisch erns ter zu neh men Das Un heil des So zi-al dar wi nis mus und der bar ba ri schen Ras sen the o rie ste ht uns mah nend vor Au gen Und was ist uumlber haupt das Kri te ri um da-fuumlr Tie re mo ra lisch zu ach ten Ist es ihre Lei dens fauml hig keit ihr Le bens wil le oder ihre In tel li genz Ha ben klu ge Tie re ein houml he-res Le bens recht als duumlm me re Das Ver haumllt nis des Men schen zu den an de ren Tie ren neu zu be wer ten ist eine gro szlige und schwie-ri ge Auf ga be

Ich moumlch te in die sem Buch ver su chen die se Fra gen neu zu stel len und zu durch den ken Da bei be trach te ich den Men schen als ein be son de res Tier un ter vie len auf an de re Wei se be son de ren Tie ren Ich moumlch te mich nicht da rauf fest le gen den Men schen all ge mein uumlber be stimm te Ei gen schaf ten zu de fi nie ren die ihn ethisch wert voll ma chen sol len Ich moumlch te ihm aber auch nicht im Um kehr schluss alle ge mein hin als raquomensch lichlaquo be zeich ne ten Ei gen schaf ten ab spre chen weil nicht alle Men schen Trauml ger all die ser Ei gen schaf ten sind Viel leicht ist be reits das Su chen nach sol chen ex klu si ven Ei gen schaf ten der fal sche Weg Der Denk-feh ler koumlnn te be reits da rin lie gen ei gen staumln di ge Dis zip li nen wie raquoAnth ro po lo gielaquo oder raquoMo ral phi lo so phielaquo be trei ben zu wol len die eine sol che enge De fi ni ti on des Men schen vo raus set zen Waumlre es nicht bes ser die Enge des Be griffs zu spren gen Statt Anth-ro po lo gie zu be trei ben soll te man sich lie ber mit ei ner Anthroshyzo o lo gie be schaumlf ti gen ndash eine Leh re vom Men schen tier und den an de ren Tie ren

Der Be griff ist neu er wur de erst vor we ni gen Jah ren un ter an de rem von dem US-ame ri ka ni schen Psy cho lo gen Hal Her zog ein ge fuumlhrt3 Die neue Dis zip lin der Hu manshyAni mal Stu dies kon-zent riert sich weit rei chend da rauf was Men schen und an de re Tie re ver bin det Da bei ver wen de ich den Be griff raquoAn thro zo o-lo gielaquo al ler dings et was an ders als Her zog und die Ver tre ter der Hu man-Ani mal Stu dies Es ist ein et was ein touml ni ger Sport al les 3

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was ge mein hin als raquomensch lichlaquo be trach tet wird als My thos zu ent zau bern Ich moumlch te es lie ber an ders ein bet ten und be wer ten Denn ich mei ne dass die Ver tre ter der Hu man-Ani mal Stu dies ihre De fi ni ti on des Men schen als ein Tier un ter Tie ren nicht ganz zu Ende den ken Denn waumlre der Mensch durch nichts Mensch-li ches grund saumltz lich vom Tier un ter schie den wie sie an neh men so lieszlige sich auch nicht ein for dern dass Men schen sich aus vershynuumlnf ti ger Ein sicht an ge mes sen ge gen uumlber Tie ren ver hal ten sol len

Um mensch li ches Han deln zu ver ste hen muumls sen wir ver ste-hen in wel chem Rah men Men schen die Welt se hen sich ori en-tie ren und han deln Die bei den ers ten Tei le des Bu ches skiz zie-ren die sen bi o lo gi schen und den kul tu rel len Rah men In ih nen moumlch te ich zei gen auf wel che Art und Wei se Men schen sich un-ter Tie ren ver hiel ten und ver hal ten Da bei be schaumlf tigt sich der ers te Teil mit der Fra ge was fuumlr ein spe zi el les Tier der Mensch ei gent lich ist Wie ist sei ne Rol le in der Evo lu ti on Und nach wel chen Denk mus tern ha ben Men schen die se Chro nik un se rer selbst seit der An ti ke ge schrie ben (Die Ord nung der Schoumlpshyfung) Wel che Stel lung hat sich Homo sap iens in der Na tur da-durch ge si chert dass er sie sich zu schrieb (Der Pri mat)

In je der mensch li chen Wis sen schaft vom Le ben be steht bis heu te still schwei gend oder laut hals ver kuumln det zwi schen Mensch und Tier eine Gren ze Doch weiszlig we der die E vo lu ti ons bi o lo-gie noch die Pal aumlo anth ro po lo gie mit Ge wiss heit zu sa gen an wel chem Punkt sich nur ani ma li sches von mensch li chem Le ben schei det Was ha ben Pal aumlo anth ro po lo gen in den letz ten hun dert Jah ren da ruuml ber ge glaubt Und was den ken sie heu te (Der aufshyrech te Affe) Da bei wer den wir se hen dass es mit der Gren ze zwi schen dem Men schen und den an de ren Tie ren eine aumlu szligerst komp li zier te Sa che ist Seit Jahr zehn ten mes sen und ver glei chen Ver hal tens for scher die kog ni ti ven Leis tun gen von Tie ren mit je-nen des Men schen mit dem uumlber ra schen den Er geb nis dass Tie re in na he zu al len raquowich ti genlaquo Punk ten un ter le gen sind bei Kul tur-

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leis tun gen wie Werk zeug ge brauch und Re li gi on eben so wie beim Er werb der mensch li chen Spra che Doch ha ben wir bei sol chen Mes sun gen tat saumlch lich den rich ti gen den fai ren Maszlig stab Ist es sinn voll die In tel li genz von Men schen af fen mit uns zu ver glei-chen (Sinn und Sinn lich keit)

Die Mo le ku lar ge ne tik zeigt uns dass Men schen bi o lo gisch Schim pan sen sind Wel che Kon se quen zen zie hen wir da raus (Eins Kom ma sechs Pro zent) Nach dem wir den Men schen auf die se Wei se bi o lo gisch ein ge kreist ha ben wer fen wir noch ei nen Blick da rauf wie ob jek tiv un ser Wis sen vom Men schen und den an de ren Tie ren ist Was koumln nen wir uumlber haupt uumlber das Be wusst-sein an de rer Tie re wis sen Stellt es nicht eine so gro szlige Bar ri e re dar dass wir zu ge ben muumls sen nichts De fi ni ti ves sa gen zu koumln-nen (Die Tuuml cke des Sub jekts)

Im zwei ten Teil wer fe ich ei nen Blick in die Kul tur ge schich te des Mensch-Tier-Ver haumllt nis ses Was ha ben Men schen zu wel cher Zeit uumlber Tie re ge dacht und wa rum Wie hat man sie be han delt Und wel che Sen si bi li taumlt oder Kaumll te setz te sich wa rum durch Was wis sen wir da ruuml ber aus der Jung stein zeit (Die Tund ra des Ge wis sens) Was glaub ten und dach ten die al ten Aumlgyp ter (raquoIch habe kein Tier miss han deltlaquo) Und wa rum ent zau ber te das alte Ju den tum die Tie re (Hir ten und Herr scher)

In der abend laumln di schen Phi lo so phie gibt es seit der An ti ke sehr un ter schied li che Deu tun gen von Tie ren Mal se hen die Den ker eine gro szlige spi ri tu el le oder na tur ge schicht li che Naumlhe mal er he-ben sie den Menschen qua sei ner Ver nunft zum un ein ge schraumlnk-ten Wel ten herr scher (Das ver lo re ne Pa ra dies) In der christ li chen Re li gi on da ge gen wer den Men schen und Tie re deut lich von ei-nan der ge schie den eine Son der an fer ti gung hier eine Drein ga-be dort Das Chris ten tum ent fernt die tier freund li chen Mo men-te der juuml di schen Re li gi on aus den Glau bens leh ren (raquoKuumlm mert sich Gott etwa um die Och senlaquo) An ders ver laumluft der Weg in In di en Chi na und Suumld ost a si en Das Welt bild und die Tier ethik

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von Hin dus und Bud dhis ten un ter schei den sich von der un se-ren (Schein hei li ge Kuumlhe) Im Abend land da ge gen do mi niert in der Nach fol ge des fran zouml si schen Phi lo so phen Reneacute Des car tes eine raquora ti o na lis ti schelaquo kal te Pers pek ti ve auf das Tier Tie re weil sie nicht ver nunft fauml hig sei en wer den kaum noch als Le be we sen wahr ge nom men ndash eine Po si ti on die im 18 Jahr hun dert al ler-dings ziem lich kont ro vers dis ku tiert wird (Die Den ker und das lie be Vieh) Nach und nach ent ste hen im spauml ten 18 Jahr hun dert eine neue Mit leids ethik und so gar ers te For de run gen nach Rech-ten fuumlr Tie re (raquoKoumln nen sie lei denlaquo)

Im drit ten Teil moumlch te ich eine ei ge ne ethi sche Hal tung ent-wi ckeln Zu naumlchst wer den The o ri en von Phi lo so phen des 20 Jahr hun derts vor ge stellt die wie Al bert Schweit zer raquoEhr furcht vor dem Le benlaquo ver lan gen oder Tie ren ei nen ho hen mo ra li schen Sta tus zu spre chen wie Pe ter Sin ger und Tom Re gan (Das ei sershyne Tor) Die se Po si ti o nen zwin gen dazu grund saumltz li cher da ruuml-ber nach zu den ken was das raquoTier rechtlaquo vom raquoTier schutzlaquo un-ter schei den soll (Schutz oder Recht) An schlie szligend moumlch te ich die Schwach stel len der gaumln gi gen Tier rechts phi lo so phi en he raus-ar bei ten und zei gen wa rum ich sie we der dem Men schen fuumlr an-ge mes sen hal te noch fuumlr all ge mein prak ti ka bel (Eine art ge rech te Mo ral) Da ran schlie szligen sich mei ne Uumlber le gun gen an was ein an ge mes se ner Um gang mit Tie ren sein koumlnn te (Gut besser am besten)

Sol cher ma szligen ge ruumls tet koumln nen wir uns im vier ten Teil mit den vie len Prob le men be fas sen die sich im All tag stel len Das ers te die ser Ka pi tel bi lan ziert das all taumlg li che Cha os im Um gang mit Tie ren (Lie ben ndash Has sen ndash Es sen) Da nach wen den wir den Blick auf die recht li che Si tu a ti on und un ter zie hen die Lo gik un-se res Tier schutz ge set zes ei ner ge nau e ren Pruuml fung (Ein kur zer Text uumlber das Touml ten) Das naumlchs te Ka pi tel gilt der Jagd Ist Ja gen art ty pi sches Ver hal ten des Men schen oder eine staat lich le gi ti-mier te Per ver si on (Na tur schutz oder Lust mord) Und wie sieht

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es mit un se rer Er naumlh rung aus Wel che Ar gu men te spre chen da-fuumlr dass Men schen in un se ren heu ti gen west li chen Ge sell schaf-ten noch Tie re touml ten duumlr fen um sich von ih nen zu er naumlh ren Und wel che Ar gu men te spre chen da ge gen Viel leicht gibt es so gar schon in Kuumlr ze ei nen Aus weg der uns end lich hilft die Mas sen-tier hal tung zu be sei ti gen (Jen seits von Wurst und Kaumlse) Eben so stellt sich die Fra ge un ter wel chen Um staumln den Tier ver su che zu-kuumlnf tig er laubt sein soll ten und un ter wel chen nicht (Das Tier als Dum my) Ist es mo ra lisch ver tret bar Tie re in Zo o lo gi schen Gaumlr ten zu hal ten Und wenn ja wel che und wel che nicht (Alshycat raz oder Psycho top) Zoos ver ste hen sich heu te als raquoNa tur-schutz zent renlaquo die Tie re er hal ten die in ih ren Hei mat laumln dern vom Aus ster ben be droht sind Wie ist dies zu be wer ten (Das Zeit al ter der Ein sam keit) Da bei sto szligen wir auf die Schwie rig-keit dass Tier schutz Tier recht und Ar ten schutz kei ne na tuumlr li-chen Ver buumln de ten sind son dern sich in ih rer Phi lo so phie ih rer Welt an schau ung und ih ren Ziel set zun gen stark un ter schei den (Das un ver soumlhn li che Tri um vi rat) Das Schluss wort bi lan ziert die se Er kennt nis se und fragt was wir aus al le dem prag ma tisch fol gern soll ten und in wel chen Schrit ten es ge sche hen koumlnn te (Scho pen hau ers Trep pe)

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Das Men schen tier

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Wahr heit zu hal ten Aber die ses Bild hat sich schon oft ver aumln-dert und es wird sich ge wiss noch wei ter ver aumln dern

Men schen nei gen dazu die Welt in der sie le ben auf zu raumlu-men Es ist eine ziem lich art ty pi sche Ver hal tens wei se Wir sor tie-ren die all taumlg li chen Din ge un se res Le bens und eben so sor tie ren wir die Ge dan ken uumlber die Welt die uns um gibt Jede Ord nung auch die der Na tur ist also ein mensch li cher Ent wurf Und al-lem An schein nach ent stand das Be duumlrf nis die Welt zu ord nen in un se rer Ent wick lungs ge schich te pa ral lel zur Ent wick lung der Spra che Denn ohne die kuumlnst li che Auf raumlum ar beit der Spra che waumlre die Vor stel lung von ei ner raquoOrd nung der Schoumlp funglaquo oder der raquoNa turlaquo nicht moumlg lich

Wer auf die Ord nung an ge wie sen ist be wegt sich gern in den si che ren Gren zen ei nes Sys tems Nur in ner halb ei nes sol chen Ord nungs ge fuuml ges fragt man nach Wahr heit und Gel tung Rich-tig keit Me tho de und Be deu tung Zu leicht uumlber sieht der Ord ner dann die kuumlnst li che Be hau sung und die selbst ge zim mer ten Re-ga le in die er die Welt so sorg faumll tig hi nein sor tiert Sel ten ge lingt ihm ein Blick aus dem Fens ter in die un ge wis se Land schaft die ihn um gibt Und nur ein ge wal ti ger Sturm ein Blitz schlag oder eine Er schuumlt te rung zwingt den Ver wal ter der Welt die si che re Wohn statt zu ver las sen und sich ein an de res Haus zu bau en das den An fein dun gen des neu en Kli mas wi der steht

Erst im Ruumlck blick auf die vie len Irr tuuml mer der Ver gan gen heit er ken nen wir dann un se re ei ge ne Un zu laumlng lich keit beim Auf-raumlu men In der Ge gen wart er scheint uns die je wei li ge Ord nung meis tens so selbst ver staumlnd lich dass wir gern uumlber jede Moumlg-lich keit der Ver aumln de rung lauml cheln So ha ben Men schen mit voumll li-ger Ge wiss heit an ge nom men dass die Erde eine Schei be ist und dass Frau en und Skla ven kei ne Rech te zu ste hen Und mit ei nem eben sol chen Lauml cheln be trach ten wir heu te die Gruumln de mit de-nen Men schen sich im Lau fe der Jahr hun der te von den Tie ren zu un ter schei den glaub ten

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Schon die al ten Grie chen ins be son de re Aris to te les (384 v Chr ndash 322 v Chr) ha ben sich fuumlr die Ge schich te und das in vie len De tails ver bor ge ne Sys tem der Na tur in te res siert Er teilt die Tie re in Klas sen ein ver sucht zu er gruumln den was Le ben ist und schafft da mit die Grund la gen der Zo o lo gie Aber Aris to te-les kennt nur we ni ge hun dert Tie re Eine raquovoll staumln di ge Na tur-ge schich telaquo wird das ers te Mal im 18 Jahr hun dert ge schrie-ben ndash und auch sie ist aumlu szligerst un voll staumln dig Seit dem ver fuuml gen wir nicht nur uumlber ei nen rei chen Vor rat an ge dach ten Ord nun-gen von den Schoumlp fungs my then bis hin zur Mo le ku lar bi o lo gie Wir ken nen auch eine Wis sen schaft die sich raquoTax ono mielaquo nennt und jede Pfan ze und je des Tier sys te ma tisch in eine In ven tar liste der Na tur ein traumlgt

Da bei ver ra ten die Denk sche ma ta der Na tur for scher nicht nur et was uumlber die klas si fi zier te Na tur selbst son dern eben so uumlber das Ord nungs be duumlrf nis und die Pfif fig keit des mensch li-chen Geis tes Das 18 Jahr hun dert ist eine Zeit in der das Buumlr-ger tum an die Macht draumlngt und sich zu neh mend ge gen den Adel auf ehnt Sei ne schaumlrfs te Waf fe ist et was das man raquoVer nunftlaquo oder raquoRa ti o na li taumltlaquo nennt und das man ge gen den Glau ben ins Feld fuumlhrt Fuumlr die Phi lo so phen der Ra ti o na li taumlt ist die Welt kei-ne vor ge fun de ne Schoumlp fung mit fes ter Ord nung son dern et was dass man geis tig durch drin gen und auf sei ne Lo gik und Wi der-spruuml che un ter su chen kann Da bei ge ben zu naumlchst die Phy sik und die Ma the ma tik das Sche ma vor nach dem alle Er kennt nis auch jene von Pfan zen und Tie ren funk ti o nie ren soll Die Sys te ma ti-ker der Na tur ge schich te su chen nach un ver ruumlck ba ren Kri te ri en ob jek ti ven Ge setz mauml szligig kei ten und lo gi schen Ver bin dun gen um die un uuml ber sicht li che Welt der Le be we sen ih rer raquowah ren An ord-nunglaquo ge maumlszlig ein zu tei len Aber nicht alle Na tur for scher glau-ben dass ein sol ches Vor ha ben tat saumlch lich ge lin gen kann Man-che hal ten die Na tur fuumlr zu reich hal tig um sie auf die se Wei se zu klas si fi zie ren Welt an schau un gen tref fen auf ei nan der auf der

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 319783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 31 10082021 10493410082021 104934

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ei nen Sei te der Glau be an ein vom Men schen prin zi pi ell voumll lig durch schau ba res Na tur sys tem auf der an de ren Sei te eine un er-gruumlnd li che Schoumlp fung in der der Mensch sich im mer nur tas-tend fort be wegt

Die ers te Va ri an te gilt im 18 Jahr hun dert als der mo der ne-re An satz Man ori en tiert sich da bei an ei nem Ra ti o na lis mus den Reneacute Des car tes (1596 ndash 1650) schon hun dert Jah re zu vor neu be gruumln det hat Die ser Ra ti o na lis mus ori en tiert sich an der Me cha nik Die Schoumlp fung Got tes er scheint als eine ein zi ge klug aus ge tuumlf tel te Ma schi ne die der Mensch Stuumlck fuumlr Stuumlck zu be-herr schen lernt Und das Uni ver sum be steht aus Ma te rie in Be-we gung or ga ni siert nach ma the ma ti schen Ge set zen Ob gleich das 18 Jahr hun dert zent ra le Spe ku la ti o nen des Phi lo so phen wi-der legt ori en tiert es sich in vie lem an Des car tesrsquo me cha nis ti scher Denk wei se Sie tut dies vor zugs wei se in je nen Dis zip li nen de-ren Er kennt nis fort schritt zu naumlchst ge ring bleibt Und nir gend-wo trifft dies in ei nem sol chen Maszlig zu wie bei der Er for schung der bi o lo gi schen Na tur

Doch die ses Welt bild hat prob le ma ti sche Fol gen Wer die Welt kon se quent nach me cha nis ti schen Grund saumlt zen be trach tet hat fuumlr den Be reich der nicht mensch li chen Na tur we nig Ver staumlnd nis Fuumlr Des car tes sind Tie re nichts als Ma schi nen Es macht kei nen Un ter schied ob eine Ma schi ne die aumlu szlige re Ge stalt und die in ne-ren Or ga ne ei nes Af fen hat oder ob es sich da bei tat saumlch lich um ein le ben des Tier han delt Denn relevantes Le ben kommt fuumlr den Den ker nicht durch zir ku lie ren des Blut und Reizempfindungen in den Koumlrper Son dern bedeutsames Le ben ga ran tie ren ein zig und al lein der er leuch te te Geist und sei ne Spra che

Des car tesrsquo Zeit kennt we der den Be griff des raquoOr ga nis muslaquo die Be son der heit des Le bens noch die Evo lu ti on son dern eben nur die Me cha nik Trotz dem ist sei ne The o rie von den Tie ren als see len lo se Au to ma ten im 17 und 18 Jahr hun dert aumlu szligerst um-strit ten Fran zouml si sche Phi lo so phen schrei ben Buch um Buch uumlber

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die Tier-Fra ge und be feh den sich da bei uumlber mehr als hun dert Jah re Noch weiszlig man nichts von ei ner raquoBi o lo gielaquo Man be treibt eine neue Dis zip lin die sich raquoNa tur ge schich telaquo nennt und da-mit auf raumlumt die Ge schich te von Le be we sen als eine wahl lo se Samm lung von Er zaumlh lun gen an zu se hen Bis her schrie ben Au to-ren um stands los von der Fang wei se der Tie re ih rer Ana to mie ih rer bib li schen und al le go ri schen Be deu tung ih rem prak ti schen Ge brauch ih rer Ver meh rung ih ren Stim men und Spra chen ih-ren Be we gun gen ih rem Al ter und von der Sym pa thie oder An-ti pa thie des Ver fas sers Auch Koch re zep te wur den von Fall zu Fall hin zu ge fuumlgt

Ein zo o lo gi sches Sys tem ist zu An fang des 18 Jahr hun derts weit ge hend un be kannt die Ver wandt schafts ver haumllt nis se der Pfan zen und Tie re sind dif fus ge ahnt und wer den eher nach Le-bens raumlu men be stimmt als nach koumlr per li chen Merk ma len Tie re die nachts ja gen ste hen da bei eben so in ei nem Ord nungs ge fuuml ge wie Tie re die fie gen koumln nen im Wald oder in ei nem See le ben Be reits die Pries ter schrift der bib li schen Ge ne sis hat te die Welt der Tie re und Pfan zen nicht nach ana to mi schen Merk ma len un-ter teilt son dern in Be zug auf den Le bens raum Pfan zen und Tie re des Mee res der Luft und der Erde Uumlber mehr als tau send Jah re kann ten auch der Is lam und die Hin dus Ord nungs sys teme die Tie re in ih rem Oumlko sys tem ver an ker ten

In der hin du is ti schen Samk hya-Tra di ti on exis tie ren vier zehn Klas sen un ter schied li cher Le be we sen ein ge teilt in acht For men himm li scher und sechs ir di scher Le be we sen zu de nen auch der Mensch ge houmlrt Als wei te res Un ter schei dungs merk mal dient die Art und Wei se der Ge burt Im gro szligen in di schen Na ti o nal epos aus dem 4 Jahr hun dert dem Ma hab har ata heiszligt es raquoAuf die ser Erde gibt es zwei Ar ten von Le be we sen die Be weg li chen und die Un be weg li chen Die Be weg li chen ha ben ei nen drei fa chen Schoszlig Sie sind aus dem Ei aus feuch ter Hit ze und Le ben dig-Ge bo re ne Von al len be weg li chen Le be we sen wie de rum sind die je ni gen die

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le ben dig ge bo ren sind hellip die bes ten Die bes ten un ter den le ben-dig Ge bo re nen sind die die zum Men schen ge schlecht ge houml ren und die Nutz tie relaquo4

Die neu en Sys te me des 18 Jahr hun derts be frei en die Na tur-ge schich te von al lem was sich mit den Me tho den der Zeit nicht wis sen schaft lich exakt be schrei ben laumlsst Koch re zep te fal len so-wie so un ter den Tisch aber auch man che Ver hal tens be ob ach-tun gen und vor mals wich ti ge Ei gen schaf ten wie zum Bei spiel der Ge ruch Ge forscht wird mit Lupe und Mik ros kop Li ne al und Pin zet te Der wich tigs te Mann auf die sem Ge biet ist der schwe-di sche Na tur for scher Carl von Linneacute (1707 ndash 1778) Er ori en-tiert sich an Aris to te les den er be wun dert nicht an Des car tes Ge ra de zu re vo lu ti o naumlr de mo kra tisch ent wi ckelt der auf ge klaumlr te Schwe de im 18 Jahr hun dert ein be schrei ben des Sys tem der Na-tur frei vom the o lo gi schen Fir le fanz sei ner Zeit Mit der Ak ri bie ei nes Brief mar ken samm lers dem Voll staumln dig keit mehr be deu tet als das Be stau nen ein zel ner Wer te ord net er die be leb te Na tur nach Ar ten Gat tun gen Ord nun gen und Klas sen Vier Va ri ab len die Form der Ele men te ihre An zahl die raumlum li che An ord nung der Ele men te und ihre re la ti ve Grouml szlige be stimm ten von nun an den Platz im Sys tem

Un ter der Leit dis zip lin der Bo ta nik wan delt sich die Na tur ge-schich te in eine ge ord ne te Welt aus Li ni en und Flauml chen Ent schei-dend sind die sicht ba ren Un ter schei dungs merk ma le wie Bluuml ten und Staub ge fauml szlige Blaumlt ter und Fruumlch te Fuumlszlige und Hufe Fe dern und Flos sen So setzt Linneacute fuumlr jede Pfan zen- und Tier klas se jede Ord nung und Gat tung be stimm te Merk ma le fest die er als die wich ti ge ren er ach te t Denn nur un ter der An nah me sol cher pri vi-le gier ter Struk tu ren ist es ihm moumlg lich die ver schie de nen Spe zi es im Ge samt sys tem un miss ver staumlnd lich zu ras tern Der mensch li che Ord ner be schreibt also nicht ein fach die be leb te Na tur Er fuumlgt ihr auch et was hin zu die Ent schei dung naumlm lich was in der For men-viel falt der Le be we sen wich ti ge Merk ma le sind und was nicht4

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Wie alle da ma li gen Na tur for scher nimmt Linneacute an dass die Ein tei lun gen die der mensch li che Ver stand macht tat saumlch lich ei ner ob jek ti ven Ord nung der Na tur ent spre chen Doch Lin neacutes Sys tem ist wie er selbst weiszlig nicht raquona tuumlr lichlaquo Sei ne Struk tu ren sind kei ne die er in der Na tur als Un ter schei dungs kri te ri en vor-fin det Denn was sich am Schreib tisch nun muumlh sam in Ord nun-gen pres sen laumlsst liegt wie der fran zouml si sche Na tur for scher Mishychel Adan son (1727 ndash 1806) fest stellt in der Wild nis wie Kraut und Ruuml ben durch ei nan der raquohellip eine kon fu se Mi schung aus We-sen hellip die der Zu fall ei nan der an ge nauml hert zu ha ben scheint Hier wird das Gold mit ei nem an de ren Me tall mit ei nem Stein oder mit Erde ge mischt Dort waumlchst die Ei che ne ben dem Veil chen Un ter die sen Pfan zen ir ren eben falls der Vier fuumlszlig ler das Rep til und das In sekt um her Die Fi sche mi schen sich so zu sa gen mit dem waumlss ri gen Ele ment in dem sie schwim men und mit den Pfan zen die auf dem Grun de der Ge waumls ser wach sen hellip Die se Mi schung ist so gar so all ge mein und so viel faumll tig dass sie ei nes der Na tur ge set ze zu sein scheintlaquo5

Der Wi der spruch zwi schen ei ner tax ono mi schen und ei ner oumlko lo gi schen Ord nung der Na tur ist of fen sicht lich Er fin det sich noch heu te in der Dis kus si on um die Aumls the tik von Zoo an la gen Soll man die Tie re nach Ver wandt schafts ver haumllt nis sen sam meln also in Raub tier haumlu sern An ti lo pen haumlu sern und Hirsch an la gen so dass der Be su cher zwi schen den ana to mi schen Be son der hei-ten der Ar ten ndash mit un ter so gar den ge o gra fi schen Va ri an ten ei ner ein zi gen Art ndash zu un ter schei den lernt Oder ge waumlhrt die Nach-ge stal tung ei nes Na tur bi o tops ei ner af ri ka ni schen Sa van ne oder ei nes al pi nen Pa no ra mas den wich ti ge ren Ein blick in die Ord-nung der Na tur

Zwar steht fuumlr Linneacute und sei ne Kol le gen fest dass die raquowah-re Ord nunglaquo der Na tur sich an den koumlr per li chen Merk ma len zu ori en tie ren hat doch muss eine Er klauml rung da fuumlr ge fun den wer-den wa rum die se Ord nung in der frei en Na tur nicht von al lein 5

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sicht bar wird Ohne Zwei fel ist das Sys tem der Na tur kei ne zeit-lo se Schoumlp fung son dern durch Ver aumln de run gen ge kenn zeich net die sich in der Erd ge schich te er eig net ha ben Pa ral lel meh ren sich die Fun de von Fos si li en also von Tie ren die mut maszlig lich aus-ge stor ben sind Es hat al lem An schein nach grouml szlige re ge o lo gi sche Ka tast ro phen in un be kann ter Zahl ge ge ben de nen vie le Ar ten zum Op fer ge fal len sind Doch ha ben die se De sas ter auch zur Ent ste hung von neu en For men ge fuumlhrt

Um den Fak tor der Zeit und sei ne Fol gen fuumlr das Sys tem der Na tur ein zu schaumlt zen gibt es vie le Moumlg lich kei ten Die ein fachs te und mensch lichs te al ler zeit li chen Ord nungs vor stel lun gen ist die Idee al les fol ge ei nem Plan und sei auf ein Ziel hin aus ge rich-tet (Te le o lo gie) Re li gi o nen Phi lo so phi en und Ide o lo gi en funk-ti o nie ren na he zu al le samt ziel ge rich tet Es geht um ein bes se res Le ben auf Er den im Jen seits in ei nem ge rech ten Staat um die Herr schaft uumlber die an de ren uumlber die Pro duk ti ons mit tel oder das Boumlse Selbst un ser All tag ge stal tet sich weit ge hend te le o lo-gisch durch traumlnkt von zu kuumlnf ti ger Er war tung Mo tor jed we-der Te le o lo gie ist der Fort schritts ge dan ke Sein ima gi nauml res Ziel ist der voll kom me ne Zu stand So glau ben christ lich-abend laumln-di sche Ge sell schaf ten gern an eine staumln di ge Ver bes se rung durch An stren gung eine Tu gend die nach cal vi nis ti scher Tra di ti on im Him mel wie auf Er den von Gott ma te ri ell ent lohnt wird Wie na he lie gend also auch in der Na tur die Ent ste hung raquohouml he rerlaquo Le bens for men durch Fort schritt er ken nen zu wol len mit dem End ziel des Men schen

Die Un ord nung der Schoumlp fung mit ei nem goumltt li chen Fort-schritts plan in Ein klang zu brin gen ist das Le bens werk des Schwei zer Na tur for schers und Phi lo so phen Charles Bon net (1720 ndash 1793) Fuumlr Bon net ist die Zahl der Ar ten und ihre aumlu-szlige re Ge stalt von Gott ein fuumlr al le Mal fest ge legt Doch kann sich ein je des Le be we sen per fek ti o nie ren Der Weg vom simp-len Ge muumlt zur ge ni a li schen Leis tung ist vom Schoumlp fer vor ge-

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zeich net Und alle Tie re be schrei ten ihn zeit lich ver setzt nach dem glei chen Mus ter das der Mensch ih nen vor ge lebt hat raquoEs wird ei nen mehr oder we ni ger lang sa men und kon ti nu ier li chen Fort schritt al ler Ar ten zu ei ner houml he ren Ver voll komm nung ge-ben so dass alle Gra de der Stu fen lei ter in ei ner de ter mi nie ren den und kons tan ten Be zie hung fort ge setzt va ri a bel sein wer den hellip Es wird un ter den Af fen Leu te wie New ton und un ter Bi bern wie (den Fes tungs bau meis ter RDP) Vau ban ge ben Die Aus-tern und die Po ly pen wer den in Be zie hung zu den houmlchs ten Ar-ten das sein was die Vouml gel fuumlr die Vier fuumlszlig ler im Ver haumllt nis zum Men schen sindlaquo6

Seit Bon net ist die Vor stel lung von der raquoLei ter der Na turlaquo der Sca la nat urae ein wich ti ges In ven tar des na tur ge schicht-li chen Den kens Fort schritt Ver voll komm nung und goumltt li cher Plan ndash die se drei Grouml szligen be stim men die Vor stel lung vom Wer-den der Na tur vom 18 Jahr hun dert bis in die Ge gen wart hi nein Das Prin zip nach dem die Evo lu ti on Le ben her vor bringt sei un ver meid lich und von An fang an vor her be stimmt Nicht we-ni ge E vo lu ti ons the o re ti ker ha ben dies eben falls ge glaubt und zwar mit be acht li cher Kon ti nu i taumlt Der eng li sche Na tur for scher Alf red Rus sel Wall ace (1823 ndash 1913) der ge mein sam mit Dar win die The o rie der na tuumlr li chen Se lek ti on ent wi ckelt hat te hielt nicht nur den mensch li chen Geist und sein Mo ral emp fin den son dern zu dem auch die wei che nack te emp find sa me Haut des Men-schen fuumlr das Re sul tat ei ner not wen di gen Ent wick lung

Doch schon im 18 Jahr hun dert reg ten sich zu gleich vor sich-ti ge Zwei fel an der Stim mig keit ei ner sol chen Vor ge formt heit Denn wie soll te man Na tur ka tast ro phen be wer ten Waumlh rend die meis ten Na tur for scher sie als Teil des goumltt li chen Schoumlp-fungs plans in ter pre tier ten zo gen an de re ver gleichs wei se fins te-re Schluumls se Und so wur de tat saumlch lich ein gro szliges Erd be ben zum in di rek ten Aus louml ser der Evo lu ti ons the o rie naumlm lich je nes von Lis sa bon im Jahr 1755 Wer uumlber die Ka tast ro phe nach dach te 6

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konn te star ken Zwei fel da ran he gen dass die Welt ord nung aus-ge kluuml gelt und har mo nisch sei

Die wei test rei chen den Schluss fol ge run gen zog der eng li-sche Pfar rer und Na ti o nal oumlko nom Tho mas Ro bert Malt hus (1766 ndash 1834) Nicht nur die ge o lo gi sche Na tur und ihr Ge-fah ren ri si ko son dern auch die Ver meh rung der Be voumll ke rung wur de nun als Uumlbel er kannt Im Jahr 1798 pub li zier te Malt-hus sei nen Es say on the Princi ple of Po pu la ti on (Das Be voumllshyke rungs ge setz) die ers te Mahn schrift vor den Ge fah ren ei ner Be voumll ke rungs ex plo si on Bei ei ner Ver dop pe lungs ra te der Welt-be voumll ke rung in ner halb von fuumlnf und zwan zig Jah ren er rech ne-te Malt hus wer de ihr exponent iel les An wach sen auf grund der von der Um welt ge setz ten Gren zen not wen dig zu Ar mut Ka-tast ro phen und Tod fuumlh ren Der bib li sche Auf trag raquoSeid frucht-bar und meh ret euchlaquo er schien mit ei nem Mal als ein Fluch Ein gna den lo ser raquoKampf ums Da seinlaquo (strugg le for life) war ent fes selt Das Ein zi ge was blieb war die Hoff nung die ka-tast ro pha len Fol gen der goumltt li chen An wei sung so weit wie moumlg lich ein daumlm men zu koumln nen

In ei ner Zeit als die Ge sell schafts the o rie noch der Bi o lo-gie den Leuch ter vo ran und nicht wie heu te die Schlep pe hin-terh er traumlgt be geis tert sich vor al lem ein eng li scher Dorf pfar rer Charles Dar win (1809 ndash 1882) fuumlr die Malt hus rsquoschen Ge set ze Denn wenn es rich tig ist dass sich ein Tier mit ei ner so ge rin-gen Ver meh rungs ra te wie der Mensch ge gen uumlber sei nen Art ge-nos sen durch setz te so gab es sicht lich an de re Kri te ri en fuumlr die Uumlber le bens fauml hig keit ei ner Po pu la ti on als die Zahl ih rer Ge bur-ten Der Maszlig stab fuumlr den Er folg ei ner Spe zi es war ihr Durch set-zungs ver mouml gen oder wie Dar win es spauml ter in den Prin zi pi en der Bio logie des jun gen Phi lo so phen Her bert Spen cer (1820 ndash 1903) le sen konn te raquothe sur vi val of the fit testlaquo

Dar wins na tur kund li che Stu di en wa ren ur spruumlng lich von dem Ge dan ken be seelt die nicht a ni ma li sche Iden ti taumlt des Men schen

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zu be wei sen Erst der Sieg des Ent de cker stol zes uumlber das Ent-set zen ver lieh ihm schlieszlig lich den Mut den be ruumlhm ten Satz zu schrei ben raquoUnd ich bin bei na he uumlber zeugt (der Mei nung mit der ich an die Fra ge he ran ge tre ten bin voumll lig ent ge gen ge setzt) dass die Spe zi es (mir ist es als ge staumln de ich ei nen Mord ein) nicht un ver aumln der lich sindlaquo7

Dar wins kuumlh ne Ver mu tung war nicht ganz neu Be reits ein hal bes Jahr hun dert zu vor hat ten der fran zouml si sche Na tur for scher GeorgesshyLou is Lec lerc Comte de Buf fon (1707 ndash 1788) und der Phi lo soph De nis Dide rot (1713 ndash 1784) uumlber eine Ver aumln de-rung der Ar ten spe ku liert Be son ders JeanshyBap tiste de La marck (1744 ndash 1829) be haup te te die all maumlh li che Ent wick lung der Ar-ten aus pri mi ti ve ren Vor for men die so ge nann te Trans mu ta ti on La marck war nicht nur ein Pi o nier der mit Jahr mil li o nen han-tier te als alle Welt die Erde noch ei ni ge tau send bis hun dert tau-send Jah re jung waumlhn te son dern er praumlg te (zur glei chen Zeit wie zwei deut sche Na tur for scher) das Wort Bi o lo gie Bei ihm wan del ten sich die Le be we sen da durch dass sich ihre koumlr per-li chen An stren gun gen auf ihr Erb gut aus wir ken Da bei nahm er al ler dings nicht an dass die Ar ten aus ei nan der her vor ge hen wie Dar win es spauml ter tat La ma rcks The o rie ist nauml her an je ner von Bon net Fuumlr ihn ver voll komm nen die ein zel nen Tier ar ten im Lau fe der Zeit ihre An la gen und ent wi ckeln sich da durch im-mer houml her Be son ders voll kom me ne Tie re wie der Mensch sind dem nach sehr alt denn sie ha ben ei nen wei ten Weg von ei nem pri mi ti ven Or ga nis mus bis hin zur heu ti gen Ge stalt hin ter sich ge las sen An de re wie der pri mi ti ve Suumlszlig was ser po lyp ha ben ihre Rei se durch die Zeit ge ra de erst an ge fan gen

La marck war kein Charis mati ker und die zo o lo gi sche All-macht sei nes Vor ge setz ten am Jar din des Plan tes in Pa ris des Ba rons George Cu vier (1769 ndash 1832) ver hin der te dass man sich all zu sehr mit sei nen The o ri en be schaumlf tig te Cu vier war ein be-deu ten der Mann An die Stel le ei ner nach bo ta ni schem Mus ter 7

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ver fah ren den Zo o lo gie setz te er eine neue Wis sen schaft die sich we ni ger an aumlu szlige ren Merk ma len als am Or ga nis mus der Tie-re ori en tier te Doch was die Trans mu ta ti on an be lang te blieb der Ober auf se her der pro tes tan tisch-the o lo gi schen Fa kul tauml ten Frank reichs beim kon ser va ti ven Mo dell Er ver brei te te wei-ter hin eine Ket te von Na tur ka tast ro phen habe als mo di fi zier-te Sint fu ten gan zen Klas sen von Tie ren den Gar aus ge macht Die se The o rie ist weit ge hend rich tig al ler dings schlieszligt sie die Trans mu ta ti on nicht aus

Das wirk lich Re vo lu ti o nauml re an La marck war die Idee die Ge schich te der Na tur nicht vom Men schen aus bis hi nun ter zur Bak te rie zu schrei ben son dern um ge kehrt von der Bak te rie zum Men schen Aus ei nem Mo dell der raumlum li chen Hie rar chie wur de ein Mo dell der zeit li chen Ent wick lung La marck er kann te zu-dem dass das Be wusst sein ei nes Tie res an die Phy si o lo gie und Neu ro lo gie sei nes Koumlr pers ge bun den ist Dem nach ist je der Geist ers tens be grenzt und zwei tens ver aumln der lich

Die phi lo so phi sche Kon se quenz aus La ma rcks Den ken ist so ra di kal dass sie fast ein hun dert fuumlnf zig Jah re lang von nie man-dem ernst haft in Be tracht ge zo gen wur de Wie kann ein Geist der den Ge set zen der Evo lu ti on un ter wor fen ist sich ei gent lich an ma szligen die Na tur der Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Von die ser Schluss fol ge rung woll te die Bi o lo gie al ler dings bis weit ins 20 Jahr hun dert hi nein nicht viel wis sen

Auch Dar wins The o rie von der na tuumlr li chen Se lek ti on der Le be we sen im Rin gen um ihr Le ben und mit der Um welt ent-wi ckel te sich wei ter Ge witz ten Zeit ge nos sen wie Karl Marx (1818 ndash 1883) war auf ge fal len wie stark Dar wins Den ken dem Zeit geist des Vik to ri a ni schen Zeit al ters ver haf tet war raquoEs ist merk wuumlr dig wie Dar win un ter Bes ti en und Pfan zen sei ne eng li-sche Ge sell schaft mit ih rer Tei lung der Ar beit Kon kur renz Auf-schluss neu er Maumlrk te rsaquoEr fin dun genlsaquo und Malt hus schem rsaquoKampf ums Da seinlsaquo wie der er kenntlaquo8 Die Be to nung des Malt hus rsquoschen 8

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 409783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 40 10082021 10493410082021 104934

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Kamp fes von je dem ge gen je den und auch der Fort schritts glau-be in Dar wins Den ken zei gen ihn stark sei ner Zeit ver haf tet

Eine an de re Kri tik kam aus der Bi o lo gie selbst Dar win hat-te noch nichts von Ge nen ge wusst So konn te er nicht er klauml ren was sich bi o che misch er eig ne te wenn Ar ten sich ver aumln der ten Der raquoDar wi nis muslaquo der Jahr hun dert wen de gab schlieszlig lich die Hoff nung auf die Evo lu ti on lie szlige sich al lein durch die na tuumlr li-che Se lek ti on der Ar ten nach Maszlig ga be ih rer An pas sungs fauml hig-keit an die Um welt be gruumln den Man ent deck te die Rol le der Ge-ne tik und zum neu en Er klauml rungs prin zip wur de das Mo dell der zwei Kons t ruk teu re Das Spiel des Le bens er hielt ei nen Wuumlr fel zu faumll li ge Ver aumln de run gen im Gen ma te ri al also so ge nann te Mu tashyti o nen Im Tri alshyandshyEr ror-Ver fah ren ent ste hen im Erb gut ge le-gent lich Ab wei chun gen die dann er folg reich sind wenn sie sich in der Um welt be waumlh ren Da mit war die Idee vom Tisch dass sich neu er wor be ne Ei gen schaf ten oder raquodie ana to mi schen Aus-wir kun gen koumlr per li cher An stren gun genlaquo wie La marck mein te ver er ben koumlnn ten Noch Dar win hat te dies fuumlr denk bar ge hal ten So ver trau te er Er zaumlh lun gen wo nach bei je nen Volks grup pen zu de ren Ri ten die re gel mauml szligi ge Be schnei dung der Pe nis vor haut ge houmlrt sich die Vor haut all maumlh lich ver kuumlrz te Das haumlt te zwar die Be schnei dung uumlber fuumls sig ge macht aber Dar win hat te ge ra-de an de res Ge wich ti ges zu be den ken als da ruuml ber nach zu sin nen

Die Ver kuumlr zung der Vor haut blieb im Wis sens schatz der Dar wi nis ten bis Au gust Weis mann (1834 ndash 1914) im spauml ten 19 Jahr hun dert nach wies dass ein sol cher In for ma ti ons fuss vom aumlu szlige ren Er schei nungs bild zum Erb ma te ri al nicht moumlg lich sei Uumlber fuumlnf Ge ne ra ti o nen kuumlrz te Weis mann ei nem Stamm von Maumlu sen ihre Schwaumln ze ohne dass eine Nach richt uumlber die sen Ein griff die Keim bah nen der Maumlu se er reich te Denn sie he da Auch die Schwaumln ze der nach fol gen den Maumlu se ge ne ra ti o nen blie-ben gleich lang Da be durf te es schon der Spitz fin dig keit des iri schen Dich ters George Bern ard Shaw (1856 ndash 1950) der Weis-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 419783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 41 10082021 10493410082021 104934

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manns schnei den de Wi der le gung der La marckrsquo schen The o rie leicht fer tig vom Se zier tisch wisch te Die Maumlu se be merk te der Dich ter haumlt ten gar kei ne An stren gun gen un ter nom men ihre Schwaumln ze zu ver lie ren waumlh rend sich die Tie re bei La marck ja da rum be muumlht haumlt ten sich zu ver aumln dern

Im Nach hi n ein also war es der pauml da go gi sche Op ti mis mus der La marck in die Irre ge fuumlhrt ha ben soll te So mach te die Hoff-nung auf ei nen ethisch an spre chen den E vo lu ti ons ver lauf ndash die Er war tung die Mensch heit ent wick le sich qua An pas sung an das so zi a le Mi li eu durch Selbst er zie hung zum Bes se ren ndash nur noch eine et was ab sei ti ge Kar ri e re im staats so zi a lis ti schen Bi o lo gie-un ter richt der Sow jet u ni on Wie kalt da ge gen der uumlber le ge ne raquoKampf ums Da seinlaquo der ja ein Kampf um die Fleisch toumlp fe ist ohne Hoff nung der Mensch wer de den kuumlh nen Geist statt sei-nes ma te ri a lis ti schen Gier hal ses nach Houml he rem stre cken Und ein zig die Kir che be wahr te un ver dros sen ei nen la marc kis ti schen Ge dan ken ndash al ler dings ei nen pes si mis ti schen und kei nen op ti-mis ti schen In bes ter Schuumlt zen hil fe fuumlr den fran zouml si schen Che-va li er ver tei digt sie bis heu te ihr mo le ku lar ge ne tisch be denk li-ches Dog ma Adams Un ge hor sam im Gar ten Eden habe zu ei ner raquoErb suumln delaquo ge fuumlhrt die da rauf hin auf alle zu kuumlnf ti gen Ge ne ra-ti o nen uumlber ge gan gen sei

Im mer hin sind in den bei den letz ten Jahr zehn ten ei ni ge Bi o-lo gen wie der et was of fe ner da fuumlr ge wor den der Ver er bung er-wor be ner Ei gen schaf ten ei nen Platz in der Ge ne tik zu las sen Zwar ver er ben sich psy chi sche und phy si sche Le bens er fah run-gen nicht durch ver aumln der te Gene Aber es koumlnn te doch sein dass jene Schal ter die da ruuml ber be stim men wel che ge ne ti sche In for-ma ti on wei ter ge ge ben wird und wel che nicht durch Um welt-ein fuumls se ver aumln dert wer den Uumlber le gun gen wie die se be schaumlf ti-gen so ge nann te Epi gen eti ker seit ei ni ger Zeit sie ha ben ei nen wach sen den Ein fuss auf un se re Vor stel lung von der Evo lu ti on

Die heu ti ge Leit dis zip lin die uns die Ver wandt schaft des Le-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 429783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 42 10082021 10493410082021 104934

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bens ent schluumls seln soll ist die Ge ne tik Wir un ter su chen die Sum-me al ler ge ne ti schen In for ma ti o nen und re gist rie ren da bei Uumlber-ein stim mun gen und Ab wei chun gen mit an de ren Ar ten Doch der Pro zess die Na tur un se rer Na tur zu er ken nen ist noch lan ge nicht ab ge schlos sen und wird wohl auch nie ab ge schlos sen sein Wir wen den Ord nungs sche ma ta auf The o ri en und The o ri en auf Be ob ach tun gen an Nur so kom men wir zu Kau sa li tauml ten und Ge-set zen Doch ihre Be deu tung ver aumln dert sich in dem Maszlige wie wir den Blick punkt un se rer Auf merk sam keit wie der ver la gern Die ser Vor gang des Ent dec kens und des Ver de ckens durch neue Denk sche ma ta ist prin zi pi ell nicht ab schlieszlig bar denn selbst ge-gen waumlr ti ge Evo lu ti ons the o ri en un ter lie gen wei ter hin der Evo-lu ti on

Er staun li cher wei se hat die mo der ne Evo lu ti ons the o rie nur zu ei ner ge ring fuuml gi gen Kor rek tur al ter Denk sche ma ta ge fuumlhrt Wie fruuml her in der Na tur ge schich te er ken nen wir heu te in der Bi o lo gie uumlber all Re gel haf tigk eit Not wen dig keit und Vor tei-le Doch bei nauml he rer Sicht er weist sich die Evo lu ti on ge ra de zu als Herr schafts ge biet der Aus nah men uumlber die Re geln Sie ist eine raquoZweck mauml szligig keit ohne Zwecklaquo wenn auch al lein fuumlr die 01 Pro zent der heu te noch ndash oder ge ra de ndash exis tie ren den Spe-zi es nicht aber fuumlr die 999 Pro zent die in den Ur fu ten dem Ord ovizium dem Perm der Krei de oder dem Ter ti aumlr das Welt-li che seg ne ten E vo lu ti ons bi o lo gen su chen in der Ge schich te der Na tur uumlber all nach Vor tei len die das Uumlber le ben von Ar ten er-klauml ren sol len Da bei ver men gen sie oft zwei ver schie de ne Vor-teils be grif fe Ein mal geht es um Mu ta ti o nen die si tu a tiv vor teil-haf te Ei gen schaf ten fuumlr eine Tier art her vor ge bracht ha ben sol len Eine grouml szlige re Sta tur ein pom pouml se res Ge weih ein staumlr ke res Ge biss sol len Weib chen be ein dru cken und die Nach kom men schaft er-houml hen Da die se Ei gen schaf ten aber oft nichts nuumlt zen wenn der Zu fall die Spiel re geln der Um welt aumln dert gibt es ei nen zwei ten Vor teils be griff Da nach ist das vor teil haft in der Evo lu ti on was

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 439783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 43 10082021 10493410082021 104934

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vom Ende her be trach tet dazu ge fuumlhrt hat dass eine Art uumlber-lebt Nach die ser Sicht wei se kann der mick rigs te Pa vi an auf dem Fel sen sei ne Gene wei ter ge ben wenn die staumlr ke ren Kon kur ren-ten bei ei nem Erd be ben ums Le ben ge kom men sind

An ge sichts zwei er so un ter schied li cher Be deu tun gen von raquoVor teillaquo fragt es sich ob der Be griff in der Evo lu ti ons the o rie uumlber haupt sinn voll ver wen det wer den kann Tat saumlch lich ist er ein Erbe der The o lo gie des 17 und 18 Jahr hun derts die uumlber-all in der Na tur nach der klu gen Ver nunft Got tes such te Dar win kann te die se Tra di ti on gut Als Stu dent ver ehr te er den The o lo-gen Will iam Pa ley (1743 ndash 1805) der na tur kund lich be schla gen die goumltt li che Vo raus sicht auf den neu es ten Stand ge bracht hat te Als Dar win sich von Gott ver ab schie de te und die na tuumlr li che Se-lek ti on er kann te er setz te er uumlber all wo Pa ley raquoGod doeslaquo ge-schrie ben hat te den Satz durch raquoNat ure doeslaquo An Pa leys Vor-stel lung dass die Na tur zweck mauml szligig ein ge rich tet sei und Vor tei le be loh ne hielt Dar win eben so fest wie vie le spauml te re E vo lu ti ons-the o re ti ker

Die Fra ge ist des halb wich tig weil sie zeigt wie eng un se re Vor stel lung von der Na tur bis hi nein in die mo der ne Evo lu ti-ons the o rie von sehr mensch li chen Vor stel lun gen durch setzt ist Statt Vor tei le zu be nen nen wuumlr de es naumlm lich auch aus rei chen zu sa gen dass al les in der Na tur uumlber le ben kann das fuumlr eine Art kei nen toumld li chen Nach teil hat te Ver mut lich uumlber lebt in der Evo lu ti on nicht nur Zweck mauml szligi ges son dern jede Ver aumln de rung die zu min dest nicht zum Aus ster ben fuumlhr t und moumlg li cher wei se liegt ge ra de hie rin der Grund fuumlr eine gro szlige Ar ten viel falt

Die tra di ti o nell ver eng te Sicht wei se gilt ins be son de re bei der Be trach tung des Men schen E vo lu ti ons bi o lo gen koumln nen zahl-rei che Vor tei le be nen nen die er klauml ren wa rum die mensch li che Art so er folg reich ist Men schen sind aumlu szligerst an pas sungs fauml hig und be sie deln fast alle Le bens raumlu me sie sind Al les fres ser mit ei ner gro szligen Nah rungs band brei te sie ha ben eine fe xib le So zi-

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al struk tur und ver fuuml gen uumlber ein Selbst be wusst sein das es ih-nen er moumlg licht ihr Ver hal ten zu kor ri gie ren So ge se hen ist der Mensch gleich sam das op ti mal ste al ler Tie re Doch alldem zum Trotz exis tie ren Men schen der Gat tung Homo sap iens erst seit rund 100 000 Jah ren und ihre lang fris ti gen Zu kunfts chan cen ste hen schlecht Denn mit all den vor teil haf ten Ei gen schaf ten ha-ben Men schen in Re kord zeit ihre Um welt zer stoumlrt und das lang-fris ti ge Uumlber le ben der Spe zi es dra ma tisch in fra ge ge stellt Die mit we ni ger spek ta ku lauml ren Vor tei len aus ge stat te ten Di no sau ri-er exis tier ten auf un se rem Pla ne ten hun dert fuumlnf zig Mil li o nen Jah re ganz zu schwei gen von den seit uumlber vier hun dert Mil li o-nen Jah ren na he zu un ver aumln der ten Nau til iden und Ur schne cken

Ge si chert in der Evo lu ti ons the o rie ist dass kei ne ih rer An nah-men ge si chert ist E vo lu ti ons bi o lo gen die ihre Sa che ernst neh-men muumls sen im mer auch die E vo lu ti ons be dingt heit ih res ei ge-nen Er kennt nis ap pa rats ref ek tie ren also mit hin die Evo lu ti on al ler mensch li chen Er kennt nis raquoLetzt lich istlaquo wie der Neuro bio-lo ge Ger hard Roth schreibt raquoje des Nach den ken uumlber die ob jek-ti ve Re a li taumlt sei es wis sen schaft lich oder nicht an die Be din gun-gen mensch li chen Den kens Spre chens und Han delns ge bun den und muss sich da rin be waumlh renlaquo9

Man muss ref ek tie ren dass die un ver meid li chen Ord nungs-mit tel des Geis tes das Den ken und die Spra che nicht die Wirk-lich keit raquoan sichlaquo auf raumlu men Sie sind Mo del le die die un ver-fuumlg ba re Wirk lich keit nach Maszlig ga be der ei ge nen Spiel re geln er klauml ren Nicht erst seit Er for schung der Evo lu ti on in den letz-ten zwei hun dert Jah ren muumlht sich der mensch li che Geist dem Lauf der Welt ei nen ndash nach mensch li chem Er mes sen ndash raquover nuumlnf-ti genlaquo Sinn zu ge ben Doch das Pa ra do xe der Ge schich te liegt da rin dass der mensch li che Geist selbst Pro dukt evo lu ti o nauml rer Pro zes se ist Er ist Maszlig stab und Ge mes se nes zu gleich

An eine tat saumlch lich ob jek ti ve Er kennt nis der Evo lu ti on waumlre nur halb wegs sinn voll zu den ken wenn die Evo lu ti on des Men-9

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schen ab ge schlos sen ist und da mit die Stu fe der groumlszligt moumlg li chen Voll kom men heit er reicht hat In den Zei ten vor La marck und Dar win ha ben das nicht nur The o lo gen son dern auch die Na tur-for scher fast al le samt ge glaubt Das mensch li che Be wusst sein sei die un uuml ber trof fe ne Spit zen leis tung des Schoumlp fer got tes ge schaf-fen die Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Sei nen schoumlns-ten Aus druck fand die se Sicht in ei nem Aus spruch des jun gen Phi lo so phen Fried rich Wil helm Jo seph Schel ling (1775 ndash 1854) Er mein te dass der Mensch je nes We sen sei raquoin dem die Na tur das Auge auf schlaumlgtlaquo und sich da mit ih rer selbst be wusst wird Ein huumlb scher Satz aber doch viel zu pa the tisch for mu liert Von der vol len Er kennt nis der Na tur und un se rer selbst sind wir noch im mer weit ent fernt Aber wir koumln nen da ruuml ber stau nen dass die Evo lu ti on mit uns ein Le be we sen her vor ge bracht hat in dem die Na tur sich fuumlr sich selbst fa szi nier bar ge macht hat Wie hat te es dazu kom men koumln nen

bull Der Pri mat Was ist ein Mensch

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 469783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 46 10082021 10493410082021 104934

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ver waist sein Die Mensch heit wird er wacht sein und die Welt je-nes Ge sicht er hal ten ha ben das uns ge gen waumlr tig er scheint Doch wie sah das aus als die Na tur das ers te Mal in ei nem af fen aumlhn-li chen We sen die Au gen auf schlug War es auf ei ner Wald wie-se in ei nem Hain an ei nem Berg hang oder auf ei ner Lich tung War das er leuch te te We sen ein Maumlnn chen oder ein Weib chen Ging es den gan zen Tag auf recht oder saszlig es noch ger ne in der Ho cke eng ge kau ert an sei ne Bruuml der und Schwes tern Und war es eine Ein ge bung ein Blitz schlag als das Selbst be wusst sein das ers te Mal die Fes seln des Pri ma ten ge hirns spreng te

Wir wis sen nicht wo ran Schel ling dach te als er mein te die Na tur habe im Men schen ihr Auge auf ge schla gen Si cher dach te er nicht an ei nen ein zi gen Mo ment dem Mil li o nen an de re folg-ten Er dach te an den raquoMen schen an sichlaquo Und er wuss te nichts vom ost af ri ka ni schen Great Rift Val ley und von haa ri gen Vor-men schen die dort einst haus ten Er leb te in Jena und in Muumln-chen und ei nen Men schen af fen hat te Schel ling nie ge se hen Der ein zig ar ti ge Mo ment in dem die Na tur sich ih rer selbst be wusst wird bleibt eine Me ta pher

Doch wie wur de der Mensch nun tat saumlch lich zum Men-schen Die For mu lie rung ist dop pel deu tig Denn wie der Mensch zum Men schen wur de ndash das ist nicht ein evo lu ti o nauml rer Pro-zess auf der lee ren Welt buumlh ne son dern ein Spiel von Be ob ach-ter und Be ob ach te tem Schau spie ler und Zu schau er Ge schich-te auch Ent wick lungs ge schich te ist nichts Vor ge fun de nes Der Mensch schrieb der fran zouml si sche Phi lo soph JeanshyPaul Sart re (1905 ndash 1980) macht sich selbst wie der Ro man schrift stel ler sei ne Fi gu ren Er ist ge fer tigt aus bi o lo gi schen (ana to mi schen neu ro lo gi schen und phy si o lo gi schen) Be stand tei len zu al ler meist je doch durch jene we nig bi o lo gi schen Weis hei ten mit de nen sich die se Subs tan zen selbst zum raquoMen schenlaquo er ko ren

Das Glei che gilt fuumlr die mensch li che Stam mes ge schich te Auch sie ist zu naumlchst ein mal eine Ge schich te Ihre Ur spruumln ge lie gen im

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al ten Grie chen land als Aris to te les den Men schen und den Af-fen ver wandt schaft lich na he ruumlckt raquoMan che Tie re ste hen zwi-schen Mensch und Vier fuumlszlig ler in ih rem We sen wie Af fen Meer-kat zen und Pa vi a ne hellip Ihr Ge sicht hat vie le Aumlhn lich kei ten mit dem des Men schen Nase und Oh ren glei chen den sei nen und Zaumlh ne hat er auch wie ein Mensch die Vor der zaumlh ne wie die Ba cken zaumlhnelaquo10 Auch Aris to te lesrsquo Schuuml ler The oph rast (ca 370 v Chr ndash ca 288 v Chr) be steht auf der Aumlhn lich keit zwi schen Men schen und Tie ren Er lehnt es so gar ab Fleisch zu es sen oder Tie re zu op fern da man sei ne Ver wand ten nicht ver spei se

Aris to te les und The oph rast stell ten den Men schen zwar ne-ben den Af fen ndash Men schen af fen kann te man noch nicht ndash aber die al ten Grie chen hat ten ihn nur sehr un ge faumlhr zu ei nem Tier un ter Tie ren er klaumlrt Den naumlchs ten Schritt mach te mehr als zwei-tau send Jah re spauml ter Carl von Linneacute An der Zu ge houml rig keit des Men schen zu den Saumlu ge tie ren be stand fuumlr den Schwe den kein Zwei fel die Be haa rung und das Stil len der Jun gen be lehr ten un-miss ver staumlnd lich da ruuml ber Auch die Ver wandt schaft mit Af fen und Men schen af fen stand au szliger Fra ge Hier wa ren es die fa chen Fin ger- und Fuszlig nauml gel statt der Klau en der ab ge spreiz te Dau-men die Greif haumln de die zwei Zit zen der Weib chen und der frei he run ter haumln gen de statt am Un ter leib an lie gen de Pe nis ndash Merk-ma le die groumlszlig ten teils auch schon Aris to te les auf ge fal len wa ren

Doch Linneacute zouml ger te vor der Kon se quenz Haumln de rin gend such-te der got tes fuumlrch ti ge Ana tom nach ei nem Un ter schied zwi schen dem Men schen und den uumlb ri gen von ihm so ge nann ten raquoPri ma-tenlaquo raquoIch ver lan gelaquo schrieb er 1747 sei nem deut schen Freund Jo hann Ge org Gme lin raquovon Ih nen und von der gan zen Welt dass Sie mir ein Gat tungs merk mal zei gen hellip auf grund des sen man zwi schen Mensch und Affe un ter schei den kann Ich weiszlig selbst mit aumlu szligers ter Ge wiss heit von kei nemlaquo11

Nach sei nen Kri te ri en haumlt te Linneacute den Men schen zu min dest mit dem Schim pan sen ge mein sam in die sel be Gat tung ein ord-10

11

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nen muumls sen Der Ge dan ke schweb te zeit gleich auch dem Phi lo so-phen JeanshyJacques Rous seau (1712 ndash 1778) vor als er Schim pan-sen Orang-Ut ans und Men schen so gar als Ver tre ter der Spe zi es Mensch an sah Rous seau hat te nie ei nen Men schen af fen ge se-hen Aber die Be rich te die er von Ex pe di ti o nen nach Af ri ka und Suumld ost a si en las lie szligen in ihm kei nen Zwei fel dass die da rin be schrie be nen Men schen af fen raquowe der Tie re noch Goumlt ter son-dern Men schenlaquo sei en12 Fuumlr den Auf klauml rer wa ren Men schen af-fen edle Wil de die von kei ner Zi vi li sa ti on in ih rem fried fer ti gen We sen zer stoumlrt sei en an ders als die Men schen in Eu ro pa Eben-so dach te we nig spauml ter der schot ti sche Sprach for scher James Bur nett Lord Mon boddo (1714 ndash 1799) Auch er be trach te te den Orang-Utan als ei nen Men schen naumlm lich als ei nen raquosprach-losen Wil denlaquo

In ter pre ta ti o nen wie Rous seau sie in Pa ris und Bur nett bald da rauf in Kin card ines hire wag ten wa ren Linneacute im schwe di schen Upp sa la fremd Den Men schen ins Tier reich ein zu ord nen war in den Au gen der stren gen pro tes tan ti schen Kir che Suumln de ge nug und Linneacute zouml ger te den letz ten Schritt zu tun In sei ner Not sor-tier te er 1758 ach sel zu ckend Mensch und Schim pan se in un ter-schied li che Gat tun gen zu sam men ge fasst in der Ord nung der Pri ma ten in der sie auch heu te noch mehr schlecht als recht huumlbsch ge trennt ne ben ei nan der ho cken Homo sap iens der raquoin-tel ligi ble Menschlaquo und Pan trog lody tes der raquohoumlh len be woh nen-de Faunlaquo

So weit so schoumln Der Mensch wur de der obers te Pri mat das houmlchs te raquoHer ren tierlaquo Linneacute be kam kei nen Aumlr ger mit der Kir-che und die Na tur wis sen schaft den gro szligen Wurf des Linneacute rsquoschen Sys tems Wenn nur die se Nach barn nicht wauml ren Seit Be kannt-wer den der Men schen af fen be muumlh ten sich Wis sen schaft ler und The o lo gen im mer wie der um den Ver such den klei nen Gra ben mit gro szligen Was sern zu fuumll len der Homo sap iens und Pan troshyglody tes bei ih rer ord nungs ge mauml szligen Ver ge sell schaf tung auf der 12

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 509783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 50 10082021 10493510082021 104935

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Af fen in sel trennt Sie eva ku ier ten den Men schen vom Pri ma ten-fel sen und schu fen ihm eine ei ge ne Ord nung

In die ser Vor stel lungs welt wuchs auch der The o lo gie stu dent Charles Dar win auf Das fruuml he 19 Jahr hun dert war eine got-tes fuumlrch ti ge bie der mei er li che Zeit Doch je mehr er sich mit der Ver aumln de rung der Ar ten be schaumlf tig te umso deut li cher wur de Dar win dass es mit der of fi zi ell be kun de ten Son der stel lung des Men schen im Uni ver sum nicht weit her sein konn te So no tier te er schon er staun lich fruumlh in sein Ta ge buch raquoDer Mensch haumllt sich in sei ner Ar ro ganz fuumlr ein groszlig ar ti ges Werk des be son de ren Ein grei fens ei ner Gott heit wuumlr dig Es duumlrf te be schei de ner und wie ich glau be auch rich tig sein ihn als aus den Tie ren ent stan-den an zu se henlaquo13

Dar win hat te den noch zwoumllf Jah re ge zouml gert bis er sich schlieszlig lich ge trau te nach der all ge mei nen Dar stel lung ei ner Evo-lu ti ons the o rie im Jahr 1859 sei ne Schluss fol ge run gen in Be zug auf den Men schen in Druck zu ge ben Die Ab stam mung des Men schen aus dem Jahr 1871 ist ein ge maumlch li ches Buch in ver-soumlhn li chem Ton fall Der Na tur for scher er zaumlhlt da rin wie ein gu-ter al ter Groszlig va ter wo her die Pfan zen die Tie re und die Eng-laumln der kom men Die raquoAb wer tunglaquo des Men schen geht da bei ein her mit ei ner kon ti nu ier li chen raquoAuf wer tunglaquo der Tie re raquoWir ha ben ge se henlaquo schreibt Dar win raquodass die Emp fin dun gen und Ein druuml cke die ver schie de nen Er re gun gen und Fauml hig kei ten wie Lie be Ge daumlcht nis Auf merk sam keit Neu gier de Nach ah mung Ver stand usw de ren sich der Mensch ruumlhmt in ei nem be gin nen-den oder zu wei len selbst in ei nem gut ent wi ckel ten Zu stand bei den nie de ren Tie ren ge fun den wer denlaquo14

La marck und Dar win wa ren die Ers ten die mit Mit teln der mo der nen Na tur wis sen schaft be haup te ten was vie le Kul tu ren und Zei ten schon zu vor re li gi oumls ge ahnt hat ten raquoNa tuumlr lichlaquo ist es ab surd eine Tei lung des Tier reichs in zwei Ka te go ri en vor zu-neh men ndash in eine mensch li che und eine nicht mensch li che Ka-13

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9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 519783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 51 10082021 10493510082021 104935

Page 15: Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen · Leseprobe Professor Dr. Richard David Precht Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen »Fazit:

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uumlber eine be herrsch ba re Um welt dazu ge schaf fen sie zu nut zen und aus zu beu ten Un se re Evo lu ti on hat sich da bei ra sant be-schleu nigt Laumlngst fin det sie kaum noch in un se rem Koumlr per statt son dern vor al lem in un se rer Tech nik und Kul tur Und schon lan ge dient sie nicht mehr dazu sich der Na tur an zu pas sen Sie dient ei ner im mer wie der neu ge schaf fe nen mensch li chen Kul-tur An pas sung be deu tet heu te sich an den ei ge nen Fort schritt an zu pas sen mit all den be kann ten Fol gen fuumlr un se re Um welt Dra ma ti sche Kli ma wech sel die Zer stouml rung der schuumlt zen den Ozon schicht die Ver step pung wei ter Land stri che auf al len Suumld-kon ti nen ten und die Ver gif tung der Mee re ver nich ten nicht nur die nicht mensch li che Tier welt sie be tref fen mehr und mehr den Men schen selbst

In atem be rau ben dem Tem po be schleu nig te das in dust ri a li sier-te 20 Jahr hun dert die Be herr schung und Aus beu tung der Na-tur und mit ihr die der Tie re Schon in den ver gan ge nen Jahr-tau sen den hat te Homo sap iens den ge sam ten Pla ne ten in Be sitz ge nom men Kein grouml szlige res Wir bel tier be sitzt ein sol ches Ver brei-tungs ge biet be wohnt Wuumls ten Re gen waumll der und Po lar re gi o nen glei cher ma szligen Und kein grouml szlige res Wir bel tier hat sich zu Mil li ar-den ver mehrt Ruumlck sichts lo se Pluumln de rung der Roh stof fe und ein un ge heu res Be voumll ke rungs wachs tum der Spe zi es Homo sap iens schaf fen ei nen erd ge schicht li chen Aus nah me zu stand

Der Mensch be herrscht heu te den Pla ne ten aber of fen sicht-lich nicht sich selbst Es koumlnn te da ran lie gen dass es raquoden Men-schenlaquo gar nicht gibt Statt des sen gibt es mehr als sie ben Mil li-ar den un ter schied li che In di vi du en Und nie mand da von ist fuumlr die Mensch heit zu staumln dig Sie ist eine Ge mein de der an zu ge houml-ren nicht dazu ver pfich tet sich um das Gan ze zu sor gen und zu kuumlm mern

Zu herr schen be deu tet Ord nun gen zu etab lie ren und Re geln da fuumlr auf zu stel len was wich tig ist und un wich tig rich tig oder falsch Jahr hun der te lang sah die Mo ral der abend laumln di schen

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 209783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 20 10082021 10493410082021 104934

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Zivi li sa ti on in der Aus rot tung der Wild tie re und Aus beu tung der Nutz tie re na he zu kein Pro blem Eine kla re Grenz zie hung er-laub te je den Um gang mit dem Tier von der Lie be bis zur Fol ter von der Zucht bis zur Touml tung Das Ar gu ment war schlicht Der Mensch ist eine Son der an fer ti gung Got tes und mit dem Tier ge-ra de mal durch den lo sen Fa den der goumltt li chen Schoumlp fung stat ver bun den So kam in den Wor ten des deutsch-fran zouml si schen The o lo gen und Arz tes Al bert Schweit zer raquodie An sicht auf dass es wert lo ses Le ben gaumlbe des sen Schauml di gung und Ver nich tung nichts auf sich habe Un ter wert lo sem Le ben wer den dann je nach den Um staumln den Ar ten von In sek ten oder pri mi ti ve Voumll ker ver stan denlaquo2 (Eine Kli en tel die sich uumlber dies noch um Frau en er wei tern lie szlige)

Die se Gren ze wur de und wird in der abend laumln di schen Kul-tur ge schich te va ri an ten reich ver tei digt Doch je ge nau er wir sie be trach ten umso selt sa mer er scheint sie uns Denn sie laumlsst sich im mer schlech ter be gruumln den und zwar so wohl phi lo so phisch als auch bi o lo gisch Seit etwa vier zig Jah ren be steht in der Ge-sell schaft eine De bat te die un se ren Um gang mit Tie ren grund-saumltz lich in fra ge stellt Tier e thi ker wie Pe ter Sin ger und sein US-ame ri ka ni scher Phi lo so phen kol le ge Tom Re gan for dern Rech te auch fuumlr Tie re Der Aus schluss der Tie re aus der Ethik sei ein mo ra li scher Skan dal Das Tier heu te mo ra lisch drau szligen vor der Tuumlr zu las sen sei das Erbe ei nes re li gi ouml sen Aber glau bens Da der Mensch kei ne Son der an fer ti gung Got tes sei son dern ein in tel-li gen tes Tier muumlss ten wir die Reich wei te der Mo ral eben so auf die raquoan de ren Tie relaquo aus deh nen Ha ben wir nicht nach und nach ge lernt die Skla ve rei zu aumlch ten und Frau en als gleich be rech tig-te Men schen zu ach ten Und ist es nun nicht an der Zeit neu uumlber Tie re nach zu den ken und sie mo ra lisch an ge mes sen zu be-ur tei len

Doch wie koumlnn te ein sol cher an ge mes se ner Um gang mit den an de ren Tie ren aus se hen Den Men schen als ein Tier un ter an-2

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de ren an zu se hen koumlnn te ja auch be deu ten ihn ab zu wer ten statt die Tie re mo ra lisch erns ter zu neh men Das Un heil des So zi-al dar wi nis mus und der bar ba ri schen Ras sen the o rie ste ht uns mah nend vor Au gen Und was ist uumlber haupt das Kri te ri um da-fuumlr Tie re mo ra lisch zu ach ten Ist es ihre Lei dens fauml hig keit ihr Le bens wil le oder ihre In tel li genz Ha ben klu ge Tie re ein houml he-res Le bens recht als duumlm me re Das Ver haumllt nis des Men schen zu den an de ren Tie ren neu zu be wer ten ist eine gro szlige und schwie-ri ge Auf ga be

Ich moumlch te in die sem Buch ver su chen die se Fra gen neu zu stel len und zu durch den ken Da bei be trach te ich den Men schen als ein be son de res Tier un ter vie len auf an de re Wei se be son de ren Tie ren Ich moumlch te mich nicht da rauf fest le gen den Men schen all ge mein uumlber be stimm te Ei gen schaf ten zu de fi nie ren die ihn ethisch wert voll ma chen sol len Ich moumlch te ihm aber auch nicht im Um kehr schluss alle ge mein hin als raquomensch lichlaquo be zeich ne ten Ei gen schaf ten ab spre chen weil nicht alle Men schen Trauml ger all die ser Ei gen schaf ten sind Viel leicht ist be reits das Su chen nach sol chen ex klu si ven Ei gen schaf ten der fal sche Weg Der Denk-feh ler koumlnn te be reits da rin lie gen ei gen staumln di ge Dis zip li nen wie raquoAnth ro po lo gielaquo oder raquoMo ral phi lo so phielaquo be trei ben zu wol len die eine sol che enge De fi ni ti on des Men schen vo raus set zen Waumlre es nicht bes ser die Enge des Be griffs zu spren gen Statt Anth-ro po lo gie zu be trei ben soll te man sich lie ber mit ei ner Anthroshyzo o lo gie be schaumlf ti gen ndash eine Leh re vom Men schen tier und den an de ren Tie ren

Der Be griff ist neu er wur de erst vor we ni gen Jah ren un ter an de rem von dem US-ame ri ka ni schen Psy cho lo gen Hal Her zog ein ge fuumlhrt3 Die neue Dis zip lin der Hu manshyAni mal Stu dies kon-zent riert sich weit rei chend da rauf was Men schen und an de re Tie re ver bin det Da bei ver wen de ich den Be griff raquoAn thro zo o-lo gielaquo al ler dings et was an ders als Her zog und die Ver tre ter der Hu man-Ani mal Stu dies Es ist ein et was ein touml ni ger Sport al les 3

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 229783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 22 10082021 10493410082021 104934

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was ge mein hin als raquomensch lichlaquo be trach tet wird als My thos zu ent zau bern Ich moumlch te es lie ber an ders ein bet ten und be wer ten Denn ich mei ne dass die Ver tre ter der Hu man-Ani mal Stu dies ihre De fi ni ti on des Men schen als ein Tier un ter Tie ren nicht ganz zu Ende den ken Denn waumlre der Mensch durch nichts Mensch-li ches grund saumltz lich vom Tier un ter schie den wie sie an neh men so lieszlige sich auch nicht ein for dern dass Men schen sich aus vershynuumlnf ti ger Ein sicht an ge mes sen ge gen uumlber Tie ren ver hal ten sol len

Um mensch li ches Han deln zu ver ste hen muumls sen wir ver ste-hen in wel chem Rah men Men schen die Welt se hen sich ori en-tie ren und han deln Die bei den ers ten Tei le des Bu ches skiz zie-ren die sen bi o lo gi schen und den kul tu rel len Rah men In ih nen moumlch te ich zei gen auf wel che Art und Wei se Men schen sich un-ter Tie ren ver hiel ten und ver hal ten Da bei be schaumlf tigt sich der ers te Teil mit der Fra ge was fuumlr ein spe zi el les Tier der Mensch ei gent lich ist Wie ist sei ne Rol le in der Evo lu ti on Und nach wel chen Denk mus tern ha ben Men schen die se Chro nik un se rer selbst seit der An ti ke ge schrie ben (Die Ord nung der Schoumlpshyfung) Wel che Stel lung hat sich Homo sap iens in der Na tur da-durch ge si chert dass er sie sich zu schrieb (Der Pri mat)

In je der mensch li chen Wis sen schaft vom Le ben be steht bis heu te still schwei gend oder laut hals ver kuumln det zwi schen Mensch und Tier eine Gren ze Doch weiszlig we der die E vo lu ti ons bi o lo-gie noch die Pal aumlo anth ro po lo gie mit Ge wiss heit zu sa gen an wel chem Punkt sich nur ani ma li sches von mensch li chem Le ben schei det Was ha ben Pal aumlo anth ro po lo gen in den letz ten hun dert Jah ren da ruuml ber ge glaubt Und was den ken sie heu te (Der aufshyrech te Affe) Da bei wer den wir se hen dass es mit der Gren ze zwi schen dem Men schen und den an de ren Tie ren eine aumlu szligerst komp li zier te Sa che ist Seit Jahr zehn ten mes sen und ver glei chen Ver hal tens for scher die kog ni ti ven Leis tun gen von Tie ren mit je-nen des Men schen mit dem uumlber ra schen den Er geb nis dass Tie re in na he zu al len raquowich ti genlaquo Punk ten un ter le gen sind bei Kul tur-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 239783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 23 10082021 10493410082021 104934

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leis tun gen wie Werk zeug ge brauch und Re li gi on eben so wie beim Er werb der mensch li chen Spra che Doch ha ben wir bei sol chen Mes sun gen tat saumlch lich den rich ti gen den fai ren Maszlig stab Ist es sinn voll die In tel li genz von Men schen af fen mit uns zu ver glei-chen (Sinn und Sinn lich keit)

Die Mo le ku lar ge ne tik zeigt uns dass Men schen bi o lo gisch Schim pan sen sind Wel che Kon se quen zen zie hen wir da raus (Eins Kom ma sechs Pro zent) Nach dem wir den Men schen auf die se Wei se bi o lo gisch ein ge kreist ha ben wer fen wir noch ei nen Blick da rauf wie ob jek tiv un ser Wis sen vom Men schen und den an de ren Tie ren ist Was koumln nen wir uumlber haupt uumlber das Be wusst-sein an de rer Tie re wis sen Stellt es nicht eine so gro szlige Bar ri e re dar dass wir zu ge ben muumls sen nichts De fi ni ti ves sa gen zu koumln-nen (Die Tuuml cke des Sub jekts)

Im zwei ten Teil wer fe ich ei nen Blick in die Kul tur ge schich te des Mensch-Tier-Ver haumllt nis ses Was ha ben Men schen zu wel cher Zeit uumlber Tie re ge dacht und wa rum Wie hat man sie be han delt Und wel che Sen si bi li taumlt oder Kaumll te setz te sich wa rum durch Was wis sen wir da ruuml ber aus der Jung stein zeit (Die Tund ra des Ge wis sens) Was glaub ten und dach ten die al ten Aumlgyp ter (raquoIch habe kein Tier miss han deltlaquo) Und wa rum ent zau ber te das alte Ju den tum die Tie re (Hir ten und Herr scher)

In der abend laumln di schen Phi lo so phie gibt es seit der An ti ke sehr un ter schied li che Deu tun gen von Tie ren Mal se hen die Den ker eine gro szlige spi ri tu el le oder na tur ge schicht li che Naumlhe mal er he-ben sie den Menschen qua sei ner Ver nunft zum un ein ge schraumlnk-ten Wel ten herr scher (Das ver lo re ne Pa ra dies) In der christ li chen Re li gi on da ge gen wer den Men schen und Tie re deut lich von ei-nan der ge schie den eine Son der an fer ti gung hier eine Drein ga-be dort Das Chris ten tum ent fernt die tier freund li chen Mo men-te der juuml di schen Re li gi on aus den Glau bens leh ren (raquoKuumlm mert sich Gott etwa um die Och senlaquo) An ders ver laumluft der Weg in In di en Chi na und Suumld ost a si en Das Welt bild und die Tier ethik

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 249783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 24 10082021 10493410082021 104934

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von Hin dus und Bud dhis ten un ter schei den sich von der un se-ren (Schein hei li ge Kuumlhe) Im Abend land da ge gen do mi niert in der Nach fol ge des fran zouml si schen Phi lo so phen Reneacute Des car tes eine raquora ti o na lis ti schelaquo kal te Pers pek ti ve auf das Tier Tie re weil sie nicht ver nunft fauml hig sei en wer den kaum noch als Le be we sen wahr ge nom men ndash eine Po si ti on die im 18 Jahr hun dert al ler-dings ziem lich kont ro vers dis ku tiert wird (Die Den ker und das lie be Vieh) Nach und nach ent ste hen im spauml ten 18 Jahr hun dert eine neue Mit leids ethik und so gar ers te For de run gen nach Rech-ten fuumlr Tie re (raquoKoumln nen sie lei denlaquo)

Im drit ten Teil moumlch te ich eine ei ge ne ethi sche Hal tung ent-wi ckeln Zu naumlchst wer den The o ri en von Phi lo so phen des 20 Jahr hun derts vor ge stellt die wie Al bert Schweit zer raquoEhr furcht vor dem Le benlaquo ver lan gen oder Tie ren ei nen ho hen mo ra li schen Sta tus zu spre chen wie Pe ter Sin ger und Tom Re gan (Das ei sershyne Tor) Die se Po si ti o nen zwin gen dazu grund saumltz li cher da ruuml-ber nach zu den ken was das raquoTier rechtlaquo vom raquoTier schutzlaquo un-ter schei den soll (Schutz oder Recht) An schlie szligend moumlch te ich die Schwach stel len der gaumln gi gen Tier rechts phi lo so phi en he raus-ar bei ten und zei gen wa rum ich sie we der dem Men schen fuumlr an-ge mes sen hal te noch fuumlr all ge mein prak ti ka bel (Eine art ge rech te Mo ral) Da ran schlie szligen sich mei ne Uumlber le gun gen an was ein an ge mes se ner Um gang mit Tie ren sein koumlnn te (Gut besser am besten)

Sol cher ma szligen ge ruumls tet koumln nen wir uns im vier ten Teil mit den vie len Prob le men be fas sen die sich im All tag stel len Das ers te die ser Ka pi tel bi lan ziert das all taumlg li che Cha os im Um gang mit Tie ren (Lie ben ndash Has sen ndash Es sen) Da nach wen den wir den Blick auf die recht li che Si tu a ti on und un ter zie hen die Lo gik un-se res Tier schutz ge set zes ei ner ge nau e ren Pruuml fung (Ein kur zer Text uumlber das Touml ten) Das naumlchs te Ka pi tel gilt der Jagd Ist Ja gen art ty pi sches Ver hal ten des Men schen oder eine staat lich le gi ti-mier te Per ver si on (Na tur schutz oder Lust mord) Und wie sieht

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es mit un se rer Er naumlh rung aus Wel che Ar gu men te spre chen da-fuumlr dass Men schen in un se ren heu ti gen west li chen Ge sell schaf-ten noch Tie re touml ten duumlr fen um sich von ih nen zu er naumlh ren Und wel che Ar gu men te spre chen da ge gen Viel leicht gibt es so gar schon in Kuumlr ze ei nen Aus weg der uns end lich hilft die Mas sen-tier hal tung zu be sei ti gen (Jen seits von Wurst und Kaumlse) Eben so stellt sich die Fra ge un ter wel chen Um staumln den Tier ver su che zu-kuumlnf tig er laubt sein soll ten und un ter wel chen nicht (Das Tier als Dum my) Ist es mo ra lisch ver tret bar Tie re in Zo o lo gi schen Gaumlr ten zu hal ten Und wenn ja wel che und wel che nicht (Alshycat raz oder Psycho top) Zoos ver ste hen sich heu te als raquoNa tur-schutz zent renlaquo die Tie re er hal ten die in ih ren Hei mat laumln dern vom Aus ster ben be droht sind Wie ist dies zu be wer ten (Das Zeit al ter der Ein sam keit) Da bei sto szligen wir auf die Schwie rig-keit dass Tier schutz Tier recht und Ar ten schutz kei ne na tuumlr li-chen Ver buumln de ten sind son dern sich in ih rer Phi lo so phie ih rer Welt an schau ung und ih ren Ziel set zun gen stark un ter schei den (Das un ver soumlhn li che Tri um vi rat) Das Schluss wort bi lan ziert die se Er kennt nis se und fragt was wir aus al le dem prag ma tisch fol gern soll ten und in wel chen Schrit ten es ge sche hen koumlnn te (Scho pen hau ers Trep pe)

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Das Men schen tier

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Wahr heit zu hal ten Aber die ses Bild hat sich schon oft ver aumln-dert und es wird sich ge wiss noch wei ter ver aumln dern

Men schen nei gen dazu die Welt in der sie le ben auf zu raumlu-men Es ist eine ziem lich art ty pi sche Ver hal tens wei se Wir sor tie-ren die all taumlg li chen Din ge un se res Le bens und eben so sor tie ren wir die Ge dan ken uumlber die Welt die uns um gibt Jede Ord nung auch die der Na tur ist also ein mensch li cher Ent wurf Und al-lem An schein nach ent stand das Be duumlrf nis die Welt zu ord nen in un se rer Ent wick lungs ge schich te pa ral lel zur Ent wick lung der Spra che Denn ohne die kuumlnst li che Auf raumlum ar beit der Spra che waumlre die Vor stel lung von ei ner raquoOrd nung der Schoumlp funglaquo oder der raquoNa turlaquo nicht moumlg lich

Wer auf die Ord nung an ge wie sen ist be wegt sich gern in den si che ren Gren zen ei nes Sys tems Nur in ner halb ei nes sol chen Ord nungs ge fuuml ges fragt man nach Wahr heit und Gel tung Rich-tig keit Me tho de und Be deu tung Zu leicht uumlber sieht der Ord ner dann die kuumlnst li che Be hau sung und die selbst ge zim mer ten Re-ga le in die er die Welt so sorg faumll tig hi nein sor tiert Sel ten ge lingt ihm ein Blick aus dem Fens ter in die un ge wis se Land schaft die ihn um gibt Und nur ein ge wal ti ger Sturm ein Blitz schlag oder eine Er schuumlt te rung zwingt den Ver wal ter der Welt die si che re Wohn statt zu ver las sen und sich ein an de res Haus zu bau en das den An fein dun gen des neu en Kli mas wi der steht

Erst im Ruumlck blick auf die vie len Irr tuuml mer der Ver gan gen heit er ken nen wir dann un se re ei ge ne Un zu laumlng lich keit beim Auf-raumlu men In der Ge gen wart er scheint uns die je wei li ge Ord nung meis tens so selbst ver staumlnd lich dass wir gern uumlber jede Moumlg-lich keit der Ver aumln de rung lauml cheln So ha ben Men schen mit voumll li-ger Ge wiss heit an ge nom men dass die Erde eine Schei be ist und dass Frau en und Skla ven kei ne Rech te zu ste hen Und mit ei nem eben sol chen Lauml cheln be trach ten wir heu te die Gruumln de mit de-nen Men schen sich im Lau fe der Jahr hun der te von den Tie ren zu un ter schei den glaub ten

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Schon die al ten Grie chen ins be son de re Aris to te les (384 v Chr ndash 322 v Chr) ha ben sich fuumlr die Ge schich te und das in vie len De tails ver bor ge ne Sys tem der Na tur in te res siert Er teilt die Tie re in Klas sen ein ver sucht zu er gruumln den was Le ben ist und schafft da mit die Grund la gen der Zo o lo gie Aber Aris to te-les kennt nur we ni ge hun dert Tie re Eine raquovoll staumln di ge Na tur-ge schich telaquo wird das ers te Mal im 18 Jahr hun dert ge schrie-ben ndash und auch sie ist aumlu szligerst un voll staumln dig Seit dem ver fuuml gen wir nicht nur uumlber ei nen rei chen Vor rat an ge dach ten Ord nun-gen von den Schoumlp fungs my then bis hin zur Mo le ku lar bi o lo gie Wir ken nen auch eine Wis sen schaft die sich raquoTax ono mielaquo nennt und jede Pfan ze und je des Tier sys te ma tisch in eine In ven tar liste der Na tur ein traumlgt

Da bei ver ra ten die Denk sche ma ta der Na tur for scher nicht nur et was uumlber die klas si fi zier te Na tur selbst son dern eben so uumlber das Ord nungs be duumlrf nis und die Pfif fig keit des mensch li-chen Geis tes Das 18 Jahr hun dert ist eine Zeit in der das Buumlr-ger tum an die Macht draumlngt und sich zu neh mend ge gen den Adel auf ehnt Sei ne schaumlrfs te Waf fe ist et was das man raquoVer nunftlaquo oder raquoRa ti o na li taumltlaquo nennt und das man ge gen den Glau ben ins Feld fuumlhrt Fuumlr die Phi lo so phen der Ra ti o na li taumlt ist die Welt kei-ne vor ge fun de ne Schoumlp fung mit fes ter Ord nung son dern et was dass man geis tig durch drin gen und auf sei ne Lo gik und Wi der-spruuml che un ter su chen kann Da bei ge ben zu naumlchst die Phy sik und die Ma the ma tik das Sche ma vor nach dem alle Er kennt nis auch jene von Pfan zen und Tie ren funk ti o nie ren soll Die Sys te ma ti-ker der Na tur ge schich te su chen nach un ver ruumlck ba ren Kri te ri en ob jek ti ven Ge setz mauml szligig kei ten und lo gi schen Ver bin dun gen um die un uuml ber sicht li che Welt der Le be we sen ih rer raquowah ren An ord-nunglaquo ge maumlszlig ein zu tei len Aber nicht alle Na tur for scher glau-ben dass ein sol ches Vor ha ben tat saumlch lich ge lin gen kann Man-che hal ten die Na tur fuumlr zu reich hal tig um sie auf die se Wei se zu klas si fi zie ren Welt an schau un gen tref fen auf ei nan der auf der

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ei nen Sei te der Glau be an ein vom Men schen prin zi pi ell voumll lig durch schau ba res Na tur sys tem auf der an de ren Sei te eine un er-gruumlnd li che Schoumlp fung in der der Mensch sich im mer nur tas-tend fort be wegt

Die ers te Va ri an te gilt im 18 Jahr hun dert als der mo der ne-re An satz Man ori en tiert sich da bei an ei nem Ra ti o na lis mus den Reneacute Des car tes (1596 ndash 1650) schon hun dert Jah re zu vor neu be gruumln det hat Die ser Ra ti o na lis mus ori en tiert sich an der Me cha nik Die Schoumlp fung Got tes er scheint als eine ein zi ge klug aus ge tuumlf tel te Ma schi ne die der Mensch Stuumlck fuumlr Stuumlck zu be-herr schen lernt Und das Uni ver sum be steht aus Ma te rie in Be-we gung or ga ni siert nach ma the ma ti schen Ge set zen Ob gleich das 18 Jahr hun dert zent ra le Spe ku la ti o nen des Phi lo so phen wi-der legt ori en tiert es sich in vie lem an Des car tesrsquo me cha nis ti scher Denk wei se Sie tut dies vor zugs wei se in je nen Dis zip li nen de-ren Er kennt nis fort schritt zu naumlchst ge ring bleibt Und nir gend-wo trifft dies in ei nem sol chen Maszlig zu wie bei der Er for schung der bi o lo gi schen Na tur

Doch die ses Welt bild hat prob le ma ti sche Fol gen Wer die Welt kon se quent nach me cha nis ti schen Grund saumlt zen be trach tet hat fuumlr den Be reich der nicht mensch li chen Na tur we nig Ver staumlnd nis Fuumlr Des car tes sind Tie re nichts als Ma schi nen Es macht kei nen Un ter schied ob eine Ma schi ne die aumlu szlige re Ge stalt und die in ne-ren Or ga ne ei nes Af fen hat oder ob es sich da bei tat saumlch lich um ein le ben des Tier han delt Denn relevantes Le ben kommt fuumlr den Den ker nicht durch zir ku lie ren des Blut und Reizempfindungen in den Koumlrper Son dern bedeutsames Le ben ga ran tie ren ein zig und al lein der er leuch te te Geist und sei ne Spra che

Des car tesrsquo Zeit kennt we der den Be griff des raquoOr ga nis muslaquo die Be son der heit des Le bens noch die Evo lu ti on son dern eben nur die Me cha nik Trotz dem ist sei ne The o rie von den Tie ren als see len lo se Au to ma ten im 17 und 18 Jahr hun dert aumlu szligerst um-strit ten Fran zouml si sche Phi lo so phen schrei ben Buch um Buch uumlber

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die Tier-Fra ge und be feh den sich da bei uumlber mehr als hun dert Jah re Noch weiszlig man nichts von ei ner raquoBi o lo gielaquo Man be treibt eine neue Dis zip lin die sich raquoNa tur ge schich telaquo nennt und da-mit auf raumlumt die Ge schich te von Le be we sen als eine wahl lo se Samm lung von Er zaumlh lun gen an zu se hen Bis her schrie ben Au to-ren um stands los von der Fang wei se der Tie re ih rer Ana to mie ih rer bib li schen und al le go ri schen Be deu tung ih rem prak ti schen Ge brauch ih rer Ver meh rung ih ren Stim men und Spra chen ih-ren Be we gun gen ih rem Al ter und von der Sym pa thie oder An-ti pa thie des Ver fas sers Auch Koch re zep te wur den von Fall zu Fall hin zu ge fuumlgt

Ein zo o lo gi sches Sys tem ist zu An fang des 18 Jahr hun derts weit ge hend un be kannt die Ver wandt schafts ver haumllt nis se der Pfan zen und Tie re sind dif fus ge ahnt und wer den eher nach Le-bens raumlu men be stimmt als nach koumlr per li chen Merk ma len Tie re die nachts ja gen ste hen da bei eben so in ei nem Ord nungs ge fuuml ge wie Tie re die fie gen koumln nen im Wald oder in ei nem See le ben Be reits die Pries ter schrift der bib li schen Ge ne sis hat te die Welt der Tie re und Pfan zen nicht nach ana to mi schen Merk ma len un-ter teilt son dern in Be zug auf den Le bens raum Pfan zen und Tie re des Mee res der Luft und der Erde Uumlber mehr als tau send Jah re kann ten auch der Is lam und die Hin dus Ord nungs sys teme die Tie re in ih rem Oumlko sys tem ver an ker ten

In der hin du is ti schen Samk hya-Tra di ti on exis tie ren vier zehn Klas sen un ter schied li cher Le be we sen ein ge teilt in acht For men himm li scher und sechs ir di scher Le be we sen zu de nen auch der Mensch ge houmlrt Als wei te res Un ter schei dungs merk mal dient die Art und Wei se der Ge burt Im gro szligen in di schen Na ti o nal epos aus dem 4 Jahr hun dert dem Ma hab har ata heiszligt es raquoAuf die ser Erde gibt es zwei Ar ten von Le be we sen die Be weg li chen und die Un be weg li chen Die Be weg li chen ha ben ei nen drei fa chen Schoszlig Sie sind aus dem Ei aus feuch ter Hit ze und Le ben dig-Ge bo re ne Von al len be weg li chen Le be we sen wie de rum sind die je ni gen die

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le ben dig ge bo ren sind hellip die bes ten Die bes ten un ter den le ben-dig Ge bo re nen sind die die zum Men schen ge schlecht ge houml ren und die Nutz tie relaquo4

Die neu en Sys te me des 18 Jahr hun derts be frei en die Na tur-ge schich te von al lem was sich mit den Me tho den der Zeit nicht wis sen schaft lich exakt be schrei ben laumlsst Koch re zep te fal len so-wie so un ter den Tisch aber auch man che Ver hal tens be ob ach-tun gen und vor mals wich ti ge Ei gen schaf ten wie zum Bei spiel der Ge ruch Ge forscht wird mit Lupe und Mik ros kop Li ne al und Pin zet te Der wich tigs te Mann auf die sem Ge biet ist der schwe-di sche Na tur for scher Carl von Linneacute (1707 ndash 1778) Er ori en-tiert sich an Aris to te les den er be wun dert nicht an Des car tes Ge ra de zu re vo lu ti o naumlr de mo kra tisch ent wi ckelt der auf ge klaumlr te Schwe de im 18 Jahr hun dert ein be schrei ben des Sys tem der Na-tur frei vom the o lo gi schen Fir le fanz sei ner Zeit Mit der Ak ri bie ei nes Brief mar ken samm lers dem Voll staumln dig keit mehr be deu tet als das Be stau nen ein zel ner Wer te ord net er die be leb te Na tur nach Ar ten Gat tun gen Ord nun gen und Klas sen Vier Va ri ab len die Form der Ele men te ihre An zahl die raumlum li che An ord nung der Ele men te und ihre re la ti ve Grouml szlige be stimm ten von nun an den Platz im Sys tem

Un ter der Leit dis zip lin der Bo ta nik wan delt sich die Na tur ge-schich te in eine ge ord ne te Welt aus Li ni en und Flauml chen Ent schei-dend sind die sicht ba ren Un ter schei dungs merk ma le wie Bluuml ten und Staub ge fauml szlige Blaumlt ter und Fruumlch te Fuumlszlige und Hufe Fe dern und Flos sen So setzt Linneacute fuumlr jede Pfan zen- und Tier klas se jede Ord nung und Gat tung be stimm te Merk ma le fest die er als die wich ti ge ren er ach te t Denn nur un ter der An nah me sol cher pri vi-le gier ter Struk tu ren ist es ihm moumlg lich die ver schie de nen Spe zi es im Ge samt sys tem un miss ver staumlnd lich zu ras tern Der mensch li che Ord ner be schreibt also nicht ein fach die be leb te Na tur Er fuumlgt ihr auch et was hin zu die Ent schei dung naumlm lich was in der For men-viel falt der Le be we sen wich ti ge Merk ma le sind und was nicht4

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Wie alle da ma li gen Na tur for scher nimmt Linneacute an dass die Ein tei lun gen die der mensch li che Ver stand macht tat saumlch lich ei ner ob jek ti ven Ord nung der Na tur ent spre chen Doch Lin neacutes Sys tem ist wie er selbst weiszlig nicht raquona tuumlr lichlaquo Sei ne Struk tu ren sind kei ne die er in der Na tur als Un ter schei dungs kri te ri en vor-fin det Denn was sich am Schreib tisch nun muumlh sam in Ord nun-gen pres sen laumlsst liegt wie der fran zouml si sche Na tur for scher Mishychel Adan son (1727 ndash 1806) fest stellt in der Wild nis wie Kraut und Ruuml ben durch ei nan der raquohellip eine kon fu se Mi schung aus We-sen hellip die der Zu fall ei nan der an ge nauml hert zu ha ben scheint Hier wird das Gold mit ei nem an de ren Me tall mit ei nem Stein oder mit Erde ge mischt Dort waumlchst die Ei che ne ben dem Veil chen Un ter die sen Pfan zen ir ren eben falls der Vier fuumlszlig ler das Rep til und das In sekt um her Die Fi sche mi schen sich so zu sa gen mit dem waumlss ri gen Ele ment in dem sie schwim men und mit den Pfan zen die auf dem Grun de der Ge waumls ser wach sen hellip Die se Mi schung ist so gar so all ge mein und so viel faumll tig dass sie ei nes der Na tur ge set ze zu sein scheintlaquo5

Der Wi der spruch zwi schen ei ner tax ono mi schen und ei ner oumlko lo gi schen Ord nung der Na tur ist of fen sicht lich Er fin det sich noch heu te in der Dis kus si on um die Aumls the tik von Zoo an la gen Soll man die Tie re nach Ver wandt schafts ver haumllt nis sen sam meln also in Raub tier haumlu sern An ti lo pen haumlu sern und Hirsch an la gen so dass der Be su cher zwi schen den ana to mi schen Be son der hei-ten der Ar ten ndash mit un ter so gar den ge o gra fi schen Va ri an ten ei ner ein zi gen Art ndash zu un ter schei den lernt Oder ge waumlhrt die Nach-ge stal tung ei nes Na tur bi o tops ei ner af ri ka ni schen Sa van ne oder ei nes al pi nen Pa no ra mas den wich ti ge ren Ein blick in die Ord-nung der Na tur

Zwar steht fuumlr Linneacute und sei ne Kol le gen fest dass die raquowah-re Ord nunglaquo der Na tur sich an den koumlr per li chen Merk ma len zu ori en tie ren hat doch muss eine Er klauml rung da fuumlr ge fun den wer-den wa rum die se Ord nung in der frei en Na tur nicht von al lein 5

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sicht bar wird Ohne Zwei fel ist das Sys tem der Na tur kei ne zeit-lo se Schoumlp fung son dern durch Ver aumln de run gen ge kenn zeich net die sich in der Erd ge schich te er eig net ha ben Pa ral lel meh ren sich die Fun de von Fos si li en also von Tie ren die mut maszlig lich aus-ge stor ben sind Es hat al lem An schein nach grouml szlige re ge o lo gi sche Ka tast ro phen in un be kann ter Zahl ge ge ben de nen vie le Ar ten zum Op fer ge fal len sind Doch ha ben die se De sas ter auch zur Ent ste hung von neu en For men ge fuumlhrt

Um den Fak tor der Zeit und sei ne Fol gen fuumlr das Sys tem der Na tur ein zu schaumlt zen gibt es vie le Moumlg lich kei ten Die ein fachs te und mensch lichs te al ler zeit li chen Ord nungs vor stel lun gen ist die Idee al les fol ge ei nem Plan und sei auf ein Ziel hin aus ge rich-tet (Te le o lo gie) Re li gi o nen Phi lo so phi en und Ide o lo gi en funk-ti o nie ren na he zu al le samt ziel ge rich tet Es geht um ein bes se res Le ben auf Er den im Jen seits in ei nem ge rech ten Staat um die Herr schaft uumlber die an de ren uumlber die Pro duk ti ons mit tel oder das Boumlse Selbst un ser All tag ge stal tet sich weit ge hend te le o lo-gisch durch traumlnkt von zu kuumlnf ti ger Er war tung Mo tor jed we-der Te le o lo gie ist der Fort schritts ge dan ke Sein ima gi nauml res Ziel ist der voll kom me ne Zu stand So glau ben christ lich-abend laumln-di sche Ge sell schaf ten gern an eine staumln di ge Ver bes se rung durch An stren gung eine Tu gend die nach cal vi nis ti scher Tra di ti on im Him mel wie auf Er den von Gott ma te ri ell ent lohnt wird Wie na he lie gend also auch in der Na tur die Ent ste hung raquohouml he rerlaquo Le bens for men durch Fort schritt er ken nen zu wol len mit dem End ziel des Men schen

Die Un ord nung der Schoumlp fung mit ei nem goumltt li chen Fort-schritts plan in Ein klang zu brin gen ist das Le bens werk des Schwei zer Na tur for schers und Phi lo so phen Charles Bon net (1720 ndash 1793) Fuumlr Bon net ist die Zahl der Ar ten und ihre aumlu-szlige re Ge stalt von Gott ein fuumlr al le Mal fest ge legt Doch kann sich ein je des Le be we sen per fek ti o nie ren Der Weg vom simp-len Ge muumlt zur ge ni a li schen Leis tung ist vom Schoumlp fer vor ge-

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zeich net Und alle Tie re be schrei ten ihn zeit lich ver setzt nach dem glei chen Mus ter das der Mensch ih nen vor ge lebt hat raquoEs wird ei nen mehr oder we ni ger lang sa men und kon ti nu ier li chen Fort schritt al ler Ar ten zu ei ner houml he ren Ver voll komm nung ge-ben so dass alle Gra de der Stu fen lei ter in ei ner de ter mi nie ren den und kons tan ten Be zie hung fort ge setzt va ri a bel sein wer den hellip Es wird un ter den Af fen Leu te wie New ton und un ter Bi bern wie (den Fes tungs bau meis ter RDP) Vau ban ge ben Die Aus-tern und die Po ly pen wer den in Be zie hung zu den houmlchs ten Ar-ten das sein was die Vouml gel fuumlr die Vier fuumlszlig ler im Ver haumllt nis zum Men schen sindlaquo6

Seit Bon net ist die Vor stel lung von der raquoLei ter der Na turlaquo der Sca la nat urae ein wich ti ges In ven tar des na tur ge schicht-li chen Den kens Fort schritt Ver voll komm nung und goumltt li cher Plan ndash die se drei Grouml szligen be stim men die Vor stel lung vom Wer-den der Na tur vom 18 Jahr hun dert bis in die Ge gen wart hi nein Das Prin zip nach dem die Evo lu ti on Le ben her vor bringt sei un ver meid lich und von An fang an vor her be stimmt Nicht we-ni ge E vo lu ti ons the o re ti ker ha ben dies eben falls ge glaubt und zwar mit be acht li cher Kon ti nu i taumlt Der eng li sche Na tur for scher Alf red Rus sel Wall ace (1823 ndash 1913) der ge mein sam mit Dar win die The o rie der na tuumlr li chen Se lek ti on ent wi ckelt hat te hielt nicht nur den mensch li chen Geist und sein Mo ral emp fin den son dern zu dem auch die wei che nack te emp find sa me Haut des Men-schen fuumlr das Re sul tat ei ner not wen di gen Ent wick lung

Doch schon im 18 Jahr hun dert reg ten sich zu gleich vor sich-ti ge Zwei fel an der Stim mig keit ei ner sol chen Vor ge formt heit Denn wie soll te man Na tur ka tast ro phen be wer ten Waumlh rend die meis ten Na tur for scher sie als Teil des goumltt li chen Schoumlp-fungs plans in ter pre tier ten zo gen an de re ver gleichs wei se fins te-re Schluumls se Und so wur de tat saumlch lich ein gro szliges Erd be ben zum in di rek ten Aus louml ser der Evo lu ti ons the o rie naumlm lich je nes von Lis sa bon im Jahr 1755 Wer uumlber die Ka tast ro phe nach dach te 6

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konn te star ken Zwei fel da ran he gen dass die Welt ord nung aus-ge kluuml gelt und har mo nisch sei

Die wei test rei chen den Schluss fol ge run gen zog der eng li-sche Pfar rer und Na ti o nal oumlko nom Tho mas Ro bert Malt hus (1766 ndash 1834) Nicht nur die ge o lo gi sche Na tur und ihr Ge-fah ren ri si ko son dern auch die Ver meh rung der Be voumll ke rung wur de nun als Uumlbel er kannt Im Jahr 1798 pub li zier te Malt-hus sei nen Es say on the Princi ple of Po pu la ti on (Das Be voumllshyke rungs ge setz) die ers te Mahn schrift vor den Ge fah ren ei ner Be voumll ke rungs ex plo si on Bei ei ner Ver dop pe lungs ra te der Welt-be voumll ke rung in ner halb von fuumlnf und zwan zig Jah ren er rech ne-te Malt hus wer de ihr exponent iel les An wach sen auf grund der von der Um welt ge setz ten Gren zen not wen dig zu Ar mut Ka-tast ro phen und Tod fuumlh ren Der bib li sche Auf trag raquoSeid frucht-bar und meh ret euchlaquo er schien mit ei nem Mal als ein Fluch Ein gna den lo ser raquoKampf ums Da seinlaquo (strugg le for life) war ent fes selt Das Ein zi ge was blieb war die Hoff nung die ka-tast ro pha len Fol gen der goumltt li chen An wei sung so weit wie moumlg lich ein daumlm men zu koumln nen

In ei ner Zeit als die Ge sell schafts the o rie noch der Bi o lo-gie den Leuch ter vo ran und nicht wie heu te die Schlep pe hin-terh er traumlgt be geis tert sich vor al lem ein eng li scher Dorf pfar rer Charles Dar win (1809 ndash 1882) fuumlr die Malt hus rsquoschen Ge set ze Denn wenn es rich tig ist dass sich ein Tier mit ei ner so ge rin-gen Ver meh rungs ra te wie der Mensch ge gen uumlber sei nen Art ge-nos sen durch setz te so gab es sicht lich an de re Kri te ri en fuumlr die Uumlber le bens fauml hig keit ei ner Po pu la ti on als die Zahl ih rer Ge bur-ten Der Maszlig stab fuumlr den Er folg ei ner Spe zi es war ihr Durch set-zungs ver mouml gen oder wie Dar win es spauml ter in den Prin zi pi en der Bio logie des jun gen Phi lo so phen Her bert Spen cer (1820 ndash 1903) le sen konn te raquothe sur vi val of the fit testlaquo

Dar wins na tur kund li che Stu di en wa ren ur spruumlng lich von dem Ge dan ken be seelt die nicht a ni ma li sche Iden ti taumlt des Men schen

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zu be wei sen Erst der Sieg des Ent de cker stol zes uumlber das Ent-set zen ver lieh ihm schlieszlig lich den Mut den be ruumlhm ten Satz zu schrei ben raquoUnd ich bin bei na he uumlber zeugt (der Mei nung mit der ich an die Fra ge he ran ge tre ten bin voumll lig ent ge gen ge setzt) dass die Spe zi es (mir ist es als ge staumln de ich ei nen Mord ein) nicht un ver aumln der lich sindlaquo7

Dar wins kuumlh ne Ver mu tung war nicht ganz neu Be reits ein hal bes Jahr hun dert zu vor hat ten der fran zouml si sche Na tur for scher GeorgesshyLou is Lec lerc Comte de Buf fon (1707 ndash 1788) und der Phi lo soph De nis Dide rot (1713 ndash 1784) uumlber eine Ver aumln de-rung der Ar ten spe ku liert Be son ders JeanshyBap tiste de La marck (1744 ndash 1829) be haup te te die all maumlh li che Ent wick lung der Ar-ten aus pri mi ti ve ren Vor for men die so ge nann te Trans mu ta ti on La marck war nicht nur ein Pi o nier der mit Jahr mil li o nen han-tier te als alle Welt die Erde noch ei ni ge tau send bis hun dert tau-send Jah re jung waumlhn te son dern er praumlg te (zur glei chen Zeit wie zwei deut sche Na tur for scher) das Wort Bi o lo gie Bei ihm wan del ten sich die Le be we sen da durch dass sich ihre koumlr per-li chen An stren gun gen auf ihr Erb gut aus wir ken Da bei nahm er al ler dings nicht an dass die Ar ten aus ei nan der her vor ge hen wie Dar win es spauml ter tat La ma rcks The o rie ist nauml her an je ner von Bon net Fuumlr ihn ver voll komm nen die ein zel nen Tier ar ten im Lau fe der Zeit ihre An la gen und ent wi ckeln sich da durch im-mer houml her Be son ders voll kom me ne Tie re wie der Mensch sind dem nach sehr alt denn sie ha ben ei nen wei ten Weg von ei nem pri mi ti ven Or ga nis mus bis hin zur heu ti gen Ge stalt hin ter sich ge las sen An de re wie der pri mi ti ve Suumlszlig was ser po lyp ha ben ihre Rei se durch die Zeit ge ra de erst an ge fan gen

La marck war kein Charis mati ker und die zo o lo gi sche All-macht sei nes Vor ge setz ten am Jar din des Plan tes in Pa ris des Ba rons George Cu vier (1769 ndash 1832) ver hin der te dass man sich all zu sehr mit sei nen The o ri en be schaumlf tig te Cu vier war ein be-deu ten der Mann An die Stel le ei ner nach bo ta ni schem Mus ter 7

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ver fah ren den Zo o lo gie setz te er eine neue Wis sen schaft die sich we ni ger an aumlu szlige ren Merk ma len als am Or ga nis mus der Tie-re ori en tier te Doch was die Trans mu ta ti on an be lang te blieb der Ober auf se her der pro tes tan tisch-the o lo gi schen Fa kul tauml ten Frank reichs beim kon ser va ti ven Mo dell Er ver brei te te wei-ter hin eine Ket te von Na tur ka tast ro phen habe als mo di fi zier-te Sint fu ten gan zen Klas sen von Tie ren den Gar aus ge macht Die se The o rie ist weit ge hend rich tig al ler dings schlieszligt sie die Trans mu ta ti on nicht aus

Das wirk lich Re vo lu ti o nauml re an La marck war die Idee die Ge schich te der Na tur nicht vom Men schen aus bis hi nun ter zur Bak te rie zu schrei ben son dern um ge kehrt von der Bak te rie zum Men schen Aus ei nem Mo dell der raumlum li chen Hie rar chie wur de ein Mo dell der zeit li chen Ent wick lung La marck er kann te zu-dem dass das Be wusst sein ei nes Tie res an die Phy si o lo gie und Neu ro lo gie sei nes Koumlr pers ge bun den ist Dem nach ist je der Geist ers tens be grenzt und zwei tens ver aumln der lich

Die phi lo so phi sche Kon se quenz aus La ma rcks Den ken ist so ra di kal dass sie fast ein hun dert fuumlnf zig Jah re lang von nie man-dem ernst haft in Be tracht ge zo gen wur de Wie kann ein Geist der den Ge set zen der Evo lu ti on un ter wor fen ist sich ei gent lich an ma szligen die Na tur der Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Von die ser Schluss fol ge rung woll te die Bi o lo gie al ler dings bis weit ins 20 Jahr hun dert hi nein nicht viel wis sen

Auch Dar wins The o rie von der na tuumlr li chen Se lek ti on der Le be we sen im Rin gen um ihr Le ben und mit der Um welt ent-wi ckel te sich wei ter Ge witz ten Zeit ge nos sen wie Karl Marx (1818 ndash 1883) war auf ge fal len wie stark Dar wins Den ken dem Zeit geist des Vik to ri a ni schen Zeit al ters ver haf tet war raquoEs ist merk wuumlr dig wie Dar win un ter Bes ti en und Pfan zen sei ne eng li-sche Ge sell schaft mit ih rer Tei lung der Ar beit Kon kur renz Auf-schluss neu er Maumlrk te rsaquoEr fin dun genlsaquo und Malt hus schem rsaquoKampf ums Da seinlsaquo wie der er kenntlaquo8 Die Be to nung des Malt hus rsquoschen 8

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Kamp fes von je dem ge gen je den und auch der Fort schritts glau-be in Dar wins Den ken zei gen ihn stark sei ner Zeit ver haf tet

Eine an de re Kri tik kam aus der Bi o lo gie selbst Dar win hat-te noch nichts von Ge nen ge wusst So konn te er nicht er klauml ren was sich bi o che misch er eig ne te wenn Ar ten sich ver aumln der ten Der raquoDar wi nis muslaquo der Jahr hun dert wen de gab schlieszlig lich die Hoff nung auf die Evo lu ti on lie szlige sich al lein durch die na tuumlr li-che Se lek ti on der Ar ten nach Maszlig ga be ih rer An pas sungs fauml hig-keit an die Um welt be gruumln den Man ent deck te die Rol le der Ge-ne tik und zum neu en Er klauml rungs prin zip wur de das Mo dell der zwei Kons t ruk teu re Das Spiel des Le bens er hielt ei nen Wuumlr fel zu faumll li ge Ver aumln de run gen im Gen ma te ri al also so ge nann te Mu tashyti o nen Im Tri alshyandshyEr ror-Ver fah ren ent ste hen im Erb gut ge le-gent lich Ab wei chun gen die dann er folg reich sind wenn sie sich in der Um welt be waumlh ren Da mit war die Idee vom Tisch dass sich neu er wor be ne Ei gen schaf ten oder raquodie ana to mi schen Aus-wir kun gen koumlr per li cher An stren gun genlaquo wie La marck mein te ver er ben koumlnn ten Noch Dar win hat te dies fuumlr denk bar ge hal ten So ver trau te er Er zaumlh lun gen wo nach bei je nen Volks grup pen zu de ren Ri ten die re gel mauml szligi ge Be schnei dung der Pe nis vor haut ge houmlrt sich die Vor haut all maumlh lich ver kuumlrz te Das haumlt te zwar die Be schnei dung uumlber fuumls sig ge macht aber Dar win hat te ge ra-de an de res Ge wich ti ges zu be den ken als da ruuml ber nach zu sin nen

Die Ver kuumlr zung der Vor haut blieb im Wis sens schatz der Dar wi nis ten bis Au gust Weis mann (1834 ndash 1914) im spauml ten 19 Jahr hun dert nach wies dass ein sol cher In for ma ti ons fuss vom aumlu szlige ren Er schei nungs bild zum Erb ma te ri al nicht moumlg lich sei Uumlber fuumlnf Ge ne ra ti o nen kuumlrz te Weis mann ei nem Stamm von Maumlu sen ihre Schwaumln ze ohne dass eine Nach richt uumlber die sen Ein griff die Keim bah nen der Maumlu se er reich te Denn sie he da Auch die Schwaumln ze der nach fol gen den Maumlu se ge ne ra ti o nen blie-ben gleich lang Da be durf te es schon der Spitz fin dig keit des iri schen Dich ters George Bern ard Shaw (1856 ndash 1950) der Weis-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 419783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 41 10082021 10493410082021 104934

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manns schnei den de Wi der le gung der La marckrsquo schen The o rie leicht fer tig vom Se zier tisch wisch te Die Maumlu se be merk te der Dich ter haumlt ten gar kei ne An stren gun gen un ter nom men ihre Schwaumln ze zu ver lie ren waumlh rend sich die Tie re bei La marck ja da rum be muumlht haumlt ten sich zu ver aumln dern

Im Nach hi n ein also war es der pauml da go gi sche Op ti mis mus der La marck in die Irre ge fuumlhrt ha ben soll te So mach te die Hoff-nung auf ei nen ethisch an spre chen den E vo lu ti ons ver lauf ndash die Er war tung die Mensch heit ent wick le sich qua An pas sung an das so zi a le Mi li eu durch Selbst er zie hung zum Bes se ren ndash nur noch eine et was ab sei ti ge Kar ri e re im staats so zi a lis ti schen Bi o lo gie-un ter richt der Sow jet u ni on Wie kalt da ge gen der uumlber le ge ne raquoKampf ums Da seinlaquo der ja ein Kampf um die Fleisch toumlp fe ist ohne Hoff nung der Mensch wer de den kuumlh nen Geist statt sei-nes ma te ri a lis ti schen Gier hal ses nach Houml he rem stre cken Und ein zig die Kir che be wahr te un ver dros sen ei nen la marc kis ti schen Ge dan ken ndash al ler dings ei nen pes si mis ti schen und kei nen op ti-mis ti schen In bes ter Schuumlt zen hil fe fuumlr den fran zouml si schen Che-va li er ver tei digt sie bis heu te ihr mo le ku lar ge ne tisch be denk li-ches Dog ma Adams Un ge hor sam im Gar ten Eden habe zu ei ner raquoErb suumln delaquo ge fuumlhrt die da rauf hin auf alle zu kuumlnf ti gen Ge ne ra-ti o nen uumlber ge gan gen sei

Im mer hin sind in den bei den letz ten Jahr zehn ten ei ni ge Bi o-lo gen wie der et was of fe ner da fuumlr ge wor den der Ver er bung er-wor be ner Ei gen schaf ten ei nen Platz in der Ge ne tik zu las sen Zwar ver er ben sich psy chi sche und phy si sche Le bens er fah run-gen nicht durch ver aumln der te Gene Aber es koumlnn te doch sein dass jene Schal ter die da ruuml ber be stim men wel che ge ne ti sche In for-ma ti on wei ter ge ge ben wird und wel che nicht durch Um welt-ein fuumls se ver aumln dert wer den Uumlber le gun gen wie die se be schaumlf ti-gen so ge nann te Epi gen eti ker seit ei ni ger Zeit sie ha ben ei nen wach sen den Ein fuss auf un se re Vor stel lung von der Evo lu ti on

Die heu ti ge Leit dis zip lin die uns die Ver wandt schaft des Le-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 429783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 42 10082021 10493410082021 104934

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bens ent schluumls seln soll ist die Ge ne tik Wir un ter su chen die Sum-me al ler ge ne ti schen In for ma ti o nen und re gist rie ren da bei Uumlber-ein stim mun gen und Ab wei chun gen mit an de ren Ar ten Doch der Pro zess die Na tur un se rer Na tur zu er ken nen ist noch lan ge nicht ab ge schlos sen und wird wohl auch nie ab ge schlos sen sein Wir wen den Ord nungs sche ma ta auf The o ri en und The o ri en auf Be ob ach tun gen an Nur so kom men wir zu Kau sa li tauml ten und Ge-set zen Doch ihre Be deu tung ver aumln dert sich in dem Maszlige wie wir den Blick punkt un se rer Auf merk sam keit wie der ver la gern Die ser Vor gang des Ent dec kens und des Ver de ckens durch neue Denk sche ma ta ist prin zi pi ell nicht ab schlieszlig bar denn selbst ge-gen waumlr ti ge Evo lu ti ons the o ri en un ter lie gen wei ter hin der Evo-lu ti on

Er staun li cher wei se hat die mo der ne Evo lu ti ons the o rie nur zu ei ner ge ring fuuml gi gen Kor rek tur al ter Denk sche ma ta ge fuumlhrt Wie fruuml her in der Na tur ge schich te er ken nen wir heu te in der Bi o lo gie uumlber all Re gel haf tigk eit Not wen dig keit und Vor tei-le Doch bei nauml he rer Sicht er weist sich die Evo lu ti on ge ra de zu als Herr schafts ge biet der Aus nah men uumlber die Re geln Sie ist eine raquoZweck mauml szligig keit ohne Zwecklaquo wenn auch al lein fuumlr die 01 Pro zent der heu te noch ndash oder ge ra de ndash exis tie ren den Spe-zi es nicht aber fuumlr die 999 Pro zent die in den Ur fu ten dem Ord ovizium dem Perm der Krei de oder dem Ter ti aumlr das Welt-li che seg ne ten E vo lu ti ons bi o lo gen su chen in der Ge schich te der Na tur uumlber all nach Vor tei len die das Uumlber le ben von Ar ten er-klauml ren sol len Da bei ver men gen sie oft zwei ver schie de ne Vor-teils be grif fe Ein mal geht es um Mu ta ti o nen die si tu a tiv vor teil-haf te Ei gen schaf ten fuumlr eine Tier art her vor ge bracht ha ben sol len Eine grouml szlige re Sta tur ein pom pouml se res Ge weih ein staumlr ke res Ge biss sol len Weib chen be ein dru cken und die Nach kom men schaft er-houml hen Da die se Ei gen schaf ten aber oft nichts nuumlt zen wenn der Zu fall die Spiel re geln der Um welt aumln dert gibt es ei nen zwei ten Vor teils be griff Da nach ist das vor teil haft in der Evo lu ti on was

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 439783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 43 10082021 10493410082021 104934

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vom Ende her be trach tet dazu ge fuumlhrt hat dass eine Art uumlber-lebt Nach die ser Sicht wei se kann der mick rigs te Pa vi an auf dem Fel sen sei ne Gene wei ter ge ben wenn die staumlr ke ren Kon kur ren-ten bei ei nem Erd be ben ums Le ben ge kom men sind

An ge sichts zwei er so un ter schied li cher Be deu tun gen von raquoVor teillaquo fragt es sich ob der Be griff in der Evo lu ti ons the o rie uumlber haupt sinn voll ver wen det wer den kann Tat saumlch lich ist er ein Erbe der The o lo gie des 17 und 18 Jahr hun derts die uumlber-all in der Na tur nach der klu gen Ver nunft Got tes such te Dar win kann te die se Tra di ti on gut Als Stu dent ver ehr te er den The o lo-gen Will iam Pa ley (1743 ndash 1805) der na tur kund lich be schla gen die goumltt li che Vo raus sicht auf den neu es ten Stand ge bracht hat te Als Dar win sich von Gott ver ab schie de te und die na tuumlr li che Se-lek ti on er kann te er setz te er uumlber all wo Pa ley raquoGod doeslaquo ge-schrie ben hat te den Satz durch raquoNat ure doeslaquo An Pa leys Vor-stel lung dass die Na tur zweck mauml szligig ein ge rich tet sei und Vor tei le be loh ne hielt Dar win eben so fest wie vie le spauml te re E vo lu ti ons-the o re ti ker

Die Fra ge ist des halb wich tig weil sie zeigt wie eng un se re Vor stel lung von der Na tur bis hi nein in die mo der ne Evo lu ti-ons the o rie von sehr mensch li chen Vor stel lun gen durch setzt ist Statt Vor tei le zu be nen nen wuumlr de es naumlm lich auch aus rei chen zu sa gen dass al les in der Na tur uumlber le ben kann das fuumlr eine Art kei nen toumld li chen Nach teil hat te Ver mut lich uumlber lebt in der Evo lu ti on nicht nur Zweck mauml szligi ges son dern jede Ver aumln de rung die zu min dest nicht zum Aus ster ben fuumlhr t und moumlg li cher wei se liegt ge ra de hie rin der Grund fuumlr eine gro szlige Ar ten viel falt

Die tra di ti o nell ver eng te Sicht wei se gilt ins be son de re bei der Be trach tung des Men schen E vo lu ti ons bi o lo gen koumln nen zahl-rei che Vor tei le be nen nen die er klauml ren wa rum die mensch li che Art so er folg reich ist Men schen sind aumlu szligerst an pas sungs fauml hig und be sie deln fast alle Le bens raumlu me sie sind Al les fres ser mit ei ner gro szligen Nah rungs band brei te sie ha ben eine fe xib le So zi-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 449783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 44 10082021 10493410082021 104934

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al struk tur und ver fuuml gen uumlber ein Selbst be wusst sein das es ih-nen er moumlg licht ihr Ver hal ten zu kor ri gie ren So ge se hen ist der Mensch gleich sam das op ti mal ste al ler Tie re Doch alldem zum Trotz exis tie ren Men schen der Gat tung Homo sap iens erst seit rund 100 000 Jah ren und ihre lang fris ti gen Zu kunfts chan cen ste hen schlecht Denn mit all den vor teil haf ten Ei gen schaf ten ha-ben Men schen in Re kord zeit ihre Um welt zer stoumlrt und das lang-fris ti ge Uumlber le ben der Spe zi es dra ma tisch in fra ge ge stellt Die mit we ni ger spek ta ku lauml ren Vor tei len aus ge stat te ten Di no sau ri-er exis tier ten auf un se rem Pla ne ten hun dert fuumlnf zig Mil li o nen Jah re ganz zu schwei gen von den seit uumlber vier hun dert Mil li o-nen Jah ren na he zu un ver aumln der ten Nau til iden und Ur schne cken

Ge si chert in der Evo lu ti ons the o rie ist dass kei ne ih rer An nah-men ge si chert ist E vo lu ti ons bi o lo gen die ihre Sa che ernst neh-men muumls sen im mer auch die E vo lu ti ons be dingt heit ih res ei ge-nen Er kennt nis ap pa rats ref ek tie ren also mit hin die Evo lu ti on al ler mensch li chen Er kennt nis raquoLetzt lich istlaquo wie der Neuro bio-lo ge Ger hard Roth schreibt raquoje des Nach den ken uumlber die ob jek-ti ve Re a li taumlt sei es wis sen schaft lich oder nicht an die Be din gun-gen mensch li chen Den kens Spre chens und Han delns ge bun den und muss sich da rin be waumlh renlaquo9

Man muss ref ek tie ren dass die un ver meid li chen Ord nungs-mit tel des Geis tes das Den ken und die Spra che nicht die Wirk-lich keit raquoan sichlaquo auf raumlu men Sie sind Mo del le die die un ver-fuumlg ba re Wirk lich keit nach Maszlig ga be der ei ge nen Spiel re geln er klauml ren Nicht erst seit Er for schung der Evo lu ti on in den letz-ten zwei hun dert Jah ren muumlht sich der mensch li che Geist dem Lauf der Welt ei nen ndash nach mensch li chem Er mes sen ndash raquover nuumlnf-ti genlaquo Sinn zu ge ben Doch das Pa ra do xe der Ge schich te liegt da rin dass der mensch li che Geist selbst Pro dukt evo lu ti o nauml rer Pro zes se ist Er ist Maszlig stab und Ge mes se nes zu gleich

An eine tat saumlch lich ob jek ti ve Er kennt nis der Evo lu ti on waumlre nur halb wegs sinn voll zu den ken wenn die Evo lu ti on des Men-9

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 459783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 45 10082021 10493410082021 104934

schen ab ge schlos sen ist und da mit die Stu fe der groumlszligt moumlg li chen Voll kom men heit er reicht hat In den Zei ten vor La marck und Dar win ha ben das nicht nur The o lo gen son dern auch die Na tur-for scher fast al le samt ge glaubt Das mensch li che Be wusst sein sei die un uuml ber trof fe ne Spit zen leis tung des Schoumlp fer got tes ge schaf-fen die Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Sei nen schoumlns-ten Aus druck fand die se Sicht in ei nem Aus spruch des jun gen Phi lo so phen Fried rich Wil helm Jo seph Schel ling (1775 ndash 1854) Er mein te dass der Mensch je nes We sen sei raquoin dem die Na tur das Auge auf schlaumlgtlaquo und sich da mit ih rer selbst be wusst wird Ein huumlb scher Satz aber doch viel zu pa the tisch for mu liert Von der vol len Er kennt nis der Na tur und un se rer selbst sind wir noch im mer weit ent fernt Aber wir koumln nen da ruuml ber stau nen dass die Evo lu ti on mit uns ein Le be we sen her vor ge bracht hat in dem die Na tur sich fuumlr sich selbst fa szi nier bar ge macht hat Wie hat te es dazu kom men koumln nen

bull Der Pri mat Was ist ein Mensch

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ver waist sein Die Mensch heit wird er wacht sein und die Welt je-nes Ge sicht er hal ten ha ben das uns ge gen waumlr tig er scheint Doch wie sah das aus als die Na tur das ers te Mal in ei nem af fen aumlhn-li chen We sen die Au gen auf schlug War es auf ei ner Wald wie-se in ei nem Hain an ei nem Berg hang oder auf ei ner Lich tung War das er leuch te te We sen ein Maumlnn chen oder ein Weib chen Ging es den gan zen Tag auf recht oder saszlig es noch ger ne in der Ho cke eng ge kau ert an sei ne Bruuml der und Schwes tern Und war es eine Ein ge bung ein Blitz schlag als das Selbst be wusst sein das ers te Mal die Fes seln des Pri ma ten ge hirns spreng te

Wir wis sen nicht wo ran Schel ling dach te als er mein te die Na tur habe im Men schen ihr Auge auf ge schla gen Si cher dach te er nicht an ei nen ein zi gen Mo ment dem Mil li o nen an de re folg-ten Er dach te an den raquoMen schen an sichlaquo Und er wuss te nichts vom ost af ri ka ni schen Great Rift Val ley und von haa ri gen Vor-men schen die dort einst haus ten Er leb te in Jena und in Muumln-chen und ei nen Men schen af fen hat te Schel ling nie ge se hen Der ein zig ar ti ge Mo ment in dem die Na tur sich ih rer selbst be wusst wird bleibt eine Me ta pher

Doch wie wur de der Mensch nun tat saumlch lich zum Men-schen Die For mu lie rung ist dop pel deu tig Denn wie der Mensch zum Men schen wur de ndash das ist nicht ein evo lu ti o nauml rer Pro-zess auf der lee ren Welt buumlh ne son dern ein Spiel von Be ob ach-ter und Be ob ach te tem Schau spie ler und Zu schau er Ge schich-te auch Ent wick lungs ge schich te ist nichts Vor ge fun de nes Der Mensch schrieb der fran zouml si sche Phi lo soph JeanshyPaul Sart re (1905 ndash 1980) macht sich selbst wie der Ro man schrift stel ler sei ne Fi gu ren Er ist ge fer tigt aus bi o lo gi schen (ana to mi schen neu ro lo gi schen und phy si o lo gi schen) Be stand tei len zu al ler meist je doch durch jene we nig bi o lo gi schen Weis hei ten mit de nen sich die se Subs tan zen selbst zum raquoMen schenlaquo er ko ren

Das Glei che gilt fuumlr die mensch li che Stam mes ge schich te Auch sie ist zu naumlchst ein mal eine Ge schich te Ihre Ur spruumln ge lie gen im

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al ten Grie chen land als Aris to te les den Men schen und den Af-fen ver wandt schaft lich na he ruumlckt raquoMan che Tie re ste hen zwi-schen Mensch und Vier fuumlszlig ler in ih rem We sen wie Af fen Meer-kat zen und Pa vi a ne hellip Ihr Ge sicht hat vie le Aumlhn lich kei ten mit dem des Men schen Nase und Oh ren glei chen den sei nen und Zaumlh ne hat er auch wie ein Mensch die Vor der zaumlh ne wie die Ba cken zaumlhnelaquo10 Auch Aris to te lesrsquo Schuuml ler The oph rast (ca 370 v Chr ndash ca 288 v Chr) be steht auf der Aumlhn lich keit zwi schen Men schen und Tie ren Er lehnt es so gar ab Fleisch zu es sen oder Tie re zu op fern da man sei ne Ver wand ten nicht ver spei se

Aris to te les und The oph rast stell ten den Men schen zwar ne-ben den Af fen ndash Men schen af fen kann te man noch nicht ndash aber die al ten Grie chen hat ten ihn nur sehr un ge faumlhr zu ei nem Tier un ter Tie ren er klaumlrt Den naumlchs ten Schritt mach te mehr als zwei-tau send Jah re spauml ter Carl von Linneacute An der Zu ge houml rig keit des Men schen zu den Saumlu ge tie ren be stand fuumlr den Schwe den kein Zwei fel die Be haa rung und das Stil len der Jun gen be lehr ten un-miss ver staumlnd lich da ruuml ber Auch die Ver wandt schaft mit Af fen und Men schen af fen stand au szliger Fra ge Hier wa ren es die fa chen Fin ger- und Fuszlig nauml gel statt der Klau en der ab ge spreiz te Dau-men die Greif haumln de die zwei Zit zen der Weib chen und der frei he run ter haumln gen de statt am Un ter leib an lie gen de Pe nis ndash Merk-ma le die groumlszlig ten teils auch schon Aris to te les auf ge fal len wa ren

Doch Linneacute zouml ger te vor der Kon se quenz Haumln de rin gend such-te der got tes fuumlrch ti ge Ana tom nach ei nem Un ter schied zwi schen dem Men schen und den uumlb ri gen von ihm so ge nann ten raquoPri ma-tenlaquo raquoIch ver lan gelaquo schrieb er 1747 sei nem deut schen Freund Jo hann Ge org Gme lin raquovon Ih nen und von der gan zen Welt dass Sie mir ein Gat tungs merk mal zei gen hellip auf grund des sen man zwi schen Mensch und Affe un ter schei den kann Ich weiszlig selbst mit aumlu szligers ter Ge wiss heit von kei nemlaquo11

Nach sei nen Kri te ri en haumlt te Linneacute den Men schen zu min dest mit dem Schim pan sen ge mein sam in die sel be Gat tung ein ord-10

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nen muumls sen Der Ge dan ke schweb te zeit gleich auch dem Phi lo so-phen JeanshyJacques Rous seau (1712 ndash 1778) vor als er Schim pan-sen Orang-Ut ans und Men schen so gar als Ver tre ter der Spe zi es Mensch an sah Rous seau hat te nie ei nen Men schen af fen ge se-hen Aber die Be rich te die er von Ex pe di ti o nen nach Af ri ka und Suumld ost a si en las lie szligen in ihm kei nen Zwei fel dass die da rin be schrie be nen Men schen af fen raquowe der Tie re noch Goumlt ter son-dern Men schenlaquo sei en12 Fuumlr den Auf klauml rer wa ren Men schen af-fen edle Wil de die von kei ner Zi vi li sa ti on in ih rem fried fer ti gen We sen zer stoumlrt sei en an ders als die Men schen in Eu ro pa Eben-so dach te we nig spauml ter der schot ti sche Sprach for scher James Bur nett Lord Mon boddo (1714 ndash 1799) Auch er be trach te te den Orang-Utan als ei nen Men schen naumlm lich als ei nen raquosprach-losen Wil denlaquo

In ter pre ta ti o nen wie Rous seau sie in Pa ris und Bur nett bald da rauf in Kin card ines hire wag ten wa ren Linneacute im schwe di schen Upp sa la fremd Den Men schen ins Tier reich ein zu ord nen war in den Au gen der stren gen pro tes tan ti schen Kir che Suumln de ge nug und Linneacute zouml ger te den letz ten Schritt zu tun In sei ner Not sor-tier te er 1758 ach sel zu ckend Mensch und Schim pan se in un ter-schied li che Gat tun gen zu sam men ge fasst in der Ord nung der Pri ma ten in der sie auch heu te noch mehr schlecht als recht huumlbsch ge trennt ne ben ei nan der ho cken Homo sap iens der raquoin-tel ligi ble Menschlaquo und Pan trog lody tes der raquohoumlh len be woh nen-de Faunlaquo

So weit so schoumln Der Mensch wur de der obers te Pri mat das houmlchs te raquoHer ren tierlaquo Linneacute be kam kei nen Aumlr ger mit der Kir-che und die Na tur wis sen schaft den gro szligen Wurf des Linneacute rsquoschen Sys tems Wenn nur die se Nach barn nicht wauml ren Seit Be kannt-wer den der Men schen af fen be muumlh ten sich Wis sen schaft ler und The o lo gen im mer wie der um den Ver such den klei nen Gra ben mit gro szligen Was sern zu fuumll len der Homo sap iens und Pan troshyglody tes bei ih rer ord nungs ge mauml szligen Ver ge sell schaf tung auf der 12

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 509783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 50 10082021 10493510082021 104935

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Af fen in sel trennt Sie eva ku ier ten den Men schen vom Pri ma ten-fel sen und schu fen ihm eine ei ge ne Ord nung

In die ser Vor stel lungs welt wuchs auch der The o lo gie stu dent Charles Dar win auf Das fruuml he 19 Jahr hun dert war eine got-tes fuumlrch ti ge bie der mei er li che Zeit Doch je mehr er sich mit der Ver aumln de rung der Ar ten be schaumlf tig te umso deut li cher wur de Dar win dass es mit der of fi zi ell be kun de ten Son der stel lung des Men schen im Uni ver sum nicht weit her sein konn te So no tier te er schon er staun lich fruumlh in sein Ta ge buch raquoDer Mensch haumllt sich in sei ner Ar ro ganz fuumlr ein groszlig ar ti ges Werk des be son de ren Ein grei fens ei ner Gott heit wuumlr dig Es duumlrf te be schei de ner und wie ich glau be auch rich tig sein ihn als aus den Tie ren ent stan-den an zu se henlaquo13

Dar win hat te den noch zwoumllf Jah re ge zouml gert bis er sich schlieszlig lich ge trau te nach der all ge mei nen Dar stel lung ei ner Evo-lu ti ons the o rie im Jahr 1859 sei ne Schluss fol ge run gen in Be zug auf den Men schen in Druck zu ge ben Die Ab stam mung des Men schen aus dem Jahr 1871 ist ein ge maumlch li ches Buch in ver-soumlhn li chem Ton fall Der Na tur for scher er zaumlhlt da rin wie ein gu-ter al ter Groszlig va ter wo her die Pfan zen die Tie re und die Eng-laumln der kom men Die raquoAb wer tunglaquo des Men schen geht da bei ein her mit ei ner kon ti nu ier li chen raquoAuf wer tunglaquo der Tie re raquoWir ha ben ge se henlaquo schreibt Dar win raquodass die Emp fin dun gen und Ein druuml cke die ver schie de nen Er re gun gen und Fauml hig kei ten wie Lie be Ge daumlcht nis Auf merk sam keit Neu gier de Nach ah mung Ver stand usw de ren sich der Mensch ruumlhmt in ei nem be gin nen-den oder zu wei len selbst in ei nem gut ent wi ckel ten Zu stand bei den nie de ren Tie ren ge fun den wer denlaquo14

La marck und Dar win wa ren die Ers ten die mit Mit teln der mo der nen Na tur wis sen schaft be haup te ten was vie le Kul tu ren und Zei ten schon zu vor re li gi oumls ge ahnt hat ten raquoNa tuumlr lichlaquo ist es ab surd eine Tei lung des Tier reichs in zwei Ka te go ri en vor zu-neh men ndash in eine mensch li che und eine nicht mensch li che Ka-13

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Page 16: Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen · Leseprobe Professor Dr. Richard David Precht Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen »Fazit:

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Zivi li sa ti on in der Aus rot tung der Wild tie re und Aus beu tung der Nutz tie re na he zu kein Pro blem Eine kla re Grenz zie hung er-laub te je den Um gang mit dem Tier von der Lie be bis zur Fol ter von der Zucht bis zur Touml tung Das Ar gu ment war schlicht Der Mensch ist eine Son der an fer ti gung Got tes und mit dem Tier ge-ra de mal durch den lo sen Fa den der goumltt li chen Schoumlp fung stat ver bun den So kam in den Wor ten des deutsch-fran zouml si schen The o lo gen und Arz tes Al bert Schweit zer raquodie An sicht auf dass es wert lo ses Le ben gaumlbe des sen Schauml di gung und Ver nich tung nichts auf sich habe Un ter wert lo sem Le ben wer den dann je nach den Um staumln den Ar ten von In sek ten oder pri mi ti ve Voumll ker ver stan denlaquo2 (Eine Kli en tel die sich uumlber dies noch um Frau en er wei tern lie szlige)

Die se Gren ze wur de und wird in der abend laumln di schen Kul-tur ge schich te va ri an ten reich ver tei digt Doch je ge nau er wir sie be trach ten umso selt sa mer er scheint sie uns Denn sie laumlsst sich im mer schlech ter be gruumln den und zwar so wohl phi lo so phisch als auch bi o lo gisch Seit etwa vier zig Jah ren be steht in der Ge-sell schaft eine De bat te die un se ren Um gang mit Tie ren grund-saumltz lich in fra ge stellt Tier e thi ker wie Pe ter Sin ger und sein US-ame ri ka ni scher Phi lo so phen kol le ge Tom Re gan for dern Rech te auch fuumlr Tie re Der Aus schluss der Tie re aus der Ethik sei ein mo ra li scher Skan dal Das Tier heu te mo ra lisch drau szligen vor der Tuumlr zu las sen sei das Erbe ei nes re li gi ouml sen Aber glau bens Da der Mensch kei ne Son der an fer ti gung Got tes sei son dern ein in tel-li gen tes Tier muumlss ten wir die Reich wei te der Mo ral eben so auf die raquoan de ren Tie relaquo aus deh nen Ha ben wir nicht nach und nach ge lernt die Skla ve rei zu aumlch ten und Frau en als gleich be rech tig-te Men schen zu ach ten Und ist es nun nicht an der Zeit neu uumlber Tie re nach zu den ken und sie mo ra lisch an ge mes sen zu be-ur tei len

Doch wie koumlnn te ein sol cher an ge mes se ner Um gang mit den an de ren Tie ren aus se hen Den Men schen als ein Tier un ter an-2

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de ren an zu se hen koumlnn te ja auch be deu ten ihn ab zu wer ten statt die Tie re mo ra lisch erns ter zu neh men Das Un heil des So zi-al dar wi nis mus und der bar ba ri schen Ras sen the o rie ste ht uns mah nend vor Au gen Und was ist uumlber haupt das Kri te ri um da-fuumlr Tie re mo ra lisch zu ach ten Ist es ihre Lei dens fauml hig keit ihr Le bens wil le oder ihre In tel li genz Ha ben klu ge Tie re ein houml he-res Le bens recht als duumlm me re Das Ver haumllt nis des Men schen zu den an de ren Tie ren neu zu be wer ten ist eine gro szlige und schwie-ri ge Auf ga be

Ich moumlch te in die sem Buch ver su chen die se Fra gen neu zu stel len und zu durch den ken Da bei be trach te ich den Men schen als ein be son de res Tier un ter vie len auf an de re Wei se be son de ren Tie ren Ich moumlch te mich nicht da rauf fest le gen den Men schen all ge mein uumlber be stimm te Ei gen schaf ten zu de fi nie ren die ihn ethisch wert voll ma chen sol len Ich moumlch te ihm aber auch nicht im Um kehr schluss alle ge mein hin als raquomensch lichlaquo be zeich ne ten Ei gen schaf ten ab spre chen weil nicht alle Men schen Trauml ger all die ser Ei gen schaf ten sind Viel leicht ist be reits das Su chen nach sol chen ex klu si ven Ei gen schaf ten der fal sche Weg Der Denk-feh ler koumlnn te be reits da rin lie gen ei gen staumln di ge Dis zip li nen wie raquoAnth ro po lo gielaquo oder raquoMo ral phi lo so phielaquo be trei ben zu wol len die eine sol che enge De fi ni ti on des Men schen vo raus set zen Waumlre es nicht bes ser die Enge des Be griffs zu spren gen Statt Anth-ro po lo gie zu be trei ben soll te man sich lie ber mit ei ner Anthroshyzo o lo gie be schaumlf ti gen ndash eine Leh re vom Men schen tier und den an de ren Tie ren

Der Be griff ist neu er wur de erst vor we ni gen Jah ren un ter an de rem von dem US-ame ri ka ni schen Psy cho lo gen Hal Her zog ein ge fuumlhrt3 Die neue Dis zip lin der Hu manshyAni mal Stu dies kon-zent riert sich weit rei chend da rauf was Men schen und an de re Tie re ver bin det Da bei ver wen de ich den Be griff raquoAn thro zo o-lo gielaquo al ler dings et was an ders als Her zog und die Ver tre ter der Hu man-Ani mal Stu dies Es ist ein et was ein touml ni ger Sport al les 3

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 229783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 22 10082021 10493410082021 104934

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was ge mein hin als raquomensch lichlaquo be trach tet wird als My thos zu ent zau bern Ich moumlch te es lie ber an ders ein bet ten und be wer ten Denn ich mei ne dass die Ver tre ter der Hu man-Ani mal Stu dies ihre De fi ni ti on des Men schen als ein Tier un ter Tie ren nicht ganz zu Ende den ken Denn waumlre der Mensch durch nichts Mensch-li ches grund saumltz lich vom Tier un ter schie den wie sie an neh men so lieszlige sich auch nicht ein for dern dass Men schen sich aus vershynuumlnf ti ger Ein sicht an ge mes sen ge gen uumlber Tie ren ver hal ten sol len

Um mensch li ches Han deln zu ver ste hen muumls sen wir ver ste-hen in wel chem Rah men Men schen die Welt se hen sich ori en-tie ren und han deln Die bei den ers ten Tei le des Bu ches skiz zie-ren die sen bi o lo gi schen und den kul tu rel len Rah men In ih nen moumlch te ich zei gen auf wel che Art und Wei se Men schen sich un-ter Tie ren ver hiel ten und ver hal ten Da bei be schaumlf tigt sich der ers te Teil mit der Fra ge was fuumlr ein spe zi el les Tier der Mensch ei gent lich ist Wie ist sei ne Rol le in der Evo lu ti on Und nach wel chen Denk mus tern ha ben Men schen die se Chro nik un se rer selbst seit der An ti ke ge schrie ben (Die Ord nung der Schoumlpshyfung) Wel che Stel lung hat sich Homo sap iens in der Na tur da-durch ge si chert dass er sie sich zu schrieb (Der Pri mat)

In je der mensch li chen Wis sen schaft vom Le ben be steht bis heu te still schwei gend oder laut hals ver kuumln det zwi schen Mensch und Tier eine Gren ze Doch weiszlig we der die E vo lu ti ons bi o lo-gie noch die Pal aumlo anth ro po lo gie mit Ge wiss heit zu sa gen an wel chem Punkt sich nur ani ma li sches von mensch li chem Le ben schei det Was ha ben Pal aumlo anth ro po lo gen in den letz ten hun dert Jah ren da ruuml ber ge glaubt Und was den ken sie heu te (Der aufshyrech te Affe) Da bei wer den wir se hen dass es mit der Gren ze zwi schen dem Men schen und den an de ren Tie ren eine aumlu szligerst komp li zier te Sa che ist Seit Jahr zehn ten mes sen und ver glei chen Ver hal tens for scher die kog ni ti ven Leis tun gen von Tie ren mit je-nen des Men schen mit dem uumlber ra schen den Er geb nis dass Tie re in na he zu al len raquowich ti genlaquo Punk ten un ter le gen sind bei Kul tur-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 239783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 23 10082021 10493410082021 104934

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leis tun gen wie Werk zeug ge brauch und Re li gi on eben so wie beim Er werb der mensch li chen Spra che Doch ha ben wir bei sol chen Mes sun gen tat saumlch lich den rich ti gen den fai ren Maszlig stab Ist es sinn voll die In tel li genz von Men schen af fen mit uns zu ver glei-chen (Sinn und Sinn lich keit)

Die Mo le ku lar ge ne tik zeigt uns dass Men schen bi o lo gisch Schim pan sen sind Wel che Kon se quen zen zie hen wir da raus (Eins Kom ma sechs Pro zent) Nach dem wir den Men schen auf die se Wei se bi o lo gisch ein ge kreist ha ben wer fen wir noch ei nen Blick da rauf wie ob jek tiv un ser Wis sen vom Men schen und den an de ren Tie ren ist Was koumln nen wir uumlber haupt uumlber das Be wusst-sein an de rer Tie re wis sen Stellt es nicht eine so gro szlige Bar ri e re dar dass wir zu ge ben muumls sen nichts De fi ni ti ves sa gen zu koumln-nen (Die Tuuml cke des Sub jekts)

Im zwei ten Teil wer fe ich ei nen Blick in die Kul tur ge schich te des Mensch-Tier-Ver haumllt nis ses Was ha ben Men schen zu wel cher Zeit uumlber Tie re ge dacht und wa rum Wie hat man sie be han delt Und wel che Sen si bi li taumlt oder Kaumll te setz te sich wa rum durch Was wis sen wir da ruuml ber aus der Jung stein zeit (Die Tund ra des Ge wis sens) Was glaub ten und dach ten die al ten Aumlgyp ter (raquoIch habe kein Tier miss han deltlaquo) Und wa rum ent zau ber te das alte Ju den tum die Tie re (Hir ten und Herr scher)

In der abend laumln di schen Phi lo so phie gibt es seit der An ti ke sehr un ter schied li che Deu tun gen von Tie ren Mal se hen die Den ker eine gro szlige spi ri tu el le oder na tur ge schicht li che Naumlhe mal er he-ben sie den Menschen qua sei ner Ver nunft zum un ein ge schraumlnk-ten Wel ten herr scher (Das ver lo re ne Pa ra dies) In der christ li chen Re li gi on da ge gen wer den Men schen und Tie re deut lich von ei-nan der ge schie den eine Son der an fer ti gung hier eine Drein ga-be dort Das Chris ten tum ent fernt die tier freund li chen Mo men-te der juuml di schen Re li gi on aus den Glau bens leh ren (raquoKuumlm mert sich Gott etwa um die Och senlaquo) An ders ver laumluft der Weg in In di en Chi na und Suumld ost a si en Das Welt bild und die Tier ethik

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 249783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 24 10082021 10493410082021 104934

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von Hin dus und Bud dhis ten un ter schei den sich von der un se-ren (Schein hei li ge Kuumlhe) Im Abend land da ge gen do mi niert in der Nach fol ge des fran zouml si schen Phi lo so phen Reneacute Des car tes eine raquora ti o na lis ti schelaquo kal te Pers pek ti ve auf das Tier Tie re weil sie nicht ver nunft fauml hig sei en wer den kaum noch als Le be we sen wahr ge nom men ndash eine Po si ti on die im 18 Jahr hun dert al ler-dings ziem lich kont ro vers dis ku tiert wird (Die Den ker und das lie be Vieh) Nach und nach ent ste hen im spauml ten 18 Jahr hun dert eine neue Mit leids ethik und so gar ers te For de run gen nach Rech-ten fuumlr Tie re (raquoKoumln nen sie lei denlaquo)

Im drit ten Teil moumlch te ich eine ei ge ne ethi sche Hal tung ent-wi ckeln Zu naumlchst wer den The o ri en von Phi lo so phen des 20 Jahr hun derts vor ge stellt die wie Al bert Schweit zer raquoEhr furcht vor dem Le benlaquo ver lan gen oder Tie ren ei nen ho hen mo ra li schen Sta tus zu spre chen wie Pe ter Sin ger und Tom Re gan (Das ei sershyne Tor) Die se Po si ti o nen zwin gen dazu grund saumltz li cher da ruuml-ber nach zu den ken was das raquoTier rechtlaquo vom raquoTier schutzlaquo un-ter schei den soll (Schutz oder Recht) An schlie szligend moumlch te ich die Schwach stel len der gaumln gi gen Tier rechts phi lo so phi en he raus-ar bei ten und zei gen wa rum ich sie we der dem Men schen fuumlr an-ge mes sen hal te noch fuumlr all ge mein prak ti ka bel (Eine art ge rech te Mo ral) Da ran schlie szligen sich mei ne Uumlber le gun gen an was ein an ge mes se ner Um gang mit Tie ren sein koumlnn te (Gut besser am besten)

Sol cher ma szligen ge ruumls tet koumln nen wir uns im vier ten Teil mit den vie len Prob le men be fas sen die sich im All tag stel len Das ers te die ser Ka pi tel bi lan ziert das all taumlg li che Cha os im Um gang mit Tie ren (Lie ben ndash Has sen ndash Es sen) Da nach wen den wir den Blick auf die recht li che Si tu a ti on und un ter zie hen die Lo gik un-se res Tier schutz ge set zes ei ner ge nau e ren Pruuml fung (Ein kur zer Text uumlber das Touml ten) Das naumlchs te Ka pi tel gilt der Jagd Ist Ja gen art ty pi sches Ver hal ten des Men schen oder eine staat lich le gi ti-mier te Per ver si on (Na tur schutz oder Lust mord) Und wie sieht

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 259783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 25 10082021 10493410082021 104934

es mit un se rer Er naumlh rung aus Wel che Ar gu men te spre chen da-fuumlr dass Men schen in un se ren heu ti gen west li chen Ge sell schaf-ten noch Tie re touml ten duumlr fen um sich von ih nen zu er naumlh ren Und wel che Ar gu men te spre chen da ge gen Viel leicht gibt es so gar schon in Kuumlr ze ei nen Aus weg der uns end lich hilft die Mas sen-tier hal tung zu be sei ti gen (Jen seits von Wurst und Kaumlse) Eben so stellt sich die Fra ge un ter wel chen Um staumln den Tier ver su che zu-kuumlnf tig er laubt sein soll ten und un ter wel chen nicht (Das Tier als Dum my) Ist es mo ra lisch ver tret bar Tie re in Zo o lo gi schen Gaumlr ten zu hal ten Und wenn ja wel che und wel che nicht (Alshycat raz oder Psycho top) Zoos ver ste hen sich heu te als raquoNa tur-schutz zent renlaquo die Tie re er hal ten die in ih ren Hei mat laumln dern vom Aus ster ben be droht sind Wie ist dies zu be wer ten (Das Zeit al ter der Ein sam keit) Da bei sto szligen wir auf die Schwie rig-keit dass Tier schutz Tier recht und Ar ten schutz kei ne na tuumlr li-chen Ver buumln de ten sind son dern sich in ih rer Phi lo so phie ih rer Welt an schau ung und ih ren Ziel set zun gen stark un ter schei den (Das un ver soumlhn li che Tri um vi rat) Das Schluss wort bi lan ziert die se Er kennt nis se und fragt was wir aus al le dem prag ma tisch fol gern soll ten und in wel chen Schrit ten es ge sche hen koumlnn te (Scho pen hau ers Trep pe)

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 269783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 26 10082021 10493410082021 104934

Das Men schen tier

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Wahr heit zu hal ten Aber die ses Bild hat sich schon oft ver aumln-dert und es wird sich ge wiss noch wei ter ver aumln dern

Men schen nei gen dazu die Welt in der sie le ben auf zu raumlu-men Es ist eine ziem lich art ty pi sche Ver hal tens wei se Wir sor tie-ren die all taumlg li chen Din ge un se res Le bens und eben so sor tie ren wir die Ge dan ken uumlber die Welt die uns um gibt Jede Ord nung auch die der Na tur ist also ein mensch li cher Ent wurf Und al-lem An schein nach ent stand das Be duumlrf nis die Welt zu ord nen in un se rer Ent wick lungs ge schich te pa ral lel zur Ent wick lung der Spra che Denn ohne die kuumlnst li che Auf raumlum ar beit der Spra che waumlre die Vor stel lung von ei ner raquoOrd nung der Schoumlp funglaquo oder der raquoNa turlaquo nicht moumlg lich

Wer auf die Ord nung an ge wie sen ist be wegt sich gern in den si che ren Gren zen ei nes Sys tems Nur in ner halb ei nes sol chen Ord nungs ge fuuml ges fragt man nach Wahr heit und Gel tung Rich-tig keit Me tho de und Be deu tung Zu leicht uumlber sieht der Ord ner dann die kuumlnst li che Be hau sung und die selbst ge zim mer ten Re-ga le in die er die Welt so sorg faumll tig hi nein sor tiert Sel ten ge lingt ihm ein Blick aus dem Fens ter in die un ge wis se Land schaft die ihn um gibt Und nur ein ge wal ti ger Sturm ein Blitz schlag oder eine Er schuumlt te rung zwingt den Ver wal ter der Welt die si che re Wohn statt zu ver las sen und sich ein an de res Haus zu bau en das den An fein dun gen des neu en Kli mas wi der steht

Erst im Ruumlck blick auf die vie len Irr tuuml mer der Ver gan gen heit er ken nen wir dann un se re ei ge ne Un zu laumlng lich keit beim Auf-raumlu men In der Ge gen wart er scheint uns die je wei li ge Ord nung meis tens so selbst ver staumlnd lich dass wir gern uumlber jede Moumlg-lich keit der Ver aumln de rung lauml cheln So ha ben Men schen mit voumll li-ger Ge wiss heit an ge nom men dass die Erde eine Schei be ist und dass Frau en und Skla ven kei ne Rech te zu ste hen Und mit ei nem eben sol chen Lauml cheln be trach ten wir heu te die Gruumln de mit de-nen Men schen sich im Lau fe der Jahr hun der te von den Tie ren zu un ter schei den glaub ten

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 309783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 30 10082021 10493410082021 104934

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Schon die al ten Grie chen ins be son de re Aris to te les (384 v Chr ndash 322 v Chr) ha ben sich fuumlr die Ge schich te und das in vie len De tails ver bor ge ne Sys tem der Na tur in te res siert Er teilt die Tie re in Klas sen ein ver sucht zu er gruumln den was Le ben ist und schafft da mit die Grund la gen der Zo o lo gie Aber Aris to te-les kennt nur we ni ge hun dert Tie re Eine raquovoll staumln di ge Na tur-ge schich telaquo wird das ers te Mal im 18 Jahr hun dert ge schrie-ben ndash und auch sie ist aumlu szligerst un voll staumln dig Seit dem ver fuuml gen wir nicht nur uumlber ei nen rei chen Vor rat an ge dach ten Ord nun-gen von den Schoumlp fungs my then bis hin zur Mo le ku lar bi o lo gie Wir ken nen auch eine Wis sen schaft die sich raquoTax ono mielaquo nennt und jede Pfan ze und je des Tier sys te ma tisch in eine In ven tar liste der Na tur ein traumlgt

Da bei ver ra ten die Denk sche ma ta der Na tur for scher nicht nur et was uumlber die klas si fi zier te Na tur selbst son dern eben so uumlber das Ord nungs be duumlrf nis und die Pfif fig keit des mensch li-chen Geis tes Das 18 Jahr hun dert ist eine Zeit in der das Buumlr-ger tum an die Macht draumlngt und sich zu neh mend ge gen den Adel auf ehnt Sei ne schaumlrfs te Waf fe ist et was das man raquoVer nunftlaquo oder raquoRa ti o na li taumltlaquo nennt und das man ge gen den Glau ben ins Feld fuumlhrt Fuumlr die Phi lo so phen der Ra ti o na li taumlt ist die Welt kei-ne vor ge fun de ne Schoumlp fung mit fes ter Ord nung son dern et was dass man geis tig durch drin gen und auf sei ne Lo gik und Wi der-spruuml che un ter su chen kann Da bei ge ben zu naumlchst die Phy sik und die Ma the ma tik das Sche ma vor nach dem alle Er kennt nis auch jene von Pfan zen und Tie ren funk ti o nie ren soll Die Sys te ma ti-ker der Na tur ge schich te su chen nach un ver ruumlck ba ren Kri te ri en ob jek ti ven Ge setz mauml szligig kei ten und lo gi schen Ver bin dun gen um die un uuml ber sicht li che Welt der Le be we sen ih rer raquowah ren An ord-nunglaquo ge maumlszlig ein zu tei len Aber nicht alle Na tur for scher glau-ben dass ein sol ches Vor ha ben tat saumlch lich ge lin gen kann Man-che hal ten die Na tur fuumlr zu reich hal tig um sie auf die se Wei se zu klas si fi zie ren Welt an schau un gen tref fen auf ei nan der auf der

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 319783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 31 10082021 10493410082021 104934

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ei nen Sei te der Glau be an ein vom Men schen prin zi pi ell voumll lig durch schau ba res Na tur sys tem auf der an de ren Sei te eine un er-gruumlnd li che Schoumlp fung in der der Mensch sich im mer nur tas-tend fort be wegt

Die ers te Va ri an te gilt im 18 Jahr hun dert als der mo der ne-re An satz Man ori en tiert sich da bei an ei nem Ra ti o na lis mus den Reneacute Des car tes (1596 ndash 1650) schon hun dert Jah re zu vor neu be gruumln det hat Die ser Ra ti o na lis mus ori en tiert sich an der Me cha nik Die Schoumlp fung Got tes er scheint als eine ein zi ge klug aus ge tuumlf tel te Ma schi ne die der Mensch Stuumlck fuumlr Stuumlck zu be-herr schen lernt Und das Uni ver sum be steht aus Ma te rie in Be-we gung or ga ni siert nach ma the ma ti schen Ge set zen Ob gleich das 18 Jahr hun dert zent ra le Spe ku la ti o nen des Phi lo so phen wi-der legt ori en tiert es sich in vie lem an Des car tesrsquo me cha nis ti scher Denk wei se Sie tut dies vor zugs wei se in je nen Dis zip li nen de-ren Er kennt nis fort schritt zu naumlchst ge ring bleibt Und nir gend-wo trifft dies in ei nem sol chen Maszlig zu wie bei der Er for schung der bi o lo gi schen Na tur

Doch die ses Welt bild hat prob le ma ti sche Fol gen Wer die Welt kon se quent nach me cha nis ti schen Grund saumlt zen be trach tet hat fuumlr den Be reich der nicht mensch li chen Na tur we nig Ver staumlnd nis Fuumlr Des car tes sind Tie re nichts als Ma schi nen Es macht kei nen Un ter schied ob eine Ma schi ne die aumlu szlige re Ge stalt und die in ne-ren Or ga ne ei nes Af fen hat oder ob es sich da bei tat saumlch lich um ein le ben des Tier han delt Denn relevantes Le ben kommt fuumlr den Den ker nicht durch zir ku lie ren des Blut und Reizempfindungen in den Koumlrper Son dern bedeutsames Le ben ga ran tie ren ein zig und al lein der er leuch te te Geist und sei ne Spra che

Des car tesrsquo Zeit kennt we der den Be griff des raquoOr ga nis muslaquo die Be son der heit des Le bens noch die Evo lu ti on son dern eben nur die Me cha nik Trotz dem ist sei ne The o rie von den Tie ren als see len lo se Au to ma ten im 17 und 18 Jahr hun dert aumlu szligerst um-strit ten Fran zouml si sche Phi lo so phen schrei ben Buch um Buch uumlber

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 329783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 32 10082021 10493410082021 104934

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die Tier-Fra ge und be feh den sich da bei uumlber mehr als hun dert Jah re Noch weiszlig man nichts von ei ner raquoBi o lo gielaquo Man be treibt eine neue Dis zip lin die sich raquoNa tur ge schich telaquo nennt und da-mit auf raumlumt die Ge schich te von Le be we sen als eine wahl lo se Samm lung von Er zaumlh lun gen an zu se hen Bis her schrie ben Au to-ren um stands los von der Fang wei se der Tie re ih rer Ana to mie ih rer bib li schen und al le go ri schen Be deu tung ih rem prak ti schen Ge brauch ih rer Ver meh rung ih ren Stim men und Spra chen ih-ren Be we gun gen ih rem Al ter und von der Sym pa thie oder An-ti pa thie des Ver fas sers Auch Koch re zep te wur den von Fall zu Fall hin zu ge fuumlgt

Ein zo o lo gi sches Sys tem ist zu An fang des 18 Jahr hun derts weit ge hend un be kannt die Ver wandt schafts ver haumllt nis se der Pfan zen und Tie re sind dif fus ge ahnt und wer den eher nach Le-bens raumlu men be stimmt als nach koumlr per li chen Merk ma len Tie re die nachts ja gen ste hen da bei eben so in ei nem Ord nungs ge fuuml ge wie Tie re die fie gen koumln nen im Wald oder in ei nem See le ben Be reits die Pries ter schrift der bib li schen Ge ne sis hat te die Welt der Tie re und Pfan zen nicht nach ana to mi schen Merk ma len un-ter teilt son dern in Be zug auf den Le bens raum Pfan zen und Tie re des Mee res der Luft und der Erde Uumlber mehr als tau send Jah re kann ten auch der Is lam und die Hin dus Ord nungs sys teme die Tie re in ih rem Oumlko sys tem ver an ker ten

In der hin du is ti schen Samk hya-Tra di ti on exis tie ren vier zehn Klas sen un ter schied li cher Le be we sen ein ge teilt in acht For men himm li scher und sechs ir di scher Le be we sen zu de nen auch der Mensch ge houmlrt Als wei te res Un ter schei dungs merk mal dient die Art und Wei se der Ge burt Im gro szligen in di schen Na ti o nal epos aus dem 4 Jahr hun dert dem Ma hab har ata heiszligt es raquoAuf die ser Erde gibt es zwei Ar ten von Le be we sen die Be weg li chen und die Un be weg li chen Die Be weg li chen ha ben ei nen drei fa chen Schoszlig Sie sind aus dem Ei aus feuch ter Hit ze und Le ben dig-Ge bo re ne Von al len be weg li chen Le be we sen wie de rum sind die je ni gen die

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 339783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 33 10082021 10493410082021 104934

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le ben dig ge bo ren sind hellip die bes ten Die bes ten un ter den le ben-dig Ge bo re nen sind die die zum Men schen ge schlecht ge houml ren und die Nutz tie relaquo4

Die neu en Sys te me des 18 Jahr hun derts be frei en die Na tur-ge schich te von al lem was sich mit den Me tho den der Zeit nicht wis sen schaft lich exakt be schrei ben laumlsst Koch re zep te fal len so-wie so un ter den Tisch aber auch man che Ver hal tens be ob ach-tun gen und vor mals wich ti ge Ei gen schaf ten wie zum Bei spiel der Ge ruch Ge forscht wird mit Lupe und Mik ros kop Li ne al und Pin zet te Der wich tigs te Mann auf die sem Ge biet ist der schwe-di sche Na tur for scher Carl von Linneacute (1707 ndash 1778) Er ori en-tiert sich an Aris to te les den er be wun dert nicht an Des car tes Ge ra de zu re vo lu ti o naumlr de mo kra tisch ent wi ckelt der auf ge klaumlr te Schwe de im 18 Jahr hun dert ein be schrei ben des Sys tem der Na-tur frei vom the o lo gi schen Fir le fanz sei ner Zeit Mit der Ak ri bie ei nes Brief mar ken samm lers dem Voll staumln dig keit mehr be deu tet als das Be stau nen ein zel ner Wer te ord net er die be leb te Na tur nach Ar ten Gat tun gen Ord nun gen und Klas sen Vier Va ri ab len die Form der Ele men te ihre An zahl die raumlum li che An ord nung der Ele men te und ihre re la ti ve Grouml szlige be stimm ten von nun an den Platz im Sys tem

Un ter der Leit dis zip lin der Bo ta nik wan delt sich die Na tur ge-schich te in eine ge ord ne te Welt aus Li ni en und Flauml chen Ent schei-dend sind die sicht ba ren Un ter schei dungs merk ma le wie Bluuml ten und Staub ge fauml szlige Blaumlt ter und Fruumlch te Fuumlszlige und Hufe Fe dern und Flos sen So setzt Linneacute fuumlr jede Pfan zen- und Tier klas se jede Ord nung und Gat tung be stimm te Merk ma le fest die er als die wich ti ge ren er ach te t Denn nur un ter der An nah me sol cher pri vi-le gier ter Struk tu ren ist es ihm moumlg lich die ver schie de nen Spe zi es im Ge samt sys tem un miss ver staumlnd lich zu ras tern Der mensch li che Ord ner be schreibt also nicht ein fach die be leb te Na tur Er fuumlgt ihr auch et was hin zu die Ent schei dung naumlm lich was in der For men-viel falt der Le be we sen wich ti ge Merk ma le sind und was nicht4

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 349783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 34 10082021 10493410082021 104934

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Wie alle da ma li gen Na tur for scher nimmt Linneacute an dass die Ein tei lun gen die der mensch li che Ver stand macht tat saumlch lich ei ner ob jek ti ven Ord nung der Na tur ent spre chen Doch Lin neacutes Sys tem ist wie er selbst weiszlig nicht raquona tuumlr lichlaquo Sei ne Struk tu ren sind kei ne die er in der Na tur als Un ter schei dungs kri te ri en vor-fin det Denn was sich am Schreib tisch nun muumlh sam in Ord nun-gen pres sen laumlsst liegt wie der fran zouml si sche Na tur for scher Mishychel Adan son (1727 ndash 1806) fest stellt in der Wild nis wie Kraut und Ruuml ben durch ei nan der raquohellip eine kon fu se Mi schung aus We-sen hellip die der Zu fall ei nan der an ge nauml hert zu ha ben scheint Hier wird das Gold mit ei nem an de ren Me tall mit ei nem Stein oder mit Erde ge mischt Dort waumlchst die Ei che ne ben dem Veil chen Un ter die sen Pfan zen ir ren eben falls der Vier fuumlszlig ler das Rep til und das In sekt um her Die Fi sche mi schen sich so zu sa gen mit dem waumlss ri gen Ele ment in dem sie schwim men und mit den Pfan zen die auf dem Grun de der Ge waumls ser wach sen hellip Die se Mi schung ist so gar so all ge mein und so viel faumll tig dass sie ei nes der Na tur ge set ze zu sein scheintlaquo5

Der Wi der spruch zwi schen ei ner tax ono mi schen und ei ner oumlko lo gi schen Ord nung der Na tur ist of fen sicht lich Er fin det sich noch heu te in der Dis kus si on um die Aumls the tik von Zoo an la gen Soll man die Tie re nach Ver wandt schafts ver haumllt nis sen sam meln also in Raub tier haumlu sern An ti lo pen haumlu sern und Hirsch an la gen so dass der Be su cher zwi schen den ana to mi schen Be son der hei-ten der Ar ten ndash mit un ter so gar den ge o gra fi schen Va ri an ten ei ner ein zi gen Art ndash zu un ter schei den lernt Oder ge waumlhrt die Nach-ge stal tung ei nes Na tur bi o tops ei ner af ri ka ni schen Sa van ne oder ei nes al pi nen Pa no ra mas den wich ti ge ren Ein blick in die Ord-nung der Na tur

Zwar steht fuumlr Linneacute und sei ne Kol le gen fest dass die raquowah-re Ord nunglaquo der Na tur sich an den koumlr per li chen Merk ma len zu ori en tie ren hat doch muss eine Er klauml rung da fuumlr ge fun den wer-den wa rum die se Ord nung in der frei en Na tur nicht von al lein 5

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 359783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 35 10082021 10493410082021 104934

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sicht bar wird Ohne Zwei fel ist das Sys tem der Na tur kei ne zeit-lo se Schoumlp fung son dern durch Ver aumln de run gen ge kenn zeich net die sich in der Erd ge schich te er eig net ha ben Pa ral lel meh ren sich die Fun de von Fos si li en also von Tie ren die mut maszlig lich aus-ge stor ben sind Es hat al lem An schein nach grouml szlige re ge o lo gi sche Ka tast ro phen in un be kann ter Zahl ge ge ben de nen vie le Ar ten zum Op fer ge fal len sind Doch ha ben die se De sas ter auch zur Ent ste hung von neu en For men ge fuumlhrt

Um den Fak tor der Zeit und sei ne Fol gen fuumlr das Sys tem der Na tur ein zu schaumlt zen gibt es vie le Moumlg lich kei ten Die ein fachs te und mensch lichs te al ler zeit li chen Ord nungs vor stel lun gen ist die Idee al les fol ge ei nem Plan und sei auf ein Ziel hin aus ge rich-tet (Te le o lo gie) Re li gi o nen Phi lo so phi en und Ide o lo gi en funk-ti o nie ren na he zu al le samt ziel ge rich tet Es geht um ein bes se res Le ben auf Er den im Jen seits in ei nem ge rech ten Staat um die Herr schaft uumlber die an de ren uumlber die Pro duk ti ons mit tel oder das Boumlse Selbst un ser All tag ge stal tet sich weit ge hend te le o lo-gisch durch traumlnkt von zu kuumlnf ti ger Er war tung Mo tor jed we-der Te le o lo gie ist der Fort schritts ge dan ke Sein ima gi nauml res Ziel ist der voll kom me ne Zu stand So glau ben christ lich-abend laumln-di sche Ge sell schaf ten gern an eine staumln di ge Ver bes se rung durch An stren gung eine Tu gend die nach cal vi nis ti scher Tra di ti on im Him mel wie auf Er den von Gott ma te ri ell ent lohnt wird Wie na he lie gend also auch in der Na tur die Ent ste hung raquohouml he rerlaquo Le bens for men durch Fort schritt er ken nen zu wol len mit dem End ziel des Men schen

Die Un ord nung der Schoumlp fung mit ei nem goumltt li chen Fort-schritts plan in Ein klang zu brin gen ist das Le bens werk des Schwei zer Na tur for schers und Phi lo so phen Charles Bon net (1720 ndash 1793) Fuumlr Bon net ist die Zahl der Ar ten und ihre aumlu-szlige re Ge stalt von Gott ein fuumlr al le Mal fest ge legt Doch kann sich ein je des Le be we sen per fek ti o nie ren Der Weg vom simp-len Ge muumlt zur ge ni a li schen Leis tung ist vom Schoumlp fer vor ge-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 369783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 36 10082021 10493410082021 104934

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zeich net Und alle Tie re be schrei ten ihn zeit lich ver setzt nach dem glei chen Mus ter das der Mensch ih nen vor ge lebt hat raquoEs wird ei nen mehr oder we ni ger lang sa men und kon ti nu ier li chen Fort schritt al ler Ar ten zu ei ner houml he ren Ver voll komm nung ge-ben so dass alle Gra de der Stu fen lei ter in ei ner de ter mi nie ren den und kons tan ten Be zie hung fort ge setzt va ri a bel sein wer den hellip Es wird un ter den Af fen Leu te wie New ton und un ter Bi bern wie (den Fes tungs bau meis ter RDP) Vau ban ge ben Die Aus-tern und die Po ly pen wer den in Be zie hung zu den houmlchs ten Ar-ten das sein was die Vouml gel fuumlr die Vier fuumlszlig ler im Ver haumllt nis zum Men schen sindlaquo6

Seit Bon net ist die Vor stel lung von der raquoLei ter der Na turlaquo der Sca la nat urae ein wich ti ges In ven tar des na tur ge schicht-li chen Den kens Fort schritt Ver voll komm nung und goumltt li cher Plan ndash die se drei Grouml szligen be stim men die Vor stel lung vom Wer-den der Na tur vom 18 Jahr hun dert bis in die Ge gen wart hi nein Das Prin zip nach dem die Evo lu ti on Le ben her vor bringt sei un ver meid lich und von An fang an vor her be stimmt Nicht we-ni ge E vo lu ti ons the o re ti ker ha ben dies eben falls ge glaubt und zwar mit be acht li cher Kon ti nu i taumlt Der eng li sche Na tur for scher Alf red Rus sel Wall ace (1823 ndash 1913) der ge mein sam mit Dar win die The o rie der na tuumlr li chen Se lek ti on ent wi ckelt hat te hielt nicht nur den mensch li chen Geist und sein Mo ral emp fin den son dern zu dem auch die wei che nack te emp find sa me Haut des Men-schen fuumlr das Re sul tat ei ner not wen di gen Ent wick lung

Doch schon im 18 Jahr hun dert reg ten sich zu gleich vor sich-ti ge Zwei fel an der Stim mig keit ei ner sol chen Vor ge formt heit Denn wie soll te man Na tur ka tast ro phen be wer ten Waumlh rend die meis ten Na tur for scher sie als Teil des goumltt li chen Schoumlp-fungs plans in ter pre tier ten zo gen an de re ver gleichs wei se fins te-re Schluumls se Und so wur de tat saumlch lich ein gro szliges Erd be ben zum in di rek ten Aus louml ser der Evo lu ti ons the o rie naumlm lich je nes von Lis sa bon im Jahr 1755 Wer uumlber die Ka tast ro phe nach dach te 6

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 379783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 37 10082021 10493410082021 104934

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konn te star ken Zwei fel da ran he gen dass die Welt ord nung aus-ge kluuml gelt und har mo nisch sei

Die wei test rei chen den Schluss fol ge run gen zog der eng li-sche Pfar rer und Na ti o nal oumlko nom Tho mas Ro bert Malt hus (1766 ndash 1834) Nicht nur die ge o lo gi sche Na tur und ihr Ge-fah ren ri si ko son dern auch die Ver meh rung der Be voumll ke rung wur de nun als Uumlbel er kannt Im Jahr 1798 pub li zier te Malt-hus sei nen Es say on the Princi ple of Po pu la ti on (Das Be voumllshyke rungs ge setz) die ers te Mahn schrift vor den Ge fah ren ei ner Be voumll ke rungs ex plo si on Bei ei ner Ver dop pe lungs ra te der Welt-be voumll ke rung in ner halb von fuumlnf und zwan zig Jah ren er rech ne-te Malt hus wer de ihr exponent iel les An wach sen auf grund der von der Um welt ge setz ten Gren zen not wen dig zu Ar mut Ka-tast ro phen und Tod fuumlh ren Der bib li sche Auf trag raquoSeid frucht-bar und meh ret euchlaquo er schien mit ei nem Mal als ein Fluch Ein gna den lo ser raquoKampf ums Da seinlaquo (strugg le for life) war ent fes selt Das Ein zi ge was blieb war die Hoff nung die ka-tast ro pha len Fol gen der goumltt li chen An wei sung so weit wie moumlg lich ein daumlm men zu koumln nen

In ei ner Zeit als die Ge sell schafts the o rie noch der Bi o lo-gie den Leuch ter vo ran und nicht wie heu te die Schlep pe hin-terh er traumlgt be geis tert sich vor al lem ein eng li scher Dorf pfar rer Charles Dar win (1809 ndash 1882) fuumlr die Malt hus rsquoschen Ge set ze Denn wenn es rich tig ist dass sich ein Tier mit ei ner so ge rin-gen Ver meh rungs ra te wie der Mensch ge gen uumlber sei nen Art ge-nos sen durch setz te so gab es sicht lich an de re Kri te ri en fuumlr die Uumlber le bens fauml hig keit ei ner Po pu la ti on als die Zahl ih rer Ge bur-ten Der Maszlig stab fuumlr den Er folg ei ner Spe zi es war ihr Durch set-zungs ver mouml gen oder wie Dar win es spauml ter in den Prin zi pi en der Bio logie des jun gen Phi lo so phen Her bert Spen cer (1820 ndash 1903) le sen konn te raquothe sur vi val of the fit testlaquo

Dar wins na tur kund li che Stu di en wa ren ur spruumlng lich von dem Ge dan ken be seelt die nicht a ni ma li sche Iden ti taumlt des Men schen

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 389783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 38 10082021 10493410082021 104934

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zu be wei sen Erst der Sieg des Ent de cker stol zes uumlber das Ent-set zen ver lieh ihm schlieszlig lich den Mut den be ruumlhm ten Satz zu schrei ben raquoUnd ich bin bei na he uumlber zeugt (der Mei nung mit der ich an die Fra ge he ran ge tre ten bin voumll lig ent ge gen ge setzt) dass die Spe zi es (mir ist es als ge staumln de ich ei nen Mord ein) nicht un ver aumln der lich sindlaquo7

Dar wins kuumlh ne Ver mu tung war nicht ganz neu Be reits ein hal bes Jahr hun dert zu vor hat ten der fran zouml si sche Na tur for scher GeorgesshyLou is Lec lerc Comte de Buf fon (1707 ndash 1788) und der Phi lo soph De nis Dide rot (1713 ndash 1784) uumlber eine Ver aumln de-rung der Ar ten spe ku liert Be son ders JeanshyBap tiste de La marck (1744 ndash 1829) be haup te te die all maumlh li che Ent wick lung der Ar-ten aus pri mi ti ve ren Vor for men die so ge nann te Trans mu ta ti on La marck war nicht nur ein Pi o nier der mit Jahr mil li o nen han-tier te als alle Welt die Erde noch ei ni ge tau send bis hun dert tau-send Jah re jung waumlhn te son dern er praumlg te (zur glei chen Zeit wie zwei deut sche Na tur for scher) das Wort Bi o lo gie Bei ihm wan del ten sich die Le be we sen da durch dass sich ihre koumlr per-li chen An stren gun gen auf ihr Erb gut aus wir ken Da bei nahm er al ler dings nicht an dass die Ar ten aus ei nan der her vor ge hen wie Dar win es spauml ter tat La ma rcks The o rie ist nauml her an je ner von Bon net Fuumlr ihn ver voll komm nen die ein zel nen Tier ar ten im Lau fe der Zeit ihre An la gen und ent wi ckeln sich da durch im-mer houml her Be son ders voll kom me ne Tie re wie der Mensch sind dem nach sehr alt denn sie ha ben ei nen wei ten Weg von ei nem pri mi ti ven Or ga nis mus bis hin zur heu ti gen Ge stalt hin ter sich ge las sen An de re wie der pri mi ti ve Suumlszlig was ser po lyp ha ben ihre Rei se durch die Zeit ge ra de erst an ge fan gen

La marck war kein Charis mati ker und die zo o lo gi sche All-macht sei nes Vor ge setz ten am Jar din des Plan tes in Pa ris des Ba rons George Cu vier (1769 ndash 1832) ver hin der te dass man sich all zu sehr mit sei nen The o ri en be schaumlf tig te Cu vier war ein be-deu ten der Mann An die Stel le ei ner nach bo ta ni schem Mus ter 7

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 399783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 39 10082021 10493410082021 104934

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ver fah ren den Zo o lo gie setz te er eine neue Wis sen schaft die sich we ni ger an aumlu szlige ren Merk ma len als am Or ga nis mus der Tie-re ori en tier te Doch was die Trans mu ta ti on an be lang te blieb der Ober auf se her der pro tes tan tisch-the o lo gi schen Fa kul tauml ten Frank reichs beim kon ser va ti ven Mo dell Er ver brei te te wei-ter hin eine Ket te von Na tur ka tast ro phen habe als mo di fi zier-te Sint fu ten gan zen Klas sen von Tie ren den Gar aus ge macht Die se The o rie ist weit ge hend rich tig al ler dings schlieszligt sie die Trans mu ta ti on nicht aus

Das wirk lich Re vo lu ti o nauml re an La marck war die Idee die Ge schich te der Na tur nicht vom Men schen aus bis hi nun ter zur Bak te rie zu schrei ben son dern um ge kehrt von der Bak te rie zum Men schen Aus ei nem Mo dell der raumlum li chen Hie rar chie wur de ein Mo dell der zeit li chen Ent wick lung La marck er kann te zu-dem dass das Be wusst sein ei nes Tie res an die Phy si o lo gie und Neu ro lo gie sei nes Koumlr pers ge bun den ist Dem nach ist je der Geist ers tens be grenzt und zwei tens ver aumln der lich

Die phi lo so phi sche Kon se quenz aus La ma rcks Den ken ist so ra di kal dass sie fast ein hun dert fuumlnf zig Jah re lang von nie man-dem ernst haft in Be tracht ge zo gen wur de Wie kann ein Geist der den Ge set zen der Evo lu ti on un ter wor fen ist sich ei gent lich an ma szligen die Na tur der Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Von die ser Schluss fol ge rung woll te die Bi o lo gie al ler dings bis weit ins 20 Jahr hun dert hi nein nicht viel wis sen

Auch Dar wins The o rie von der na tuumlr li chen Se lek ti on der Le be we sen im Rin gen um ihr Le ben und mit der Um welt ent-wi ckel te sich wei ter Ge witz ten Zeit ge nos sen wie Karl Marx (1818 ndash 1883) war auf ge fal len wie stark Dar wins Den ken dem Zeit geist des Vik to ri a ni schen Zeit al ters ver haf tet war raquoEs ist merk wuumlr dig wie Dar win un ter Bes ti en und Pfan zen sei ne eng li-sche Ge sell schaft mit ih rer Tei lung der Ar beit Kon kur renz Auf-schluss neu er Maumlrk te rsaquoEr fin dun genlsaquo und Malt hus schem rsaquoKampf ums Da seinlsaquo wie der er kenntlaquo8 Die Be to nung des Malt hus rsquoschen 8

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 409783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 40 10082021 10493410082021 104934

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Kamp fes von je dem ge gen je den und auch der Fort schritts glau-be in Dar wins Den ken zei gen ihn stark sei ner Zeit ver haf tet

Eine an de re Kri tik kam aus der Bi o lo gie selbst Dar win hat-te noch nichts von Ge nen ge wusst So konn te er nicht er klauml ren was sich bi o che misch er eig ne te wenn Ar ten sich ver aumln der ten Der raquoDar wi nis muslaquo der Jahr hun dert wen de gab schlieszlig lich die Hoff nung auf die Evo lu ti on lie szlige sich al lein durch die na tuumlr li-che Se lek ti on der Ar ten nach Maszlig ga be ih rer An pas sungs fauml hig-keit an die Um welt be gruumln den Man ent deck te die Rol le der Ge-ne tik und zum neu en Er klauml rungs prin zip wur de das Mo dell der zwei Kons t ruk teu re Das Spiel des Le bens er hielt ei nen Wuumlr fel zu faumll li ge Ver aumln de run gen im Gen ma te ri al also so ge nann te Mu tashyti o nen Im Tri alshyandshyEr ror-Ver fah ren ent ste hen im Erb gut ge le-gent lich Ab wei chun gen die dann er folg reich sind wenn sie sich in der Um welt be waumlh ren Da mit war die Idee vom Tisch dass sich neu er wor be ne Ei gen schaf ten oder raquodie ana to mi schen Aus-wir kun gen koumlr per li cher An stren gun genlaquo wie La marck mein te ver er ben koumlnn ten Noch Dar win hat te dies fuumlr denk bar ge hal ten So ver trau te er Er zaumlh lun gen wo nach bei je nen Volks grup pen zu de ren Ri ten die re gel mauml szligi ge Be schnei dung der Pe nis vor haut ge houmlrt sich die Vor haut all maumlh lich ver kuumlrz te Das haumlt te zwar die Be schnei dung uumlber fuumls sig ge macht aber Dar win hat te ge ra-de an de res Ge wich ti ges zu be den ken als da ruuml ber nach zu sin nen

Die Ver kuumlr zung der Vor haut blieb im Wis sens schatz der Dar wi nis ten bis Au gust Weis mann (1834 ndash 1914) im spauml ten 19 Jahr hun dert nach wies dass ein sol cher In for ma ti ons fuss vom aumlu szlige ren Er schei nungs bild zum Erb ma te ri al nicht moumlg lich sei Uumlber fuumlnf Ge ne ra ti o nen kuumlrz te Weis mann ei nem Stamm von Maumlu sen ihre Schwaumln ze ohne dass eine Nach richt uumlber die sen Ein griff die Keim bah nen der Maumlu se er reich te Denn sie he da Auch die Schwaumln ze der nach fol gen den Maumlu se ge ne ra ti o nen blie-ben gleich lang Da be durf te es schon der Spitz fin dig keit des iri schen Dich ters George Bern ard Shaw (1856 ndash 1950) der Weis-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 419783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 41 10082021 10493410082021 104934

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manns schnei den de Wi der le gung der La marckrsquo schen The o rie leicht fer tig vom Se zier tisch wisch te Die Maumlu se be merk te der Dich ter haumlt ten gar kei ne An stren gun gen un ter nom men ihre Schwaumln ze zu ver lie ren waumlh rend sich die Tie re bei La marck ja da rum be muumlht haumlt ten sich zu ver aumln dern

Im Nach hi n ein also war es der pauml da go gi sche Op ti mis mus der La marck in die Irre ge fuumlhrt ha ben soll te So mach te die Hoff-nung auf ei nen ethisch an spre chen den E vo lu ti ons ver lauf ndash die Er war tung die Mensch heit ent wick le sich qua An pas sung an das so zi a le Mi li eu durch Selbst er zie hung zum Bes se ren ndash nur noch eine et was ab sei ti ge Kar ri e re im staats so zi a lis ti schen Bi o lo gie-un ter richt der Sow jet u ni on Wie kalt da ge gen der uumlber le ge ne raquoKampf ums Da seinlaquo der ja ein Kampf um die Fleisch toumlp fe ist ohne Hoff nung der Mensch wer de den kuumlh nen Geist statt sei-nes ma te ri a lis ti schen Gier hal ses nach Houml he rem stre cken Und ein zig die Kir che be wahr te un ver dros sen ei nen la marc kis ti schen Ge dan ken ndash al ler dings ei nen pes si mis ti schen und kei nen op ti-mis ti schen In bes ter Schuumlt zen hil fe fuumlr den fran zouml si schen Che-va li er ver tei digt sie bis heu te ihr mo le ku lar ge ne tisch be denk li-ches Dog ma Adams Un ge hor sam im Gar ten Eden habe zu ei ner raquoErb suumln delaquo ge fuumlhrt die da rauf hin auf alle zu kuumlnf ti gen Ge ne ra-ti o nen uumlber ge gan gen sei

Im mer hin sind in den bei den letz ten Jahr zehn ten ei ni ge Bi o-lo gen wie der et was of fe ner da fuumlr ge wor den der Ver er bung er-wor be ner Ei gen schaf ten ei nen Platz in der Ge ne tik zu las sen Zwar ver er ben sich psy chi sche und phy si sche Le bens er fah run-gen nicht durch ver aumln der te Gene Aber es koumlnn te doch sein dass jene Schal ter die da ruuml ber be stim men wel che ge ne ti sche In for-ma ti on wei ter ge ge ben wird und wel che nicht durch Um welt-ein fuumls se ver aumln dert wer den Uumlber le gun gen wie die se be schaumlf ti-gen so ge nann te Epi gen eti ker seit ei ni ger Zeit sie ha ben ei nen wach sen den Ein fuss auf un se re Vor stel lung von der Evo lu ti on

Die heu ti ge Leit dis zip lin die uns die Ver wandt schaft des Le-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 429783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 42 10082021 10493410082021 104934

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bens ent schluumls seln soll ist die Ge ne tik Wir un ter su chen die Sum-me al ler ge ne ti schen In for ma ti o nen und re gist rie ren da bei Uumlber-ein stim mun gen und Ab wei chun gen mit an de ren Ar ten Doch der Pro zess die Na tur un se rer Na tur zu er ken nen ist noch lan ge nicht ab ge schlos sen und wird wohl auch nie ab ge schlos sen sein Wir wen den Ord nungs sche ma ta auf The o ri en und The o ri en auf Be ob ach tun gen an Nur so kom men wir zu Kau sa li tauml ten und Ge-set zen Doch ihre Be deu tung ver aumln dert sich in dem Maszlige wie wir den Blick punkt un se rer Auf merk sam keit wie der ver la gern Die ser Vor gang des Ent dec kens und des Ver de ckens durch neue Denk sche ma ta ist prin zi pi ell nicht ab schlieszlig bar denn selbst ge-gen waumlr ti ge Evo lu ti ons the o ri en un ter lie gen wei ter hin der Evo-lu ti on

Er staun li cher wei se hat die mo der ne Evo lu ti ons the o rie nur zu ei ner ge ring fuuml gi gen Kor rek tur al ter Denk sche ma ta ge fuumlhrt Wie fruuml her in der Na tur ge schich te er ken nen wir heu te in der Bi o lo gie uumlber all Re gel haf tigk eit Not wen dig keit und Vor tei-le Doch bei nauml he rer Sicht er weist sich die Evo lu ti on ge ra de zu als Herr schafts ge biet der Aus nah men uumlber die Re geln Sie ist eine raquoZweck mauml szligig keit ohne Zwecklaquo wenn auch al lein fuumlr die 01 Pro zent der heu te noch ndash oder ge ra de ndash exis tie ren den Spe-zi es nicht aber fuumlr die 999 Pro zent die in den Ur fu ten dem Ord ovizium dem Perm der Krei de oder dem Ter ti aumlr das Welt-li che seg ne ten E vo lu ti ons bi o lo gen su chen in der Ge schich te der Na tur uumlber all nach Vor tei len die das Uumlber le ben von Ar ten er-klauml ren sol len Da bei ver men gen sie oft zwei ver schie de ne Vor-teils be grif fe Ein mal geht es um Mu ta ti o nen die si tu a tiv vor teil-haf te Ei gen schaf ten fuumlr eine Tier art her vor ge bracht ha ben sol len Eine grouml szlige re Sta tur ein pom pouml se res Ge weih ein staumlr ke res Ge biss sol len Weib chen be ein dru cken und die Nach kom men schaft er-houml hen Da die se Ei gen schaf ten aber oft nichts nuumlt zen wenn der Zu fall die Spiel re geln der Um welt aumln dert gibt es ei nen zwei ten Vor teils be griff Da nach ist das vor teil haft in der Evo lu ti on was

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 439783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 43 10082021 10493410082021 104934

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vom Ende her be trach tet dazu ge fuumlhrt hat dass eine Art uumlber-lebt Nach die ser Sicht wei se kann der mick rigs te Pa vi an auf dem Fel sen sei ne Gene wei ter ge ben wenn die staumlr ke ren Kon kur ren-ten bei ei nem Erd be ben ums Le ben ge kom men sind

An ge sichts zwei er so un ter schied li cher Be deu tun gen von raquoVor teillaquo fragt es sich ob der Be griff in der Evo lu ti ons the o rie uumlber haupt sinn voll ver wen det wer den kann Tat saumlch lich ist er ein Erbe der The o lo gie des 17 und 18 Jahr hun derts die uumlber-all in der Na tur nach der klu gen Ver nunft Got tes such te Dar win kann te die se Tra di ti on gut Als Stu dent ver ehr te er den The o lo-gen Will iam Pa ley (1743 ndash 1805) der na tur kund lich be schla gen die goumltt li che Vo raus sicht auf den neu es ten Stand ge bracht hat te Als Dar win sich von Gott ver ab schie de te und die na tuumlr li che Se-lek ti on er kann te er setz te er uumlber all wo Pa ley raquoGod doeslaquo ge-schrie ben hat te den Satz durch raquoNat ure doeslaquo An Pa leys Vor-stel lung dass die Na tur zweck mauml szligig ein ge rich tet sei und Vor tei le be loh ne hielt Dar win eben so fest wie vie le spauml te re E vo lu ti ons-the o re ti ker

Die Fra ge ist des halb wich tig weil sie zeigt wie eng un se re Vor stel lung von der Na tur bis hi nein in die mo der ne Evo lu ti-ons the o rie von sehr mensch li chen Vor stel lun gen durch setzt ist Statt Vor tei le zu be nen nen wuumlr de es naumlm lich auch aus rei chen zu sa gen dass al les in der Na tur uumlber le ben kann das fuumlr eine Art kei nen toumld li chen Nach teil hat te Ver mut lich uumlber lebt in der Evo lu ti on nicht nur Zweck mauml szligi ges son dern jede Ver aumln de rung die zu min dest nicht zum Aus ster ben fuumlhr t und moumlg li cher wei se liegt ge ra de hie rin der Grund fuumlr eine gro szlige Ar ten viel falt

Die tra di ti o nell ver eng te Sicht wei se gilt ins be son de re bei der Be trach tung des Men schen E vo lu ti ons bi o lo gen koumln nen zahl-rei che Vor tei le be nen nen die er klauml ren wa rum die mensch li che Art so er folg reich ist Men schen sind aumlu szligerst an pas sungs fauml hig und be sie deln fast alle Le bens raumlu me sie sind Al les fres ser mit ei ner gro szligen Nah rungs band brei te sie ha ben eine fe xib le So zi-

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al struk tur und ver fuuml gen uumlber ein Selbst be wusst sein das es ih-nen er moumlg licht ihr Ver hal ten zu kor ri gie ren So ge se hen ist der Mensch gleich sam das op ti mal ste al ler Tie re Doch alldem zum Trotz exis tie ren Men schen der Gat tung Homo sap iens erst seit rund 100 000 Jah ren und ihre lang fris ti gen Zu kunfts chan cen ste hen schlecht Denn mit all den vor teil haf ten Ei gen schaf ten ha-ben Men schen in Re kord zeit ihre Um welt zer stoumlrt und das lang-fris ti ge Uumlber le ben der Spe zi es dra ma tisch in fra ge ge stellt Die mit we ni ger spek ta ku lauml ren Vor tei len aus ge stat te ten Di no sau ri-er exis tier ten auf un se rem Pla ne ten hun dert fuumlnf zig Mil li o nen Jah re ganz zu schwei gen von den seit uumlber vier hun dert Mil li o-nen Jah ren na he zu un ver aumln der ten Nau til iden und Ur schne cken

Ge si chert in der Evo lu ti ons the o rie ist dass kei ne ih rer An nah-men ge si chert ist E vo lu ti ons bi o lo gen die ihre Sa che ernst neh-men muumls sen im mer auch die E vo lu ti ons be dingt heit ih res ei ge-nen Er kennt nis ap pa rats ref ek tie ren also mit hin die Evo lu ti on al ler mensch li chen Er kennt nis raquoLetzt lich istlaquo wie der Neuro bio-lo ge Ger hard Roth schreibt raquoje des Nach den ken uumlber die ob jek-ti ve Re a li taumlt sei es wis sen schaft lich oder nicht an die Be din gun-gen mensch li chen Den kens Spre chens und Han delns ge bun den und muss sich da rin be waumlh renlaquo9

Man muss ref ek tie ren dass die un ver meid li chen Ord nungs-mit tel des Geis tes das Den ken und die Spra che nicht die Wirk-lich keit raquoan sichlaquo auf raumlu men Sie sind Mo del le die die un ver-fuumlg ba re Wirk lich keit nach Maszlig ga be der ei ge nen Spiel re geln er klauml ren Nicht erst seit Er for schung der Evo lu ti on in den letz-ten zwei hun dert Jah ren muumlht sich der mensch li che Geist dem Lauf der Welt ei nen ndash nach mensch li chem Er mes sen ndash raquover nuumlnf-ti genlaquo Sinn zu ge ben Doch das Pa ra do xe der Ge schich te liegt da rin dass der mensch li che Geist selbst Pro dukt evo lu ti o nauml rer Pro zes se ist Er ist Maszlig stab und Ge mes se nes zu gleich

An eine tat saumlch lich ob jek ti ve Er kennt nis der Evo lu ti on waumlre nur halb wegs sinn voll zu den ken wenn die Evo lu ti on des Men-9

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schen ab ge schlos sen ist und da mit die Stu fe der groumlszligt moumlg li chen Voll kom men heit er reicht hat In den Zei ten vor La marck und Dar win ha ben das nicht nur The o lo gen son dern auch die Na tur-for scher fast al le samt ge glaubt Das mensch li che Be wusst sein sei die un uuml ber trof fe ne Spit zen leis tung des Schoumlp fer got tes ge schaf-fen die Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Sei nen schoumlns-ten Aus druck fand die se Sicht in ei nem Aus spruch des jun gen Phi lo so phen Fried rich Wil helm Jo seph Schel ling (1775 ndash 1854) Er mein te dass der Mensch je nes We sen sei raquoin dem die Na tur das Auge auf schlaumlgtlaquo und sich da mit ih rer selbst be wusst wird Ein huumlb scher Satz aber doch viel zu pa the tisch for mu liert Von der vol len Er kennt nis der Na tur und un se rer selbst sind wir noch im mer weit ent fernt Aber wir koumln nen da ruuml ber stau nen dass die Evo lu ti on mit uns ein Le be we sen her vor ge bracht hat in dem die Na tur sich fuumlr sich selbst fa szi nier bar ge macht hat Wie hat te es dazu kom men koumln nen

bull Der Pri mat Was ist ein Mensch

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 469783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 46 10082021 10493410082021 104934

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ver waist sein Die Mensch heit wird er wacht sein und die Welt je-nes Ge sicht er hal ten ha ben das uns ge gen waumlr tig er scheint Doch wie sah das aus als die Na tur das ers te Mal in ei nem af fen aumlhn-li chen We sen die Au gen auf schlug War es auf ei ner Wald wie-se in ei nem Hain an ei nem Berg hang oder auf ei ner Lich tung War das er leuch te te We sen ein Maumlnn chen oder ein Weib chen Ging es den gan zen Tag auf recht oder saszlig es noch ger ne in der Ho cke eng ge kau ert an sei ne Bruuml der und Schwes tern Und war es eine Ein ge bung ein Blitz schlag als das Selbst be wusst sein das ers te Mal die Fes seln des Pri ma ten ge hirns spreng te

Wir wis sen nicht wo ran Schel ling dach te als er mein te die Na tur habe im Men schen ihr Auge auf ge schla gen Si cher dach te er nicht an ei nen ein zi gen Mo ment dem Mil li o nen an de re folg-ten Er dach te an den raquoMen schen an sichlaquo Und er wuss te nichts vom ost af ri ka ni schen Great Rift Val ley und von haa ri gen Vor-men schen die dort einst haus ten Er leb te in Jena und in Muumln-chen und ei nen Men schen af fen hat te Schel ling nie ge se hen Der ein zig ar ti ge Mo ment in dem die Na tur sich ih rer selbst be wusst wird bleibt eine Me ta pher

Doch wie wur de der Mensch nun tat saumlch lich zum Men-schen Die For mu lie rung ist dop pel deu tig Denn wie der Mensch zum Men schen wur de ndash das ist nicht ein evo lu ti o nauml rer Pro-zess auf der lee ren Welt buumlh ne son dern ein Spiel von Be ob ach-ter und Be ob ach te tem Schau spie ler und Zu schau er Ge schich-te auch Ent wick lungs ge schich te ist nichts Vor ge fun de nes Der Mensch schrieb der fran zouml si sche Phi lo soph JeanshyPaul Sart re (1905 ndash 1980) macht sich selbst wie der Ro man schrift stel ler sei ne Fi gu ren Er ist ge fer tigt aus bi o lo gi schen (ana to mi schen neu ro lo gi schen und phy si o lo gi schen) Be stand tei len zu al ler meist je doch durch jene we nig bi o lo gi schen Weis hei ten mit de nen sich die se Subs tan zen selbst zum raquoMen schenlaquo er ko ren

Das Glei che gilt fuumlr die mensch li che Stam mes ge schich te Auch sie ist zu naumlchst ein mal eine Ge schich te Ihre Ur spruumln ge lie gen im

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al ten Grie chen land als Aris to te les den Men schen und den Af-fen ver wandt schaft lich na he ruumlckt raquoMan che Tie re ste hen zwi-schen Mensch und Vier fuumlszlig ler in ih rem We sen wie Af fen Meer-kat zen und Pa vi a ne hellip Ihr Ge sicht hat vie le Aumlhn lich kei ten mit dem des Men schen Nase und Oh ren glei chen den sei nen und Zaumlh ne hat er auch wie ein Mensch die Vor der zaumlh ne wie die Ba cken zaumlhnelaquo10 Auch Aris to te lesrsquo Schuuml ler The oph rast (ca 370 v Chr ndash ca 288 v Chr) be steht auf der Aumlhn lich keit zwi schen Men schen und Tie ren Er lehnt es so gar ab Fleisch zu es sen oder Tie re zu op fern da man sei ne Ver wand ten nicht ver spei se

Aris to te les und The oph rast stell ten den Men schen zwar ne-ben den Af fen ndash Men schen af fen kann te man noch nicht ndash aber die al ten Grie chen hat ten ihn nur sehr un ge faumlhr zu ei nem Tier un ter Tie ren er klaumlrt Den naumlchs ten Schritt mach te mehr als zwei-tau send Jah re spauml ter Carl von Linneacute An der Zu ge houml rig keit des Men schen zu den Saumlu ge tie ren be stand fuumlr den Schwe den kein Zwei fel die Be haa rung und das Stil len der Jun gen be lehr ten un-miss ver staumlnd lich da ruuml ber Auch die Ver wandt schaft mit Af fen und Men schen af fen stand au szliger Fra ge Hier wa ren es die fa chen Fin ger- und Fuszlig nauml gel statt der Klau en der ab ge spreiz te Dau-men die Greif haumln de die zwei Zit zen der Weib chen und der frei he run ter haumln gen de statt am Un ter leib an lie gen de Pe nis ndash Merk-ma le die groumlszlig ten teils auch schon Aris to te les auf ge fal len wa ren

Doch Linneacute zouml ger te vor der Kon se quenz Haumln de rin gend such-te der got tes fuumlrch ti ge Ana tom nach ei nem Un ter schied zwi schen dem Men schen und den uumlb ri gen von ihm so ge nann ten raquoPri ma-tenlaquo raquoIch ver lan gelaquo schrieb er 1747 sei nem deut schen Freund Jo hann Ge org Gme lin raquovon Ih nen und von der gan zen Welt dass Sie mir ein Gat tungs merk mal zei gen hellip auf grund des sen man zwi schen Mensch und Affe un ter schei den kann Ich weiszlig selbst mit aumlu szligers ter Ge wiss heit von kei nemlaquo11

Nach sei nen Kri te ri en haumlt te Linneacute den Men schen zu min dest mit dem Schim pan sen ge mein sam in die sel be Gat tung ein ord-10

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nen muumls sen Der Ge dan ke schweb te zeit gleich auch dem Phi lo so-phen JeanshyJacques Rous seau (1712 ndash 1778) vor als er Schim pan-sen Orang-Ut ans und Men schen so gar als Ver tre ter der Spe zi es Mensch an sah Rous seau hat te nie ei nen Men schen af fen ge se-hen Aber die Be rich te die er von Ex pe di ti o nen nach Af ri ka und Suumld ost a si en las lie szligen in ihm kei nen Zwei fel dass die da rin be schrie be nen Men schen af fen raquowe der Tie re noch Goumlt ter son-dern Men schenlaquo sei en12 Fuumlr den Auf klauml rer wa ren Men schen af-fen edle Wil de die von kei ner Zi vi li sa ti on in ih rem fried fer ti gen We sen zer stoumlrt sei en an ders als die Men schen in Eu ro pa Eben-so dach te we nig spauml ter der schot ti sche Sprach for scher James Bur nett Lord Mon boddo (1714 ndash 1799) Auch er be trach te te den Orang-Utan als ei nen Men schen naumlm lich als ei nen raquosprach-losen Wil denlaquo

In ter pre ta ti o nen wie Rous seau sie in Pa ris und Bur nett bald da rauf in Kin card ines hire wag ten wa ren Linneacute im schwe di schen Upp sa la fremd Den Men schen ins Tier reich ein zu ord nen war in den Au gen der stren gen pro tes tan ti schen Kir che Suumln de ge nug und Linneacute zouml ger te den letz ten Schritt zu tun In sei ner Not sor-tier te er 1758 ach sel zu ckend Mensch und Schim pan se in un ter-schied li che Gat tun gen zu sam men ge fasst in der Ord nung der Pri ma ten in der sie auch heu te noch mehr schlecht als recht huumlbsch ge trennt ne ben ei nan der ho cken Homo sap iens der raquoin-tel ligi ble Menschlaquo und Pan trog lody tes der raquohoumlh len be woh nen-de Faunlaquo

So weit so schoumln Der Mensch wur de der obers te Pri mat das houmlchs te raquoHer ren tierlaquo Linneacute be kam kei nen Aumlr ger mit der Kir-che und die Na tur wis sen schaft den gro szligen Wurf des Linneacute rsquoschen Sys tems Wenn nur die se Nach barn nicht wauml ren Seit Be kannt-wer den der Men schen af fen be muumlh ten sich Wis sen schaft ler und The o lo gen im mer wie der um den Ver such den klei nen Gra ben mit gro szligen Was sern zu fuumll len der Homo sap iens und Pan troshyglody tes bei ih rer ord nungs ge mauml szligen Ver ge sell schaf tung auf der 12

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 509783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 50 10082021 10493510082021 104935

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Af fen in sel trennt Sie eva ku ier ten den Men schen vom Pri ma ten-fel sen und schu fen ihm eine ei ge ne Ord nung

In die ser Vor stel lungs welt wuchs auch der The o lo gie stu dent Charles Dar win auf Das fruuml he 19 Jahr hun dert war eine got-tes fuumlrch ti ge bie der mei er li che Zeit Doch je mehr er sich mit der Ver aumln de rung der Ar ten be schaumlf tig te umso deut li cher wur de Dar win dass es mit der of fi zi ell be kun de ten Son der stel lung des Men schen im Uni ver sum nicht weit her sein konn te So no tier te er schon er staun lich fruumlh in sein Ta ge buch raquoDer Mensch haumllt sich in sei ner Ar ro ganz fuumlr ein groszlig ar ti ges Werk des be son de ren Ein grei fens ei ner Gott heit wuumlr dig Es duumlrf te be schei de ner und wie ich glau be auch rich tig sein ihn als aus den Tie ren ent stan-den an zu se henlaquo13

Dar win hat te den noch zwoumllf Jah re ge zouml gert bis er sich schlieszlig lich ge trau te nach der all ge mei nen Dar stel lung ei ner Evo-lu ti ons the o rie im Jahr 1859 sei ne Schluss fol ge run gen in Be zug auf den Men schen in Druck zu ge ben Die Ab stam mung des Men schen aus dem Jahr 1871 ist ein ge maumlch li ches Buch in ver-soumlhn li chem Ton fall Der Na tur for scher er zaumlhlt da rin wie ein gu-ter al ter Groszlig va ter wo her die Pfan zen die Tie re und die Eng-laumln der kom men Die raquoAb wer tunglaquo des Men schen geht da bei ein her mit ei ner kon ti nu ier li chen raquoAuf wer tunglaquo der Tie re raquoWir ha ben ge se henlaquo schreibt Dar win raquodass die Emp fin dun gen und Ein druuml cke die ver schie de nen Er re gun gen und Fauml hig kei ten wie Lie be Ge daumlcht nis Auf merk sam keit Neu gier de Nach ah mung Ver stand usw de ren sich der Mensch ruumlhmt in ei nem be gin nen-den oder zu wei len selbst in ei nem gut ent wi ckel ten Zu stand bei den nie de ren Tie ren ge fun den wer denlaquo14

La marck und Dar win wa ren die Ers ten die mit Mit teln der mo der nen Na tur wis sen schaft be haup te ten was vie le Kul tu ren und Zei ten schon zu vor re li gi oumls ge ahnt hat ten raquoNa tuumlr lichlaquo ist es ab surd eine Tei lung des Tier reichs in zwei Ka te go ri en vor zu-neh men ndash in eine mensch li che und eine nicht mensch li che Ka-13

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9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 519783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 51 10082021 10493510082021 104935

Page 17: Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen · Leseprobe Professor Dr. Richard David Precht Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen »Fazit:

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de ren an zu se hen koumlnn te ja auch be deu ten ihn ab zu wer ten statt die Tie re mo ra lisch erns ter zu neh men Das Un heil des So zi-al dar wi nis mus und der bar ba ri schen Ras sen the o rie ste ht uns mah nend vor Au gen Und was ist uumlber haupt das Kri te ri um da-fuumlr Tie re mo ra lisch zu ach ten Ist es ihre Lei dens fauml hig keit ihr Le bens wil le oder ihre In tel li genz Ha ben klu ge Tie re ein houml he-res Le bens recht als duumlm me re Das Ver haumllt nis des Men schen zu den an de ren Tie ren neu zu be wer ten ist eine gro szlige und schwie-ri ge Auf ga be

Ich moumlch te in die sem Buch ver su chen die se Fra gen neu zu stel len und zu durch den ken Da bei be trach te ich den Men schen als ein be son de res Tier un ter vie len auf an de re Wei se be son de ren Tie ren Ich moumlch te mich nicht da rauf fest le gen den Men schen all ge mein uumlber be stimm te Ei gen schaf ten zu de fi nie ren die ihn ethisch wert voll ma chen sol len Ich moumlch te ihm aber auch nicht im Um kehr schluss alle ge mein hin als raquomensch lichlaquo be zeich ne ten Ei gen schaf ten ab spre chen weil nicht alle Men schen Trauml ger all die ser Ei gen schaf ten sind Viel leicht ist be reits das Su chen nach sol chen ex klu si ven Ei gen schaf ten der fal sche Weg Der Denk-feh ler koumlnn te be reits da rin lie gen ei gen staumln di ge Dis zip li nen wie raquoAnth ro po lo gielaquo oder raquoMo ral phi lo so phielaquo be trei ben zu wol len die eine sol che enge De fi ni ti on des Men schen vo raus set zen Waumlre es nicht bes ser die Enge des Be griffs zu spren gen Statt Anth-ro po lo gie zu be trei ben soll te man sich lie ber mit ei ner Anthroshyzo o lo gie be schaumlf ti gen ndash eine Leh re vom Men schen tier und den an de ren Tie ren

Der Be griff ist neu er wur de erst vor we ni gen Jah ren un ter an de rem von dem US-ame ri ka ni schen Psy cho lo gen Hal Her zog ein ge fuumlhrt3 Die neue Dis zip lin der Hu manshyAni mal Stu dies kon-zent riert sich weit rei chend da rauf was Men schen und an de re Tie re ver bin det Da bei ver wen de ich den Be griff raquoAn thro zo o-lo gielaquo al ler dings et was an ders als Her zog und die Ver tre ter der Hu man-Ani mal Stu dies Es ist ein et was ein touml ni ger Sport al les 3

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 229783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 22 10082021 10493410082021 104934

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was ge mein hin als raquomensch lichlaquo be trach tet wird als My thos zu ent zau bern Ich moumlch te es lie ber an ders ein bet ten und be wer ten Denn ich mei ne dass die Ver tre ter der Hu man-Ani mal Stu dies ihre De fi ni ti on des Men schen als ein Tier un ter Tie ren nicht ganz zu Ende den ken Denn waumlre der Mensch durch nichts Mensch-li ches grund saumltz lich vom Tier un ter schie den wie sie an neh men so lieszlige sich auch nicht ein for dern dass Men schen sich aus vershynuumlnf ti ger Ein sicht an ge mes sen ge gen uumlber Tie ren ver hal ten sol len

Um mensch li ches Han deln zu ver ste hen muumls sen wir ver ste-hen in wel chem Rah men Men schen die Welt se hen sich ori en-tie ren und han deln Die bei den ers ten Tei le des Bu ches skiz zie-ren die sen bi o lo gi schen und den kul tu rel len Rah men In ih nen moumlch te ich zei gen auf wel che Art und Wei se Men schen sich un-ter Tie ren ver hiel ten und ver hal ten Da bei be schaumlf tigt sich der ers te Teil mit der Fra ge was fuumlr ein spe zi el les Tier der Mensch ei gent lich ist Wie ist sei ne Rol le in der Evo lu ti on Und nach wel chen Denk mus tern ha ben Men schen die se Chro nik un se rer selbst seit der An ti ke ge schrie ben (Die Ord nung der Schoumlpshyfung) Wel che Stel lung hat sich Homo sap iens in der Na tur da-durch ge si chert dass er sie sich zu schrieb (Der Pri mat)

In je der mensch li chen Wis sen schaft vom Le ben be steht bis heu te still schwei gend oder laut hals ver kuumln det zwi schen Mensch und Tier eine Gren ze Doch weiszlig we der die E vo lu ti ons bi o lo-gie noch die Pal aumlo anth ro po lo gie mit Ge wiss heit zu sa gen an wel chem Punkt sich nur ani ma li sches von mensch li chem Le ben schei det Was ha ben Pal aumlo anth ro po lo gen in den letz ten hun dert Jah ren da ruuml ber ge glaubt Und was den ken sie heu te (Der aufshyrech te Affe) Da bei wer den wir se hen dass es mit der Gren ze zwi schen dem Men schen und den an de ren Tie ren eine aumlu szligerst komp li zier te Sa che ist Seit Jahr zehn ten mes sen und ver glei chen Ver hal tens for scher die kog ni ti ven Leis tun gen von Tie ren mit je-nen des Men schen mit dem uumlber ra schen den Er geb nis dass Tie re in na he zu al len raquowich ti genlaquo Punk ten un ter le gen sind bei Kul tur-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 239783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 23 10082021 10493410082021 104934

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leis tun gen wie Werk zeug ge brauch und Re li gi on eben so wie beim Er werb der mensch li chen Spra che Doch ha ben wir bei sol chen Mes sun gen tat saumlch lich den rich ti gen den fai ren Maszlig stab Ist es sinn voll die In tel li genz von Men schen af fen mit uns zu ver glei-chen (Sinn und Sinn lich keit)

Die Mo le ku lar ge ne tik zeigt uns dass Men schen bi o lo gisch Schim pan sen sind Wel che Kon se quen zen zie hen wir da raus (Eins Kom ma sechs Pro zent) Nach dem wir den Men schen auf die se Wei se bi o lo gisch ein ge kreist ha ben wer fen wir noch ei nen Blick da rauf wie ob jek tiv un ser Wis sen vom Men schen und den an de ren Tie ren ist Was koumln nen wir uumlber haupt uumlber das Be wusst-sein an de rer Tie re wis sen Stellt es nicht eine so gro szlige Bar ri e re dar dass wir zu ge ben muumls sen nichts De fi ni ti ves sa gen zu koumln-nen (Die Tuuml cke des Sub jekts)

Im zwei ten Teil wer fe ich ei nen Blick in die Kul tur ge schich te des Mensch-Tier-Ver haumllt nis ses Was ha ben Men schen zu wel cher Zeit uumlber Tie re ge dacht und wa rum Wie hat man sie be han delt Und wel che Sen si bi li taumlt oder Kaumll te setz te sich wa rum durch Was wis sen wir da ruuml ber aus der Jung stein zeit (Die Tund ra des Ge wis sens) Was glaub ten und dach ten die al ten Aumlgyp ter (raquoIch habe kein Tier miss han deltlaquo) Und wa rum ent zau ber te das alte Ju den tum die Tie re (Hir ten und Herr scher)

In der abend laumln di schen Phi lo so phie gibt es seit der An ti ke sehr un ter schied li che Deu tun gen von Tie ren Mal se hen die Den ker eine gro szlige spi ri tu el le oder na tur ge schicht li che Naumlhe mal er he-ben sie den Menschen qua sei ner Ver nunft zum un ein ge schraumlnk-ten Wel ten herr scher (Das ver lo re ne Pa ra dies) In der christ li chen Re li gi on da ge gen wer den Men schen und Tie re deut lich von ei-nan der ge schie den eine Son der an fer ti gung hier eine Drein ga-be dort Das Chris ten tum ent fernt die tier freund li chen Mo men-te der juuml di schen Re li gi on aus den Glau bens leh ren (raquoKuumlm mert sich Gott etwa um die Och senlaquo) An ders ver laumluft der Weg in In di en Chi na und Suumld ost a si en Das Welt bild und die Tier ethik

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 249783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 24 10082021 10493410082021 104934

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von Hin dus und Bud dhis ten un ter schei den sich von der un se-ren (Schein hei li ge Kuumlhe) Im Abend land da ge gen do mi niert in der Nach fol ge des fran zouml si schen Phi lo so phen Reneacute Des car tes eine raquora ti o na lis ti schelaquo kal te Pers pek ti ve auf das Tier Tie re weil sie nicht ver nunft fauml hig sei en wer den kaum noch als Le be we sen wahr ge nom men ndash eine Po si ti on die im 18 Jahr hun dert al ler-dings ziem lich kont ro vers dis ku tiert wird (Die Den ker und das lie be Vieh) Nach und nach ent ste hen im spauml ten 18 Jahr hun dert eine neue Mit leids ethik und so gar ers te For de run gen nach Rech-ten fuumlr Tie re (raquoKoumln nen sie lei denlaquo)

Im drit ten Teil moumlch te ich eine ei ge ne ethi sche Hal tung ent-wi ckeln Zu naumlchst wer den The o ri en von Phi lo so phen des 20 Jahr hun derts vor ge stellt die wie Al bert Schweit zer raquoEhr furcht vor dem Le benlaquo ver lan gen oder Tie ren ei nen ho hen mo ra li schen Sta tus zu spre chen wie Pe ter Sin ger und Tom Re gan (Das ei sershyne Tor) Die se Po si ti o nen zwin gen dazu grund saumltz li cher da ruuml-ber nach zu den ken was das raquoTier rechtlaquo vom raquoTier schutzlaquo un-ter schei den soll (Schutz oder Recht) An schlie szligend moumlch te ich die Schwach stel len der gaumln gi gen Tier rechts phi lo so phi en he raus-ar bei ten und zei gen wa rum ich sie we der dem Men schen fuumlr an-ge mes sen hal te noch fuumlr all ge mein prak ti ka bel (Eine art ge rech te Mo ral) Da ran schlie szligen sich mei ne Uumlber le gun gen an was ein an ge mes se ner Um gang mit Tie ren sein koumlnn te (Gut besser am besten)

Sol cher ma szligen ge ruumls tet koumln nen wir uns im vier ten Teil mit den vie len Prob le men be fas sen die sich im All tag stel len Das ers te die ser Ka pi tel bi lan ziert das all taumlg li che Cha os im Um gang mit Tie ren (Lie ben ndash Has sen ndash Es sen) Da nach wen den wir den Blick auf die recht li che Si tu a ti on und un ter zie hen die Lo gik un-se res Tier schutz ge set zes ei ner ge nau e ren Pruuml fung (Ein kur zer Text uumlber das Touml ten) Das naumlchs te Ka pi tel gilt der Jagd Ist Ja gen art ty pi sches Ver hal ten des Men schen oder eine staat lich le gi ti-mier te Per ver si on (Na tur schutz oder Lust mord) Und wie sieht

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es mit un se rer Er naumlh rung aus Wel che Ar gu men te spre chen da-fuumlr dass Men schen in un se ren heu ti gen west li chen Ge sell schaf-ten noch Tie re touml ten duumlr fen um sich von ih nen zu er naumlh ren Und wel che Ar gu men te spre chen da ge gen Viel leicht gibt es so gar schon in Kuumlr ze ei nen Aus weg der uns end lich hilft die Mas sen-tier hal tung zu be sei ti gen (Jen seits von Wurst und Kaumlse) Eben so stellt sich die Fra ge un ter wel chen Um staumln den Tier ver su che zu-kuumlnf tig er laubt sein soll ten und un ter wel chen nicht (Das Tier als Dum my) Ist es mo ra lisch ver tret bar Tie re in Zo o lo gi schen Gaumlr ten zu hal ten Und wenn ja wel che und wel che nicht (Alshycat raz oder Psycho top) Zoos ver ste hen sich heu te als raquoNa tur-schutz zent renlaquo die Tie re er hal ten die in ih ren Hei mat laumln dern vom Aus ster ben be droht sind Wie ist dies zu be wer ten (Das Zeit al ter der Ein sam keit) Da bei sto szligen wir auf die Schwie rig-keit dass Tier schutz Tier recht und Ar ten schutz kei ne na tuumlr li-chen Ver buumln de ten sind son dern sich in ih rer Phi lo so phie ih rer Welt an schau ung und ih ren Ziel set zun gen stark un ter schei den (Das un ver soumlhn li che Tri um vi rat) Das Schluss wort bi lan ziert die se Er kennt nis se und fragt was wir aus al le dem prag ma tisch fol gern soll ten und in wel chen Schrit ten es ge sche hen koumlnn te (Scho pen hau ers Trep pe)

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Das Men schen tier

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Wahr heit zu hal ten Aber die ses Bild hat sich schon oft ver aumln-dert und es wird sich ge wiss noch wei ter ver aumln dern

Men schen nei gen dazu die Welt in der sie le ben auf zu raumlu-men Es ist eine ziem lich art ty pi sche Ver hal tens wei se Wir sor tie-ren die all taumlg li chen Din ge un se res Le bens und eben so sor tie ren wir die Ge dan ken uumlber die Welt die uns um gibt Jede Ord nung auch die der Na tur ist also ein mensch li cher Ent wurf Und al-lem An schein nach ent stand das Be duumlrf nis die Welt zu ord nen in un se rer Ent wick lungs ge schich te pa ral lel zur Ent wick lung der Spra che Denn ohne die kuumlnst li che Auf raumlum ar beit der Spra che waumlre die Vor stel lung von ei ner raquoOrd nung der Schoumlp funglaquo oder der raquoNa turlaquo nicht moumlg lich

Wer auf die Ord nung an ge wie sen ist be wegt sich gern in den si che ren Gren zen ei nes Sys tems Nur in ner halb ei nes sol chen Ord nungs ge fuuml ges fragt man nach Wahr heit und Gel tung Rich-tig keit Me tho de und Be deu tung Zu leicht uumlber sieht der Ord ner dann die kuumlnst li che Be hau sung und die selbst ge zim mer ten Re-ga le in die er die Welt so sorg faumll tig hi nein sor tiert Sel ten ge lingt ihm ein Blick aus dem Fens ter in die un ge wis se Land schaft die ihn um gibt Und nur ein ge wal ti ger Sturm ein Blitz schlag oder eine Er schuumlt te rung zwingt den Ver wal ter der Welt die si che re Wohn statt zu ver las sen und sich ein an de res Haus zu bau en das den An fein dun gen des neu en Kli mas wi der steht

Erst im Ruumlck blick auf die vie len Irr tuuml mer der Ver gan gen heit er ken nen wir dann un se re ei ge ne Un zu laumlng lich keit beim Auf-raumlu men In der Ge gen wart er scheint uns die je wei li ge Ord nung meis tens so selbst ver staumlnd lich dass wir gern uumlber jede Moumlg-lich keit der Ver aumln de rung lauml cheln So ha ben Men schen mit voumll li-ger Ge wiss heit an ge nom men dass die Erde eine Schei be ist und dass Frau en und Skla ven kei ne Rech te zu ste hen Und mit ei nem eben sol chen Lauml cheln be trach ten wir heu te die Gruumln de mit de-nen Men schen sich im Lau fe der Jahr hun der te von den Tie ren zu un ter schei den glaub ten

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Schon die al ten Grie chen ins be son de re Aris to te les (384 v Chr ndash 322 v Chr) ha ben sich fuumlr die Ge schich te und das in vie len De tails ver bor ge ne Sys tem der Na tur in te res siert Er teilt die Tie re in Klas sen ein ver sucht zu er gruumln den was Le ben ist und schafft da mit die Grund la gen der Zo o lo gie Aber Aris to te-les kennt nur we ni ge hun dert Tie re Eine raquovoll staumln di ge Na tur-ge schich telaquo wird das ers te Mal im 18 Jahr hun dert ge schrie-ben ndash und auch sie ist aumlu szligerst un voll staumln dig Seit dem ver fuuml gen wir nicht nur uumlber ei nen rei chen Vor rat an ge dach ten Ord nun-gen von den Schoumlp fungs my then bis hin zur Mo le ku lar bi o lo gie Wir ken nen auch eine Wis sen schaft die sich raquoTax ono mielaquo nennt und jede Pfan ze und je des Tier sys te ma tisch in eine In ven tar liste der Na tur ein traumlgt

Da bei ver ra ten die Denk sche ma ta der Na tur for scher nicht nur et was uumlber die klas si fi zier te Na tur selbst son dern eben so uumlber das Ord nungs be duumlrf nis und die Pfif fig keit des mensch li-chen Geis tes Das 18 Jahr hun dert ist eine Zeit in der das Buumlr-ger tum an die Macht draumlngt und sich zu neh mend ge gen den Adel auf ehnt Sei ne schaumlrfs te Waf fe ist et was das man raquoVer nunftlaquo oder raquoRa ti o na li taumltlaquo nennt und das man ge gen den Glau ben ins Feld fuumlhrt Fuumlr die Phi lo so phen der Ra ti o na li taumlt ist die Welt kei-ne vor ge fun de ne Schoumlp fung mit fes ter Ord nung son dern et was dass man geis tig durch drin gen und auf sei ne Lo gik und Wi der-spruuml che un ter su chen kann Da bei ge ben zu naumlchst die Phy sik und die Ma the ma tik das Sche ma vor nach dem alle Er kennt nis auch jene von Pfan zen und Tie ren funk ti o nie ren soll Die Sys te ma ti-ker der Na tur ge schich te su chen nach un ver ruumlck ba ren Kri te ri en ob jek ti ven Ge setz mauml szligig kei ten und lo gi schen Ver bin dun gen um die un uuml ber sicht li che Welt der Le be we sen ih rer raquowah ren An ord-nunglaquo ge maumlszlig ein zu tei len Aber nicht alle Na tur for scher glau-ben dass ein sol ches Vor ha ben tat saumlch lich ge lin gen kann Man-che hal ten die Na tur fuumlr zu reich hal tig um sie auf die se Wei se zu klas si fi zie ren Welt an schau un gen tref fen auf ei nan der auf der

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ei nen Sei te der Glau be an ein vom Men schen prin zi pi ell voumll lig durch schau ba res Na tur sys tem auf der an de ren Sei te eine un er-gruumlnd li che Schoumlp fung in der der Mensch sich im mer nur tas-tend fort be wegt

Die ers te Va ri an te gilt im 18 Jahr hun dert als der mo der ne-re An satz Man ori en tiert sich da bei an ei nem Ra ti o na lis mus den Reneacute Des car tes (1596 ndash 1650) schon hun dert Jah re zu vor neu be gruumln det hat Die ser Ra ti o na lis mus ori en tiert sich an der Me cha nik Die Schoumlp fung Got tes er scheint als eine ein zi ge klug aus ge tuumlf tel te Ma schi ne die der Mensch Stuumlck fuumlr Stuumlck zu be-herr schen lernt Und das Uni ver sum be steht aus Ma te rie in Be-we gung or ga ni siert nach ma the ma ti schen Ge set zen Ob gleich das 18 Jahr hun dert zent ra le Spe ku la ti o nen des Phi lo so phen wi-der legt ori en tiert es sich in vie lem an Des car tesrsquo me cha nis ti scher Denk wei se Sie tut dies vor zugs wei se in je nen Dis zip li nen de-ren Er kennt nis fort schritt zu naumlchst ge ring bleibt Und nir gend-wo trifft dies in ei nem sol chen Maszlig zu wie bei der Er for schung der bi o lo gi schen Na tur

Doch die ses Welt bild hat prob le ma ti sche Fol gen Wer die Welt kon se quent nach me cha nis ti schen Grund saumlt zen be trach tet hat fuumlr den Be reich der nicht mensch li chen Na tur we nig Ver staumlnd nis Fuumlr Des car tes sind Tie re nichts als Ma schi nen Es macht kei nen Un ter schied ob eine Ma schi ne die aumlu szlige re Ge stalt und die in ne-ren Or ga ne ei nes Af fen hat oder ob es sich da bei tat saumlch lich um ein le ben des Tier han delt Denn relevantes Le ben kommt fuumlr den Den ker nicht durch zir ku lie ren des Blut und Reizempfindungen in den Koumlrper Son dern bedeutsames Le ben ga ran tie ren ein zig und al lein der er leuch te te Geist und sei ne Spra che

Des car tesrsquo Zeit kennt we der den Be griff des raquoOr ga nis muslaquo die Be son der heit des Le bens noch die Evo lu ti on son dern eben nur die Me cha nik Trotz dem ist sei ne The o rie von den Tie ren als see len lo se Au to ma ten im 17 und 18 Jahr hun dert aumlu szligerst um-strit ten Fran zouml si sche Phi lo so phen schrei ben Buch um Buch uumlber

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die Tier-Fra ge und be feh den sich da bei uumlber mehr als hun dert Jah re Noch weiszlig man nichts von ei ner raquoBi o lo gielaquo Man be treibt eine neue Dis zip lin die sich raquoNa tur ge schich telaquo nennt und da-mit auf raumlumt die Ge schich te von Le be we sen als eine wahl lo se Samm lung von Er zaumlh lun gen an zu se hen Bis her schrie ben Au to-ren um stands los von der Fang wei se der Tie re ih rer Ana to mie ih rer bib li schen und al le go ri schen Be deu tung ih rem prak ti schen Ge brauch ih rer Ver meh rung ih ren Stim men und Spra chen ih-ren Be we gun gen ih rem Al ter und von der Sym pa thie oder An-ti pa thie des Ver fas sers Auch Koch re zep te wur den von Fall zu Fall hin zu ge fuumlgt

Ein zo o lo gi sches Sys tem ist zu An fang des 18 Jahr hun derts weit ge hend un be kannt die Ver wandt schafts ver haumllt nis se der Pfan zen und Tie re sind dif fus ge ahnt und wer den eher nach Le-bens raumlu men be stimmt als nach koumlr per li chen Merk ma len Tie re die nachts ja gen ste hen da bei eben so in ei nem Ord nungs ge fuuml ge wie Tie re die fie gen koumln nen im Wald oder in ei nem See le ben Be reits die Pries ter schrift der bib li schen Ge ne sis hat te die Welt der Tie re und Pfan zen nicht nach ana to mi schen Merk ma len un-ter teilt son dern in Be zug auf den Le bens raum Pfan zen und Tie re des Mee res der Luft und der Erde Uumlber mehr als tau send Jah re kann ten auch der Is lam und die Hin dus Ord nungs sys teme die Tie re in ih rem Oumlko sys tem ver an ker ten

In der hin du is ti schen Samk hya-Tra di ti on exis tie ren vier zehn Klas sen un ter schied li cher Le be we sen ein ge teilt in acht For men himm li scher und sechs ir di scher Le be we sen zu de nen auch der Mensch ge houmlrt Als wei te res Un ter schei dungs merk mal dient die Art und Wei se der Ge burt Im gro szligen in di schen Na ti o nal epos aus dem 4 Jahr hun dert dem Ma hab har ata heiszligt es raquoAuf die ser Erde gibt es zwei Ar ten von Le be we sen die Be weg li chen und die Un be weg li chen Die Be weg li chen ha ben ei nen drei fa chen Schoszlig Sie sind aus dem Ei aus feuch ter Hit ze und Le ben dig-Ge bo re ne Von al len be weg li chen Le be we sen wie de rum sind die je ni gen die

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le ben dig ge bo ren sind hellip die bes ten Die bes ten un ter den le ben-dig Ge bo re nen sind die die zum Men schen ge schlecht ge houml ren und die Nutz tie relaquo4

Die neu en Sys te me des 18 Jahr hun derts be frei en die Na tur-ge schich te von al lem was sich mit den Me tho den der Zeit nicht wis sen schaft lich exakt be schrei ben laumlsst Koch re zep te fal len so-wie so un ter den Tisch aber auch man che Ver hal tens be ob ach-tun gen und vor mals wich ti ge Ei gen schaf ten wie zum Bei spiel der Ge ruch Ge forscht wird mit Lupe und Mik ros kop Li ne al und Pin zet te Der wich tigs te Mann auf die sem Ge biet ist der schwe-di sche Na tur for scher Carl von Linneacute (1707 ndash 1778) Er ori en-tiert sich an Aris to te les den er be wun dert nicht an Des car tes Ge ra de zu re vo lu ti o naumlr de mo kra tisch ent wi ckelt der auf ge klaumlr te Schwe de im 18 Jahr hun dert ein be schrei ben des Sys tem der Na-tur frei vom the o lo gi schen Fir le fanz sei ner Zeit Mit der Ak ri bie ei nes Brief mar ken samm lers dem Voll staumln dig keit mehr be deu tet als das Be stau nen ein zel ner Wer te ord net er die be leb te Na tur nach Ar ten Gat tun gen Ord nun gen und Klas sen Vier Va ri ab len die Form der Ele men te ihre An zahl die raumlum li che An ord nung der Ele men te und ihre re la ti ve Grouml szlige be stimm ten von nun an den Platz im Sys tem

Un ter der Leit dis zip lin der Bo ta nik wan delt sich die Na tur ge-schich te in eine ge ord ne te Welt aus Li ni en und Flauml chen Ent schei-dend sind die sicht ba ren Un ter schei dungs merk ma le wie Bluuml ten und Staub ge fauml szlige Blaumlt ter und Fruumlch te Fuumlszlige und Hufe Fe dern und Flos sen So setzt Linneacute fuumlr jede Pfan zen- und Tier klas se jede Ord nung und Gat tung be stimm te Merk ma le fest die er als die wich ti ge ren er ach te t Denn nur un ter der An nah me sol cher pri vi-le gier ter Struk tu ren ist es ihm moumlg lich die ver schie de nen Spe zi es im Ge samt sys tem un miss ver staumlnd lich zu ras tern Der mensch li che Ord ner be schreibt also nicht ein fach die be leb te Na tur Er fuumlgt ihr auch et was hin zu die Ent schei dung naumlm lich was in der For men-viel falt der Le be we sen wich ti ge Merk ma le sind und was nicht4

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Wie alle da ma li gen Na tur for scher nimmt Linneacute an dass die Ein tei lun gen die der mensch li che Ver stand macht tat saumlch lich ei ner ob jek ti ven Ord nung der Na tur ent spre chen Doch Lin neacutes Sys tem ist wie er selbst weiszlig nicht raquona tuumlr lichlaquo Sei ne Struk tu ren sind kei ne die er in der Na tur als Un ter schei dungs kri te ri en vor-fin det Denn was sich am Schreib tisch nun muumlh sam in Ord nun-gen pres sen laumlsst liegt wie der fran zouml si sche Na tur for scher Mishychel Adan son (1727 ndash 1806) fest stellt in der Wild nis wie Kraut und Ruuml ben durch ei nan der raquohellip eine kon fu se Mi schung aus We-sen hellip die der Zu fall ei nan der an ge nauml hert zu ha ben scheint Hier wird das Gold mit ei nem an de ren Me tall mit ei nem Stein oder mit Erde ge mischt Dort waumlchst die Ei che ne ben dem Veil chen Un ter die sen Pfan zen ir ren eben falls der Vier fuumlszlig ler das Rep til und das In sekt um her Die Fi sche mi schen sich so zu sa gen mit dem waumlss ri gen Ele ment in dem sie schwim men und mit den Pfan zen die auf dem Grun de der Ge waumls ser wach sen hellip Die se Mi schung ist so gar so all ge mein und so viel faumll tig dass sie ei nes der Na tur ge set ze zu sein scheintlaquo5

Der Wi der spruch zwi schen ei ner tax ono mi schen und ei ner oumlko lo gi schen Ord nung der Na tur ist of fen sicht lich Er fin det sich noch heu te in der Dis kus si on um die Aumls the tik von Zoo an la gen Soll man die Tie re nach Ver wandt schafts ver haumllt nis sen sam meln also in Raub tier haumlu sern An ti lo pen haumlu sern und Hirsch an la gen so dass der Be su cher zwi schen den ana to mi schen Be son der hei-ten der Ar ten ndash mit un ter so gar den ge o gra fi schen Va ri an ten ei ner ein zi gen Art ndash zu un ter schei den lernt Oder ge waumlhrt die Nach-ge stal tung ei nes Na tur bi o tops ei ner af ri ka ni schen Sa van ne oder ei nes al pi nen Pa no ra mas den wich ti ge ren Ein blick in die Ord-nung der Na tur

Zwar steht fuumlr Linneacute und sei ne Kol le gen fest dass die raquowah-re Ord nunglaquo der Na tur sich an den koumlr per li chen Merk ma len zu ori en tie ren hat doch muss eine Er klauml rung da fuumlr ge fun den wer-den wa rum die se Ord nung in der frei en Na tur nicht von al lein 5

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sicht bar wird Ohne Zwei fel ist das Sys tem der Na tur kei ne zeit-lo se Schoumlp fung son dern durch Ver aumln de run gen ge kenn zeich net die sich in der Erd ge schich te er eig net ha ben Pa ral lel meh ren sich die Fun de von Fos si li en also von Tie ren die mut maszlig lich aus-ge stor ben sind Es hat al lem An schein nach grouml szlige re ge o lo gi sche Ka tast ro phen in un be kann ter Zahl ge ge ben de nen vie le Ar ten zum Op fer ge fal len sind Doch ha ben die se De sas ter auch zur Ent ste hung von neu en For men ge fuumlhrt

Um den Fak tor der Zeit und sei ne Fol gen fuumlr das Sys tem der Na tur ein zu schaumlt zen gibt es vie le Moumlg lich kei ten Die ein fachs te und mensch lichs te al ler zeit li chen Ord nungs vor stel lun gen ist die Idee al les fol ge ei nem Plan und sei auf ein Ziel hin aus ge rich-tet (Te le o lo gie) Re li gi o nen Phi lo so phi en und Ide o lo gi en funk-ti o nie ren na he zu al le samt ziel ge rich tet Es geht um ein bes se res Le ben auf Er den im Jen seits in ei nem ge rech ten Staat um die Herr schaft uumlber die an de ren uumlber die Pro duk ti ons mit tel oder das Boumlse Selbst un ser All tag ge stal tet sich weit ge hend te le o lo-gisch durch traumlnkt von zu kuumlnf ti ger Er war tung Mo tor jed we-der Te le o lo gie ist der Fort schritts ge dan ke Sein ima gi nauml res Ziel ist der voll kom me ne Zu stand So glau ben christ lich-abend laumln-di sche Ge sell schaf ten gern an eine staumln di ge Ver bes se rung durch An stren gung eine Tu gend die nach cal vi nis ti scher Tra di ti on im Him mel wie auf Er den von Gott ma te ri ell ent lohnt wird Wie na he lie gend also auch in der Na tur die Ent ste hung raquohouml he rerlaquo Le bens for men durch Fort schritt er ken nen zu wol len mit dem End ziel des Men schen

Die Un ord nung der Schoumlp fung mit ei nem goumltt li chen Fort-schritts plan in Ein klang zu brin gen ist das Le bens werk des Schwei zer Na tur for schers und Phi lo so phen Charles Bon net (1720 ndash 1793) Fuumlr Bon net ist die Zahl der Ar ten und ihre aumlu-szlige re Ge stalt von Gott ein fuumlr al le Mal fest ge legt Doch kann sich ein je des Le be we sen per fek ti o nie ren Der Weg vom simp-len Ge muumlt zur ge ni a li schen Leis tung ist vom Schoumlp fer vor ge-

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zeich net Und alle Tie re be schrei ten ihn zeit lich ver setzt nach dem glei chen Mus ter das der Mensch ih nen vor ge lebt hat raquoEs wird ei nen mehr oder we ni ger lang sa men und kon ti nu ier li chen Fort schritt al ler Ar ten zu ei ner houml he ren Ver voll komm nung ge-ben so dass alle Gra de der Stu fen lei ter in ei ner de ter mi nie ren den und kons tan ten Be zie hung fort ge setzt va ri a bel sein wer den hellip Es wird un ter den Af fen Leu te wie New ton und un ter Bi bern wie (den Fes tungs bau meis ter RDP) Vau ban ge ben Die Aus-tern und die Po ly pen wer den in Be zie hung zu den houmlchs ten Ar-ten das sein was die Vouml gel fuumlr die Vier fuumlszlig ler im Ver haumllt nis zum Men schen sindlaquo6

Seit Bon net ist die Vor stel lung von der raquoLei ter der Na turlaquo der Sca la nat urae ein wich ti ges In ven tar des na tur ge schicht-li chen Den kens Fort schritt Ver voll komm nung und goumltt li cher Plan ndash die se drei Grouml szligen be stim men die Vor stel lung vom Wer-den der Na tur vom 18 Jahr hun dert bis in die Ge gen wart hi nein Das Prin zip nach dem die Evo lu ti on Le ben her vor bringt sei un ver meid lich und von An fang an vor her be stimmt Nicht we-ni ge E vo lu ti ons the o re ti ker ha ben dies eben falls ge glaubt und zwar mit be acht li cher Kon ti nu i taumlt Der eng li sche Na tur for scher Alf red Rus sel Wall ace (1823 ndash 1913) der ge mein sam mit Dar win die The o rie der na tuumlr li chen Se lek ti on ent wi ckelt hat te hielt nicht nur den mensch li chen Geist und sein Mo ral emp fin den son dern zu dem auch die wei che nack te emp find sa me Haut des Men-schen fuumlr das Re sul tat ei ner not wen di gen Ent wick lung

Doch schon im 18 Jahr hun dert reg ten sich zu gleich vor sich-ti ge Zwei fel an der Stim mig keit ei ner sol chen Vor ge formt heit Denn wie soll te man Na tur ka tast ro phen be wer ten Waumlh rend die meis ten Na tur for scher sie als Teil des goumltt li chen Schoumlp-fungs plans in ter pre tier ten zo gen an de re ver gleichs wei se fins te-re Schluumls se Und so wur de tat saumlch lich ein gro szliges Erd be ben zum in di rek ten Aus louml ser der Evo lu ti ons the o rie naumlm lich je nes von Lis sa bon im Jahr 1755 Wer uumlber die Ka tast ro phe nach dach te 6

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konn te star ken Zwei fel da ran he gen dass die Welt ord nung aus-ge kluuml gelt und har mo nisch sei

Die wei test rei chen den Schluss fol ge run gen zog der eng li-sche Pfar rer und Na ti o nal oumlko nom Tho mas Ro bert Malt hus (1766 ndash 1834) Nicht nur die ge o lo gi sche Na tur und ihr Ge-fah ren ri si ko son dern auch die Ver meh rung der Be voumll ke rung wur de nun als Uumlbel er kannt Im Jahr 1798 pub li zier te Malt-hus sei nen Es say on the Princi ple of Po pu la ti on (Das Be voumllshyke rungs ge setz) die ers te Mahn schrift vor den Ge fah ren ei ner Be voumll ke rungs ex plo si on Bei ei ner Ver dop pe lungs ra te der Welt-be voumll ke rung in ner halb von fuumlnf und zwan zig Jah ren er rech ne-te Malt hus wer de ihr exponent iel les An wach sen auf grund der von der Um welt ge setz ten Gren zen not wen dig zu Ar mut Ka-tast ro phen und Tod fuumlh ren Der bib li sche Auf trag raquoSeid frucht-bar und meh ret euchlaquo er schien mit ei nem Mal als ein Fluch Ein gna den lo ser raquoKampf ums Da seinlaquo (strugg le for life) war ent fes selt Das Ein zi ge was blieb war die Hoff nung die ka-tast ro pha len Fol gen der goumltt li chen An wei sung so weit wie moumlg lich ein daumlm men zu koumln nen

In ei ner Zeit als die Ge sell schafts the o rie noch der Bi o lo-gie den Leuch ter vo ran und nicht wie heu te die Schlep pe hin-terh er traumlgt be geis tert sich vor al lem ein eng li scher Dorf pfar rer Charles Dar win (1809 ndash 1882) fuumlr die Malt hus rsquoschen Ge set ze Denn wenn es rich tig ist dass sich ein Tier mit ei ner so ge rin-gen Ver meh rungs ra te wie der Mensch ge gen uumlber sei nen Art ge-nos sen durch setz te so gab es sicht lich an de re Kri te ri en fuumlr die Uumlber le bens fauml hig keit ei ner Po pu la ti on als die Zahl ih rer Ge bur-ten Der Maszlig stab fuumlr den Er folg ei ner Spe zi es war ihr Durch set-zungs ver mouml gen oder wie Dar win es spauml ter in den Prin zi pi en der Bio logie des jun gen Phi lo so phen Her bert Spen cer (1820 ndash 1903) le sen konn te raquothe sur vi val of the fit testlaquo

Dar wins na tur kund li che Stu di en wa ren ur spruumlng lich von dem Ge dan ken be seelt die nicht a ni ma li sche Iden ti taumlt des Men schen

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zu be wei sen Erst der Sieg des Ent de cker stol zes uumlber das Ent-set zen ver lieh ihm schlieszlig lich den Mut den be ruumlhm ten Satz zu schrei ben raquoUnd ich bin bei na he uumlber zeugt (der Mei nung mit der ich an die Fra ge he ran ge tre ten bin voumll lig ent ge gen ge setzt) dass die Spe zi es (mir ist es als ge staumln de ich ei nen Mord ein) nicht un ver aumln der lich sindlaquo7

Dar wins kuumlh ne Ver mu tung war nicht ganz neu Be reits ein hal bes Jahr hun dert zu vor hat ten der fran zouml si sche Na tur for scher GeorgesshyLou is Lec lerc Comte de Buf fon (1707 ndash 1788) und der Phi lo soph De nis Dide rot (1713 ndash 1784) uumlber eine Ver aumln de-rung der Ar ten spe ku liert Be son ders JeanshyBap tiste de La marck (1744 ndash 1829) be haup te te die all maumlh li che Ent wick lung der Ar-ten aus pri mi ti ve ren Vor for men die so ge nann te Trans mu ta ti on La marck war nicht nur ein Pi o nier der mit Jahr mil li o nen han-tier te als alle Welt die Erde noch ei ni ge tau send bis hun dert tau-send Jah re jung waumlhn te son dern er praumlg te (zur glei chen Zeit wie zwei deut sche Na tur for scher) das Wort Bi o lo gie Bei ihm wan del ten sich die Le be we sen da durch dass sich ihre koumlr per-li chen An stren gun gen auf ihr Erb gut aus wir ken Da bei nahm er al ler dings nicht an dass die Ar ten aus ei nan der her vor ge hen wie Dar win es spauml ter tat La ma rcks The o rie ist nauml her an je ner von Bon net Fuumlr ihn ver voll komm nen die ein zel nen Tier ar ten im Lau fe der Zeit ihre An la gen und ent wi ckeln sich da durch im-mer houml her Be son ders voll kom me ne Tie re wie der Mensch sind dem nach sehr alt denn sie ha ben ei nen wei ten Weg von ei nem pri mi ti ven Or ga nis mus bis hin zur heu ti gen Ge stalt hin ter sich ge las sen An de re wie der pri mi ti ve Suumlszlig was ser po lyp ha ben ihre Rei se durch die Zeit ge ra de erst an ge fan gen

La marck war kein Charis mati ker und die zo o lo gi sche All-macht sei nes Vor ge setz ten am Jar din des Plan tes in Pa ris des Ba rons George Cu vier (1769 ndash 1832) ver hin der te dass man sich all zu sehr mit sei nen The o ri en be schaumlf tig te Cu vier war ein be-deu ten der Mann An die Stel le ei ner nach bo ta ni schem Mus ter 7

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 399783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 39 10082021 10493410082021 104934

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ver fah ren den Zo o lo gie setz te er eine neue Wis sen schaft die sich we ni ger an aumlu szlige ren Merk ma len als am Or ga nis mus der Tie-re ori en tier te Doch was die Trans mu ta ti on an be lang te blieb der Ober auf se her der pro tes tan tisch-the o lo gi schen Fa kul tauml ten Frank reichs beim kon ser va ti ven Mo dell Er ver brei te te wei-ter hin eine Ket te von Na tur ka tast ro phen habe als mo di fi zier-te Sint fu ten gan zen Klas sen von Tie ren den Gar aus ge macht Die se The o rie ist weit ge hend rich tig al ler dings schlieszligt sie die Trans mu ta ti on nicht aus

Das wirk lich Re vo lu ti o nauml re an La marck war die Idee die Ge schich te der Na tur nicht vom Men schen aus bis hi nun ter zur Bak te rie zu schrei ben son dern um ge kehrt von der Bak te rie zum Men schen Aus ei nem Mo dell der raumlum li chen Hie rar chie wur de ein Mo dell der zeit li chen Ent wick lung La marck er kann te zu-dem dass das Be wusst sein ei nes Tie res an die Phy si o lo gie und Neu ro lo gie sei nes Koumlr pers ge bun den ist Dem nach ist je der Geist ers tens be grenzt und zwei tens ver aumln der lich

Die phi lo so phi sche Kon se quenz aus La ma rcks Den ken ist so ra di kal dass sie fast ein hun dert fuumlnf zig Jah re lang von nie man-dem ernst haft in Be tracht ge zo gen wur de Wie kann ein Geist der den Ge set zen der Evo lu ti on un ter wor fen ist sich ei gent lich an ma szligen die Na tur der Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Von die ser Schluss fol ge rung woll te die Bi o lo gie al ler dings bis weit ins 20 Jahr hun dert hi nein nicht viel wis sen

Auch Dar wins The o rie von der na tuumlr li chen Se lek ti on der Le be we sen im Rin gen um ihr Le ben und mit der Um welt ent-wi ckel te sich wei ter Ge witz ten Zeit ge nos sen wie Karl Marx (1818 ndash 1883) war auf ge fal len wie stark Dar wins Den ken dem Zeit geist des Vik to ri a ni schen Zeit al ters ver haf tet war raquoEs ist merk wuumlr dig wie Dar win un ter Bes ti en und Pfan zen sei ne eng li-sche Ge sell schaft mit ih rer Tei lung der Ar beit Kon kur renz Auf-schluss neu er Maumlrk te rsaquoEr fin dun genlsaquo und Malt hus schem rsaquoKampf ums Da seinlsaquo wie der er kenntlaquo8 Die Be to nung des Malt hus rsquoschen 8

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 409783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 40 10082021 10493410082021 104934

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Kamp fes von je dem ge gen je den und auch der Fort schritts glau-be in Dar wins Den ken zei gen ihn stark sei ner Zeit ver haf tet

Eine an de re Kri tik kam aus der Bi o lo gie selbst Dar win hat-te noch nichts von Ge nen ge wusst So konn te er nicht er klauml ren was sich bi o che misch er eig ne te wenn Ar ten sich ver aumln der ten Der raquoDar wi nis muslaquo der Jahr hun dert wen de gab schlieszlig lich die Hoff nung auf die Evo lu ti on lie szlige sich al lein durch die na tuumlr li-che Se lek ti on der Ar ten nach Maszlig ga be ih rer An pas sungs fauml hig-keit an die Um welt be gruumln den Man ent deck te die Rol le der Ge-ne tik und zum neu en Er klauml rungs prin zip wur de das Mo dell der zwei Kons t ruk teu re Das Spiel des Le bens er hielt ei nen Wuumlr fel zu faumll li ge Ver aumln de run gen im Gen ma te ri al also so ge nann te Mu tashyti o nen Im Tri alshyandshyEr ror-Ver fah ren ent ste hen im Erb gut ge le-gent lich Ab wei chun gen die dann er folg reich sind wenn sie sich in der Um welt be waumlh ren Da mit war die Idee vom Tisch dass sich neu er wor be ne Ei gen schaf ten oder raquodie ana to mi schen Aus-wir kun gen koumlr per li cher An stren gun genlaquo wie La marck mein te ver er ben koumlnn ten Noch Dar win hat te dies fuumlr denk bar ge hal ten So ver trau te er Er zaumlh lun gen wo nach bei je nen Volks grup pen zu de ren Ri ten die re gel mauml szligi ge Be schnei dung der Pe nis vor haut ge houmlrt sich die Vor haut all maumlh lich ver kuumlrz te Das haumlt te zwar die Be schnei dung uumlber fuumls sig ge macht aber Dar win hat te ge ra-de an de res Ge wich ti ges zu be den ken als da ruuml ber nach zu sin nen

Die Ver kuumlr zung der Vor haut blieb im Wis sens schatz der Dar wi nis ten bis Au gust Weis mann (1834 ndash 1914) im spauml ten 19 Jahr hun dert nach wies dass ein sol cher In for ma ti ons fuss vom aumlu szlige ren Er schei nungs bild zum Erb ma te ri al nicht moumlg lich sei Uumlber fuumlnf Ge ne ra ti o nen kuumlrz te Weis mann ei nem Stamm von Maumlu sen ihre Schwaumln ze ohne dass eine Nach richt uumlber die sen Ein griff die Keim bah nen der Maumlu se er reich te Denn sie he da Auch die Schwaumln ze der nach fol gen den Maumlu se ge ne ra ti o nen blie-ben gleich lang Da be durf te es schon der Spitz fin dig keit des iri schen Dich ters George Bern ard Shaw (1856 ndash 1950) der Weis-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 419783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 41 10082021 10493410082021 104934

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manns schnei den de Wi der le gung der La marckrsquo schen The o rie leicht fer tig vom Se zier tisch wisch te Die Maumlu se be merk te der Dich ter haumlt ten gar kei ne An stren gun gen un ter nom men ihre Schwaumln ze zu ver lie ren waumlh rend sich die Tie re bei La marck ja da rum be muumlht haumlt ten sich zu ver aumln dern

Im Nach hi n ein also war es der pauml da go gi sche Op ti mis mus der La marck in die Irre ge fuumlhrt ha ben soll te So mach te die Hoff-nung auf ei nen ethisch an spre chen den E vo lu ti ons ver lauf ndash die Er war tung die Mensch heit ent wick le sich qua An pas sung an das so zi a le Mi li eu durch Selbst er zie hung zum Bes se ren ndash nur noch eine et was ab sei ti ge Kar ri e re im staats so zi a lis ti schen Bi o lo gie-un ter richt der Sow jet u ni on Wie kalt da ge gen der uumlber le ge ne raquoKampf ums Da seinlaquo der ja ein Kampf um die Fleisch toumlp fe ist ohne Hoff nung der Mensch wer de den kuumlh nen Geist statt sei-nes ma te ri a lis ti schen Gier hal ses nach Houml he rem stre cken Und ein zig die Kir che be wahr te un ver dros sen ei nen la marc kis ti schen Ge dan ken ndash al ler dings ei nen pes si mis ti schen und kei nen op ti-mis ti schen In bes ter Schuumlt zen hil fe fuumlr den fran zouml si schen Che-va li er ver tei digt sie bis heu te ihr mo le ku lar ge ne tisch be denk li-ches Dog ma Adams Un ge hor sam im Gar ten Eden habe zu ei ner raquoErb suumln delaquo ge fuumlhrt die da rauf hin auf alle zu kuumlnf ti gen Ge ne ra-ti o nen uumlber ge gan gen sei

Im mer hin sind in den bei den letz ten Jahr zehn ten ei ni ge Bi o-lo gen wie der et was of fe ner da fuumlr ge wor den der Ver er bung er-wor be ner Ei gen schaf ten ei nen Platz in der Ge ne tik zu las sen Zwar ver er ben sich psy chi sche und phy si sche Le bens er fah run-gen nicht durch ver aumln der te Gene Aber es koumlnn te doch sein dass jene Schal ter die da ruuml ber be stim men wel che ge ne ti sche In for-ma ti on wei ter ge ge ben wird und wel che nicht durch Um welt-ein fuumls se ver aumln dert wer den Uumlber le gun gen wie die se be schaumlf ti-gen so ge nann te Epi gen eti ker seit ei ni ger Zeit sie ha ben ei nen wach sen den Ein fuss auf un se re Vor stel lung von der Evo lu ti on

Die heu ti ge Leit dis zip lin die uns die Ver wandt schaft des Le-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 429783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 42 10082021 10493410082021 104934

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bens ent schluumls seln soll ist die Ge ne tik Wir un ter su chen die Sum-me al ler ge ne ti schen In for ma ti o nen und re gist rie ren da bei Uumlber-ein stim mun gen und Ab wei chun gen mit an de ren Ar ten Doch der Pro zess die Na tur un se rer Na tur zu er ken nen ist noch lan ge nicht ab ge schlos sen und wird wohl auch nie ab ge schlos sen sein Wir wen den Ord nungs sche ma ta auf The o ri en und The o ri en auf Be ob ach tun gen an Nur so kom men wir zu Kau sa li tauml ten und Ge-set zen Doch ihre Be deu tung ver aumln dert sich in dem Maszlige wie wir den Blick punkt un se rer Auf merk sam keit wie der ver la gern Die ser Vor gang des Ent dec kens und des Ver de ckens durch neue Denk sche ma ta ist prin zi pi ell nicht ab schlieszlig bar denn selbst ge-gen waumlr ti ge Evo lu ti ons the o ri en un ter lie gen wei ter hin der Evo-lu ti on

Er staun li cher wei se hat die mo der ne Evo lu ti ons the o rie nur zu ei ner ge ring fuuml gi gen Kor rek tur al ter Denk sche ma ta ge fuumlhrt Wie fruuml her in der Na tur ge schich te er ken nen wir heu te in der Bi o lo gie uumlber all Re gel haf tigk eit Not wen dig keit und Vor tei-le Doch bei nauml he rer Sicht er weist sich die Evo lu ti on ge ra de zu als Herr schafts ge biet der Aus nah men uumlber die Re geln Sie ist eine raquoZweck mauml szligig keit ohne Zwecklaquo wenn auch al lein fuumlr die 01 Pro zent der heu te noch ndash oder ge ra de ndash exis tie ren den Spe-zi es nicht aber fuumlr die 999 Pro zent die in den Ur fu ten dem Ord ovizium dem Perm der Krei de oder dem Ter ti aumlr das Welt-li che seg ne ten E vo lu ti ons bi o lo gen su chen in der Ge schich te der Na tur uumlber all nach Vor tei len die das Uumlber le ben von Ar ten er-klauml ren sol len Da bei ver men gen sie oft zwei ver schie de ne Vor-teils be grif fe Ein mal geht es um Mu ta ti o nen die si tu a tiv vor teil-haf te Ei gen schaf ten fuumlr eine Tier art her vor ge bracht ha ben sol len Eine grouml szlige re Sta tur ein pom pouml se res Ge weih ein staumlr ke res Ge biss sol len Weib chen be ein dru cken und die Nach kom men schaft er-houml hen Da die se Ei gen schaf ten aber oft nichts nuumlt zen wenn der Zu fall die Spiel re geln der Um welt aumln dert gibt es ei nen zwei ten Vor teils be griff Da nach ist das vor teil haft in der Evo lu ti on was

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 439783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 43 10082021 10493410082021 104934

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vom Ende her be trach tet dazu ge fuumlhrt hat dass eine Art uumlber-lebt Nach die ser Sicht wei se kann der mick rigs te Pa vi an auf dem Fel sen sei ne Gene wei ter ge ben wenn die staumlr ke ren Kon kur ren-ten bei ei nem Erd be ben ums Le ben ge kom men sind

An ge sichts zwei er so un ter schied li cher Be deu tun gen von raquoVor teillaquo fragt es sich ob der Be griff in der Evo lu ti ons the o rie uumlber haupt sinn voll ver wen det wer den kann Tat saumlch lich ist er ein Erbe der The o lo gie des 17 und 18 Jahr hun derts die uumlber-all in der Na tur nach der klu gen Ver nunft Got tes such te Dar win kann te die se Tra di ti on gut Als Stu dent ver ehr te er den The o lo-gen Will iam Pa ley (1743 ndash 1805) der na tur kund lich be schla gen die goumltt li che Vo raus sicht auf den neu es ten Stand ge bracht hat te Als Dar win sich von Gott ver ab schie de te und die na tuumlr li che Se-lek ti on er kann te er setz te er uumlber all wo Pa ley raquoGod doeslaquo ge-schrie ben hat te den Satz durch raquoNat ure doeslaquo An Pa leys Vor-stel lung dass die Na tur zweck mauml szligig ein ge rich tet sei und Vor tei le be loh ne hielt Dar win eben so fest wie vie le spauml te re E vo lu ti ons-the o re ti ker

Die Fra ge ist des halb wich tig weil sie zeigt wie eng un se re Vor stel lung von der Na tur bis hi nein in die mo der ne Evo lu ti-ons the o rie von sehr mensch li chen Vor stel lun gen durch setzt ist Statt Vor tei le zu be nen nen wuumlr de es naumlm lich auch aus rei chen zu sa gen dass al les in der Na tur uumlber le ben kann das fuumlr eine Art kei nen toumld li chen Nach teil hat te Ver mut lich uumlber lebt in der Evo lu ti on nicht nur Zweck mauml szligi ges son dern jede Ver aumln de rung die zu min dest nicht zum Aus ster ben fuumlhr t und moumlg li cher wei se liegt ge ra de hie rin der Grund fuumlr eine gro szlige Ar ten viel falt

Die tra di ti o nell ver eng te Sicht wei se gilt ins be son de re bei der Be trach tung des Men schen E vo lu ti ons bi o lo gen koumln nen zahl-rei che Vor tei le be nen nen die er klauml ren wa rum die mensch li che Art so er folg reich ist Men schen sind aumlu szligerst an pas sungs fauml hig und be sie deln fast alle Le bens raumlu me sie sind Al les fres ser mit ei ner gro szligen Nah rungs band brei te sie ha ben eine fe xib le So zi-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 449783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 44 10082021 10493410082021 104934

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al struk tur und ver fuuml gen uumlber ein Selbst be wusst sein das es ih-nen er moumlg licht ihr Ver hal ten zu kor ri gie ren So ge se hen ist der Mensch gleich sam das op ti mal ste al ler Tie re Doch alldem zum Trotz exis tie ren Men schen der Gat tung Homo sap iens erst seit rund 100 000 Jah ren und ihre lang fris ti gen Zu kunfts chan cen ste hen schlecht Denn mit all den vor teil haf ten Ei gen schaf ten ha-ben Men schen in Re kord zeit ihre Um welt zer stoumlrt und das lang-fris ti ge Uumlber le ben der Spe zi es dra ma tisch in fra ge ge stellt Die mit we ni ger spek ta ku lauml ren Vor tei len aus ge stat te ten Di no sau ri-er exis tier ten auf un se rem Pla ne ten hun dert fuumlnf zig Mil li o nen Jah re ganz zu schwei gen von den seit uumlber vier hun dert Mil li o-nen Jah ren na he zu un ver aumln der ten Nau til iden und Ur schne cken

Ge si chert in der Evo lu ti ons the o rie ist dass kei ne ih rer An nah-men ge si chert ist E vo lu ti ons bi o lo gen die ihre Sa che ernst neh-men muumls sen im mer auch die E vo lu ti ons be dingt heit ih res ei ge-nen Er kennt nis ap pa rats ref ek tie ren also mit hin die Evo lu ti on al ler mensch li chen Er kennt nis raquoLetzt lich istlaquo wie der Neuro bio-lo ge Ger hard Roth schreibt raquoje des Nach den ken uumlber die ob jek-ti ve Re a li taumlt sei es wis sen schaft lich oder nicht an die Be din gun-gen mensch li chen Den kens Spre chens und Han delns ge bun den und muss sich da rin be waumlh renlaquo9

Man muss ref ek tie ren dass die un ver meid li chen Ord nungs-mit tel des Geis tes das Den ken und die Spra che nicht die Wirk-lich keit raquoan sichlaquo auf raumlu men Sie sind Mo del le die die un ver-fuumlg ba re Wirk lich keit nach Maszlig ga be der ei ge nen Spiel re geln er klauml ren Nicht erst seit Er for schung der Evo lu ti on in den letz-ten zwei hun dert Jah ren muumlht sich der mensch li che Geist dem Lauf der Welt ei nen ndash nach mensch li chem Er mes sen ndash raquover nuumlnf-ti genlaquo Sinn zu ge ben Doch das Pa ra do xe der Ge schich te liegt da rin dass der mensch li che Geist selbst Pro dukt evo lu ti o nauml rer Pro zes se ist Er ist Maszlig stab und Ge mes se nes zu gleich

An eine tat saumlch lich ob jek ti ve Er kennt nis der Evo lu ti on waumlre nur halb wegs sinn voll zu den ken wenn die Evo lu ti on des Men-9

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 459783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 45 10082021 10493410082021 104934

schen ab ge schlos sen ist und da mit die Stu fe der groumlszligt moumlg li chen Voll kom men heit er reicht hat In den Zei ten vor La marck und Dar win ha ben das nicht nur The o lo gen son dern auch die Na tur-for scher fast al le samt ge glaubt Das mensch li che Be wusst sein sei die un uuml ber trof fe ne Spit zen leis tung des Schoumlp fer got tes ge schaf-fen die Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Sei nen schoumlns-ten Aus druck fand die se Sicht in ei nem Aus spruch des jun gen Phi lo so phen Fried rich Wil helm Jo seph Schel ling (1775 ndash 1854) Er mein te dass der Mensch je nes We sen sei raquoin dem die Na tur das Auge auf schlaumlgtlaquo und sich da mit ih rer selbst be wusst wird Ein huumlb scher Satz aber doch viel zu pa the tisch for mu liert Von der vol len Er kennt nis der Na tur und un se rer selbst sind wir noch im mer weit ent fernt Aber wir koumln nen da ruuml ber stau nen dass die Evo lu ti on mit uns ein Le be we sen her vor ge bracht hat in dem die Na tur sich fuumlr sich selbst fa szi nier bar ge macht hat Wie hat te es dazu kom men koumln nen

bull Der Pri mat Was ist ein Mensch

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 469783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 46 10082021 10493410082021 104934

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ver waist sein Die Mensch heit wird er wacht sein und die Welt je-nes Ge sicht er hal ten ha ben das uns ge gen waumlr tig er scheint Doch wie sah das aus als die Na tur das ers te Mal in ei nem af fen aumlhn-li chen We sen die Au gen auf schlug War es auf ei ner Wald wie-se in ei nem Hain an ei nem Berg hang oder auf ei ner Lich tung War das er leuch te te We sen ein Maumlnn chen oder ein Weib chen Ging es den gan zen Tag auf recht oder saszlig es noch ger ne in der Ho cke eng ge kau ert an sei ne Bruuml der und Schwes tern Und war es eine Ein ge bung ein Blitz schlag als das Selbst be wusst sein das ers te Mal die Fes seln des Pri ma ten ge hirns spreng te

Wir wis sen nicht wo ran Schel ling dach te als er mein te die Na tur habe im Men schen ihr Auge auf ge schla gen Si cher dach te er nicht an ei nen ein zi gen Mo ment dem Mil li o nen an de re folg-ten Er dach te an den raquoMen schen an sichlaquo Und er wuss te nichts vom ost af ri ka ni schen Great Rift Val ley und von haa ri gen Vor-men schen die dort einst haus ten Er leb te in Jena und in Muumln-chen und ei nen Men schen af fen hat te Schel ling nie ge se hen Der ein zig ar ti ge Mo ment in dem die Na tur sich ih rer selbst be wusst wird bleibt eine Me ta pher

Doch wie wur de der Mensch nun tat saumlch lich zum Men-schen Die For mu lie rung ist dop pel deu tig Denn wie der Mensch zum Men schen wur de ndash das ist nicht ein evo lu ti o nauml rer Pro-zess auf der lee ren Welt buumlh ne son dern ein Spiel von Be ob ach-ter und Be ob ach te tem Schau spie ler und Zu schau er Ge schich-te auch Ent wick lungs ge schich te ist nichts Vor ge fun de nes Der Mensch schrieb der fran zouml si sche Phi lo soph JeanshyPaul Sart re (1905 ndash 1980) macht sich selbst wie der Ro man schrift stel ler sei ne Fi gu ren Er ist ge fer tigt aus bi o lo gi schen (ana to mi schen neu ro lo gi schen und phy si o lo gi schen) Be stand tei len zu al ler meist je doch durch jene we nig bi o lo gi schen Weis hei ten mit de nen sich die se Subs tan zen selbst zum raquoMen schenlaquo er ko ren

Das Glei che gilt fuumlr die mensch li che Stam mes ge schich te Auch sie ist zu naumlchst ein mal eine Ge schich te Ihre Ur spruumln ge lie gen im

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al ten Grie chen land als Aris to te les den Men schen und den Af-fen ver wandt schaft lich na he ruumlckt raquoMan che Tie re ste hen zwi-schen Mensch und Vier fuumlszlig ler in ih rem We sen wie Af fen Meer-kat zen und Pa vi a ne hellip Ihr Ge sicht hat vie le Aumlhn lich kei ten mit dem des Men schen Nase und Oh ren glei chen den sei nen und Zaumlh ne hat er auch wie ein Mensch die Vor der zaumlh ne wie die Ba cken zaumlhnelaquo10 Auch Aris to te lesrsquo Schuuml ler The oph rast (ca 370 v Chr ndash ca 288 v Chr) be steht auf der Aumlhn lich keit zwi schen Men schen und Tie ren Er lehnt es so gar ab Fleisch zu es sen oder Tie re zu op fern da man sei ne Ver wand ten nicht ver spei se

Aris to te les und The oph rast stell ten den Men schen zwar ne-ben den Af fen ndash Men schen af fen kann te man noch nicht ndash aber die al ten Grie chen hat ten ihn nur sehr un ge faumlhr zu ei nem Tier un ter Tie ren er klaumlrt Den naumlchs ten Schritt mach te mehr als zwei-tau send Jah re spauml ter Carl von Linneacute An der Zu ge houml rig keit des Men schen zu den Saumlu ge tie ren be stand fuumlr den Schwe den kein Zwei fel die Be haa rung und das Stil len der Jun gen be lehr ten un-miss ver staumlnd lich da ruuml ber Auch die Ver wandt schaft mit Af fen und Men schen af fen stand au szliger Fra ge Hier wa ren es die fa chen Fin ger- und Fuszlig nauml gel statt der Klau en der ab ge spreiz te Dau-men die Greif haumln de die zwei Zit zen der Weib chen und der frei he run ter haumln gen de statt am Un ter leib an lie gen de Pe nis ndash Merk-ma le die groumlszlig ten teils auch schon Aris to te les auf ge fal len wa ren

Doch Linneacute zouml ger te vor der Kon se quenz Haumln de rin gend such-te der got tes fuumlrch ti ge Ana tom nach ei nem Un ter schied zwi schen dem Men schen und den uumlb ri gen von ihm so ge nann ten raquoPri ma-tenlaquo raquoIch ver lan gelaquo schrieb er 1747 sei nem deut schen Freund Jo hann Ge org Gme lin raquovon Ih nen und von der gan zen Welt dass Sie mir ein Gat tungs merk mal zei gen hellip auf grund des sen man zwi schen Mensch und Affe un ter schei den kann Ich weiszlig selbst mit aumlu szligers ter Ge wiss heit von kei nemlaquo11

Nach sei nen Kri te ri en haumlt te Linneacute den Men schen zu min dest mit dem Schim pan sen ge mein sam in die sel be Gat tung ein ord-10

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9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 499783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 49 10082021 10493510082021 104935

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nen muumls sen Der Ge dan ke schweb te zeit gleich auch dem Phi lo so-phen JeanshyJacques Rous seau (1712 ndash 1778) vor als er Schim pan-sen Orang-Ut ans und Men schen so gar als Ver tre ter der Spe zi es Mensch an sah Rous seau hat te nie ei nen Men schen af fen ge se-hen Aber die Be rich te die er von Ex pe di ti o nen nach Af ri ka und Suumld ost a si en las lie szligen in ihm kei nen Zwei fel dass die da rin be schrie be nen Men schen af fen raquowe der Tie re noch Goumlt ter son-dern Men schenlaquo sei en12 Fuumlr den Auf klauml rer wa ren Men schen af-fen edle Wil de die von kei ner Zi vi li sa ti on in ih rem fried fer ti gen We sen zer stoumlrt sei en an ders als die Men schen in Eu ro pa Eben-so dach te we nig spauml ter der schot ti sche Sprach for scher James Bur nett Lord Mon boddo (1714 ndash 1799) Auch er be trach te te den Orang-Utan als ei nen Men schen naumlm lich als ei nen raquosprach-losen Wil denlaquo

In ter pre ta ti o nen wie Rous seau sie in Pa ris und Bur nett bald da rauf in Kin card ines hire wag ten wa ren Linneacute im schwe di schen Upp sa la fremd Den Men schen ins Tier reich ein zu ord nen war in den Au gen der stren gen pro tes tan ti schen Kir che Suumln de ge nug und Linneacute zouml ger te den letz ten Schritt zu tun In sei ner Not sor-tier te er 1758 ach sel zu ckend Mensch und Schim pan se in un ter-schied li che Gat tun gen zu sam men ge fasst in der Ord nung der Pri ma ten in der sie auch heu te noch mehr schlecht als recht huumlbsch ge trennt ne ben ei nan der ho cken Homo sap iens der raquoin-tel ligi ble Menschlaquo und Pan trog lody tes der raquohoumlh len be woh nen-de Faunlaquo

So weit so schoumln Der Mensch wur de der obers te Pri mat das houmlchs te raquoHer ren tierlaquo Linneacute be kam kei nen Aumlr ger mit der Kir-che und die Na tur wis sen schaft den gro szligen Wurf des Linneacute rsquoschen Sys tems Wenn nur die se Nach barn nicht wauml ren Seit Be kannt-wer den der Men schen af fen be muumlh ten sich Wis sen schaft ler und The o lo gen im mer wie der um den Ver such den klei nen Gra ben mit gro szligen Was sern zu fuumll len der Homo sap iens und Pan troshyglody tes bei ih rer ord nungs ge mauml szligen Ver ge sell schaf tung auf der 12

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 509783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 50 10082021 10493510082021 104935

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Af fen in sel trennt Sie eva ku ier ten den Men schen vom Pri ma ten-fel sen und schu fen ihm eine ei ge ne Ord nung

In die ser Vor stel lungs welt wuchs auch der The o lo gie stu dent Charles Dar win auf Das fruuml he 19 Jahr hun dert war eine got-tes fuumlrch ti ge bie der mei er li che Zeit Doch je mehr er sich mit der Ver aumln de rung der Ar ten be schaumlf tig te umso deut li cher wur de Dar win dass es mit der of fi zi ell be kun de ten Son der stel lung des Men schen im Uni ver sum nicht weit her sein konn te So no tier te er schon er staun lich fruumlh in sein Ta ge buch raquoDer Mensch haumllt sich in sei ner Ar ro ganz fuumlr ein groszlig ar ti ges Werk des be son de ren Ein grei fens ei ner Gott heit wuumlr dig Es duumlrf te be schei de ner und wie ich glau be auch rich tig sein ihn als aus den Tie ren ent stan-den an zu se henlaquo13

Dar win hat te den noch zwoumllf Jah re ge zouml gert bis er sich schlieszlig lich ge trau te nach der all ge mei nen Dar stel lung ei ner Evo-lu ti ons the o rie im Jahr 1859 sei ne Schluss fol ge run gen in Be zug auf den Men schen in Druck zu ge ben Die Ab stam mung des Men schen aus dem Jahr 1871 ist ein ge maumlch li ches Buch in ver-soumlhn li chem Ton fall Der Na tur for scher er zaumlhlt da rin wie ein gu-ter al ter Groszlig va ter wo her die Pfan zen die Tie re und die Eng-laumln der kom men Die raquoAb wer tunglaquo des Men schen geht da bei ein her mit ei ner kon ti nu ier li chen raquoAuf wer tunglaquo der Tie re raquoWir ha ben ge se henlaquo schreibt Dar win raquodass die Emp fin dun gen und Ein druuml cke die ver schie de nen Er re gun gen und Fauml hig kei ten wie Lie be Ge daumlcht nis Auf merk sam keit Neu gier de Nach ah mung Ver stand usw de ren sich der Mensch ruumlhmt in ei nem be gin nen-den oder zu wei len selbst in ei nem gut ent wi ckel ten Zu stand bei den nie de ren Tie ren ge fun den wer denlaquo14

La marck und Dar win wa ren die Ers ten die mit Mit teln der mo der nen Na tur wis sen schaft be haup te ten was vie le Kul tu ren und Zei ten schon zu vor re li gi oumls ge ahnt hat ten raquoNa tuumlr lichlaquo ist es ab surd eine Tei lung des Tier reichs in zwei Ka te go ri en vor zu-neh men ndash in eine mensch li che und eine nicht mensch li che Ka-13

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Page 18: Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen · Leseprobe Professor Dr. Richard David Precht Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen »Fazit:

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was ge mein hin als raquomensch lichlaquo be trach tet wird als My thos zu ent zau bern Ich moumlch te es lie ber an ders ein bet ten und be wer ten Denn ich mei ne dass die Ver tre ter der Hu man-Ani mal Stu dies ihre De fi ni ti on des Men schen als ein Tier un ter Tie ren nicht ganz zu Ende den ken Denn waumlre der Mensch durch nichts Mensch-li ches grund saumltz lich vom Tier un ter schie den wie sie an neh men so lieszlige sich auch nicht ein for dern dass Men schen sich aus vershynuumlnf ti ger Ein sicht an ge mes sen ge gen uumlber Tie ren ver hal ten sol len

Um mensch li ches Han deln zu ver ste hen muumls sen wir ver ste-hen in wel chem Rah men Men schen die Welt se hen sich ori en-tie ren und han deln Die bei den ers ten Tei le des Bu ches skiz zie-ren die sen bi o lo gi schen und den kul tu rel len Rah men In ih nen moumlch te ich zei gen auf wel che Art und Wei se Men schen sich un-ter Tie ren ver hiel ten und ver hal ten Da bei be schaumlf tigt sich der ers te Teil mit der Fra ge was fuumlr ein spe zi el les Tier der Mensch ei gent lich ist Wie ist sei ne Rol le in der Evo lu ti on Und nach wel chen Denk mus tern ha ben Men schen die se Chro nik un se rer selbst seit der An ti ke ge schrie ben (Die Ord nung der Schoumlpshyfung) Wel che Stel lung hat sich Homo sap iens in der Na tur da-durch ge si chert dass er sie sich zu schrieb (Der Pri mat)

In je der mensch li chen Wis sen schaft vom Le ben be steht bis heu te still schwei gend oder laut hals ver kuumln det zwi schen Mensch und Tier eine Gren ze Doch weiszlig we der die E vo lu ti ons bi o lo-gie noch die Pal aumlo anth ro po lo gie mit Ge wiss heit zu sa gen an wel chem Punkt sich nur ani ma li sches von mensch li chem Le ben schei det Was ha ben Pal aumlo anth ro po lo gen in den letz ten hun dert Jah ren da ruuml ber ge glaubt Und was den ken sie heu te (Der aufshyrech te Affe) Da bei wer den wir se hen dass es mit der Gren ze zwi schen dem Men schen und den an de ren Tie ren eine aumlu szligerst komp li zier te Sa che ist Seit Jahr zehn ten mes sen und ver glei chen Ver hal tens for scher die kog ni ti ven Leis tun gen von Tie ren mit je-nen des Men schen mit dem uumlber ra schen den Er geb nis dass Tie re in na he zu al len raquowich ti genlaquo Punk ten un ter le gen sind bei Kul tur-

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leis tun gen wie Werk zeug ge brauch und Re li gi on eben so wie beim Er werb der mensch li chen Spra che Doch ha ben wir bei sol chen Mes sun gen tat saumlch lich den rich ti gen den fai ren Maszlig stab Ist es sinn voll die In tel li genz von Men schen af fen mit uns zu ver glei-chen (Sinn und Sinn lich keit)

Die Mo le ku lar ge ne tik zeigt uns dass Men schen bi o lo gisch Schim pan sen sind Wel che Kon se quen zen zie hen wir da raus (Eins Kom ma sechs Pro zent) Nach dem wir den Men schen auf die se Wei se bi o lo gisch ein ge kreist ha ben wer fen wir noch ei nen Blick da rauf wie ob jek tiv un ser Wis sen vom Men schen und den an de ren Tie ren ist Was koumln nen wir uumlber haupt uumlber das Be wusst-sein an de rer Tie re wis sen Stellt es nicht eine so gro szlige Bar ri e re dar dass wir zu ge ben muumls sen nichts De fi ni ti ves sa gen zu koumln-nen (Die Tuuml cke des Sub jekts)

Im zwei ten Teil wer fe ich ei nen Blick in die Kul tur ge schich te des Mensch-Tier-Ver haumllt nis ses Was ha ben Men schen zu wel cher Zeit uumlber Tie re ge dacht und wa rum Wie hat man sie be han delt Und wel che Sen si bi li taumlt oder Kaumll te setz te sich wa rum durch Was wis sen wir da ruuml ber aus der Jung stein zeit (Die Tund ra des Ge wis sens) Was glaub ten und dach ten die al ten Aumlgyp ter (raquoIch habe kein Tier miss han deltlaquo) Und wa rum ent zau ber te das alte Ju den tum die Tie re (Hir ten und Herr scher)

In der abend laumln di schen Phi lo so phie gibt es seit der An ti ke sehr un ter schied li che Deu tun gen von Tie ren Mal se hen die Den ker eine gro szlige spi ri tu el le oder na tur ge schicht li che Naumlhe mal er he-ben sie den Menschen qua sei ner Ver nunft zum un ein ge schraumlnk-ten Wel ten herr scher (Das ver lo re ne Pa ra dies) In der christ li chen Re li gi on da ge gen wer den Men schen und Tie re deut lich von ei-nan der ge schie den eine Son der an fer ti gung hier eine Drein ga-be dort Das Chris ten tum ent fernt die tier freund li chen Mo men-te der juuml di schen Re li gi on aus den Glau bens leh ren (raquoKuumlm mert sich Gott etwa um die Och senlaquo) An ders ver laumluft der Weg in In di en Chi na und Suumld ost a si en Das Welt bild und die Tier ethik

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von Hin dus und Bud dhis ten un ter schei den sich von der un se-ren (Schein hei li ge Kuumlhe) Im Abend land da ge gen do mi niert in der Nach fol ge des fran zouml si schen Phi lo so phen Reneacute Des car tes eine raquora ti o na lis ti schelaquo kal te Pers pek ti ve auf das Tier Tie re weil sie nicht ver nunft fauml hig sei en wer den kaum noch als Le be we sen wahr ge nom men ndash eine Po si ti on die im 18 Jahr hun dert al ler-dings ziem lich kont ro vers dis ku tiert wird (Die Den ker und das lie be Vieh) Nach und nach ent ste hen im spauml ten 18 Jahr hun dert eine neue Mit leids ethik und so gar ers te For de run gen nach Rech-ten fuumlr Tie re (raquoKoumln nen sie lei denlaquo)

Im drit ten Teil moumlch te ich eine ei ge ne ethi sche Hal tung ent-wi ckeln Zu naumlchst wer den The o ri en von Phi lo so phen des 20 Jahr hun derts vor ge stellt die wie Al bert Schweit zer raquoEhr furcht vor dem Le benlaquo ver lan gen oder Tie ren ei nen ho hen mo ra li schen Sta tus zu spre chen wie Pe ter Sin ger und Tom Re gan (Das ei sershyne Tor) Die se Po si ti o nen zwin gen dazu grund saumltz li cher da ruuml-ber nach zu den ken was das raquoTier rechtlaquo vom raquoTier schutzlaquo un-ter schei den soll (Schutz oder Recht) An schlie szligend moumlch te ich die Schwach stel len der gaumln gi gen Tier rechts phi lo so phi en he raus-ar bei ten und zei gen wa rum ich sie we der dem Men schen fuumlr an-ge mes sen hal te noch fuumlr all ge mein prak ti ka bel (Eine art ge rech te Mo ral) Da ran schlie szligen sich mei ne Uumlber le gun gen an was ein an ge mes se ner Um gang mit Tie ren sein koumlnn te (Gut besser am besten)

Sol cher ma szligen ge ruumls tet koumln nen wir uns im vier ten Teil mit den vie len Prob le men be fas sen die sich im All tag stel len Das ers te die ser Ka pi tel bi lan ziert das all taumlg li che Cha os im Um gang mit Tie ren (Lie ben ndash Has sen ndash Es sen) Da nach wen den wir den Blick auf die recht li che Si tu a ti on und un ter zie hen die Lo gik un-se res Tier schutz ge set zes ei ner ge nau e ren Pruuml fung (Ein kur zer Text uumlber das Touml ten) Das naumlchs te Ka pi tel gilt der Jagd Ist Ja gen art ty pi sches Ver hal ten des Men schen oder eine staat lich le gi ti-mier te Per ver si on (Na tur schutz oder Lust mord) Und wie sieht

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es mit un se rer Er naumlh rung aus Wel che Ar gu men te spre chen da-fuumlr dass Men schen in un se ren heu ti gen west li chen Ge sell schaf-ten noch Tie re touml ten duumlr fen um sich von ih nen zu er naumlh ren Und wel che Ar gu men te spre chen da ge gen Viel leicht gibt es so gar schon in Kuumlr ze ei nen Aus weg der uns end lich hilft die Mas sen-tier hal tung zu be sei ti gen (Jen seits von Wurst und Kaumlse) Eben so stellt sich die Fra ge un ter wel chen Um staumln den Tier ver su che zu-kuumlnf tig er laubt sein soll ten und un ter wel chen nicht (Das Tier als Dum my) Ist es mo ra lisch ver tret bar Tie re in Zo o lo gi schen Gaumlr ten zu hal ten Und wenn ja wel che und wel che nicht (Alshycat raz oder Psycho top) Zoos ver ste hen sich heu te als raquoNa tur-schutz zent renlaquo die Tie re er hal ten die in ih ren Hei mat laumln dern vom Aus ster ben be droht sind Wie ist dies zu be wer ten (Das Zeit al ter der Ein sam keit) Da bei sto szligen wir auf die Schwie rig-keit dass Tier schutz Tier recht und Ar ten schutz kei ne na tuumlr li-chen Ver buumln de ten sind son dern sich in ih rer Phi lo so phie ih rer Welt an schau ung und ih ren Ziel set zun gen stark un ter schei den (Das un ver soumlhn li che Tri um vi rat) Das Schluss wort bi lan ziert die se Er kennt nis se und fragt was wir aus al le dem prag ma tisch fol gern soll ten und in wel chen Schrit ten es ge sche hen koumlnn te (Scho pen hau ers Trep pe)

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Das Men schen tier

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Wahr heit zu hal ten Aber die ses Bild hat sich schon oft ver aumln-dert und es wird sich ge wiss noch wei ter ver aumln dern

Men schen nei gen dazu die Welt in der sie le ben auf zu raumlu-men Es ist eine ziem lich art ty pi sche Ver hal tens wei se Wir sor tie-ren die all taumlg li chen Din ge un se res Le bens und eben so sor tie ren wir die Ge dan ken uumlber die Welt die uns um gibt Jede Ord nung auch die der Na tur ist also ein mensch li cher Ent wurf Und al-lem An schein nach ent stand das Be duumlrf nis die Welt zu ord nen in un se rer Ent wick lungs ge schich te pa ral lel zur Ent wick lung der Spra che Denn ohne die kuumlnst li che Auf raumlum ar beit der Spra che waumlre die Vor stel lung von ei ner raquoOrd nung der Schoumlp funglaquo oder der raquoNa turlaquo nicht moumlg lich

Wer auf die Ord nung an ge wie sen ist be wegt sich gern in den si che ren Gren zen ei nes Sys tems Nur in ner halb ei nes sol chen Ord nungs ge fuuml ges fragt man nach Wahr heit und Gel tung Rich-tig keit Me tho de und Be deu tung Zu leicht uumlber sieht der Ord ner dann die kuumlnst li che Be hau sung und die selbst ge zim mer ten Re-ga le in die er die Welt so sorg faumll tig hi nein sor tiert Sel ten ge lingt ihm ein Blick aus dem Fens ter in die un ge wis se Land schaft die ihn um gibt Und nur ein ge wal ti ger Sturm ein Blitz schlag oder eine Er schuumlt te rung zwingt den Ver wal ter der Welt die si che re Wohn statt zu ver las sen und sich ein an de res Haus zu bau en das den An fein dun gen des neu en Kli mas wi der steht

Erst im Ruumlck blick auf die vie len Irr tuuml mer der Ver gan gen heit er ken nen wir dann un se re ei ge ne Un zu laumlng lich keit beim Auf-raumlu men In der Ge gen wart er scheint uns die je wei li ge Ord nung meis tens so selbst ver staumlnd lich dass wir gern uumlber jede Moumlg-lich keit der Ver aumln de rung lauml cheln So ha ben Men schen mit voumll li-ger Ge wiss heit an ge nom men dass die Erde eine Schei be ist und dass Frau en und Skla ven kei ne Rech te zu ste hen Und mit ei nem eben sol chen Lauml cheln be trach ten wir heu te die Gruumln de mit de-nen Men schen sich im Lau fe der Jahr hun der te von den Tie ren zu un ter schei den glaub ten

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Schon die al ten Grie chen ins be son de re Aris to te les (384 v Chr ndash 322 v Chr) ha ben sich fuumlr die Ge schich te und das in vie len De tails ver bor ge ne Sys tem der Na tur in te res siert Er teilt die Tie re in Klas sen ein ver sucht zu er gruumln den was Le ben ist und schafft da mit die Grund la gen der Zo o lo gie Aber Aris to te-les kennt nur we ni ge hun dert Tie re Eine raquovoll staumln di ge Na tur-ge schich telaquo wird das ers te Mal im 18 Jahr hun dert ge schrie-ben ndash und auch sie ist aumlu szligerst un voll staumln dig Seit dem ver fuuml gen wir nicht nur uumlber ei nen rei chen Vor rat an ge dach ten Ord nun-gen von den Schoumlp fungs my then bis hin zur Mo le ku lar bi o lo gie Wir ken nen auch eine Wis sen schaft die sich raquoTax ono mielaquo nennt und jede Pfan ze und je des Tier sys te ma tisch in eine In ven tar liste der Na tur ein traumlgt

Da bei ver ra ten die Denk sche ma ta der Na tur for scher nicht nur et was uumlber die klas si fi zier te Na tur selbst son dern eben so uumlber das Ord nungs be duumlrf nis und die Pfif fig keit des mensch li-chen Geis tes Das 18 Jahr hun dert ist eine Zeit in der das Buumlr-ger tum an die Macht draumlngt und sich zu neh mend ge gen den Adel auf ehnt Sei ne schaumlrfs te Waf fe ist et was das man raquoVer nunftlaquo oder raquoRa ti o na li taumltlaquo nennt und das man ge gen den Glau ben ins Feld fuumlhrt Fuumlr die Phi lo so phen der Ra ti o na li taumlt ist die Welt kei-ne vor ge fun de ne Schoumlp fung mit fes ter Ord nung son dern et was dass man geis tig durch drin gen und auf sei ne Lo gik und Wi der-spruuml che un ter su chen kann Da bei ge ben zu naumlchst die Phy sik und die Ma the ma tik das Sche ma vor nach dem alle Er kennt nis auch jene von Pfan zen und Tie ren funk ti o nie ren soll Die Sys te ma ti-ker der Na tur ge schich te su chen nach un ver ruumlck ba ren Kri te ri en ob jek ti ven Ge setz mauml szligig kei ten und lo gi schen Ver bin dun gen um die un uuml ber sicht li che Welt der Le be we sen ih rer raquowah ren An ord-nunglaquo ge maumlszlig ein zu tei len Aber nicht alle Na tur for scher glau-ben dass ein sol ches Vor ha ben tat saumlch lich ge lin gen kann Man-che hal ten die Na tur fuumlr zu reich hal tig um sie auf die se Wei se zu klas si fi zie ren Welt an schau un gen tref fen auf ei nan der auf der

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ei nen Sei te der Glau be an ein vom Men schen prin zi pi ell voumll lig durch schau ba res Na tur sys tem auf der an de ren Sei te eine un er-gruumlnd li che Schoumlp fung in der der Mensch sich im mer nur tas-tend fort be wegt

Die ers te Va ri an te gilt im 18 Jahr hun dert als der mo der ne-re An satz Man ori en tiert sich da bei an ei nem Ra ti o na lis mus den Reneacute Des car tes (1596 ndash 1650) schon hun dert Jah re zu vor neu be gruumln det hat Die ser Ra ti o na lis mus ori en tiert sich an der Me cha nik Die Schoumlp fung Got tes er scheint als eine ein zi ge klug aus ge tuumlf tel te Ma schi ne die der Mensch Stuumlck fuumlr Stuumlck zu be-herr schen lernt Und das Uni ver sum be steht aus Ma te rie in Be-we gung or ga ni siert nach ma the ma ti schen Ge set zen Ob gleich das 18 Jahr hun dert zent ra le Spe ku la ti o nen des Phi lo so phen wi-der legt ori en tiert es sich in vie lem an Des car tesrsquo me cha nis ti scher Denk wei se Sie tut dies vor zugs wei se in je nen Dis zip li nen de-ren Er kennt nis fort schritt zu naumlchst ge ring bleibt Und nir gend-wo trifft dies in ei nem sol chen Maszlig zu wie bei der Er for schung der bi o lo gi schen Na tur

Doch die ses Welt bild hat prob le ma ti sche Fol gen Wer die Welt kon se quent nach me cha nis ti schen Grund saumlt zen be trach tet hat fuumlr den Be reich der nicht mensch li chen Na tur we nig Ver staumlnd nis Fuumlr Des car tes sind Tie re nichts als Ma schi nen Es macht kei nen Un ter schied ob eine Ma schi ne die aumlu szlige re Ge stalt und die in ne-ren Or ga ne ei nes Af fen hat oder ob es sich da bei tat saumlch lich um ein le ben des Tier han delt Denn relevantes Le ben kommt fuumlr den Den ker nicht durch zir ku lie ren des Blut und Reizempfindungen in den Koumlrper Son dern bedeutsames Le ben ga ran tie ren ein zig und al lein der er leuch te te Geist und sei ne Spra che

Des car tesrsquo Zeit kennt we der den Be griff des raquoOr ga nis muslaquo die Be son der heit des Le bens noch die Evo lu ti on son dern eben nur die Me cha nik Trotz dem ist sei ne The o rie von den Tie ren als see len lo se Au to ma ten im 17 und 18 Jahr hun dert aumlu szligerst um-strit ten Fran zouml si sche Phi lo so phen schrei ben Buch um Buch uumlber

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 329783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 32 10082021 10493410082021 104934

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die Tier-Fra ge und be feh den sich da bei uumlber mehr als hun dert Jah re Noch weiszlig man nichts von ei ner raquoBi o lo gielaquo Man be treibt eine neue Dis zip lin die sich raquoNa tur ge schich telaquo nennt und da-mit auf raumlumt die Ge schich te von Le be we sen als eine wahl lo se Samm lung von Er zaumlh lun gen an zu se hen Bis her schrie ben Au to-ren um stands los von der Fang wei se der Tie re ih rer Ana to mie ih rer bib li schen und al le go ri schen Be deu tung ih rem prak ti schen Ge brauch ih rer Ver meh rung ih ren Stim men und Spra chen ih-ren Be we gun gen ih rem Al ter und von der Sym pa thie oder An-ti pa thie des Ver fas sers Auch Koch re zep te wur den von Fall zu Fall hin zu ge fuumlgt

Ein zo o lo gi sches Sys tem ist zu An fang des 18 Jahr hun derts weit ge hend un be kannt die Ver wandt schafts ver haumllt nis se der Pfan zen und Tie re sind dif fus ge ahnt und wer den eher nach Le-bens raumlu men be stimmt als nach koumlr per li chen Merk ma len Tie re die nachts ja gen ste hen da bei eben so in ei nem Ord nungs ge fuuml ge wie Tie re die fie gen koumln nen im Wald oder in ei nem See le ben Be reits die Pries ter schrift der bib li schen Ge ne sis hat te die Welt der Tie re und Pfan zen nicht nach ana to mi schen Merk ma len un-ter teilt son dern in Be zug auf den Le bens raum Pfan zen und Tie re des Mee res der Luft und der Erde Uumlber mehr als tau send Jah re kann ten auch der Is lam und die Hin dus Ord nungs sys teme die Tie re in ih rem Oumlko sys tem ver an ker ten

In der hin du is ti schen Samk hya-Tra di ti on exis tie ren vier zehn Klas sen un ter schied li cher Le be we sen ein ge teilt in acht For men himm li scher und sechs ir di scher Le be we sen zu de nen auch der Mensch ge houmlrt Als wei te res Un ter schei dungs merk mal dient die Art und Wei se der Ge burt Im gro szligen in di schen Na ti o nal epos aus dem 4 Jahr hun dert dem Ma hab har ata heiszligt es raquoAuf die ser Erde gibt es zwei Ar ten von Le be we sen die Be weg li chen und die Un be weg li chen Die Be weg li chen ha ben ei nen drei fa chen Schoszlig Sie sind aus dem Ei aus feuch ter Hit ze und Le ben dig-Ge bo re ne Von al len be weg li chen Le be we sen wie de rum sind die je ni gen die

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 339783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 33 10082021 10493410082021 104934

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le ben dig ge bo ren sind hellip die bes ten Die bes ten un ter den le ben-dig Ge bo re nen sind die die zum Men schen ge schlecht ge houml ren und die Nutz tie relaquo4

Die neu en Sys te me des 18 Jahr hun derts be frei en die Na tur-ge schich te von al lem was sich mit den Me tho den der Zeit nicht wis sen schaft lich exakt be schrei ben laumlsst Koch re zep te fal len so-wie so un ter den Tisch aber auch man che Ver hal tens be ob ach-tun gen und vor mals wich ti ge Ei gen schaf ten wie zum Bei spiel der Ge ruch Ge forscht wird mit Lupe und Mik ros kop Li ne al und Pin zet te Der wich tigs te Mann auf die sem Ge biet ist der schwe-di sche Na tur for scher Carl von Linneacute (1707 ndash 1778) Er ori en-tiert sich an Aris to te les den er be wun dert nicht an Des car tes Ge ra de zu re vo lu ti o naumlr de mo kra tisch ent wi ckelt der auf ge klaumlr te Schwe de im 18 Jahr hun dert ein be schrei ben des Sys tem der Na-tur frei vom the o lo gi schen Fir le fanz sei ner Zeit Mit der Ak ri bie ei nes Brief mar ken samm lers dem Voll staumln dig keit mehr be deu tet als das Be stau nen ein zel ner Wer te ord net er die be leb te Na tur nach Ar ten Gat tun gen Ord nun gen und Klas sen Vier Va ri ab len die Form der Ele men te ihre An zahl die raumlum li che An ord nung der Ele men te und ihre re la ti ve Grouml szlige be stimm ten von nun an den Platz im Sys tem

Un ter der Leit dis zip lin der Bo ta nik wan delt sich die Na tur ge-schich te in eine ge ord ne te Welt aus Li ni en und Flauml chen Ent schei-dend sind die sicht ba ren Un ter schei dungs merk ma le wie Bluuml ten und Staub ge fauml szlige Blaumlt ter und Fruumlch te Fuumlszlige und Hufe Fe dern und Flos sen So setzt Linneacute fuumlr jede Pfan zen- und Tier klas se jede Ord nung und Gat tung be stimm te Merk ma le fest die er als die wich ti ge ren er ach te t Denn nur un ter der An nah me sol cher pri vi-le gier ter Struk tu ren ist es ihm moumlg lich die ver schie de nen Spe zi es im Ge samt sys tem un miss ver staumlnd lich zu ras tern Der mensch li che Ord ner be schreibt also nicht ein fach die be leb te Na tur Er fuumlgt ihr auch et was hin zu die Ent schei dung naumlm lich was in der For men-viel falt der Le be we sen wich ti ge Merk ma le sind und was nicht4

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 349783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 34 10082021 10493410082021 104934

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Wie alle da ma li gen Na tur for scher nimmt Linneacute an dass die Ein tei lun gen die der mensch li che Ver stand macht tat saumlch lich ei ner ob jek ti ven Ord nung der Na tur ent spre chen Doch Lin neacutes Sys tem ist wie er selbst weiszlig nicht raquona tuumlr lichlaquo Sei ne Struk tu ren sind kei ne die er in der Na tur als Un ter schei dungs kri te ri en vor-fin det Denn was sich am Schreib tisch nun muumlh sam in Ord nun-gen pres sen laumlsst liegt wie der fran zouml si sche Na tur for scher Mishychel Adan son (1727 ndash 1806) fest stellt in der Wild nis wie Kraut und Ruuml ben durch ei nan der raquohellip eine kon fu se Mi schung aus We-sen hellip die der Zu fall ei nan der an ge nauml hert zu ha ben scheint Hier wird das Gold mit ei nem an de ren Me tall mit ei nem Stein oder mit Erde ge mischt Dort waumlchst die Ei che ne ben dem Veil chen Un ter die sen Pfan zen ir ren eben falls der Vier fuumlszlig ler das Rep til und das In sekt um her Die Fi sche mi schen sich so zu sa gen mit dem waumlss ri gen Ele ment in dem sie schwim men und mit den Pfan zen die auf dem Grun de der Ge waumls ser wach sen hellip Die se Mi schung ist so gar so all ge mein und so viel faumll tig dass sie ei nes der Na tur ge set ze zu sein scheintlaquo5

Der Wi der spruch zwi schen ei ner tax ono mi schen und ei ner oumlko lo gi schen Ord nung der Na tur ist of fen sicht lich Er fin det sich noch heu te in der Dis kus si on um die Aumls the tik von Zoo an la gen Soll man die Tie re nach Ver wandt schafts ver haumllt nis sen sam meln also in Raub tier haumlu sern An ti lo pen haumlu sern und Hirsch an la gen so dass der Be su cher zwi schen den ana to mi schen Be son der hei-ten der Ar ten ndash mit un ter so gar den ge o gra fi schen Va ri an ten ei ner ein zi gen Art ndash zu un ter schei den lernt Oder ge waumlhrt die Nach-ge stal tung ei nes Na tur bi o tops ei ner af ri ka ni schen Sa van ne oder ei nes al pi nen Pa no ra mas den wich ti ge ren Ein blick in die Ord-nung der Na tur

Zwar steht fuumlr Linneacute und sei ne Kol le gen fest dass die raquowah-re Ord nunglaquo der Na tur sich an den koumlr per li chen Merk ma len zu ori en tie ren hat doch muss eine Er klauml rung da fuumlr ge fun den wer-den wa rum die se Ord nung in der frei en Na tur nicht von al lein 5

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sicht bar wird Ohne Zwei fel ist das Sys tem der Na tur kei ne zeit-lo se Schoumlp fung son dern durch Ver aumln de run gen ge kenn zeich net die sich in der Erd ge schich te er eig net ha ben Pa ral lel meh ren sich die Fun de von Fos si li en also von Tie ren die mut maszlig lich aus-ge stor ben sind Es hat al lem An schein nach grouml szlige re ge o lo gi sche Ka tast ro phen in un be kann ter Zahl ge ge ben de nen vie le Ar ten zum Op fer ge fal len sind Doch ha ben die se De sas ter auch zur Ent ste hung von neu en For men ge fuumlhrt

Um den Fak tor der Zeit und sei ne Fol gen fuumlr das Sys tem der Na tur ein zu schaumlt zen gibt es vie le Moumlg lich kei ten Die ein fachs te und mensch lichs te al ler zeit li chen Ord nungs vor stel lun gen ist die Idee al les fol ge ei nem Plan und sei auf ein Ziel hin aus ge rich-tet (Te le o lo gie) Re li gi o nen Phi lo so phi en und Ide o lo gi en funk-ti o nie ren na he zu al le samt ziel ge rich tet Es geht um ein bes se res Le ben auf Er den im Jen seits in ei nem ge rech ten Staat um die Herr schaft uumlber die an de ren uumlber die Pro duk ti ons mit tel oder das Boumlse Selbst un ser All tag ge stal tet sich weit ge hend te le o lo-gisch durch traumlnkt von zu kuumlnf ti ger Er war tung Mo tor jed we-der Te le o lo gie ist der Fort schritts ge dan ke Sein ima gi nauml res Ziel ist der voll kom me ne Zu stand So glau ben christ lich-abend laumln-di sche Ge sell schaf ten gern an eine staumln di ge Ver bes se rung durch An stren gung eine Tu gend die nach cal vi nis ti scher Tra di ti on im Him mel wie auf Er den von Gott ma te ri ell ent lohnt wird Wie na he lie gend also auch in der Na tur die Ent ste hung raquohouml he rerlaquo Le bens for men durch Fort schritt er ken nen zu wol len mit dem End ziel des Men schen

Die Un ord nung der Schoumlp fung mit ei nem goumltt li chen Fort-schritts plan in Ein klang zu brin gen ist das Le bens werk des Schwei zer Na tur for schers und Phi lo so phen Charles Bon net (1720 ndash 1793) Fuumlr Bon net ist die Zahl der Ar ten und ihre aumlu-szlige re Ge stalt von Gott ein fuumlr al le Mal fest ge legt Doch kann sich ein je des Le be we sen per fek ti o nie ren Der Weg vom simp-len Ge muumlt zur ge ni a li schen Leis tung ist vom Schoumlp fer vor ge-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 369783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 36 10082021 10493410082021 104934

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zeich net Und alle Tie re be schrei ten ihn zeit lich ver setzt nach dem glei chen Mus ter das der Mensch ih nen vor ge lebt hat raquoEs wird ei nen mehr oder we ni ger lang sa men und kon ti nu ier li chen Fort schritt al ler Ar ten zu ei ner houml he ren Ver voll komm nung ge-ben so dass alle Gra de der Stu fen lei ter in ei ner de ter mi nie ren den und kons tan ten Be zie hung fort ge setzt va ri a bel sein wer den hellip Es wird un ter den Af fen Leu te wie New ton und un ter Bi bern wie (den Fes tungs bau meis ter RDP) Vau ban ge ben Die Aus-tern und die Po ly pen wer den in Be zie hung zu den houmlchs ten Ar-ten das sein was die Vouml gel fuumlr die Vier fuumlszlig ler im Ver haumllt nis zum Men schen sindlaquo6

Seit Bon net ist die Vor stel lung von der raquoLei ter der Na turlaquo der Sca la nat urae ein wich ti ges In ven tar des na tur ge schicht-li chen Den kens Fort schritt Ver voll komm nung und goumltt li cher Plan ndash die se drei Grouml szligen be stim men die Vor stel lung vom Wer-den der Na tur vom 18 Jahr hun dert bis in die Ge gen wart hi nein Das Prin zip nach dem die Evo lu ti on Le ben her vor bringt sei un ver meid lich und von An fang an vor her be stimmt Nicht we-ni ge E vo lu ti ons the o re ti ker ha ben dies eben falls ge glaubt und zwar mit be acht li cher Kon ti nu i taumlt Der eng li sche Na tur for scher Alf red Rus sel Wall ace (1823 ndash 1913) der ge mein sam mit Dar win die The o rie der na tuumlr li chen Se lek ti on ent wi ckelt hat te hielt nicht nur den mensch li chen Geist und sein Mo ral emp fin den son dern zu dem auch die wei che nack te emp find sa me Haut des Men-schen fuumlr das Re sul tat ei ner not wen di gen Ent wick lung

Doch schon im 18 Jahr hun dert reg ten sich zu gleich vor sich-ti ge Zwei fel an der Stim mig keit ei ner sol chen Vor ge formt heit Denn wie soll te man Na tur ka tast ro phen be wer ten Waumlh rend die meis ten Na tur for scher sie als Teil des goumltt li chen Schoumlp-fungs plans in ter pre tier ten zo gen an de re ver gleichs wei se fins te-re Schluumls se Und so wur de tat saumlch lich ein gro szliges Erd be ben zum in di rek ten Aus louml ser der Evo lu ti ons the o rie naumlm lich je nes von Lis sa bon im Jahr 1755 Wer uumlber die Ka tast ro phe nach dach te 6

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 379783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 37 10082021 10493410082021 104934

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konn te star ken Zwei fel da ran he gen dass die Welt ord nung aus-ge kluuml gelt und har mo nisch sei

Die wei test rei chen den Schluss fol ge run gen zog der eng li-sche Pfar rer und Na ti o nal oumlko nom Tho mas Ro bert Malt hus (1766 ndash 1834) Nicht nur die ge o lo gi sche Na tur und ihr Ge-fah ren ri si ko son dern auch die Ver meh rung der Be voumll ke rung wur de nun als Uumlbel er kannt Im Jahr 1798 pub li zier te Malt-hus sei nen Es say on the Princi ple of Po pu la ti on (Das Be voumllshyke rungs ge setz) die ers te Mahn schrift vor den Ge fah ren ei ner Be voumll ke rungs ex plo si on Bei ei ner Ver dop pe lungs ra te der Welt-be voumll ke rung in ner halb von fuumlnf und zwan zig Jah ren er rech ne-te Malt hus wer de ihr exponent iel les An wach sen auf grund der von der Um welt ge setz ten Gren zen not wen dig zu Ar mut Ka-tast ro phen und Tod fuumlh ren Der bib li sche Auf trag raquoSeid frucht-bar und meh ret euchlaquo er schien mit ei nem Mal als ein Fluch Ein gna den lo ser raquoKampf ums Da seinlaquo (strugg le for life) war ent fes selt Das Ein zi ge was blieb war die Hoff nung die ka-tast ro pha len Fol gen der goumltt li chen An wei sung so weit wie moumlg lich ein daumlm men zu koumln nen

In ei ner Zeit als die Ge sell schafts the o rie noch der Bi o lo-gie den Leuch ter vo ran und nicht wie heu te die Schlep pe hin-terh er traumlgt be geis tert sich vor al lem ein eng li scher Dorf pfar rer Charles Dar win (1809 ndash 1882) fuumlr die Malt hus rsquoschen Ge set ze Denn wenn es rich tig ist dass sich ein Tier mit ei ner so ge rin-gen Ver meh rungs ra te wie der Mensch ge gen uumlber sei nen Art ge-nos sen durch setz te so gab es sicht lich an de re Kri te ri en fuumlr die Uumlber le bens fauml hig keit ei ner Po pu la ti on als die Zahl ih rer Ge bur-ten Der Maszlig stab fuumlr den Er folg ei ner Spe zi es war ihr Durch set-zungs ver mouml gen oder wie Dar win es spauml ter in den Prin zi pi en der Bio logie des jun gen Phi lo so phen Her bert Spen cer (1820 ndash 1903) le sen konn te raquothe sur vi val of the fit testlaquo

Dar wins na tur kund li che Stu di en wa ren ur spruumlng lich von dem Ge dan ken be seelt die nicht a ni ma li sche Iden ti taumlt des Men schen

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zu be wei sen Erst der Sieg des Ent de cker stol zes uumlber das Ent-set zen ver lieh ihm schlieszlig lich den Mut den be ruumlhm ten Satz zu schrei ben raquoUnd ich bin bei na he uumlber zeugt (der Mei nung mit der ich an die Fra ge he ran ge tre ten bin voumll lig ent ge gen ge setzt) dass die Spe zi es (mir ist es als ge staumln de ich ei nen Mord ein) nicht un ver aumln der lich sindlaquo7

Dar wins kuumlh ne Ver mu tung war nicht ganz neu Be reits ein hal bes Jahr hun dert zu vor hat ten der fran zouml si sche Na tur for scher GeorgesshyLou is Lec lerc Comte de Buf fon (1707 ndash 1788) und der Phi lo soph De nis Dide rot (1713 ndash 1784) uumlber eine Ver aumln de-rung der Ar ten spe ku liert Be son ders JeanshyBap tiste de La marck (1744 ndash 1829) be haup te te die all maumlh li che Ent wick lung der Ar-ten aus pri mi ti ve ren Vor for men die so ge nann te Trans mu ta ti on La marck war nicht nur ein Pi o nier der mit Jahr mil li o nen han-tier te als alle Welt die Erde noch ei ni ge tau send bis hun dert tau-send Jah re jung waumlhn te son dern er praumlg te (zur glei chen Zeit wie zwei deut sche Na tur for scher) das Wort Bi o lo gie Bei ihm wan del ten sich die Le be we sen da durch dass sich ihre koumlr per-li chen An stren gun gen auf ihr Erb gut aus wir ken Da bei nahm er al ler dings nicht an dass die Ar ten aus ei nan der her vor ge hen wie Dar win es spauml ter tat La ma rcks The o rie ist nauml her an je ner von Bon net Fuumlr ihn ver voll komm nen die ein zel nen Tier ar ten im Lau fe der Zeit ihre An la gen und ent wi ckeln sich da durch im-mer houml her Be son ders voll kom me ne Tie re wie der Mensch sind dem nach sehr alt denn sie ha ben ei nen wei ten Weg von ei nem pri mi ti ven Or ga nis mus bis hin zur heu ti gen Ge stalt hin ter sich ge las sen An de re wie der pri mi ti ve Suumlszlig was ser po lyp ha ben ihre Rei se durch die Zeit ge ra de erst an ge fan gen

La marck war kein Charis mati ker und die zo o lo gi sche All-macht sei nes Vor ge setz ten am Jar din des Plan tes in Pa ris des Ba rons George Cu vier (1769 ndash 1832) ver hin der te dass man sich all zu sehr mit sei nen The o ri en be schaumlf tig te Cu vier war ein be-deu ten der Mann An die Stel le ei ner nach bo ta ni schem Mus ter 7

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 399783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 39 10082021 10493410082021 104934

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ver fah ren den Zo o lo gie setz te er eine neue Wis sen schaft die sich we ni ger an aumlu szlige ren Merk ma len als am Or ga nis mus der Tie-re ori en tier te Doch was die Trans mu ta ti on an be lang te blieb der Ober auf se her der pro tes tan tisch-the o lo gi schen Fa kul tauml ten Frank reichs beim kon ser va ti ven Mo dell Er ver brei te te wei-ter hin eine Ket te von Na tur ka tast ro phen habe als mo di fi zier-te Sint fu ten gan zen Klas sen von Tie ren den Gar aus ge macht Die se The o rie ist weit ge hend rich tig al ler dings schlieszligt sie die Trans mu ta ti on nicht aus

Das wirk lich Re vo lu ti o nauml re an La marck war die Idee die Ge schich te der Na tur nicht vom Men schen aus bis hi nun ter zur Bak te rie zu schrei ben son dern um ge kehrt von der Bak te rie zum Men schen Aus ei nem Mo dell der raumlum li chen Hie rar chie wur de ein Mo dell der zeit li chen Ent wick lung La marck er kann te zu-dem dass das Be wusst sein ei nes Tie res an die Phy si o lo gie und Neu ro lo gie sei nes Koumlr pers ge bun den ist Dem nach ist je der Geist ers tens be grenzt und zwei tens ver aumln der lich

Die phi lo so phi sche Kon se quenz aus La ma rcks Den ken ist so ra di kal dass sie fast ein hun dert fuumlnf zig Jah re lang von nie man-dem ernst haft in Be tracht ge zo gen wur de Wie kann ein Geist der den Ge set zen der Evo lu ti on un ter wor fen ist sich ei gent lich an ma szligen die Na tur der Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Von die ser Schluss fol ge rung woll te die Bi o lo gie al ler dings bis weit ins 20 Jahr hun dert hi nein nicht viel wis sen

Auch Dar wins The o rie von der na tuumlr li chen Se lek ti on der Le be we sen im Rin gen um ihr Le ben und mit der Um welt ent-wi ckel te sich wei ter Ge witz ten Zeit ge nos sen wie Karl Marx (1818 ndash 1883) war auf ge fal len wie stark Dar wins Den ken dem Zeit geist des Vik to ri a ni schen Zeit al ters ver haf tet war raquoEs ist merk wuumlr dig wie Dar win un ter Bes ti en und Pfan zen sei ne eng li-sche Ge sell schaft mit ih rer Tei lung der Ar beit Kon kur renz Auf-schluss neu er Maumlrk te rsaquoEr fin dun genlsaquo und Malt hus schem rsaquoKampf ums Da seinlsaquo wie der er kenntlaquo8 Die Be to nung des Malt hus rsquoschen 8

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Kamp fes von je dem ge gen je den und auch der Fort schritts glau-be in Dar wins Den ken zei gen ihn stark sei ner Zeit ver haf tet

Eine an de re Kri tik kam aus der Bi o lo gie selbst Dar win hat-te noch nichts von Ge nen ge wusst So konn te er nicht er klauml ren was sich bi o che misch er eig ne te wenn Ar ten sich ver aumln der ten Der raquoDar wi nis muslaquo der Jahr hun dert wen de gab schlieszlig lich die Hoff nung auf die Evo lu ti on lie szlige sich al lein durch die na tuumlr li-che Se lek ti on der Ar ten nach Maszlig ga be ih rer An pas sungs fauml hig-keit an die Um welt be gruumln den Man ent deck te die Rol le der Ge-ne tik und zum neu en Er klauml rungs prin zip wur de das Mo dell der zwei Kons t ruk teu re Das Spiel des Le bens er hielt ei nen Wuumlr fel zu faumll li ge Ver aumln de run gen im Gen ma te ri al also so ge nann te Mu tashyti o nen Im Tri alshyandshyEr ror-Ver fah ren ent ste hen im Erb gut ge le-gent lich Ab wei chun gen die dann er folg reich sind wenn sie sich in der Um welt be waumlh ren Da mit war die Idee vom Tisch dass sich neu er wor be ne Ei gen schaf ten oder raquodie ana to mi schen Aus-wir kun gen koumlr per li cher An stren gun genlaquo wie La marck mein te ver er ben koumlnn ten Noch Dar win hat te dies fuumlr denk bar ge hal ten So ver trau te er Er zaumlh lun gen wo nach bei je nen Volks grup pen zu de ren Ri ten die re gel mauml szligi ge Be schnei dung der Pe nis vor haut ge houmlrt sich die Vor haut all maumlh lich ver kuumlrz te Das haumlt te zwar die Be schnei dung uumlber fuumls sig ge macht aber Dar win hat te ge ra-de an de res Ge wich ti ges zu be den ken als da ruuml ber nach zu sin nen

Die Ver kuumlr zung der Vor haut blieb im Wis sens schatz der Dar wi nis ten bis Au gust Weis mann (1834 ndash 1914) im spauml ten 19 Jahr hun dert nach wies dass ein sol cher In for ma ti ons fuss vom aumlu szlige ren Er schei nungs bild zum Erb ma te ri al nicht moumlg lich sei Uumlber fuumlnf Ge ne ra ti o nen kuumlrz te Weis mann ei nem Stamm von Maumlu sen ihre Schwaumln ze ohne dass eine Nach richt uumlber die sen Ein griff die Keim bah nen der Maumlu se er reich te Denn sie he da Auch die Schwaumln ze der nach fol gen den Maumlu se ge ne ra ti o nen blie-ben gleich lang Da be durf te es schon der Spitz fin dig keit des iri schen Dich ters George Bern ard Shaw (1856 ndash 1950) der Weis-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 419783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 41 10082021 10493410082021 104934

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manns schnei den de Wi der le gung der La marckrsquo schen The o rie leicht fer tig vom Se zier tisch wisch te Die Maumlu se be merk te der Dich ter haumlt ten gar kei ne An stren gun gen un ter nom men ihre Schwaumln ze zu ver lie ren waumlh rend sich die Tie re bei La marck ja da rum be muumlht haumlt ten sich zu ver aumln dern

Im Nach hi n ein also war es der pauml da go gi sche Op ti mis mus der La marck in die Irre ge fuumlhrt ha ben soll te So mach te die Hoff-nung auf ei nen ethisch an spre chen den E vo lu ti ons ver lauf ndash die Er war tung die Mensch heit ent wick le sich qua An pas sung an das so zi a le Mi li eu durch Selbst er zie hung zum Bes se ren ndash nur noch eine et was ab sei ti ge Kar ri e re im staats so zi a lis ti schen Bi o lo gie-un ter richt der Sow jet u ni on Wie kalt da ge gen der uumlber le ge ne raquoKampf ums Da seinlaquo der ja ein Kampf um die Fleisch toumlp fe ist ohne Hoff nung der Mensch wer de den kuumlh nen Geist statt sei-nes ma te ri a lis ti schen Gier hal ses nach Houml he rem stre cken Und ein zig die Kir che be wahr te un ver dros sen ei nen la marc kis ti schen Ge dan ken ndash al ler dings ei nen pes si mis ti schen und kei nen op ti-mis ti schen In bes ter Schuumlt zen hil fe fuumlr den fran zouml si schen Che-va li er ver tei digt sie bis heu te ihr mo le ku lar ge ne tisch be denk li-ches Dog ma Adams Un ge hor sam im Gar ten Eden habe zu ei ner raquoErb suumln delaquo ge fuumlhrt die da rauf hin auf alle zu kuumlnf ti gen Ge ne ra-ti o nen uumlber ge gan gen sei

Im mer hin sind in den bei den letz ten Jahr zehn ten ei ni ge Bi o-lo gen wie der et was of fe ner da fuumlr ge wor den der Ver er bung er-wor be ner Ei gen schaf ten ei nen Platz in der Ge ne tik zu las sen Zwar ver er ben sich psy chi sche und phy si sche Le bens er fah run-gen nicht durch ver aumln der te Gene Aber es koumlnn te doch sein dass jene Schal ter die da ruuml ber be stim men wel che ge ne ti sche In for-ma ti on wei ter ge ge ben wird und wel che nicht durch Um welt-ein fuumls se ver aumln dert wer den Uumlber le gun gen wie die se be schaumlf ti-gen so ge nann te Epi gen eti ker seit ei ni ger Zeit sie ha ben ei nen wach sen den Ein fuss auf un se re Vor stel lung von der Evo lu ti on

Die heu ti ge Leit dis zip lin die uns die Ver wandt schaft des Le-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 429783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 42 10082021 10493410082021 104934

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bens ent schluumls seln soll ist die Ge ne tik Wir un ter su chen die Sum-me al ler ge ne ti schen In for ma ti o nen und re gist rie ren da bei Uumlber-ein stim mun gen und Ab wei chun gen mit an de ren Ar ten Doch der Pro zess die Na tur un se rer Na tur zu er ken nen ist noch lan ge nicht ab ge schlos sen und wird wohl auch nie ab ge schlos sen sein Wir wen den Ord nungs sche ma ta auf The o ri en und The o ri en auf Be ob ach tun gen an Nur so kom men wir zu Kau sa li tauml ten und Ge-set zen Doch ihre Be deu tung ver aumln dert sich in dem Maszlige wie wir den Blick punkt un se rer Auf merk sam keit wie der ver la gern Die ser Vor gang des Ent dec kens und des Ver de ckens durch neue Denk sche ma ta ist prin zi pi ell nicht ab schlieszlig bar denn selbst ge-gen waumlr ti ge Evo lu ti ons the o ri en un ter lie gen wei ter hin der Evo-lu ti on

Er staun li cher wei se hat die mo der ne Evo lu ti ons the o rie nur zu ei ner ge ring fuuml gi gen Kor rek tur al ter Denk sche ma ta ge fuumlhrt Wie fruuml her in der Na tur ge schich te er ken nen wir heu te in der Bi o lo gie uumlber all Re gel haf tigk eit Not wen dig keit und Vor tei-le Doch bei nauml he rer Sicht er weist sich die Evo lu ti on ge ra de zu als Herr schafts ge biet der Aus nah men uumlber die Re geln Sie ist eine raquoZweck mauml szligig keit ohne Zwecklaquo wenn auch al lein fuumlr die 01 Pro zent der heu te noch ndash oder ge ra de ndash exis tie ren den Spe-zi es nicht aber fuumlr die 999 Pro zent die in den Ur fu ten dem Ord ovizium dem Perm der Krei de oder dem Ter ti aumlr das Welt-li che seg ne ten E vo lu ti ons bi o lo gen su chen in der Ge schich te der Na tur uumlber all nach Vor tei len die das Uumlber le ben von Ar ten er-klauml ren sol len Da bei ver men gen sie oft zwei ver schie de ne Vor-teils be grif fe Ein mal geht es um Mu ta ti o nen die si tu a tiv vor teil-haf te Ei gen schaf ten fuumlr eine Tier art her vor ge bracht ha ben sol len Eine grouml szlige re Sta tur ein pom pouml se res Ge weih ein staumlr ke res Ge biss sol len Weib chen be ein dru cken und die Nach kom men schaft er-houml hen Da die se Ei gen schaf ten aber oft nichts nuumlt zen wenn der Zu fall die Spiel re geln der Um welt aumln dert gibt es ei nen zwei ten Vor teils be griff Da nach ist das vor teil haft in der Evo lu ti on was

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 439783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 43 10082021 10493410082021 104934

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vom Ende her be trach tet dazu ge fuumlhrt hat dass eine Art uumlber-lebt Nach die ser Sicht wei se kann der mick rigs te Pa vi an auf dem Fel sen sei ne Gene wei ter ge ben wenn die staumlr ke ren Kon kur ren-ten bei ei nem Erd be ben ums Le ben ge kom men sind

An ge sichts zwei er so un ter schied li cher Be deu tun gen von raquoVor teillaquo fragt es sich ob der Be griff in der Evo lu ti ons the o rie uumlber haupt sinn voll ver wen det wer den kann Tat saumlch lich ist er ein Erbe der The o lo gie des 17 und 18 Jahr hun derts die uumlber-all in der Na tur nach der klu gen Ver nunft Got tes such te Dar win kann te die se Tra di ti on gut Als Stu dent ver ehr te er den The o lo-gen Will iam Pa ley (1743 ndash 1805) der na tur kund lich be schla gen die goumltt li che Vo raus sicht auf den neu es ten Stand ge bracht hat te Als Dar win sich von Gott ver ab schie de te und die na tuumlr li che Se-lek ti on er kann te er setz te er uumlber all wo Pa ley raquoGod doeslaquo ge-schrie ben hat te den Satz durch raquoNat ure doeslaquo An Pa leys Vor-stel lung dass die Na tur zweck mauml szligig ein ge rich tet sei und Vor tei le be loh ne hielt Dar win eben so fest wie vie le spauml te re E vo lu ti ons-the o re ti ker

Die Fra ge ist des halb wich tig weil sie zeigt wie eng un se re Vor stel lung von der Na tur bis hi nein in die mo der ne Evo lu ti-ons the o rie von sehr mensch li chen Vor stel lun gen durch setzt ist Statt Vor tei le zu be nen nen wuumlr de es naumlm lich auch aus rei chen zu sa gen dass al les in der Na tur uumlber le ben kann das fuumlr eine Art kei nen toumld li chen Nach teil hat te Ver mut lich uumlber lebt in der Evo lu ti on nicht nur Zweck mauml szligi ges son dern jede Ver aumln de rung die zu min dest nicht zum Aus ster ben fuumlhr t und moumlg li cher wei se liegt ge ra de hie rin der Grund fuumlr eine gro szlige Ar ten viel falt

Die tra di ti o nell ver eng te Sicht wei se gilt ins be son de re bei der Be trach tung des Men schen E vo lu ti ons bi o lo gen koumln nen zahl-rei che Vor tei le be nen nen die er klauml ren wa rum die mensch li che Art so er folg reich ist Men schen sind aumlu szligerst an pas sungs fauml hig und be sie deln fast alle Le bens raumlu me sie sind Al les fres ser mit ei ner gro szligen Nah rungs band brei te sie ha ben eine fe xib le So zi-

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al struk tur und ver fuuml gen uumlber ein Selbst be wusst sein das es ih-nen er moumlg licht ihr Ver hal ten zu kor ri gie ren So ge se hen ist der Mensch gleich sam das op ti mal ste al ler Tie re Doch alldem zum Trotz exis tie ren Men schen der Gat tung Homo sap iens erst seit rund 100 000 Jah ren und ihre lang fris ti gen Zu kunfts chan cen ste hen schlecht Denn mit all den vor teil haf ten Ei gen schaf ten ha-ben Men schen in Re kord zeit ihre Um welt zer stoumlrt und das lang-fris ti ge Uumlber le ben der Spe zi es dra ma tisch in fra ge ge stellt Die mit we ni ger spek ta ku lauml ren Vor tei len aus ge stat te ten Di no sau ri-er exis tier ten auf un se rem Pla ne ten hun dert fuumlnf zig Mil li o nen Jah re ganz zu schwei gen von den seit uumlber vier hun dert Mil li o-nen Jah ren na he zu un ver aumln der ten Nau til iden und Ur schne cken

Ge si chert in der Evo lu ti ons the o rie ist dass kei ne ih rer An nah-men ge si chert ist E vo lu ti ons bi o lo gen die ihre Sa che ernst neh-men muumls sen im mer auch die E vo lu ti ons be dingt heit ih res ei ge-nen Er kennt nis ap pa rats ref ek tie ren also mit hin die Evo lu ti on al ler mensch li chen Er kennt nis raquoLetzt lich istlaquo wie der Neuro bio-lo ge Ger hard Roth schreibt raquoje des Nach den ken uumlber die ob jek-ti ve Re a li taumlt sei es wis sen schaft lich oder nicht an die Be din gun-gen mensch li chen Den kens Spre chens und Han delns ge bun den und muss sich da rin be waumlh renlaquo9

Man muss ref ek tie ren dass die un ver meid li chen Ord nungs-mit tel des Geis tes das Den ken und die Spra che nicht die Wirk-lich keit raquoan sichlaquo auf raumlu men Sie sind Mo del le die die un ver-fuumlg ba re Wirk lich keit nach Maszlig ga be der ei ge nen Spiel re geln er klauml ren Nicht erst seit Er for schung der Evo lu ti on in den letz-ten zwei hun dert Jah ren muumlht sich der mensch li che Geist dem Lauf der Welt ei nen ndash nach mensch li chem Er mes sen ndash raquover nuumlnf-ti genlaquo Sinn zu ge ben Doch das Pa ra do xe der Ge schich te liegt da rin dass der mensch li che Geist selbst Pro dukt evo lu ti o nauml rer Pro zes se ist Er ist Maszlig stab und Ge mes se nes zu gleich

An eine tat saumlch lich ob jek ti ve Er kennt nis der Evo lu ti on waumlre nur halb wegs sinn voll zu den ken wenn die Evo lu ti on des Men-9

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schen ab ge schlos sen ist und da mit die Stu fe der groumlszligt moumlg li chen Voll kom men heit er reicht hat In den Zei ten vor La marck und Dar win ha ben das nicht nur The o lo gen son dern auch die Na tur-for scher fast al le samt ge glaubt Das mensch li che Be wusst sein sei die un uuml ber trof fe ne Spit zen leis tung des Schoumlp fer got tes ge schaf-fen die Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Sei nen schoumlns-ten Aus druck fand die se Sicht in ei nem Aus spruch des jun gen Phi lo so phen Fried rich Wil helm Jo seph Schel ling (1775 ndash 1854) Er mein te dass der Mensch je nes We sen sei raquoin dem die Na tur das Auge auf schlaumlgtlaquo und sich da mit ih rer selbst be wusst wird Ein huumlb scher Satz aber doch viel zu pa the tisch for mu liert Von der vol len Er kennt nis der Na tur und un se rer selbst sind wir noch im mer weit ent fernt Aber wir koumln nen da ruuml ber stau nen dass die Evo lu ti on mit uns ein Le be we sen her vor ge bracht hat in dem die Na tur sich fuumlr sich selbst fa szi nier bar ge macht hat Wie hat te es dazu kom men koumln nen

bull Der Pri mat Was ist ein Mensch

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ver waist sein Die Mensch heit wird er wacht sein und die Welt je-nes Ge sicht er hal ten ha ben das uns ge gen waumlr tig er scheint Doch wie sah das aus als die Na tur das ers te Mal in ei nem af fen aumlhn-li chen We sen die Au gen auf schlug War es auf ei ner Wald wie-se in ei nem Hain an ei nem Berg hang oder auf ei ner Lich tung War das er leuch te te We sen ein Maumlnn chen oder ein Weib chen Ging es den gan zen Tag auf recht oder saszlig es noch ger ne in der Ho cke eng ge kau ert an sei ne Bruuml der und Schwes tern Und war es eine Ein ge bung ein Blitz schlag als das Selbst be wusst sein das ers te Mal die Fes seln des Pri ma ten ge hirns spreng te

Wir wis sen nicht wo ran Schel ling dach te als er mein te die Na tur habe im Men schen ihr Auge auf ge schla gen Si cher dach te er nicht an ei nen ein zi gen Mo ment dem Mil li o nen an de re folg-ten Er dach te an den raquoMen schen an sichlaquo Und er wuss te nichts vom ost af ri ka ni schen Great Rift Val ley und von haa ri gen Vor-men schen die dort einst haus ten Er leb te in Jena und in Muumln-chen und ei nen Men schen af fen hat te Schel ling nie ge se hen Der ein zig ar ti ge Mo ment in dem die Na tur sich ih rer selbst be wusst wird bleibt eine Me ta pher

Doch wie wur de der Mensch nun tat saumlch lich zum Men-schen Die For mu lie rung ist dop pel deu tig Denn wie der Mensch zum Men schen wur de ndash das ist nicht ein evo lu ti o nauml rer Pro-zess auf der lee ren Welt buumlh ne son dern ein Spiel von Be ob ach-ter und Be ob ach te tem Schau spie ler und Zu schau er Ge schich-te auch Ent wick lungs ge schich te ist nichts Vor ge fun de nes Der Mensch schrieb der fran zouml si sche Phi lo soph JeanshyPaul Sart re (1905 ndash 1980) macht sich selbst wie der Ro man schrift stel ler sei ne Fi gu ren Er ist ge fer tigt aus bi o lo gi schen (ana to mi schen neu ro lo gi schen und phy si o lo gi schen) Be stand tei len zu al ler meist je doch durch jene we nig bi o lo gi schen Weis hei ten mit de nen sich die se Subs tan zen selbst zum raquoMen schenlaquo er ko ren

Das Glei che gilt fuumlr die mensch li che Stam mes ge schich te Auch sie ist zu naumlchst ein mal eine Ge schich te Ihre Ur spruumln ge lie gen im

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al ten Grie chen land als Aris to te les den Men schen und den Af-fen ver wandt schaft lich na he ruumlckt raquoMan che Tie re ste hen zwi-schen Mensch und Vier fuumlszlig ler in ih rem We sen wie Af fen Meer-kat zen und Pa vi a ne hellip Ihr Ge sicht hat vie le Aumlhn lich kei ten mit dem des Men schen Nase und Oh ren glei chen den sei nen und Zaumlh ne hat er auch wie ein Mensch die Vor der zaumlh ne wie die Ba cken zaumlhnelaquo10 Auch Aris to te lesrsquo Schuuml ler The oph rast (ca 370 v Chr ndash ca 288 v Chr) be steht auf der Aumlhn lich keit zwi schen Men schen und Tie ren Er lehnt es so gar ab Fleisch zu es sen oder Tie re zu op fern da man sei ne Ver wand ten nicht ver spei se

Aris to te les und The oph rast stell ten den Men schen zwar ne-ben den Af fen ndash Men schen af fen kann te man noch nicht ndash aber die al ten Grie chen hat ten ihn nur sehr un ge faumlhr zu ei nem Tier un ter Tie ren er klaumlrt Den naumlchs ten Schritt mach te mehr als zwei-tau send Jah re spauml ter Carl von Linneacute An der Zu ge houml rig keit des Men schen zu den Saumlu ge tie ren be stand fuumlr den Schwe den kein Zwei fel die Be haa rung und das Stil len der Jun gen be lehr ten un-miss ver staumlnd lich da ruuml ber Auch die Ver wandt schaft mit Af fen und Men schen af fen stand au szliger Fra ge Hier wa ren es die fa chen Fin ger- und Fuszlig nauml gel statt der Klau en der ab ge spreiz te Dau-men die Greif haumln de die zwei Zit zen der Weib chen und der frei he run ter haumln gen de statt am Un ter leib an lie gen de Pe nis ndash Merk-ma le die groumlszlig ten teils auch schon Aris to te les auf ge fal len wa ren

Doch Linneacute zouml ger te vor der Kon se quenz Haumln de rin gend such-te der got tes fuumlrch ti ge Ana tom nach ei nem Un ter schied zwi schen dem Men schen und den uumlb ri gen von ihm so ge nann ten raquoPri ma-tenlaquo raquoIch ver lan gelaquo schrieb er 1747 sei nem deut schen Freund Jo hann Ge org Gme lin raquovon Ih nen und von der gan zen Welt dass Sie mir ein Gat tungs merk mal zei gen hellip auf grund des sen man zwi schen Mensch und Affe un ter schei den kann Ich weiszlig selbst mit aumlu szligers ter Ge wiss heit von kei nemlaquo11

Nach sei nen Kri te ri en haumlt te Linneacute den Men schen zu min dest mit dem Schim pan sen ge mein sam in die sel be Gat tung ein ord-10

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nen muumls sen Der Ge dan ke schweb te zeit gleich auch dem Phi lo so-phen JeanshyJacques Rous seau (1712 ndash 1778) vor als er Schim pan-sen Orang-Ut ans und Men schen so gar als Ver tre ter der Spe zi es Mensch an sah Rous seau hat te nie ei nen Men schen af fen ge se-hen Aber die Be rich te die er von Ex pe di ti o nen nach Af ri ka und Suumld ost a si en las lie szligen in ihm kei nen Zwei fel dass die da rin be schrie be nen Men schen af fen raquowe der Tie re noch Goumlt ter son-dern Men schenlaquo sei en12 Fuumlr den Auf klauml rer wa ren Men schen af-fen edle Wil de die von kei ner Zi vi li sa ti on in ih rem fried fer ti gen We sen zer stoumlrt sei en an ders als die Men schen in Eu ro pa Eben-so dach te we nig spauml ter der schot ti sche Sprach for scher James Bur nett Lord Mon boddo (1714 ndash 1799) Auch er be trach te te den Orang-Utan als ei nen Men schen naumlm lich als ei nen raquosprach-losen Wil denlaquo

In ter pre ta ti o nen wie Rous seau sie in Pa ris und Bur nett bald da rauf in Kin card ines hire wag ten wa ren Linneacute im schwe di schen Upp sa la fremd Den Men schen ins Tier reich ein zu ord nen war in den Au gen der stren gen pro tes tan ti schen Kir che Suumln de ge nug und Linneacute zouml ger te den letz ten Schritt zu tun In sei ner Not sor-tier te er 1758 ach sel zu ckend Mensch und Schim pan se in un ter-schied li che Gat tun gen zu sam men ge fasst in der Ord nung der Pri ma ten in der sie auch heu te noch mehr schlecht als recht huumlbsch ge trennt ne ben ei nan der ho cken Homo sap iens der raquoin-tel ligi ble Menschlaquo und Pan trog lody tes der raquohoumlh len be woh nen-de Faunlaquo

So weit so schoumln Der Mensch wur de der obers te Pri mat das houmlchs te raquoHer ren tierlaquo Linneacute be kam kei nen Aumlr ger mit der Kir-che und die Na tur wis sen schaft den gro szligen Wurf des Linneacute rsquoschen Sys tems Wenn nur die se Nach barn nicht wauml ren Seit Be kannt-wer den der Men schen af fen be muumlh ten sich Wis sen schaft ler und The o lo gen im mer wie der um den Ver such den klei nen Gra ben mit gro szligen Was sern zu fuumll len der Homo sap iens und Pan troshyglody tes bei ih rer ord nungs ge mauml szligen Ver ge sell schaf tung auf der 12

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 509783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 50 10082021 10493510082021 104935

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Af fen in sel trennt Sie eva ku ier ten den Men schen vom Pri ma ten-fel sen und schu fen ihm eine ei ge ne Ord nung

In die ser Vor stel lungs welt wuchs auch der The o lo gie stu dent Charles Dar win auf Das fruuml he 19 Jahr hun dert war eine got-tes fuumlrch ti ge bie der mei er li che Zeit Doch je mehr er sich mit der Ver aumln de rung der Ar ten be schaumlf tig te umso deut li cher wur de Dar win dass es mit der of fi zi ell be kun de ten Son der stel lung des Men schen im Uni ver sum nicht weit her sein konn te So no tier te er schon er staun lich fruumlh in sein Ta ge buch raquoDer Mensch haumllt sich in sei ner Ar ro ganz fuumlr ein groszlig ar ti ges Werk des be son de ren Ein grei fens ei ner Gott heit wuumlr dig Es duumlrf te be schei de ner und wie ich glau be auch rich tig sein ihn als aus den Tie ren ent stan-den an zu se henlaquo13

Dar win hat te den noch zwoumllf Jah re ge zouml gert bis er sich schlieszlig lich ge trau te nach der all ge mei nen Dar stel lung ei ner Evo-lu ti ons the o rie im Jahr 1859 sei ne Schluss fol ge run gen in Be zug auf den Men schen in Druck zu ge ben Die Ab stam mung des Men schen aus dem Jahr 1871 ist ein ge maumlch li ches Buch in ver-soumlhn li chem Ton fall Der Na tur for scher er zaumlhlt da rin wie ein gu-ter al ter Groszlig va ter wo her die Pfan zen die Tie re und die Eng-laumln der kom men Die raquoAb wer tunglaquo des Men schen geht da bei ein her mit ei ner kon ti nu ier li chen raquoAuf wer tunglaquo der Tie re raquoWir ha ben ge se henlaquo schreibt Dar win raquodass die Emp fin dun gen und Ein druuml cke die ver schie de nen Er re gun gen und Fauml hig kei ten wie Lie be Ge daumlcht nis Auf merk sam keit Neu gier de Nach ah mung Ver stand usw de ren sich der Mensch ruumlhmt in ei nem be gin nen-den oder zu wei len selbst in ei nem gut ent wi ckel ten Zu stand bei den nie de ren Tie ren ge fun den wer denlaquo14

La marck und Dar win wa ren die Ers ten die mit Mit teln der mo der nen Na tur wis sen schaft be haup te ten was vie le Kul tu ren und Zei ten schon zu vor re li gi oumls ge ahnt hat ten raquoNa tuumlr lichlaquo ist es ab surd eine Tei lung des Tier reichs in zwei Ka te go ri en vor zu-neh men ndash in eine mensch li che und eine nicht mensch li che Ka-13

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Page 19: Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen · Leseprobe Professor Dr. Richard David Precht Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen »Fazit:

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leis tun gen wie Werk zeug ge brauch und Re li gi on eben so wie beim Er werb der mensch li chen Spra che Doch ha ben wir bei sol chen Mes sun gen tat saumlch lich den rich ti gen den fai ren Maszlig stab Ist es sinn voll die In tel li genz von Men schen af fen mit uns zu ver glei-chen (Sinn und Sinn lich keit)

Die Mo le ku lar ge ne tik zeigt uns dass Men schen bi o lo gisch Schim pan sen sind Wel che Kon se quen zen zie hen wir da raus (Eins Kom ma sechs Pro zent) Nach dem wir den Men schen auf die se Wei se bi o lo gisch ein ge kreist ha ben wer fen wir noch ei nen Blick da rauf wie ob jek tiv un ser Wis sen vom Men schen und den an de ren Tie ren ist Was koumln nen wir uumlber haupt uumlber das Be wusst-sein an de rer Tie re wis sen Stellt es nicht eine so gro szlige Bar ri e re dar dass wir zu ge ben muumls sen nichts De fi ni ti ves sa gen zu koumln-nen (Die Tuuml cke des Sub jekts)

Im zwei ten Teil wer fe ich ei nen Blick in die Kul tur ge schich te des Mensch-Tier-Ver haumllt nis ses Was ha ben Men schen zu wel cher Zeit uumlber Tie re ge dacht und wa rum Wie hat man sie be han delt Und wel che Sen si bi li taumlt oder Kaumll te setz te sich wa rum durch Was wis sen wir da ruuml ber aus der Jung stein zeit (Die Tund ra des Ge wis sens) Was glaub ten und dach ten die al ten Aumlgyp ter (raquoIch habe kein Tier miss han deltlaquo) Und wa rum ent zau ber te das alte Ju den tum die Tie re (Hir ten und Herr scher)

In der abend laumln di schen Phi lo so phie gibt es seit der An ti ke sehr un ter schied li che Deu tun gen von Tie ren Mal se hen die Den ker eine gro szlige spi ri tu el le oder na tur ge schicht li che Naumlhe mal er he-ben sie den Menschen qua sei ner Ver nunft zum un ein ge schraumlnk-ten Wel ten herr scher (Das ver lo re ne Pa ra dies) In der christ li chen Re li gi on da ge gen wer den Men schen und Tie re deut lich von ei-nan der ge schie den eine Son der an fer ti gung hier eine Drein ga-be dort Das Chris ten tum ent fernt die tier freund li chen Mo men-te der juuml di schen Re li gi on aus den Glau bens leh ren (raquoKuumlm mert sich Gott etwa um die Och senlaquo) An ders ver laumluft der Weg in In di en Chi na und Suumld ost a si en Das Welt bild und die Tier ethik

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von Hin dus und Bud dhis ten un ter schei den sich von der un se-ren (Schein hei li ge Kuumlhe) Im Abend land da ge gen do mi niert in der Nach fol ge des fran zouml si schen Phi lo so phen Reneacute Des car tes eine raquora ti o na lis ti schelaquo kal te Pers pek ti ve auf das Tier Tie re weil sie nicht ver nunft fauml hig sei en wer den kaum noch als Le be we sen wahr ge nom men ndash eine Po si ti on die im 18 Jahr hun dert al ler-dings ziem lich kont ro vers dis ku tiert wird (Die Den ker und das lie be Vieh) Nach und nach ent ste hen im spauml ten 18 Jahr hun dert eine neue Mit leids ethik und so gar ers te For de run gen nach Rech-ten fuumlr Tie re (raquoKoumln nen sie lei denlaquo)

Im drit ten Teil moumlch te ich eine ei ge ne ethi sche Hal tung ent-wi ckeln Zu naumlchst wer den The o ri en von Phi lo so phen des 20 Jahr hun derts vor ge stellt die wie Al bert Schweit zer raquoEhr furcht vor dem Le benlaquo ver lan gen oder Tie ren ei nen ho hen mo ra li schen Sta tus zu spre chen wie Pe ter Sin ger und Tom Re gan (Das ei sershyne Tor) Die se Po si ti o nen zwin gen dazu grund saumltz li cher da ruuml-ber nach zu den ken was das raquoTier rechtlaquo vom raquoTier schutzlaquo un-ter schei den soll (Schutz oder Recht) An schlie szligend moumlch te ich die Schwach stel len der gaumln gi gen Tier rechts phi lo so phi en he raus-ar bei ten und zei gen wa rum ich sie we der dem Men schen fuumlr an-ge mes sen hal te noch fuumlr all ge mein prak ti ka bel (Eine art ge rech te Mo ral) Da ran schlie szligen sich mei ne Uumlber le gun gen an was ein an ge mes se ner Um gang mit Tie ren sein koumlnn te (Gut besser am besten)

Sol cher ma szligen ge ruumls tet koumln nen wir uns im vier ten Teil mit den vie len Prob le men be fas sen die sich im All tag stel len Das ers te die ser Ka pi tel bi lan ziert das all taumlg li che Cha os im Um gang mit Tie ren (Lie ben ndash Has sen ndash Es sen) Da nach wen den wir den Blick auf die recht li che Si tu a ti on und un ter zie hen die Lo gik un-se res Tier schutz ge set zes ei ner ge nau e ren Pruuml fung (Ein kur zer Text uumlber das Touml ten) Das naumlchs te Ka pi tel gilt der Jagd Ist Ja gen art ty pi sches Ver hal ten des Men schen oder eine staat lich le gi ti-mier te Per ver si on (Na tur schutz oder Lust mord) Und wie sieht

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es mit un se rer Er naumlh rung aus Wel che Ar gu men te spre chen da-fuumlr dass Men schen in un se ren heu ti gen west li chen Ge sell schaf-ten noch Tie re touml ten duumlr fen um sich von ih nen zu er naumlh ren Und wel che Ar gu men te spre chen da ge gen Viel leicht gibt es so gar schon in Kuumlr ze ei nen Aus weg der uns end lich hilft die Mas sen-tier hal tung zu be sei ti gen (Jen seits von Wurst und Kaumlse) Eben so stellt sich die Fra ge un ter wel chen Um staumln den Tier ver su che zu-kuumlnf tig er laubt sein soll ten und un ter wel chen nicht (Das Tier als Dum my) Ist es mo ra lisch ver tret bar Tie re in Zo o lo gi schen Gaumlr ten zu hal ten Und wenn ja wel che und wel che nicht (Alshycat raz oder Psycho top) Zoos ver ste hen sich heu te als raquoNa tur-schutz zent renlaquo die Tie re er hal ten die in ih ren Hei mat laumln dern vom Aus ster ben be droht sind Wie ist dies zu be wer ten (Das Zeit al ter der Ein sam keit) Da bei sto szligen wir auf die Schwie rig-keit dass Tier schutz Tier recht und Ar ten schutz kei ne na tuumlr li-chen Ver buumln de ten sind son dern sich in ih rer Phi lo so phie ih rer Welt an schau ung und ih ren Ziel set zun gen stark un ter schei den (Das un ver soumlhn li che Tri um vi rat) Das Schluss wort bi lan ziert die se Er kennt nis se und fragt was wir aus al le dem prag ma tisch fol gern soll ten und in wel chen Schrit ten es ge sche hen koumlnn te (Scho pen hau ers Trep pe)

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Das Men schen tier

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Wahr heit zu hal ten Aber die ses Bild hat sich schon oft ver aumln-dert und es wird sich ge wiss noch wei ter ver aumln dern

Men schen nei gen dazu die Welt in der sie le ben auf zu raumlu-men Es ist eine ziem lich art ty pi sche Ver hal tens wei se Wir sor tie-ren die all taumlg li chen Din ge un se res Le bens und eben so sor tie ren wir die Ge dan ken uumlber die Welt die uns um gibt Jede Ord nung auch die der Na tur ist also ein mensch li cher Ent wurf Und al-lem An schein nach ent stand das Be duumlrf nis die Welt zu ord nen in un se rer Ent wick lungs ge schich te pa ral lel zur Ent wick lung der Spra che Denn ohne die kuumlnst li che Auf raumlum ar beit der Spra che waumlre die Vor stel lung von ei ner raquoOrd nung der Schoumlp funglaquo oder der raquoNa turlaquo nicht moumlg lich

Wer auf die Ord nung an ge wie sen ist be wegt sich gern in den si che ren Gren zen ei nes Sys tems Nur in ner halb ei nes sol chen Ord nungs ge fuuml ges fragt man nach Wahr heit und Gel tung Rich-tig keit Me tho de und Be deu tung Zu leicht uumlber sieht der Ord ner dann die kuumlnst li che Be hau sung und die selbst ge zim mer ten Re-ga le in die er die Welt so sorg faumll tig hi nein sor tiert Sel ten ge lingt ihm ein Blick aus dem Fens ter in die un ge wis se Land schaft die ihn um gibt Und nur ein ge wal ti ger Sturm ein Blitz schlag oder eine Er schuumlt te rung zwingt den Ver wal ter der Welt die si che re Wohn statt zu ver las sen und sich ein an de res Haus zu bau en das den An fein dun gen des neu en Kli mas wi der steht

Erst im Ruumlck blick auf die vie len Irr tuuml mer der Ver gan gen heit er ken nen wir dann un se re ei ge ne Un zu laumlng lich keit beim Auf-raumlu men In der Ge gen wart er scheint uns die je wei li ge Ord nung meis tens so selbst ver staumlnd lich dass wir gern uumlber jede Moumlg-lich keit der Ver aumln de rung lauml cheln So ha ben Men schen mit voumll li-ger Ge wiss heit an ge nom men dass die Erde eine Schei be ist und dass Frau en und Skla ven kei ne Rech te zu ste hen Und mit ei nem eben sol chen Lauml cheln be trach ten wir heu te die Gruumln de mit de-nen Men schen sich im Lau fe der Jahr hun der te von den Tie ren zu un ter schei den glaub ten

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 309783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 30 10082021 10493410082021 104934

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Schon die al ten Grie chen ins be son de re Aris to te les (384 v Chr ndash 322 v Chr) ha ben sich fuumlr die Ge schich te und das in vie len De tails ver bor ge ne Sys tem der Na tur in te res siert Er teilt die Tie re in Klas sen ein ver sucht zu er gruumln den was Le ben ist und schafft da mit die Grund la gen der Zo o lo gie Aber Aris to te-les kennt nur we ni ge hun dert Tie re Eine raquovoll staumln di ge Na tur-ge schich telaquo wird das ers te Mal im 18 Jahr hun dert ge schrie-ben ndash und auch sie ist aumlu szligerst un voll staumln dig Seit dem ver fuuml gen wir nicht nur uumlber ei nen rei chen Vor rat an ge dach ten Ord nun-gen von den Schoumlp fungs my then bis hin zur Mo le ku lar bi o lo gie Wir ken nen auch eine Wis sen schaft die sich raquoTax ono mielaquo nennt und jede Pfan ze und je des Tier sys te ma tisch in eine In ven tar liste der Na tur ein traumlgt

Da bei ver ra ten die Denk sche ma ta der Na tur for scher nicht nur et was uumlber die klas si fi zier te Na tur selbst son dern eben so uumlber das Ord nungs be duumlrf nis und die Pfif fig keit des mensch li-chen Geis tes Das 18 Jahr hun dert ist eine Zeit in der das Buumlr-ger tum an die Macht draumlngt und sich zu neh mend ge gen den Adel auf ehnt Sei ne schaumlrfs te Waf fe ist et was das man raquoVer nunftlaquo oder raquoRa ti o na li taumltlaquo nennt und das man ge gen den Glau ben ins Feld fuumlhrt Fuumlr die Phi lo so phen der Ra ti o na li taumlt ist die Welt kei-ne vor ge fun de ne Schoumlp fung mit fes ter Ord nung son dern et was dass man geis tig durch drin gen und auf sei ne Lo gik und Wi der-spruuml che un ter su chen kann Da bei ge ben zu naumlchst die Phy sik und die Ma the ma tik das Sche ma vor nach dem alle Er kennt nis auch jene von Pfan zen und Tie ren funk ti o nie ren soll Die Sys te ma ti-ker der Na tur ge schich te su chen nach un ver ruumlck ba ren Kri te ri en ob jek ti ven Ge setz mauml szligig kei ten und lo gi schen Ver bin dun gen um die un uuml ber sicht li che Welt der Le be we sen ih rer raquowah ren An ord-nunglaquo ge maumlszlig ein zu tei len Aber nicht alle Na tur for scher glau-ben dass ein sol ches Vor ha ben tat saumlch lich ge lin gen kann Man-che hal ten die Na tur fuumlr zu reich hal tig um sie auf die se Wei se zu klas si fi zie ren Welt an schau un gen tref fen auf ei nan der auf der

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ei nen Sei te der Glau be an ein vom Men schen prin zi pi ell voumll lig durch schau ba res Na tur sys tem auf der an de ren Sei te eine un er-gruumlnd li che Schoumlp fung in der der Mensch sich im mer nur tas-tend fort be wegt

Die ers te Va ri an te gilt im 18 Jahr hun dert als der mo der ne-re An satz Man ori en tiert sich da bei an ei nem Ra ti o na lis mus den Reneacute Des car tes (1596 ndash 1650) schon hun dert Jah re zu vor neu be gruumln det hat Die ser Ra ti o na lis mus ori en tiert sich an der Me cha nik Die Schoumlp fung Got tes er scheint als eine ein zi ge klug aus ge tuumlf tel te Ma schi ne die der Mensch Stuumlck fuumlr Stuumlck zu be-herr schen lernt Und das Uni ver sum be steht aus Ma te rie in Be-we gung or ga ni siert nach ma the ma ti schen Ge set zen Ob gleich das 18 Jahr hun dert zent ra le Spe ku la ti o nen des Phi lo so phen wi-der legt ori en tiert es sich in vie lem an Des car tesrsquo me cha nis ti scher Denk wei se Sie tut dies vor zugs wei se in je nen Dis zip li nen de-ren Er kennt nis fort schritt zu naumlchst ge ring bleibt Und nir gend-wo trifft dies in ei nem sol chen Maszlig zu wie bei der Er for schung der bi o lo gi schen Na tur

Doch die ses Welt bild hat prob le ma ti sche Fol gen Wer die Welt kon se quent nach me cha nis ti schen Grund saumlt zen be trach tet hat fuumlr den Be reich der nicht mensch li chen Na tur we nig Ver staumlnd nis Fuumlr Des car tes sind Tie re nichts als Ma schi nen Es macht kei nen Un ter schied ob eine Ma schi ne die aumlu szlige re Ge stalt und die in ne-ren Or ga ne ei nes Af fen hat oder ob es sich da bei tat saumlch lich um ein le ben des Tier han delt Denn relevantes Le ben kommt fuumlr den Den ker nicht durch zir ku lie ren des Blut und Reizempfindungen in den Koumlrper Son dern bedeutsames Le ben ga ran tie ren ein zig und al lein der er leuch te te Geist und sei ne Spra che

Des car tesrsquo Zeit kennt we der den Be griff des raquoOr ga nis muslaquo die Be son der heit des Le bens noch die Evo lu ti on son dern eben nur die Me cha nik Trotz dem ist sei ne The o rie von den Tie ren als see len lo se Au to ma ten im 17 und 18 Jahr hun dert aumlu szligerst um-strit ten Fran zouml si sche Phi lo so phen schrei ben Buch um Buch uumlber

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die Tier-Fra ge und be feh den sich da bei uumlber mehr als hun dert Jah re Noch weiszlig man nichts von ei ner raquoBi o lo gielaquo Man be treibt eine neue Dis zip lin die sich raquoNa tur ge schich telaquo nennt und da-mit auf raumlumt die Ge schich te von Le be we sen als eine wahl lo se Samm lung von Er zaumlh lun gen an zu se hen Bis her schrie ben Au to-ren um stands los von der Fang wei se der Tie re ih rer Ana to mie ih rer bib li schen und al le go ri schen Be deu tung ih rem prak ti schen Ge brauch ih rer Ver meh rung ih ren Stim men und Spra chen ih-ren Be we gun gen ih rem Al ter und von der Sym pa thie oder An-ti pa thie des Ver fas sers Auch Koch re zep te wur den von Fall zu Fall hin zu ge fuumlgt

Ein zo o lo gi sches Sys tem ist zu An fang des 18 Jahr hun derts weit ge hend un be kannt die Ver wandt schafts ver haumllt nis se der Pfan zen und Tie re sind dif fus ge ahnt und wer den eher nach Le-bens raumlu men be stimmt als nach koumlr per li chen Merk ma len Tie re die nachts ja gen ste hen da bei eben so in ei nem Ord nungs ge fuuml ge wie Tie re die fie gen koumln nen im Wald oder in ei nem See le ben Be reits die Pries ter schrift der bib li schen Ge ne sis hat te die Welt der Tie re und Pfan zen nicht nach ana to mi schen Merk ma len un-ter teilt son dern in Be zug auf den Le bens raum Pfan zen und Tie re des Mee res der Luft und der Erde Uumlber mehr als tau send Jah re kann ten auch der Is lam und die Hin dus Ord nungs sys teme die Tie re in ih rem Oumlko sys tem ver an ker ten

In der hin du is ti schen Samk hya-Tra di ti on exis tie ren vier zehn Klas sen un ter schied li cher Le be we sen ein ge teilt in acht For men himm li scher und sechs ir di scher Le be we sen zu de nen auch der Mensch ge houmlrt Als wei te res Un ter schei dungs merk mal dient die Art und Wei se der Ge burt Im gro szligen in di schen Na ti o nal epos aus dem 4 Jahr hun dert dem Ma hab har ata heiszligt es raquoAuf die ser Erde gibt es zwei Ar ten von Le be we sen die Be weg li chen und die Un be weg li chen Die Be weg li chen ha ben ei nen drei fa chen Schoszlig Sie sind aus dem Ei aus feuch ter Hit ze und Le ben dig-Ge bo re ne Von al len be weg li chen Le be we sen wie de rum sind die je ni gen die

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 339783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 33 10082021 10493410082021 104934

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le ben dig ge bo ren sind hellip die bes ten Die bes ten un ter den le ben-dig Ge bo re nen sind die die zum Men schen ge schlecht ge houml ren und die Nutz tie relaquo4

Die neu en Sys te me des 18 Jahr hun derts be frei en die Na tur-ge schich te von al lem was sich mit den Me tho den der Zeit nicht wis sen schaft lich exakt be schrei ben laumlsst Koch re zep te fal len so-wie so un ter den Tisch aber auch man che Ver hal tens be ob ach-tun gen und vor mals wich ti ge Ei gen schaf ten wie zum Bei spiel der Ge ruch Ge forscht wird mit Lupe und Mik ros kop Li ne al und Pin zet te Der wich tigs te Mann auf die sem Ge biet ist der schwe-di sche Na tur for scher Carl von Linneacute (1707 ndash 1778) Er ori en-tiert sich an Aris to te les den er be wun dert nicht an Des car tes Ge ra de zu re vo lu ti o naumlr de mo kra tisch ent wi ckelt der auf ge klaumlr te Schwe de im 18 Jahr hun dert ein be schrei ben des Sys tem der Na-tur frei vom the o lo gi schen Fir le fanz sei ner Zeit Mit der Ak ri bie ei nes Brief mar ken samm lers dem Voll staumln dig keit mehr be deu tet als das Be stau nen ein zel ner Wer te ord net er die be leb te Na tur nach Ar ten Gat tun gen Ord nun gen und Klas sen Vier Va ri ab len die Form der Ele men te ihre An zahl die raumlum li che An ord nung der Ele men te und ihre re la ti ve Grouml szlige be stimm ten von nun an den Platz im Sys tem

Un ter der Leit dis zip lin der Bo ta nik wan delt sich die Na tur ge-schich te in eine ge ord ne te Welt aus Li ni en und Flauml chen Ent schei-dend sind die sicht ba ren Un ter schei dungs merk ma le wie Bluuml ten und Staub ge fauml szlige Blaumlt ter und Fruumlch te Fuumlszlige und Hufe Fe dern und Flos sen So setzt Linneacute fuumlr jede Pfan zen- und Tier klas se jede Ord nung und Gat tung be stimm te Merk ma le fest die er als die wich ti ge ren er ach te t Denn nur un ter der An nah me sol cher pri vi-le gier ter Struk tu ren ist es ihm moumlg lich die ver schie de nen Spe zi es im Ge samt sys tem un miss ver staumlnd lich zu ras tern Der mensch li che Ord ner be schreibt also nicht ein fach die be leb te Na tur Er fuumlgt ihr auch et was hin zu die Ent schei dung naumlm lich was in der For men-viel falt der Le be we sen wich ti ge Merk ma le sind und was nicht4

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 349783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 34 10082021 10493410082021 104934

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Wie alle da ma li gen Na tur for scher nimmt Linneacute an dass die Ein tei lun gen die der mensch li che Ver stand macht tat saumlch lich ei ner ob jek ti ven Ord nung der Na tur ent spre chen Doch Lin neacutes Sys tem ist wie er selbst weiszlig nicht raquona tuumlr lichlaquo Sei ne Struk tu ren sind kei ne die er in der Na tur als Un ter schei dungs kri te ri en vor-fin det Denn was sich am Schreib tisch nun muumlh sam in Ord nun-gen pres sen laumlsst liegt wie der fran zouml si sche Na tur for scher Mishychel Adan son (1727 ndash 1806) fest stellt in der Wild nis wie Kraut und Ruuml ben durch ei nan der raquohellip eine kon fu se Mi schung aus We-sen hellip die der Zu fall ei nan der an ge nauml hert zu ha ben scheint Hier wird das Gold mit ei nem an de ren Me tall mit ei nem Stein oder mit Erde ge mischt Dort waumlchst die Ei che ne ben dem Veil chen Un ter die sen Pfan zen ir ren eben falls der Vier fuumlszlig ler das Rep til und das In sekt um her Die Fi sche mi schen sich so zu sa gen mit dem waumlss ri gen Ele ment in dem sie schwim men und mit den Pfan zen die auf dem Grun de der Ge waumls ser wach sen hellip Die se Mi schung ist so gar so all ge mein und so viel faumll tig dass sie ei nes der Na tur ge set ze zu sein scheintlaquo5

Der Wi der spruch zwi schen ei ner tax ono mi schen und ei ner oumlko lo gi schen Ord nung der Na tur ist of fen sicht lich Er fin det sich noch heu te in der Dis kus si on um die Aumls the tik von Zoo an la gen Soll man die Tie re nach Ver wandt schafts ver haumllt nis sen sam meln also in Raub tier haumlu sern An ti lo pen haumlu sern und Hirsch an la gen so dass der Be su cher zwi schen den ana to mi schen Be son der hei-ten der Ar ten ndash mit un ter so gar den ge o gra fi schen Va ri an ten ei ner ein zi gen Art ndash zu un ter schei den lernt Oder ge waumlhrt die Nach-ge stal tung ei nes Na tur bi o tops ei ner af ri ka ni schen Sa van ne oder ei nes al pi nen Pa no ra mas den wich ti ge ren Ein blick in die Ord-nung der Na tur

Zwar steht fuumlr Linneacute und sei ne Kol le gen fest dass die raquowah-re Ord nunglaquo der Na tur sich an den koumlr per li chen Merk ma len zu ori en tie ren hat doch muss eine Er klauml rung da fuumlr ge fun den wer-den wa rum die se Ord nung in der frei en Na tur nicht von al lein 5

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 359783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 35 10082021 10493410082021 104934

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sicht bar wird Ohne Zwei fel ist das Sys tem der Na tur kei ne zeit-lo se Schoumlp fung son dern durch Ver aumln de run gen ge kenn zeich net die sich in der Erd ge schich te er eig net ha ben Pa ral lel meh ren sich die Fun de von Fos si li en also von Tie ren die mut maszlig lich aus-ge stor ben sind Es hat al lem An schein nach grouml szlige re ge o lo gi sche Ka tast ro phen in un be kann ter Zahl ge ge ben de nen vie le Ar ten zum Op fer ge fal len sind Doch ha ben die se De sas ter auch zur Ent ste hung von neu en For men ge fuumlhrt

Um den Fak tor der Zeit und sei ne Fol gen fuumlr das Sys tem der Na tur ein zu schaumlt zen gibt es vie le Moumlg lich kei ten Die ein fachs te und mensch lichs te al ler zeit li chen Ord nungs vor stel lun gen ist die Idee al les fol ge ei nem Plan und sei auf ein Ziel hin aus ge rich-tet (Te le o lo gie) Re li gi o nen Phi lo so phi en und Ide o lo gi en funk-ti o nie ren na he zu al le samt ziel ge rich tet Es geht um ein bes se res Le ben auf Er den im Jen seits in ei nem ge rech ten Staat um die Herr schaft uumlber die an de ren uumlber die Pro duk ti ons mit tel oder das Boumlse Selbst un ser All tag ge stal tet sich weit ge hend te le o lo-gisch durch traumlnkt von zu kuumlnf ti ger Er war tung Mo tor jed we-der Te le o lo gie ist der Fort schritts ge dan ke Sein ima gi nauml res Ziel ist der voll kom me ne Zu stand So glau ben christ lich-abend laumln-di sche Ge sell schaf ten gern an eine staumln di ge Ver bes se rung durch An stren gung eine Tu gend die nach cal vi nis ti scher Tra di ti on im Him mel wie auf Er den von Gott ma te ri ell ent lohnt wird Wie na he lie gend also auch in der Na tur die Ent ste hung raquohouml he rerlaquo Le bens for men durch Fort schritt er ken nen zu wol len mit dem End ziel des Men schen

Die Un ord nung der Schoumlp fung mit ei nem goumltt li chen Fort-schritts plan in Ein klang zu brin gen ist das Le bens werk des Schwei zer Na tur for schers und Phi lo so phen Charles Bon net (1720 ndash 1793) Fuumlr Bon net ist die Zahl der Ar ten und ihre aumlu-szlige re Ge stalt von Gott ein fuumlr al le Mal fest ge legt Doch kann sich ein je des Le be we sen per fek ti o nie ren Der Weg vom simp-len Ge muumlt zur ge ni a li schen Leis tung ist vom Schoumlp fer vor ge-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 369783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 36 10082021 10493410082021 104934

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zeich net Und alle Tie re be schrei ten ihn zeit lich ver setzt nach dem glei chen Mus ter das der Mensch ih nen vor ge lebt hat raquoEs wird ei nen mehr oder we ni ger lang sa men und kon ti nu ier li chen Fort schritt al ler Ar ten zu ei ner houml he ren Ver voll komm nung ge-ben so dass alle Gra de der Stu fen lei ter in ei ner de ter mi nie ren den und kons tan ten Be zie hung fort ge setzt va ri a bel sein wer den hellip Es wird un ter den Af fen Leu te wie New ton und un ter Bi bern wie (den Fes tungs bau meis ter RDP) Vau ban ge ben Die Aus-tern und die Po ly pen wer den in Be zie hung zu den houmlchs ten Ar-ten das sein was die Vouml gel fuumlr die Vier fuumlszlig ler im Ver haumllt nis zum Men schen sindlaquo6

Seit Bon net ist die Vor stel lung von der raquoLei ter der Na turlaquo der Sca la nat urae ein wich ti ges In ven tar des na tur ge schicht-li chen Den kens Fort schritt Ver voll komm nung und goumltt li cher Plan ndash die se drei Grouml szligen be stim men die Vor stel lung vom Wer-den der Na tur vom 18 Jahr hun dert bis in die Ge gen wart hi nein Das Prin zip nach dem die Evo lu ti on Le ben her vor bringt sei un ver meid lich und von An fang an vor her be stimmt Nicht we-ni ge E vo lu ti ons the o re ti ker ha ben dies eben falls ge glaubt und zwar mit be acht li cher Kon ti nu i taumlt Der eng li sche Na tur for scher Alf red Rus sel Wall ace (1823 ndash 1913) der ge mein sam mit Dar win die The o rie der na tuumlr li chen Se lek ti on ent wi ckelt hat te hielt nicht nur den mensch li chen Geist und sein Mo ral emp fin den son dern zu dem auch die wei che nack te emp find sa me Haut des Men-schen fuumlr das Re sul tat ei ner not wen di gen Ent wick lung

Doch schon im 18 Jahr hun dert reg ten sich zu gleich vor sich-ti ge Zwei fel an der Stim mig keit ei ner sol chen Vor ge formt heit Denn wie soll te man Na tur ka tast ro phen be wer ten Waumlh rend die meis ten Na tur for scher sie als Teil des goumltt li chen Schoumlp-fungs plans in ter pre tier ten zo gen an de re ver gleichs wei se fins te-re Schluumls se Und so wur de tat saumlch lich ein gro szliges Erd be ben zum in di rek ten Aus louml ser der Evo lu ti ons the o rie naumlm lich je nes von Lis sa bon im Jahr 1755 Wer uumlber die Ka tast ro phe nach dach te 6

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 379783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 37 10082021 10493410082021 104934

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konn te star ken Zwei fel da ran he gen dass die Welt ord nung aus-ge kluuml gelt und har mo nisch sei

Die wei test rei chen den Schluss fol ge run gen zog der eng li-sche Pfar rer und Na ti o nal oumlko nom Tho mas Ro bert Malt hus (1766 ndash 1834) Nicht nur die ge o lo gi sche Na tur und ihr Ge-fah ren ri si ko son dern auch die Ver meh rung der Be voumll ke rung wur de nun als Uumlbel er kannt Im Jahr 1798 pub li zier te Malt-hus sei nen Es say on the Princi ple of Po pu la ti on (Das Be voumllshyke rungs ge setz) die ers te Mahn schrift vor den Ge fah ren ei ner Be voumll ke rungs ex plo si on Bei ei ner Ver dop pe lungs ra te der Welt-be voumll ke rung in ner halb von fuumlnf und zwan zig Jah ren er rech ne-te Malt hus wer de ihr exponent iel les An wach sen auf grund der von der Um welt ge setz ten Gren zen not wen dig zu Ar mut Ka-tast ro phen und Tod fuumlh ren Der bib li sche Auf trag raquoSeid frucht-bar und meh ret euchlaquo er schien mit ei nem Mal als ein Fluch Ein gna den lo ser raquoKampf ums Da seinlaquo (strugg le for life) war ent fes selt Das Ein zi ge was blieb war die Hoff nung die ka-tast ro pha len Fol gen der goumltt li chen An wei sung so weit wie moumlg lich ein daumlm men zu koumln nen

In ei ner Zeit als die Ge sell schafts the o rie noch der Bi o lo-gie den Leuch ter vo ran und nicht wie heu te die Schlep pe hin-terh er traumlgt be geis tert sich vor al lem ein eng li scher Dorf pfar rer Charles Dar win (1809 ndash 1882) fuumlr die Malt hus rsquoschen Ge set ze Denn wenn es rich tig ist dass sich ein Tier mit ei ner so ge rin-gen Ver meh rungs ra te wie der Mensch ge gen uumlber sei nen Art ge-nos sen durch setz te so gab es sicht lich an de re Kri te ri en fuumlr die Uumlber le bens fauml hig keit ei ner Po pu la ti on als die Zahl ih rer Ge bur-ten Der Maszlig stab fuumlr den Er folg ei ner Spe zi es war ihr Durch set-zungs ver mouml gen oder wie Dar win es spauml ter in den Prin zi pi en der Bio logie des jun gen Phi lo so phen Her bert Spen cer (1820 ndash 1903) le sen konn te raquothe sur vi val of the fit testlaquo

Dar wins na tur kund li che Stu di en wa ren ur spruumlng lich von dem Ge dan ken be seelt die nicht a ni ma li sche Iden ti taumlt des Men schen

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zu be wei sen Erst der Sieg des Ent de cker stol zes uumlber das Ent-set zen ver lieh ihm schlieszlig lich den Mut den be ruumlhm ten Satz zu schrei ben raquoUnd ich bin bei na he uumlber zeugt (der Mei nung mit der ich an die Fra ge he ran ge tre ten bin voumll lig ent ge gen ge setzt) dass die Spe zi es (mir ist es als ge staumln de ich ei nen Mord ein) nicht un ver aumln der lich sindlaquo7

Dar wins kuumlh ne Ver mu tung war nicht ganz neu Be reits ein hal bes Jahr hun dert zu vor hat ten der fran zouml si sche Na tur for scher GeorgesshyLou is Lec lerc Comte de Buf fon (1707 ndash 1788) und der Phi lo soph De nis Dide rot (1713 ndash 1784) uumlber eine Ver aumln de-rung der Ar ten spe ku liert Be son ders JeanshyBap tiste de La marck (1744 ndash 1829) be haup te te die all maumlh li che Ent wick lung der Ar-ten aus pri mi ti ve ren Vor for men die so ge nann te Trans mu ta ti on La marck war nicht nur ein Pi o nier der mit Jahr mil li o nen han-tier te als alle Welt die Erde noch ei ni ge tau send bis hun dert tau-send Jah re jung waumlhn te son dern er praumlg te (zur glei chen Zeit wie zwei deut sche Na tur for scher) das Wort Bi o lo gie Bei ihm wan del ten sich die Le be we sen da durch dass sich ihre koumlr per-li chen An stren gun gen auf ihr Erb gut aus wir ken Da bei nahm er al ler dings nicht an dass die Ar ten aus ei nan der her vor ge hen wie Dar win es spauml ter tat La ma rcks The o rie ist nauml her an je ner von Bon net Fuumlr ihn ver voll komm nen die ein zel nen Tier ar ten im Lau fe der Zeit ihre An la gen und ent wi ckeln sich da durch im-mer houml her Be son ders voll kom me ne Tie re wie der Mensch sind dem nach sehr alt denn sie ha ben ei nen wei ten Weg von ei nem pri mi ti ven Or ga nis mus bis hin zur heu ti gen Ge stalt hin ter sich ge las sen An de re wie der pri mi ti ve Suumlszlig was ser po lyp ha ben ihre Rei se durch die Zeit ge ra de erst an ge fan gen

La marck war kein Charis mati ker und die zo o lo gi sche All-macht sei nes Vor ge setz ten am Jar din des Plan tes in Pa ris des Ba rons George Cu vier (1769 ndash 1832) ver hin der te dass man sich all zu sehr mit sei nen The o ri en be schaumlf tig te Cu vier war ein be-deu ten der Mann An die Stel le ei ner nach bo ta ni schem Mus ter 7

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 399783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 39 10082021 10493410082021 104934

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ver fah ren den Zo o lo gie setz te er eine neue Wis sen schaft die sich we ni ger an aumlu szlige ren Merk ma len als am Or ga nis mus der Tie-re ori en tier te Doch was die Trans mu ta ti on an be lang te blieb der Ober auf se her der pro tes tan tisch-the o lo gi schen Fa kul tauml ten Frank reichs beim kon ser va ti ven Mo dell Er ver brei te te wei-ter hin eine Ket te von Na tur ka tast ro phen habe als mo di fi zier-te Sint fu ten gan zen Klas sen von Tie ren den Gar aus ge macht Die se The o rie ist weit ge hend rich tig al ler dings schlieszligt sie die Trans mu ta ti on nicht aus

Das wirk lich Re vo lu ti o nauml re an La marck war die Idee die Ge schich te der Na tur nicht vom Men schen aus bis hi nun ter zur Bak te rie zu schrei ben son dern um ge kehrt von der Bak te rie zum Men schen Aus ei nem Mo dell der raumlum li chen Hie rar chie wur de ein Mo dell der zeit li chen Ent wick lung La marck er kann te zu-dem dass das Be wusst sein ei nes Tie res an die Phy si o lo gie und Neu ro lo gie sei nes Koumlr pers ge bun den ist Dem nach ist je der Geist ers tens be grenzt und zwei tens ver aumln der lich

Die phi lo so phi sche Kon se quenz aus La ma rcks Den ken ist so ra di kal dass sie fast ein hun dert fuumlnf zig Jah re lang von nie man-dem ernst haft in Be tracht ge zo gen wur de Wie kann ein Geist der den Ge set zen der Evo lu ti on un ter wor fen ist sich ei gent lich an ma szligen die Na tur der Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Von die ser Schluss fol ge rung woll te die Bi o lo gie al ler dings bis weit ins 20 Jahr hun dert hi nein nicht viel wis sen

Auch Dar wins The o rie von der na tuumlr li chen Se lek ti on der Le be we sen im Rin gen um ihr Le ben und mit der Um welt ent-wi ckel te sich wei ter Ge witz ten Zeit ge nos sen wie Karl Marx (1818 ndash 1883) war auf ge fal len wie stark Dar wins Den ken dem Zeit geist des Vik to ri a ni schen Zeit al ters ver haf tet war raquoEs ist merk wuumlr dig wie Dar win un ter Bes ti en und Pfan zen sei ne eng li-sche Ge sell schaft mit ih rer Tei lung der Ar beit Kon kur renz Auf-schluss neu er Maumlrk te rsaquoEr fin dun genlsaquo und Malt hus schem rsaquoKampf ums Da seinlsaquo wie der er kenntlaquo8 Die Be to nung des Malt hus rsquoschen 8

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 409783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 40 10082021 10493410082021 104934

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Kamp fes von je dem ge gen je den und auch der Fort schritts glau-be in Dar wins Den ken zei gen ihn stark sei ner Zeit ver haf tet

Eine an de re Kri tik kam aus der Bi o lo gie selbst Dar win hat-te noch nichts von Ge nen ge wusst So konn te er nicht er klauml ren was sich bi o che misch er eig ne te wenn Ar ten sich ver aumln der ten Der raquoDar wi nis muslaquo der Jahr hun dert wen de gab schlieszlig lich die Hoff nung auf die Evo lu ti on lie szlige sich al lein durch die na tuumlr li-che Se lek ti on der Ar ten nach Maszlig ga be ih rer An pas sungs fauml hig-keit an die Um welt be gruumln den Man ent deck te die Rol le der Ge-ne tik und zum neu en Er klauml rungs prin zip wur de das Mo dell der zwei Kons t ruk teu re Das Spiel des Le bens er hielt ei nen Wuumlr fel zu faumll li ge Ver aumln de run gen im Gen ma te ri al also so ge nann te Mu tashyti o nen Im Tri alshyandshyEr ror-Ver fah ren ent ste hen im Erb gut ge le-gent lich Ab wei chun gen die dann er folg reich sind wenn sie sich in der Um welt be waumlh ren Da mit war die Idee vom Tisch dass sich neu er wor be ne Ei gen schaf ten oder raquodie ana to mi schen Aus-wir kun gen koumlr per li cher An stren gun genlaquo wie La marck mein te ver er ben koumlnn ten Noch Dar win hat te dies fuumlr denk bar ge hal ten So ver trau te er Er zaumlh lun gen wo nach bei je nen Volks grup pen zu de ren Ri ten die re gel mauml szligi ge Be schnei dung der Pe nis vor haut ge houmlrt sich die Vor haut all maumlh lich ver kuumlrz te Das haumlt te zwar die Be schnei dung uumlber fuumls sig ge macht aber Dar win hat te ge ra-de an de res Ge wich ti ges zu be den ken als da ruuml ber nach zu sin nen

Die Ver kuumlr zung der Vor haut blieb im Wis sens schatz der Dar wi nis ten bis Au gust Weis mann (1834 ndash 1914) im spauml ten 19 Jahr hun dert nach wies dass ein sol cher In for ma ti ons fuss vom aumlu szlige ren Er schei nungs bild zum Erb ma te ri al nicht moumlg lich sei Uumlber fuumlnf Ge ne ra ti o nen kuumlrz te Weis mann ei nem Stamm von Maumlu sen ihre Schwaumln ze ohne dass eine Nach richt uumlber die sen Ein griff die Keim bah nen der Maumlu se er reich te Denn sie he da Auch die Schwaumln ze der nach fol gen den Maumlu se ge ne ra ti o nen blie-ben gleich lang Da be durf te es schon der Spitz fin dig keit des iri schen Dich ters George Bern ard Shaw (1856 ndash 1950) der Weis-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 419783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 41 10082021 10493410082021 104934

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manns schnei den de Wi der le gung der La marckrsquo schen The o rie leicht fer tig vom Se zier tisch wisch te Die Maumlu se be merk te der Dich ter haumlt ten gar kei ne An stren gun gen un ter nom men ihre Schwaumln ze zu ver lie ren waumlh rend sich die Tie re bei La marck ja da rum be muumlht haumlt ten sich zu ver aumln dern

Im Nach hi n ein also war es der pauml da go gi sche Op ti mis mus der La marck in die Irre ge fuumlhrt ha ben soll te So mach te die Hoff-nung auf ei nen ethisch an spre chen den E vo lu ti ons ver lauf ndash die Er war tung die Mensch heit ent wick le sich qua An pas sung an das so zi a le Mi li eu durch Selbst er zie hung zum Bes se ren ndash nur noch eine et was ab sei ti ge Kar ri e re im staats so zi a lis ti schen Bi o lo gie-un ter richt der Sow jet u ni on Wie kalt da ge gen der uumlber le ge ne raquoKampf ums Da seinlaquo der ja ein Kampf um die Fleisch toumlp fe ist ohne Hoff nung der Mensch wer de den kuumlh nen Geist statt sei-nes ma te ri a lis ti schen Gier hal ses nach Houml he rem stre cken Und ein zig die Kir che be wahr te un ver dros sen ei nen la marc kis ti schen Ge dan ken ndash al ler dings ei nen pes si mis ti schen und kei nen op ti-mis ti schen In bes ter Schuumlt zen hil fe fuumlr den fran zouml si schen Che-va li er ver tei digt sie bis heu te ihr mo le ku lar ge ne tisch be denk li-ches Dog ma Adams Un ge hor sam im Gar ten Eden habe zu ei ner raquoErb suumln delaquo ge fuumlhrt die da rauf hin auf alle zu kuumlnf ti gen Ge ne ra-ti o nen uumlber ge gan gen sei

Im mer hin sind in den bei den letz ten Jahr zehn ten ei ni ge Bi o-lo gen wie der et was of fe ner da fuumlr ge wor den der Ver er bung er-wor be ner Ei gen schaf ten ei nen Platz in der Ge ne tik zu las sen Zwar ver er ben sich psy chi sche und phy si sche Le bens er fah run-gen nicht durch ver aumln der te Gene Aber es koumlnn te doch sein dass jene Schal ter die da ruuml ber be stim men wel che ge ne ti sche In for-ma ti on wei ter ge ge ben wird und wel che nicht durch Um welt-ein fuumls se ver aumln dert wer den Uumlber le gun gen wie die se be schaumlf ti-gen so ge nann te Epi gen eti ker seit ei ni ger Zeit sie ha ben ei nen wach sen den Ein fuss auf un se re Vor stel lung von der Evo lu ti on

Die heu ti ge Leit dis zip lin die uns die Ver wandt schaft des Le-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 429783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 42 10082021 10493410082021 104934

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bens ent schluumls seln soll ist die Ge ne tik Wir un ter su chen die Sum-me al ler ge ne ti schen In for ma ti o nen und re gist rie ren da bei Uumlber-ein stim mun gen und Ab wei chun gen mit an de ren Ar ten Doch der Pro zess die Na tur un se rer Na tur zu er ken nen ist noch lan ge nicht ab ge schlos sen und wird wohl auch nie ab ge schlos sen sein Wir wen den Ord nungs sche ma ta auf The o ri en und The o ri en auf Be ob ach tun gen an Nur so kom men wir zu Kau sa li tauml ten und Ge-set zen Doch ihre Be deu tung ver aumln dert sich in dem Maszlige wie wir den Blick punkt un se rer Auf merk sam keit wie der ver la gern Die ser Vor gang des Ent dec kens und des Ver de ckens durch neue Denk sche ma ta ist prin zi pi ell nicht ab schlieszlig bar denn selbst ge-gen waumlr ti ge Evo lu ti ons the o ri en un ter lie gen wei ter hin der Evo-lu ti on

Er staun li cher wei se hat die mo der ne Evo lu ti ons the o rie nur zu ei ner ge ring fuuml gi gen Kor rek tur al ter Denk sche ma ta ge fuumlhrt Wie fruuml her in der Na tur ge schich te er ken nen wir heu te in der Bi o lo gie uumlber all Re gel haf tigk eit Not wen dig keit und Vor tei-le Doch bei nauml he rer Sicht er weist sich die Evo lu ti on ge ra de zu als Herr schafts ge biet der Aus nah men uumlber die Re geln Sie ist eine raquoZweck mauml szligig keit ohne Zwecklaquo wenn auch al lein fuumlr die 01 Pro zent der heu te noch ndash oder ge ra de ndash exis tie ren den Spe-zi es nicht aber fuumlr die 999 Pro zent die in den Ur fu ten dem Ord ovizium dem Perm der Krei de oder dem Ter ti aumlr das Welt-li che seg ne ten E vo lu ti ons bi o lo gen su chen in der Ge schich te der Na tur uumlber all nach Vor tei len die das Uumlber le ben von Ar ten er-klauml ren sol len Da bei ver men gen sie oft zwei ver schie de ne Vor-teils be grif fe Ein mal geht es um Mu ta ti o nen die si tu a tiv vor teil-haf te Ei gen schaf ten fuumlr eine Tier art her vor ge bracht ha ben sol len Eine grouml szlige re Sta tur ein pom pouml se res Ge weih ein staumlr ke res Ge biss sol len Weib chen be ein dru cken und die Nach kom men schaft er-houml hen Da die se Ei gen schaf ten aber oft nichts nuumlt zen wenn der Zu fall die Spiel re geln der Um welt aumln dert gibt es ei nen zwei ten Vor teils be griff Da nach ist das vor teil haft in der Evo lu ti on was

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 439783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 43 10082021 10493410082021 104934

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vom Ende her be trach tet dazu ge fuumlhrt hat dass eine Art uumlber-lebt Nach die ser Sicht wei se kann der mick rigs te Pa vi an auf dem Fel sen sei ne Gene wei ter ge ben wenn die staumlr ke ren Kon kur ren-ten bei ei nem Erd be ben ums Le ben ge kom men sind

An ge sichts zwei er so un ter schied li cher Be deu tun gen von raquoVor teillaquo fragt es sich ob der Be griff in der Evo lu ti ons the o rie uumlber haupt sinn voll ver wen det wer den kann Tat saumlch lich ist er ein Erbe der The o lo gie des 17 und 18 Jahr hun derts die uumlber-all in der Na tur nach der klu gen Ver nunft Got tes such te Dar win kann te die se Tra di ti on gut Als Stu dent ver ehr te er den The o lo-gen Will iam Pa ley (1743 ndash 1805) der na tur kund lich be schla gen die goumltt li che Vo raus sicht auf den neu es ten Stand ge bracht hat te Als Dar win sich von Gott ver ab schie de te und die na tuumlr li che Se-lek ti on er kann te er setz te er uumlber all wo Pa ley raquoGod doeslaquo ge-schrie ben hat te den Satz durch raquoNat ure doeslaquo An Pa leys Vor-stel lung dass die Na tur zweck mauml szligig ein ge rich tet sei und Vor tei le be loh ne hielt Dar win eben so fest wie vie le spauml te re E vo lu ti ons-the o re ti ker

Die Fra ge ist des halb wich tig weil sie zeigt wie eng un se re Vor stel lung von der Na tur bis hi nein in die mo der ne Evo lu ti-ons the o rie von sehr mensch li chen Vor stel lun gen durch setzt ist Statt Vor tei le zu be nen nen wuumlr de es naumlm lich auch aus rei chen zu sa gen dass al les in der Na tur uumlber le ben kann das fuumlr eine Art kei nen toumld li chen Nach teil hat te Ver mut lich uumlber lebt in der Evo lu ti on nicht nur Zweck mauml szligi ges son dern jede Ver aumln de rung die zu min dest nicht zum Aus ster ben fuumlhr t und moumlg li cher wei se liegt ge ra de hie rin der Grund fuumlr eine gro szlige Ar ten viel falt

Die tra di ti o nell ver eng te Sicht wei se gilt ins be son de re bei der Be trach tung des Men schen E vo lu ti ons bi o lo gen koumln nen zahl-rei che Vor tei le be nen nen die er klauml ren wa rum die mensch li che Art so er folg reich ist Men schen sind aumlu szligerst an pas sungs fauml hig und be sie deln fast alle Le bens raumlu me sie sind Al les fres ser mit ei ner gro szligen Nah rungs band brei te sie ha ben eine fe xib le So zi-

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al struk tur und ver fuuml gen uumlber ein Selbst be wusst sein das es ih-nen er moumlg licht ihr Ver hal ten zu kor ri gie ren So ge se hen ist der Mensch gleich sam das op ti mal ste al ler Tie re Doch alldem zum Trotz exis tie ren Men schen der Gat tung Homo sap iens erst seit rund 100 000 Jah ren und ihre lang fris ti gen Zu kunfts chan cen ste hen schlecht Denn mit all den vor teil haf ten Ei gen schaf ten ha-ben Men schen in Re kord zeit ihre Um welt zer stoumlrt und das lang-fris ti ge Uumlber le ben der Spe zi es dra ma tisch in fra ge ge stellt Die mit we ni ger spek ta ku lauml ren Vor tei len aus ge stat te ten Di no sau ri-er exis tier ten auf un se rem Pla ne ten hun dert fuumlnf zig Mil li o nen Jah re ganz zu schwei gen von den seit uumlber vier hun dert Mil li o-nen Jah ren na he zu un ver aumln der ten Nau til iden und Ur schne cken

Ge si chert in der Evo lu ti ons the o rie ist dass kei ne ih rer An nah-men ge si chert ist E vo lu ti ons bi o lo gen die ihre Sa che ernst neh-men muumls sen im mer auch die E vo lu ti ons be dingt heit ih res ei ge-nen Er kennt nis ap pa rats ref ek tie ren also mit hin die Evo lu ti on al ler mensch li chen Er kennt nis raquoLetzt lich istlaquo wie der Neuro bio-lo ge Ger hard Roth schreibt raquoje des Nach den ken uumlber die ob jek-ti ve Re a li taumlt sei es wis sen schaft lich oder nicht an die Be din gun-gen mensch li chen Den kens Spre chens und Han delns ge bun den und muss sich da rin be waumlh renlaquo9

Man muss ref ek tie ren dass die un ver meid li chen Ord nungs-mit tel des Geis tes das Den ken und die Spra che nicht die Wirk-lich keit raquoan sichlaquo auf raumlu men Sie sind Mo del le die die un ver-fuumlg ba re Wirk lich keit nach Maszlig ga be der ei ge nen Spiel re geln er klauml ren Nicht erst seit Er for schung der Evo lu ti on in den letz-ten zwei hun dert Jah ren muumlht sich der mensch li che Geist dem Lauf der Welt ei nen ndash nach mensch li chem Er mes sen ndash raquover nuumlnf-ti genlaquo Sinn zu ge ben Doch das Pa ra do xe der Ge schich te liegt da rin dass der mensch li che Geist selbst Pro dukt evo lu ti o nauml rer Pro zes se ist Er ist Maszlig stab und Ge mes se nes zu gleich

An eine tat saumlch lich ob jek ti ve Er kennt nis der Evo lu ti on waumlre nur halb wegs sinn voll zu den ken wenn die Evo lu ti on des Men-9

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schen ab ge schlos sen ist und da mit die Stu fe der groumlszligt moumlg li chen Voll kom men heit er reicht hat In den Zei ten vor La marck und Dar win ha ben das nicht nur The o lo gen son dern auch die Na tur-for scher fast al le samt ge glaubt Das mensch li che Be wusst sein sei die un uuml ber trof fe ne Spit zen leis tung des Schoumlp fer got tes ge schaf-fen die Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Sei nen schoumlns-ten Aus druck fand die se Sicht in ei nem Aus spruch des jun gen Phi lo so phen Fried rich Wil helm Jo seph Schel ling (1775 ndash 1854) Er mein te dass der Mensch je nes We sen sei raquoin dem die Na tur das Auge auf schlaumlgtlaquo und sich da mit ih rer selbst be wusst wird Ein huumlb scher Satz aber doch viel zu pa the tisch for mu liert Von der vol len Er kennt nis der Na tur und un se rer selbst sind wir noch im mer weit ent fernt Aber wir koumln nen da ruuml ber stau nen dass die Evo lu ti on mit uns ein Le be we sen her vor ge bracht hat in dem die Na tur sich fuumlr sich selbst fa szi nier bar ge macht hat Wie hat te es dazu kom men koumln nen

bull Der Pri mat Was ist ein Mensch

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ver waist sein Die Mensch heit wird er wacht sein und die Welt je-nes Ge sicht er hal ten ha ben das uns ge gen waumlr tig er scheint Doch wie sah das aus als die Na tur das ers te Mal in ei nem af fen aumlhn-li chen We sen die Au gen auf schlug War es auf ei ner Wald wie-se in ei nem Hain an ei nem Berg hang oder auf ei ner Lich tung War das er leuch te te We sen ein Maumlnn chen oder ein Weib chen Ging es den gan zen Tag auf recht oder saszlig es noch ger ne in der Ho cke eng ge kau ert an sei ne Bruuml der und Schwes tern Und war es eine Ein ge bung ein Blitz schlag als das Selbst be wusst sein das ers te Mal die Fes seln des Pri ma ten ge hirns spreng te

Wir wis sen nicht wo ran Schel ling dach te als er mein te die Na tur habe im Men schen ihr Auge auf ge schla gen Si cher dach te er nicht an ei nen ein zi gen Mo ment dem Mil li o nen an de re folg-ten Er dach te an den raquoMen schen an sichlaquo Und er wuss te nichts vom ost af ri ka ni schen Great Rift Val ley und von haa ri gen Vor-men schen die dort einst haus ten Er leb te in Jena und in Muumln-chen und ei nen Men schen af fen hat te Schel ling nie ge se hen Der ein zig ar ti ge Mo ment in dem die Na tur sich ih rer selbst be wusst wird bleibt eine Me ta pher

Doch wie wur de der Mensch nun tat saumlch lich zum Men-schen Die For mu lie rung ist dop pel deu tig Denn wie der Mensch zum Men schen wur de ndash das ist nicht ein evo lu ti o nauml rer Pro-zess auf der lee ren Welt buumlh ne son dern ein Spiel von Be ob ach-ter und Be ob ach te tem Schau spie ler und Zu schau er Ge schich-te auch Ent wick lungs ge schich te ist nichts Vor ge fun de nes Der Mensch schrieb der fran zouml si sche Phi lo soph JeanshyPaul Sart re (1905 ndash 1980) macht sich selbst wie der Ro man schrift stel ler sei ne Fi gu ren Er ist ge fer tigt aus bi o lo gi schen (ana to mi schen neu ro lo gi schen und phy si o lo gi schen) Be stand tei len zu al ler meist je doch durch jene we nig bi o lo gi schen Weis hei ten mit de nen sich die se Subs tan zen selbst zum raquoMen schenlaquo er ko ren

Das Glei che gilt fuumlr die mensch li che Stam mes ge schich te Auch sie ist zu naumlchst ein mal eine Ge schich te Ihre Ur spruumln ge lie gen im

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al ten Grie chen land als Aris to te les den Men schen und den Af-fen ver wandt schaft lich na he ruumlckt raquoMan che Tie re ste hen zwi-schen Mensch und Vier fuumlszlig ler in ih rem We sen wie Af fen Meer-kat zen und Pa vi a ne hellip Ihr Ge sicht hat vie le Aumlhn lich kei ten mit dem des Men schen Nase und Oh ren glei chen den sei nen und Zaumlh ne hat er auch wie ein Mensch die Vor der zaumlh ne wie die Ba cken zaumlhnelaquo10 Auch Aris to te lesrsquo Schuuml ler The oph rast (ca 370 v Chr ndash ca 288 v Chr) be steht auf der Aumlhn lich keit zwi schen Men schen und Tie ren Er lehnt es so gar ab Fleisch zu es sen oder Tie re zu op fern da man sei ne Ver wand ten nicht ver spei se

Aris to te les und The oph rast stell ten den Men schen zwar ne-ben den Af fen ndash Men schen af fen kann te man noch nicht ndash aber die al ten Grie chen hat ten ihn nur sehr un ge faumlhr zu ei nem Tier un ter Tie ren er klaumlrt Den naumlchs ten Schritt mach te mehr als zwei-tau send Jah re spauml ter Carl von Linneacute An der Zu ge houml rig keit des Men schen zu den Saumlu ge tie ren be stand fuumlr den Schwe den kein Zwei fel die Be haa rung und das Stil len der Jun gen be lehr ten un-miss ver staumlnd lich da ruuml ber Auch die Ver wandt schaft mit Af fen und Men schen af fen stand au szliger Fra ge Hier wa ren es die fa chen Fin ger- und Fuszlig nauml gel statt der Klau en der ab ge spreiz te Dau-men die Greif haumln de die zwei Zit zen der Weib chen und der frei he run ter haumln gen de statt am Un ter leib an lie gen de Pe nis ndash Merk-ma le die groumlszlig ten teils auch schon Aris to te les auf ge fal len wa ren

Doch Linneacute zouml ger te vor der Kon se quenz Haumln de rin gend such-te der got tes fuumlrch ti ge Ana tom nach ei nem Un ter schied zwi schen dem Men schen und den uumlb ri gen von ihm so ge nann ten raquoPri ma-tenlaquo raquoIch ver lan gelaquo schrieb er 1747 sei nem deut schen Freund Jo hann Ge org Gme lin raquovon Ih nen und von der gan zen Welt dass Sie mir ein Gat tungs merk mal zei gen hellip auf grund des sen man zwi schen Mensch und Affe un ter schei den kann Ich weiszlig selbst mit aumlu szligers ter Ge wiss heit von kei nemlaquo11

Nach sei nen Kri te ri en haumlt te Linneacute den Men schen zu min dest mit dem Schim pan sen ge mein sam in die sel be Gat tung ein ord-10

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nen muumls sen Der Ge dan ke schweb te zeit gleich auch dem Phi lo so-phen JeanshyJacques Rous seau (1712 ndash 1778) vor als er Schim pan-sen Orang-Ut ans und Men schen so gar als Ver tre ter der Spe zi es Mensch an sah Rous seau hat te nie ei nen Men schen af fen ge se-hen Aber die Be rich te die er von Ex pe di ti o nen nach Af ri ka und Suumld ost a si en las lie szligen in ihm kei nen Zwei fel dass die da rin be schrie be nen Men schen af fen raquowe der Tie re noch Goumlt ter son-dern Men schenlaquo sei en12 Fuumlr den Auf klauml rer wa ren Men schen af-fen edle Wil de die von kei ner Zi vi li sa ti on in ih rem fried fer ti gen We sen zer stoumlrt sei en an ders als die Men schen in Eu ro pa Eben-so dach te we nig spauml ter der schot ti sche Sprach for scher James Bur nett Lord Mon boddo (1714 ndash 1799) Auch er be trach te te den Orang-Utan als ei nen Men schen naumlm lich als ei nen raquosprach-losen Wil denlaquo

In ter pre ta ti o nen wie Rous seau sie in Pa ris und Bur nett bald da rauf in Kin card ines hire wag ten wa ren Linneacute im schwe di schen Upp sa la fremd Den Men schen ins Tier reich ein zu ord nen war in den Au gen der stren gen pro tes tan ti schen Kir che Suumln de ge nug und Linneacute zouml ger te den letz ten Schritt zu tun In sei ner Not sor-tier te er 1758 ach sel zu ckend Mensch und Schim pan se in un ter-schied li che Gat tun gen zu sam men ge fasst in der Ord nung der Pri ma ten in der sie auch heu te noch mehr schlecht als recht huumlbsch ge trennt ne ben ei nan der ho cken Homo sap iens der raquoin-tel ligi ble Menschlaquo und Pan trog lody tes der raquohoumlh len be woh nen-de Faunlaquo

So weit so schoumln Der Mensch wur de der obers te Pri mat das houmlchs te raquoHer ren tierlaquo Linneacute be kam kei nen Aumlr ger mit der Kir-che und die Na tur wis sen schaft den gro szligen Wurf des Linneacute rsquoschen Sys tems Wenn nur die se Nach barn nicht wauml ren Seit Be kannt-wer den der Men schen af fen be muumlh ten sich Wis sen schaft ler und The o lo gen im mer wie der um den Ver such den klei nen Gra ben mit gro szligen Was sern zu fuumll len der Homo sap iens und Pan troshyglody tes bei ih rer ord nungs ge mauml szligen Ver ge sell schaf tung auf der 12

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 509783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 50 10082021 10493510082021 104935

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Af fen in sel trennt Sie eva ku ier ten den Men schen vom Pri ma ten-fel sen und schu fen ihm eine ei ge ne Ord nung

In die ser Vor stel lungs welt wuchs auch der The o lo gie stu dent Charles Dar win auf Das fruuml he 19 Jahr hun dert war eine got-tes fuumlrch ti ge bie der mei er li che Zeit Doch je mehr er sich mit der Ver aumln de rung der Ar ten be schaumlf tig te umso deut li cher wur de Dar win dass es mit der of fi zi ell be kun de ten Son der stel lung des Men schen im Uni ver sum nicht weit her sein konn te So no tier te er schon er staun lich fruumlh in sein Ta ge buch raquoDer Mensch haumllt sich in sei ner Ar ro ganz fuumlr ein groszlig ar ti ges Werk des be son de ren Ein grei fens ei ner Gott heit wuumlr dig Es duumlrf te be schei de ner und wie ich glau be auch rich tig sein ihn als aus den Tie ren ent stan-den an zu se henlaquo13

Dar win hat te den noch zwoumllf Jah re ge zouml gert bis er sich schlieszlig lich ge trau te nach der all ge mei nen Dar stel lung ei ner Evo-lu ti ons the o rie im Jahr 1859 sei ne Schluss fol ge run gen in Be zug auf den Men schen in Druck zu ge ben Die Ab stam mung des Men schen aus dem Jahr 1871 ist ein ge maumlch li ches Buch in ver-soumlhn li chem Ton fall Der Na tur for scher er zaumlhlt da rin wie ein gu-ter al ter Groszlig va ter wo her die Pfan zen die Tie re und die Eng-laumln der kom men Die raquoAb wer tunglaquo des Men schen geht da bei ein her mit ei ner kon ti nu ier li chen raquoAuf wer tunglaquo der Tie re raquoWir ha ben ge se henlaquo schreibt Dar win raquodass die Emp fin dun gen und Ein druuml cke die ver schie de nen Er re gun gen und Fauml hig kei ten wie Lie be Ge daumlcht nis Auf merk sam keit Neu gier de Nach ah mung Ver stand usw de ren sich der Mensch ruumlhmt in ei nem be gin nen-den oder zu wei len selbst in ei nem gut ent wi ckel ten Zu stand bei den nie de ren Tie ren ge fun den wer denlaquo14

La marck und Dar win wa ren die Ers ten die mit Mit teln der mo der nen Na tur wis sen schaft be haup te ten was vie le Kul tu ren und Zei ten schon zu vor re li gi oumls ge ahnt hat ten raquoNa tuumlr lichlaquo ist es ab surd eine Tei lung des Tier reichs in zwei Ka te go ri en vor zu-neh men ndash in eine mensch li che und eine nicht mensch li che Ka-13

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Page 20: Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen · Leseprobe Professor Dr. Richard David Precht Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen »Fazit:

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von Hin dus und Bud dhis ten un ter schei den sich von der un se-ren (Schein hei li ge Kuumlhe) Im Abend land da ge gen do mi niert in der Nach fol ge des fran zouml si schen Phi lo so phen Reneacute Des car tes eine raquora ti o na lis ti schelaquo kal te Pers pek ti ve auf das Tier Tie re weil sie nicht ver nunft fauml hig sei en wer den kaum noch als Le be we sen wahr ge nom men ndash eine Po si ti on die im 18 Jahr hun dert al ler-dings ziem lich kont ro vers dis ku tiert wird (Die Den ker und das lie be Vieh) Nach und nach ent ste hen im spauml ten 18 Jahr hun dert eine neue Mit leids ethik und so gar ers te For de run gen nach Rech-ten fuumlr Tie re (raquoKoumln nen sie lei denlaquo)

Im drit ten Teil moumlch te ich eine ei ge ne ethi sche Hal tung ent-wi ckeln Zu naumlchst wer den The o ri en von Phi lo so phen des 20 Jahr hun derts vor ge stellt die wie Al bert Schweit zer raquoEhr furcht vor dem Le benlaquo ver lan gen oder Tie ren ei nen ho hen mo ra li schen Sta tus zu spre chen wie Pe ter Sin ger und Tom Re gan (Das ei sershyne Tor) Die se Po si ti o nen zwin gen dazu grund saumltz li cher da ruuml-ber nach zu den ken was das raquoTier rechtlaquo vom raquoTier schutzlaquo un-ter schei den soll (Schutz oder Recht) An schlie szligend moumlch te ich die Schwach stel len der gaumln gi gen Tier rechts phi lo so phi en he raus-ar bei ten und zei gen wa rum ich sie we der dem Men schen fuumlr an-ge mes sen hal te noch fuumlr all ge mein prak ti ka bel (Eine art ge rech te Mo ral) Da ran schlie szligen sich mei ne Uumlber le gun gen an was ein an ge mes se ner Um gang mit Tie ren sein koumlnn te (Gut besser am besten)

Sol cher ma szligen ge ruumls tet koumln nen wir uns im vier ten Teil mit den vie len Prob le men be fas sen die sich im All tag stel len Das ers te die ser Ka pi tel bi lan ziert das all taumlg li che Cha os im Um gang mit Tie ren (Lie ben ndash Has sen ndash Es sen) Da nach wen den wir den Blick auf die recht li che Si tu a ti on und un ter zie hen die Lo gik un-se res Tier schutz ge set zes ei ner ge nau e ren Pruuml fung (Ein kur zer Text uumlber das Touml ten) Das naumlchs te Ka pi tel gilt der Jagd Ist Ja gen art ty pi sches Ver hal ten des Men schen oder eine staat lich le gi ti-mier te Per ver si on (Na tur schutz oder Lust mord) Und wie sieht

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 259783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 25 10082021 10493410082021 104934

es mit un se rer Er naumlh rung aus Wel che Ar gu men te spre chen da-fuumlr dass Men schen in un se ren heu ti gen west li chen Ge sell schaf-ten noch Tie re touml ten duumlr fen um sich von ih nen zu er naumlh ren Und wel che Ar gu men te spre chen da ge gen Viel leicht gibt es so gar schon in Kuumlr ze ei nen Aus weg der uns end lich hilft die Mas sen-tier hal tung zu be sei ti gen (Jen seits von Wurst und Kaumlse) Eben so stellt sich die Fra ge un ter wel chen Um staumln den Tier ver su che zu-kuumlnf tig er laubt sein soll ten und un ter wel chen nicht (Das Tier als Dum my) Ist es mo ra lisch ver tret bar Tie re in Zo o lo gi schen Gaumlr ten zu hal ten Und wenn ja wel che und wel che nicht (Alshycat raz oder Psycho top) Zoos ver ste hen sich heu te als raquoNa tur-schutz zent renlaquo die Tie re er hal ten die in ih ren Hei mat laumln dern vom Aus ster ben be droht sind Wie ist dies zu be wer ten (Das Zeit al ter der Ein sam keit) Da bei sto szligen wir auf die Schwie rig-keit dass Tier schutz Tier recht und Ar ten schutz kei ne na tuumlr li-chen Ver buumln de ten sind son dern sich in ih rer Phi lo so phie ih rer Welt an schau ung und ih ren Ziel set zun gen stark un ter schei den (Das un ver soumlhn li che Tri um vi rat) Das Schluss wort bi lan ziert die se Er kennt nis se und fragt was wir aus al le dem prag ma tisch fol gern soll ten und in wel chen Schrit ten es ge sche hen koumlnn te (Scho pen hau ers Trep pe)

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Das Men schen tier

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Wahr heit zu hal ten Aber die ses Bild hat sich schon oft ver aumln-dert und es wird sich ge wiss noch wei ter ver aumln dern

Men schen nei gen dazu die Welt in der sie le ben auf zu raumlu-men Es ist eine ziem lich art ty pi sche Ver hal tens wei se Wir sor tie-ren die all taumlg li chen Din ge un se res Le bens und eben so sor tie ren wir die Ge dan ken uumlber die Welt die uns um gibt Jede Ord nung auch die der Na tur ist also ein mensch li cher Ent wurf Und al-lem An schein nach ent stand das Be duumlrf nis die Welt zu ord nen in un se rer Ent wick lungs ge schich te pa ral lel zur Ent wick lung der Spra che Denn ohne die kuumlnst li che Auf raumlum ar beit der Spra che waumlre die Vor stel lung von ei ner raquoOrd nung der Schoumlp funglaquo oder der raquoNa turlaquo nicht moumlg lich

Wer auf die Ord nung an ge wie sen ist be wegt sich gern in den si che ren Gren zen ei nes Sys tems Nur in ner halb ei nes sol chen Ord nungs ge fuuml ges fragt man nach Wahr heit und Gel tung Rich-tig keit Me tho de und Be deu tung Zu leicht uumlber sieht der Ord ner dann die kuumlnst li che Be hau sung und die selbst ge zim mer ten Re-ga le in die er die Welt so sorg faumll tig hi nein sor tiert Sel ten ge lingt ihm ein Blick aus dem Fens ter in die un ge wis se Land schaft die ihn um gibt Und nur ein ge wal ti ger Sturm ein Blitz schlag oder eine Er schuumlt te rung zwingt den Ver wal ter der Welt die si che re Wohn statt zu ver las sen und sich ein an de res Haus zu bau en das den An fein dun gen des neu en Kli mas wi der steht

Erst im Ruumlck blick auf die vie len Irr tuuml mer der Ver gan gen heit er ken nen wir dann un se re ei ge ne Un zu laumlng lich keit beim Auf-raumlu men In der Ge gen wart er scheint uns die je wei li ge Ord nung meis tens so selbst ver staumlnd lich dass wir gern uumlber jede Moumlg-lich keit der Ver aumln de rung lauml cheln So ha ben Men schen mit voumll li-ger Ge wiss heit an ge nom men dass die Erde eine Schei be ist und dass Frau en und Skla ven kei ne Rech te zu ste hen Und mit ei nem eben sol chen Lauml cheln be trach ten wir heu te die Gruumln de mit de-nen Men schen sich im Lau fe der Jahr hun der te von den Tie ren zu un ter schei den glaub ten

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Schon die al ten Grie chen ins be son de re Aris to te les (384 v Chr ndash 322 v Chr) ha ben sich fuumlr die Ge schich te und das in vie len De tails ver bor ge ne Sys tem der Na tur in te res siert Er teilt die Tie re in Klas sen ein ver sucht zu er gruumln den was Le ben ist und schafft da mit die Grund la gen der Zo o lo gie Aber Aris to te-les kennt nur we ni ge hun dert Tie re Eine raquovoll staumln di ge Na tur-ge schich telaquo wird das ers te Mal im 18 Jahr hun dert ge schrie-ben ndash und auch sie ist aumlu szligerst un voll staumln dig Seit dem ver fuuml gen wir nicht nur uumlber ei nen rei chen Vor rat an ge dach ten Ord nun-gen von den Schoumlp fungs my then bis hin zur Mo le ku lar bi o lo gie Wir ken nen auch eine Wis sen schaft die sich raquoTax ono mielaquo nennt und jede Pfan ze und je des Tier sys te ma tisch in eine In ven tar liste der Na tur ein traumlgt

Da bei ver ra ten die Denk sche ma ta der Na tur for scher nicht nur et was uumlber die klas si fi zier te Na tur selbst son dern eben so uumlber das Ord nungs be duumlrf nis und die Pfif fig keit des mensch li-chen Geis tes Das 18 Jahr hun dert ist eine Zeit in der das Buumlr-ger tum an die Macht draumlngt und sich zu neh mend ge gen den Adel auf ehnt Sei ne schaumlrfs te Waf fe ist et was das man raquoVer nunftlaquo oder raquoRa ti o na li taumltlaquo nennt und das man ge gen den Glau ben ins Feld fuumlhrt Fuumlr die Phi lo so phen der Ra ti o na li taumlt ist die Welt kei-ne vor ge fun de ne Schoumlp fung mit fes ter Ord nung son dern et was dass man geis tig durch drin gen und auf sei ne Lo gik und Wi der-spruuml che un ter su chen kann Da bei ge ben zu naumlchst die Phy sik und die Ma the ma tik das Sche ma vor nach dem alle Er kennt nis auch jene von Pfan zen und Tie ren funk ti o nie ren soll Die Sys te ma ti-ker der Na tur ge schich te su chen nach un ver ruumlck ba ren Kri te ri en ob jek ti ven Ge setz mauml szligig kei ten und lo gi schen Ver bin dun gen um die un uuml ber sicht li che Welt der Le be we sen ih rer raquowah ren An ord-nunglaquo ge maumlszlig ein zu tei len Aber nicht alle Na tur for scher glau-ben dass ein sol ches Vor ha ben tat saumlch lich ge lin gen kann Man-che hal ten die Na tur fuumlr zu reich hal tig um sie auf die se Wei se zu klas si fi zie ren Welt an schau un gen tref fen auf ei nan der auf der

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ei nen Sei te der Glau be an ein vom Men schen prin zi pi ell voumll lig durch schau ba res Na tur sys tem auf der an de ren Sei te eine un er-gruumlnd li che Schoumlp fung in der der Mensch sich im mer nur tas-tend fort be wegt

Die ers te Va ri an te gilt im 18 Jahr hun dert als der mo der ne-re An satz Man ori en tiert sich da bei an ei nem Ra ti o na lis mus den Reneacute Des car tes (1596 ndash 1650) schon hun dert Jah re zu vor neu be gruumln det hat Die ser Ra ti o na lis mus ori en tiert sich an der Me cha nik Die Schoumlp fung Got tes er scheint als eine ein zi ge klug aus ge tuumlf tel te Ma schi ne die der Mensch Stuumlck fuumlr Stuumlck zu be-herr schen lernt Und das Uni ver sum be steht aus Ma te rie in Be-we gung or ga ni siert nach ma the ma ti schen Ge set zen Ob gleich das 18 Jahr hun dert zent ra le Spe ku la ti o nen des Phi lo so phen wi-der legt ori en tiert es sich in vie lem an Des car tesrsquo me cha nis ti scher Denk wei se Sie tut dies vor zugs wei se in je nen Dis zip li nen de-ren Er kennt nis fort schritt zu naumlchst ge ring bleibt Und nir gend-wo trifft dies in ei nem sol chen Maszlig zu wie bei der Er for schung der bi o lo gi schen Na tur

Doch die ses Welt bild hat prob le ma ti sche Fol gen Wer die Welt kon se quent nach me cha nis ti schen Grund saumlt zen be trach tet hat fuumlr den Be reich der nicht mensch li chen Na tur we nig Ver staumlnd nis Fuumlr Des car tes sind Tie re nichts als Ma schi nen Es macht kei nen Un ter schied ob eine Ma schi ne die aumlu szlige re Ge stalt und die in ne-ren Or ga ne ei nes Af fen hat oder ob es sich da bei tat saumlch lich um ein le ben des Tier han delt Denn relevantes Le ben kommt fuumlr den Den ker nicht durch zir ku lie ren des Blut und Reizempfindungen in den Koumlrper Son dern bedeutsames Le ben ga ran tie ren ein zig und al lein der er leuch te te Geist und sei ne Spra che

Des car tesrsquo Zeit kennt we der den Be griff des raquoOr ga nis muslaquo die Be son der heit des Le bens noch die Evo lu ti on son dern eben nur die Me cha nik Trotz dem ist sei ne The o rie von den Tie ren als see len lo se Au to ma ten im 17 und 18 Jahr hun dert aumlu szligerst um-strit ten Fran zouml si sche Phi lo so phen schrei ben Buch um Buch uumlber

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 329783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 32 10082021 10493410082021 104934

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die Tier-Fra ge und be feh den sich da bei uumlber mehr als hun dert Jah re Noch weiszlig man nichts von ei ner raquoBi o lo gielaquo Man be treibt eine neue Dis zip lin die sich raquoNa tur ge schich telaquo nennt und da-mit auf raumlumt die Ge schich te von Le be we sen als eine wahl lo se Samm lung von Er zaumlh lun gen an zu se hen Bis her schrie ben Au to-ren um stands los von der Fang wei se der Tie re ih rer Ana to mie ih rer bib li schen und al le go ri schen Be deu tung ih rem prak ti schen Ge brauch ih rer Ver meh rung ih ren Stim men und Spra chen ih-ren Be we gun gen ih rem Al ter und von der Sym pa thie oder An-ti pa thie des Ver fas sers Auch Koch re zep te wur den von Fall zu Fall hin zu ge fuumlgt

Ein zo o lo gi sches Sys tem ist zu An fang des 18 Jahr hun derts weit ge hend un be kannt die Ver wandt schafts ver haumllt nis se der Pfan zen und Tie re sind dif fus ge ahnt und wer den eher nach Le-bens raumlu men be stimmt als nach koumlr per li chen Merk ma len Tie re die nachts ja gen ste hen da bei eben so in ei nem Ord nungs ge fuuml ge wie Tie re die fie gen koumln nen im Wald oder in ei nem See le ben Be reits die Pries ter schrift der bib li schen Ge ne sis hat te die Welt der Tie re und Pfan zen nicht nach ana to mi schen Merk ma len un-ter teilt son dern in Be zug auf den Le bens raum Pfan zen und Tie re des Mee res der Luft und der Erde Uumlber mehr als tau send Jah re kann ten auch der Is lam und die Hin dus Ord nungs sys teme die Tie re in ih rem Oumlko sys tem ver an ker ten

In der hin du is ti schen Samk hya-Tra di ti on exis tie ren vier zehn Klas sen un ter schied li cher Le be we sen ein ge teilt in acht For men himm li scher und sechs ir di scher Le be we sen zu de nen auch der Mensch ge houmlrt Als wei te res Un ter schei dungs merk mal dient die Art und Wei se der Ge burt Im gro szligen in di schen Na ti o nal epos aus dem 4 Jahr hun dert dem Ma hab har ata heiszligt es raquoAuf die ser Erde gibt es zwei Ar ten von Le be we sen die Be weg li chen und die Un be weg li chen Die Be weg li chen ha ben ei nen drei fa chen Schoszlig Sie sind aus dem Ei aus feuch ter Hit ze und Le ben dig-Ge bo re ne Von al len be weg li chen Le be we sen wie de rum sind die je ni gen die

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le ben dig ge bo ren sind hellip die bes ten Die bes ten un ter den le ben-dig Ge bo re nen sind die die zum Men schen ge schlecht ge houml ren und die Nutz tie relaquo4

Die neu en Sys te me des 18 Jahr hun derts be frei en die Na tur-ge schich te von al lem was sich mit den Me tho den der Zeit nicht wis sen schaft lich exakt be schrei ben laumlsst Koch re zep te fal len so-wie so un ter den Tisch aber auch man che Ver hal tens be ob ach-tun gen und vor mals wich ti ge Ei gen schaf ten wie zum Bei spiel der Ge ruch Ge forscht wird mit Lupe und Mik ros kop Li ne al und Pin zet te Der wich tigs te Mann auf die sem Ge biet ist der schwe-di sche Na tur for scher Carl von Linneacute (1707 ndash 1778) Er ori en-tiert sich an Aris to te les den er be wun dert nicht an Des car tes Ge ra de zu re vo lu ti o naumlr de mo kra tisch ent wi ckelt der auf ge klaumlr te Schwe de im 18 Jahr hun dert ein be schrei ben des Sys tem der Na-tur frei vom the o lo gi schen Fir le fanz sei ner Zeit Mit der Ak ri bie ei nes Brief mar ken samm lers dem Voll staumln dig keit mehr be deu tet als das Be stau nen ein zel ner Wer te ord net er die be leb te Na tur nach Ar ten Gat tun gen Ord nun gen und Klas sen Vier Va ri ab len die Form der Ele men te ihre An zahl die raumlum li che An ord nung der Ele men te und ihre re la ti ve Grouml szlige be stimm ten von nun an den Platz im Sys tem

Un ter der Leit dis zip lin der Bo ta nik wan delt sich die Na tur ge-schich te in eine ge ord ne te Welt aus Li ni en und Flauml chen Ent schei-dend sind die sicht ba ren Un ter schei dungs merk ma le wie Bluuml ten und Staub ge fauml szlige Blaumlt ter und Fruumlch te Fuumlszlige und Hufe Fe dern und Flos sen So setzt Linneacute fuumlr jede Pfan zen- und Tier klas se jede Ord nung und Gat tung be stimm te Merk ma le fest die er als die wich ti ge ren er ach te t Denn nur un ter der An nah me sol cher pri vi-le gier ter Struk tu ren ist es ihm moumlg lich die ver schie de nen Spe zi es im Ge samt sys tem un miss ver staumlnd lich zu ras tern Der mensch li che Ord ner be schreibt also nicht ein fach die be leb te Na tur Er fuumlgt ihr auch et was hin zu die Ent schei dung naumlm lich was in der For men-viel falt der Le be we sen wich ti ge Merk ma le sind und was nicht4

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 349783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 34 10082021 10493410082021 104934

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Wie alle da ma li gen Na tur for scher nimmt Linneacute an dass die Ein tei lun gen die der mensch li che Ver stand macht tat saumlch lich ei ner ob jek ti ven Ord nung der Na tur ent spre chen Doch Lin neacutes Sys tem ist wie er selbst weiszlig nicht raquona tuumlr lichlaquo Sei ne Struk tu ren sind kei ne die er in der Na tur als Un ter schei dungs kri te ri en vor-fin det Denn was sich am Schreib tisch nun muumlh sam in Ord nun-gen pres sen laumlsst liegt wie der fran zouml si sche Na tur for scher Mishychel Adan son (1727 ndash 1806) fest stellt in der Wild nis wie Kraut und Ruuml ben durch ei nan der raquohellip eine kon fu se Mi schung aus We-sen hellip die der Zu fall ei nan der an ge nauml hert zu ha ben scheint Hier wird das Gold mit ei nem an de ren Me tall mit ei nem Stein oder mit Erde ge mischt Dort waumlchst die Ei che ne ben dem Veil chen Un ter die sen Pfan zen ir ren eben falls der Vier fuumlszlig ler das Rep til und das In sekt um her Die Fi sche mi schen sich so zu sa gen mit dem waumlss ri gen Ele ment in dem sie schwim men und mit den Pfan zen die auf dem Grun de der Ge waumls ser wach sen hellip Die se Mi schung ist so gar so all ge mein und so viel faumll tig dass sie ei nes der Na tur ge set ze zu sein scheintlaquo5

Der Wi der spruch zwi schen ei ner tax ono mi schen und ei ner oumlko lo gi schen Ord nung der Na tur ist of fen sicht lich Er fin det sich noch heu te in der Dis kus si on um die Aumls the tik von Zoo an la gen Soll man die Tie re nach Ver wandt schafts ver haumllt nis sen sam meln also in Raub tier haumlu sern An ti lo pen haumlu sern und Hirsch an la gen so dass der Be su cher zwi schen den ana to mi schen Be son der hei-ten der Ar ten ndash mit un ter so gar den ge o gra fi schen Va ri an ten ei ner ein zi gen Art ndash zu un ter schei den lernt Oder ge waumlhrt die Nach-ge stal tung ei nes Na tur bi o tops ei ner af ri ka ni schen Sa van ne oder ei nes al pi nen Pa no ra mas den wich ti ge ren Ein blick in die Ord-nung der Na tur

Zwar steht fuumlr Linneacute und sei ne Kol le gen fest dass die raquowah-re Ord nunglaquo der Na tur sich an den koumlr per li chen Merk ma len zu ori en tie ren hat doch muss eine Er klauml rung da fuumlr ge fun den wer-den wa rum die se Ord nung in der frei en Na tur nicht von al lein 5

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sicht bar wird Ohne Zwei fel ist das Sys tem der Na tur kei ne zeit-lo se Schoumlp fung son dern durch Ver aumln de run gen ge kenn zeich net die sich in der Erd ge schich te er eig net ha ben Pa ral lel meh ren sich die Fun de von Fos si li en also von Tie ren die mut maszlig lich aus-ge stor ben sind Es hat al lem An schein nach grouml szlige re ge o lo gi sche Ka tast ro phen in un be kann ter Zahl ge ge ben de nen vie le Ar ten zum Op fer ge fal len sind Doch ha ben die se De sas ter auch zur Ent ste hung von neu en For men ge fuumlhrt

Um den Fak tor der Zeit und sei ne Fol gen fuumlr das Sys tem der Na tur ein zu schaumlt zen gibt es vie le Moumlg lich kei ten Die ein fachs te und mensch lichs te al ler zeit li chen Ord nungs vor stel lun gen ist die Idee al les fol ge ei nem Plan und sei auf ein Ziel hin aus ge rich-tet (Te le o lo gie) Re li gi o nen Phi lo so phi en und Ide o lo gi en funk-ti o nie ren na he zu al le samt ziel ge rich tet Es geht um ein bes se res Le ben auf Er den im Jen seits in ei nem ge rech ten Staat um die Herr schaft uumlber die an de ren uumlber die Pro duk ti ons mit tel oder das Boumlse Selbst un ser All tag ge stal tet sich weit ge hend te le o lo-gisch durch traumlnkt von zu kuumlnf ti ger Er war tung Mo tor jed we-der Te le o lo gie ist der Fort schritts ge dan ke Sein ima gi nauml res Ziel ist der voll kom me ne Zu stand So glau ben christ lich-abend laumln-di sche Ge sell schaf ten gern an eine staumln di ge Ver bes se rung durch An stren gung eine Tu gend die nach cal vi nis ti scher Tra di ti on im Him mel wie auf Er den von Gott ma te ri ell ent lohnt wird Wie na he lie gend also auch in der Na tur die Ent ste hung raquohouml he rerlaquo Le bens for men durch Fort schritt er ken nen zu wol len mit dem End ziel des Men schen

Die Un ord nung der Schoumlp fung mit ei nem goumltt li chen Fort-schritts plan in Ein klang zu brin gen ist das Le bens werk des Schwei zer Na tur for schers und Phi lo so phen Charles Bon net (1720 ndash 1793) Fuumlr Bon net ist die Zahl der Ar ten und ihre aumlu-szlige re Ge stalt von Gott ein fuumlr al le Mal fest ge legt Doch kann sich ein je des Le be we sen per fek ti o nie ren Der Weg vom simp-len Ge muumlt zur ge ni a li schen Leis tung ist vom Schoumlp fer vor ge-

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zeich net Und alle Tie re be schrei ten ihn zeit lich ver setzt nach dem glei chen Mus ter das der Mensch ih nen vor ge lebt hat raquoEs wird ei nen mehr oder we ni ger lang sa men und kon ti nu ier li chen Fort schritt al ler Ar ten zu ei ner houml he ren Ver voll komm nung ge-ben so dass alle Gra de der Stu fen lei ter in ei ner de ter mi nie ren den und kons tan ten Be zie hung fort ge setzt va ri a bel sein wer den hellip Es wird un ter den Af fen Leu te wie New ton und un ter Bi bern wie (den Fes tungs bau meis ter RDP) Vau ban ge ben Die Aus-tern und die Po ly pen wer den in Be zie hung zu den houmlchs ten Ar-ten das sein was die Vouml gel fuumlr die Vier fuumlszlig ler im Ver haumllt nis zum Men schen sindlaquo6

Seit Bon net ist die Vor stel lung von der raquoLei ter der Na turlaquo der Sca la nat urae ein wich ti ges In ven tar des na tur ge schicht-li chen Den kens Fort schritt Ver voll komm nung und goumltt li cher Plan ndash die se drei Grouml szligen be stim men die Vor stel lung vom Wer-den der Na tur vom 18 Jahr hun dert bis in die Ge gen wart hi nein Das Prin zip nach dem die Evo lu ti on Le ben her vor bringt sei un ver meid lich und von An fang an vor her be stimmt Nicht we-ni ge E vo lu ti ons the o re ti ker ha ben dies eben falls ge glaubt und zwar mit be acht li cher Kon ti nu i taumlt Der eng li sche Na tur for scher Alf red Rus sel Wall ace (1823 ndash 1913) der ge mein sam mit Dar win die The o rie der na tuumlr li chen Se lek ti on ent wi ckelt hat te hielt nicht nur den mensch li chen Geist und sein Mo ral emp fin den son dern zu dem auch die wei che nack te emp find sa me Haut des Men-schen fuumlr das Re sul tat ei ner not wen di gen Ent wick lung

Doch schon im 18 Jahr hun dert reg ten sich zu gleich vor sich-ti ge Zwei fel an der Stim mig keit ei ner sol chen Vor ge formt heit Denn wie soll te man Na tur ka tast ro phen be wer ten Waumlh rend die meis ten Na tur for scher sie als Teil des goumltt li chen Schoumlp-fungs plans in ter pre tier ten zo gen an de re ver gleichs wei se fins te-re Schluumls se Und so wur de tat saumlch lich ein gro szliges Erd be ben zum in di rek ten Aus louml ser der Evo lu ti ons the o rie naumlm lich je nes von Lis sa bon im Jahr 1755 Wer uumlber die Ka tast ro phe nach dach te 6

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 379783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 37 10082021 10493410082021 104934

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konn te star ken Zwei fel da ran he gen dass die Welt ord nung aus-ge kluuml gelt und har mo nisch sei

Die wei test rei chen den Schluss fol ge run gen zog der eng li-sche Pfar rer und Na ti o nal oumlko nom Tho mas Ro bert Malt hus (1766 ndash 1834) Nicht nur die ge o lo gi sche Na tur und ihr Ge-fah ren ri si ko son dern auch die Ver meh rung der Be voumll ke rung wur de nun als Uumlbel er kannt Im Jahr 1798 pub li zier te Malt-hus sei nen Es say on the Princi ple of Po pu la ti on (Das Be voumllshyke rungs ge setz) die ers te Mahn schrift vor den Ge fah ren ei ner Be voumll ke rungs ex plo si on Bei ei ner Ver dop pe lungs ra te der Welt-be voumll ke rung in ner halb von fuumlnf und zwan zig Jah ren er rech ne-te Malt hus wer de ihr exponent iel les An wach sen auf grund der von der Um welt ge setz ten Gren zen not wen dig zu Ar mut Ka-tast ro phen und Tod fuumlh ren Der bib li sche Auf trag raquoSeid frucht-bar und meh ret euchlaquo er schien mit ei nem Mal als ein Fluch Ein gna den lo ser raquoKampf ums Da seinlaquo (strugg le for life) war ent fes selt Das Ein zi ge was blieb war die Hoff nung die ka-tast ro pha len Fol gen der goumltt li chen An wei sung so weit wie moumlg lich ein daumlm men zu koumln nen

In ei ner Zeit als die Ge sell schafts the o rie noch der Bi o lo-gie den Leuch ter vo ran und nicht wie heu te die Schlep pe hin-terh er traumlgt be geis tert sich vor al lem ein eng li scher Dorf pfar rer Charles Dar win (1809 ndash 1882) fuumlr die Malt hus rsquoschen Ge set ze Denn wenn es rich tig ist dass sich ein Tier mit ei ner so ge rin-gen Ver meh rungs ra te wie der Mensch ge gen uumlber sei nen Art ge-nos sen durch setz te so gab es sicht lich an de re Kri te ri en fuumlr die Uumlber le bens fauml hig keit ei ner Po pu la ti on als die Zahl ih rer Ge bur-ten Der Maszlig stab fuumlr den Er folg ei ner Spe zi es war ihr Durch set-zungs ver mouml gen oder wie Dar win es spauml ter in den Prin zi pi en der Bio logie des jun gen Phi lo so phen Her bert Spen cer (1820 ndash 1903) le sen konn te raquothe sur vi val of the fit testlaquo

Dar wins na tur kund li che Stu di en wa ren ur spruumlng lich von dem Ge dan ken be seelt die nicht a ni ma li sche Iden ti taumlt des Men schen

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zu be wei sen Erst der Sieg des Ent de cker stol zes uumlber das Ent-set zen ver lieh ihm schlieszlig lich den Mut den be ruumlhm ten Satz zu schrei ben raquoUnd ich bin bei na he uumlber zeugt (der Mei nung mit der ich an die Fra ge he ran ge tre ten bin voumll lig ent ge gen ge setzt) dass die Spe zi es (mir ist es als ge staumln de ich ei nen Mord ein) nicht un ver aumln der lich sindlaquo7

Dar wins kuumlh ne Ver mu tung war nicht ganz neu Be reits ein hal bes Jahr hun dert zu vor hat ten der fran zouml si sche Na tur for scher GeorgesshyLou is Lec lerc Comte de Buf fon (1707 ndash 1788) und der Phi lo soph De nis Dide rot (1713 ndash 1784) uumlber eine Ver aumln de-rung der Ar ten spe ku liert Be son ders JeanshyBap tiste de La marck (1744 ndash 1829) be haup te te die all maumlh li che Ent wick lung der Ar-ten aus pri mi ti ve ren Vor for men die so ge nann te Trans mu ta ti on La marck war nicht nur ein Pi o nier der mit Jahr mil li o nen han-tier te als alle Welt die Erde noch ei ni ge tau send bis hun dert tau-send Jah re jung waumlhn te son dern er praumlg te (zur glei chen Zeit wie zwei deut sche Na tur for scher) das Wort Bi o lo gie Bei ihm wan del ten sich die Le be we sen da durch dass sich ihre koumlr per-li chen An stren gun gen auf ihr Erb gut aus wir ken Da bei nahm er al ler dings nicht an dass die Ar ten aus ei nan der her vor ge hen wie Dar win es spauml ter tat La ma rcks The o rie ist nauml her an je ner von Bon net Fuumlr ihn ver voll komm nen die ein zel nen Tier ar ten im Lau fe der Zeit ihre An la gen und ent wi ckeln sich da durch im-mer houml her Be son ders voll kom me ne Tie re wie der Mensch sind dem nach sehr alt denn sie ha ben ei nen wei ten Weg von ei nem pri mi ti ven Or ga nis mus bis hin zur heu ti gen Ge stalt hin ter sich ge las sen An de re wie der pri mi ti ve Suumlszlig was ser po lyp ha ben ihre Rei se durch die Zeit ge ra de erst an ge fan gen

La marck war kein Charis mati ker und die zo o lo gi sche All-macht sei nes Vor ge setz ten am Jar din des Plan tes in Pa ris des Ba rons George Cu vier (1769 ndash 1832) ver hin der te dass man sich all zu sehr mit sei nen The o ri en be schaumlf tig te Cu vier war ein be-deu ten der Mann An die Stel le ei ner nach bo ta ni schem Mus ter 7

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 399783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 39 10082021 10493410082021 104934

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ver fah ren den Zo o lo gie setz te er eine neue Wis sen schaft die sich we ni ger an aumlu szlige ren Merk ma len als am Or ga nis mus der Tie-re ori en tier te Doch was die Trans mu ta ti on an be lang te blieb der Ober auf se her der pro tes tan tisch-the o lo gi schen Fa kul tauml ten Frank reichs beim kon ser va ti ven Mo dell Er ver brei te te wei-ter hin eine Ket te von Na tur ka tast ro phen habe als mo di fi zier-te Sint fu ten gan zen Klas sen von Tie ren den Gar aus ge macht Die se The o rie ist weit ge hend rich tig al ler dings schlieszligt sie die Trans mu ta ti on nicht aus

Das wirk lich Re vo lu ti o nauml re an La marck war die Idee die Ge schich te der Na tur nicht vom Men schen aus bis hi nun ter zur Bak te rie zu schrei ben son dern um ge kehrt von der Bak te rie zum Men schen Aus ei nem Mo dell der raumlum li chen Hie rar chie wur de ein Mo dell der zeit li chen Ent wick lung La marck er kann te zu-dem dass das Be wusst sein ei nes Tie res an die Phy si o lo gie und Neu ro lo gie sei nes Koumlr pers ge bun den ist Dem nach ist je der Geist ers tens be grenzt und zwei tens ver aumln der lich

Die phi lo so phi sche Kon se quenz aus La ma rcks Den ken ist so ra di kal dass sie fast ein hun dert fuumlnf zig Jah re lang von nie man-dem ernst haft in Be tracht ge zo gen wur de Wie kann ein Geist der den Ge set zen der Evo lu ti on un ter wor fen ist sich ei gent lich an ma szligen die Na tur der Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Von die ser Schluss fol ge rung woll te die Bi o lo gie al ler dings bis weit ins 20 Jahr hun dert hi nein nicht viel wis sen

Auch Dar wins The o rie von der na tuumlr li chen Se lek ti on der Le be we sen im Rin gen um ihr Le ben und mit der Um welt ent-wi ckel te sich wei ter Ge witz ten Zeit ge nos sen wie Karl Marx (1818 ndash 1883) war auf ge fal len wie stark Dar wins Den ken dem Zeit geist des Vik to ri a ni schen Zeit al ters ver haf tet war raquoEs ist merk wuumlr dig wie Dar win un ter Bes ti en und Pfan zen sei ne eng li-sche Ge sell schaft mit ih rer Tei lung der Ar beit Kon kur renz Auf-schluss neu er Maumlrk te rsaquoEr fin dun genlsaquo und Malt hus schem rsaquoKampf ums Da seinlsaquo wie der er kenntlaquo8 Die Be to nung des Malt hus rsquoschen 8

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 409783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 40 10082021 10493410082021 104934

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Kamp fes von je dem ge gen je den und auch der Fort schritts glau-be in Dar wins Den ken zei gen ihn stark sei ner Zeit ver haf tet

Eine an de re Kri tik kam aus der Bi o lo gie selbst Dar win hat-te noch nichts von Ge nen ge wusst So konn te er nicht er klauml ren was sich bi o che misch er eig ne te wenn Ar ten sich ver aumln der ten Der raquoDar wi nis muslaquo der Jahr hun dert wen de gab schlieszlig lich die Hoff nung auf die Evo lu ti on lie szlige sich al lein durch die na tuumlr li-che Se lek ti on der Ar ten nach Maszlig ga be ih rer An pas sungs fauml hig-keit an die Um welt be gruumln den Man ent deck te die Rol le der Ge-ne tik und zum neu en Er klauml rungs prin zip wur de das Mo dell der zwei Kons t ruk teu re Das Spiel des Le bens er hielt ei nen Wuumlr fel zu faumll li ge Ver aumln de run gen im Gen ma te ri al also so ge nann te Mu tashyti o nen Im Tri alshyandshyEr ror-Ver fah ren ent ste hen im Erb gut ge le-gent lich Ab wei chun gen die dann er folg reich sind wenn sie sich in der Um welt be waumlh ren Da mit war die Idee vom Tisch dass sich neu er wor be ne Ei gen schaf ten oder raquodie ana to mi schen Aus-wir kun gen koumlr per li cher An stren gun genlaquo wie La marck mein te ver er ben koumlnn ten Noch Dar win hat te dies fuumlr denk bar ge hal ten So ver trau te er Er zaumlh lun gen wo nach bei je nen Volks grup pen zu de ren Ri ten die re gel mauml szligi ge Be schnei dung der Pe nis vor haut ge houmlrt sich die Vor haut all maumlh lich ver kuumlrz te Das haumlt te zwar die Be schnei dung uumlber fuumls sig ge macht aber Dar win hat te ge ra-de an de res Ge wich ti ges zu be den ken als da ruuml ber nach zu sin nen

Die Ver kuumlr zung der Vor haut blieb im Wis sens schatz der Dar wi nis ten bis Au gust Weis mann (1834 ndash 1914) im spauml ten 19 Jahr hun dert nach wies dass ein sol cher In for ma ti ons fuss vom aumlu szlige ren Er schei nungs bild zum Erb ma te ri al nicht moumlg lich sei Uumlber fuumlnf Ge ne ra ti o nen kuumlrz te Weis mann ei nem Stamm von Maumlu sen ihre Schwaumln ze ohne dass eine Nach richt uumlber die sen Ein griff die Keim bah nen der Maumlu se er reich te Denn sie he da Auch die Schwaumln ze der nach fol gen den Maumlu se ge ne ra ti o nen blie-ben gleich lang Da be durf te es schon der Spitz fin dig keit des iri schen Dich ters George Bern ard Shaw (1856 ndash 1950) der Weis-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 419783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 41 10082021 10493410082021 104934

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manns schnei den de Wi der le gung der La marckrsquo schen The o rie leicht fer tig vom Se zier tisch wisch te Die Maumlu se be merk te der Dich ter haumlt ten gar kei ne An stren gun gen un ter nom men ihre Schwaumln ze zu ver lie ren waumlh rend sich die Tie re bei La marck ja da rum be muumlht haumlt ten sich zu ver aumln dern

Im Nach hi n ein also war es der pauml da go gi sche Op ti mis mus der La marck in die Irre ge fuumlhrt ha ben soll te So mach te die Hoff-nung auf ei nen ethisch an spre chen den E vo lu ti ons ver lauf ndash die Er war tung die Mensch heit ent wick le sich qua An pas sung an das so zi a le Mi li eu durch Selbst er zie hung zum Bes se ren ndash nur noch eine et was ab sei ti ge Kar ri e re im staats so zi a lis ti schen Bi o lo gie-un ter richt der Sow jet u ni on Wie kalt da ge gen der uumlber le ge ne raquoKampf ums Da seinlaquo der ja ein Kampf um die Fleisch toumlp fe ist ohne Hoff nung der Mensch wer de den kuumlh nen Geist statt sei-nes ma te ri a lis ti schen Gier hal ses nach Houml he rem stre cken Und ein zig die Kir che be wahr te un ver dros sen ei nen la marc kis ti schen Ge dan ken ndash al ler dings ei nen pes si mis ti schen und kei nen op ti-mis ti schen In bes ter Schuumlt zen hil fe fuumlr den fran zouml si schen Che-va li er ver tei digt sie bis heu te ihr mo le ku lar ge ne tisch be denk li-ches Dog ma Adams Un ge hor sam im Gar ten Eden habe zu ei ner raquoErb suumln delaquo ge fuumlhrt die da rauf hin auf alle zu kuumlnf ti gen Ge ne ra-ti o nen uumlber ge gan gen sei

Im mer hin sind in den bei den letz ten Jahr zehn ten ei ni ge Bi o-lo gen wie der et was of fe ner da fuumlr ge wor den der Ver er bung er-wor be ner Ei gen schaf ten ei nen Platz in der Ge ne tik zu las sen Zwar ver er ben sich psy chi sche und phy si sche Le bens er fah run-gen nicht durch ver aumln der te Gene Aber es koumlnn te doch sein dass jene Schal ter die da ruuml ber be stim men wel che ge ne ti sche In for-ma ti on wei ter ge ge ben wird und wel che nicht durch Um welt-ein fuumls se ver aumln dert wer den Uumlber le gun gen wie die se be schaumlf ti-gen so ge nann te Epi gen eti ker seit ei ni ger Zeit sie ha ben ei nen wach sen den Ein fuss auf un se re Vor stel lung von der Evo lu ti on

Die heu ti ge Leit dis zip lin die uns die Ver wandt schaft des Le-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 429783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 42 10082021 10493410082021 104934

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bens ent schluumls seln soll ist die Ge ne tik Wir un ter su chen die Sum-me al ler ge ne ti schen In for ma ti o nen und re gist rie ren da bei Uumlber-ein stim mun gen und Ab wei chun gen mit an de ren Ar ten Doch der Pro zess die Na tur un se rer Na tur zu er ken nen ist noch lan ge nicht ab ge schlos sen und wird wohl auch nie ab ge schlos sen sein Wir wen den Ord nungs sche ma ta auf The o ri en und The o ri en auf Be ob ach tun gen an Nur so kom men wir zu Kau sa li tauml ten und Ge-set zen Doch ihre Be deu tung ver aumln dert sich in dem Maszlige wie wir den Blick punkt un se rer Auf merk sam keit wie der ver la gern Die ser Vor gang des Ent dec kens und des Ver de ckens durch neue Denk sche ma ta ist prin zi pi ell nicht ab schlieszlig bar denn selbst ge-gen waumlr ti ge Evo lu ti ons the o ri en un ter lie gen wei ter hin der Evo-lu ti on

Er staun li cher wei se hat die mo der ne Evo lu ti ons the o rie nur zu ei ner ge ring fuuml gi gen Kor rek tur al ter Denk sche ma ta ge fuumlhrt Wie fruuml her in der Na tur ge schich te er ken nen wir heu te in der Bi o lo gie uumlber all Re gel haf tigk eit Not wen dig keit und Vor tei-le Doch bei nauml he rer Sicht er weist sich die Evo lu ti on ge ra de zu als Herr schafts ge biet der Aus nah men uumlber die Re geln Sie ist eine raquoZweck mauml szligig keit ohne Zwecklaquo wenn auch al lein fuumlr die 01 Pro zent der heu te noch ndash oder ge ra de ndash exis tie ren den Spe-zi es nicht aber fuumlr die 999 Pro zent die in den Ur fu ten dem Ord ovizium dem Perm der Krei de oder dem Ter ti aumlr das Welt-li che seg ne ten E vo lu ti ons bi o lo gen su chen in der Ge schich te der Na tur uumlber all nach Vor tei len die das Uumlber le ben von Ar ten er-klauml ren sol len Da bei ver men gen sie oft zwei ver schie de ne Vor-teils be grif fe Ein mal geht es um Mu ta ti o nen die si tu a tiv vor teil-haf te Ei gen schaf ten fuumlr eine Tier art her vor ge bracht ha ben sol len Eine grouml szlige re Sta tur ein pom pouml se res Ge weih ein staumlr ke res Ge biss sol len Weib chen be ein dru cken und die Nach kom men schaft er-houml hen Da die se Ei gen schaf ten aber oft nichts nuumlt zen wenn der Zu fall die Spiel re geln der Um welt aumln dert gibt es ei nen zwei ten Vor teils be griff Da nach ist das vor teil haft in der Evo lu ti on was

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 439783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 43 10082021 10493410082021 104934

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vom Ende her be trach tet dazu ge fuumlhrt hat dass eine Art uumlber-lebt Nach die ser Sicht wei se kann der mick rigs te Pa vi an auf dem Fel sen sei ne Gene wei ter ge ben wenn die staumlr ke ren Kon kur ren-ten bei ei nem Erd be ben ums Le ben ge kom men sind

An ge sichts zwei er so un ter schied li cher Be deu tun gen von raquoVor teillaquo fragt es sich ob der Be griff in der Evo lu ti ons the o rie uumlber haupt sinn voll ver wen det wer den kann Tat saumlch lich ist er ein Erbe der The o lo gie des 17 und 18 Jahr hun derts die uumlber-all in der Na tur nach der klu gen Ver nunft Got tes such te Dar win kann te die se Tra di ti on gut Als Stu dent ver ehr te er den The o lo-gen Will iam Pa ley (1743 ndash 1805) der na tur kund lich be schla gen die goumltt li che Vo raus sicht auf den neu es ten Stand ge bracht hat te Als Dar win sich von Gott ver ab schie de te und die na tuumlr li che Se-lek ti on er kann te er setz te er uumlber all wo Pa ley raquoGod doeslaquo ge-schrie ben hat te den Satz durch raquoNat ure doeslaquo An Pa leys Vor-stel lung dass die Na tur zweck mauml szligig ein ge rich tet sei und Vor tei le be loh ne hielt Dar win eben so fest wie vie le spauml te re E vo lu ti ons-the o re ti ker

Die Fra ge ist des halb wich tig weil sie zeigt wie eng un se re Vor stel lung von der Na tur bis hi nein in die mo der ne Evo lu ti-ons the o rie von sehr mensch li chen Vor stel lun gen durch setzt ist Statt Vor tei le zu be nen nen wuumlr de es naumlm lich auch aus rei chen zu sa gen dass al les in der Na tur uumlber le ben kann das fuumlr eine Art kei nen toumld li chen Nach teil hat te Ver mut lich uumlber lebt in der Evo lu ti on nicht nur Zweck mauml szligi ges son dern jede Ver aumln de rung die zu min dest nicht zum Aus ster ben fuumlhr t und moumlg li cher wei se liegt ge ra de hie rin der Grund fuumlr eine gro szlige Ar ten viel falt

Die tra di ti o nell ver eng te Sicht wei se gilt ins be son de re bei der Be trach tung des Men schen E vo lu ti ons bi o lo gen koumln nen zahl-rei che Vor tei le be nen nen die er klauml ren wa rum die mensch li che Art so er folg reich ist Men schen sind aumlu szligerst an pas sungs fauml hig und be sie deln fast alle Le bens raumlu me sie sind Al les fres ser mit ei ner gro szligen Nah rungs band brei te sie ha ben eine fe xib le So zi-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 449783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 44 10082021 10493410082021 104934

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al struk tur und ver fuuml gen uumlber ein Selbst be wusst sein das es ih-nen er moumlg licht ihr Ver hal ten zu kor ri gie ren So ge se hen ist der Mensch gleich sam das op ti mal ste al ler Tie re Doch alldem zum Trotz exis tie ren Men schen der Gat tung Homo sap iens erst seit rund 100 000 Jah ren und ihre lang fris ti gen Zu kunfts chan cen ste hen schlecht Denn mit all den vor teil haf ten Ei gen schaf ten ha-ben Men schen in Re kord zeit ihre Um welt zer stoumlrt und das lang-fris ti ge Uumlber le ben der Spe zi es dra ma tisch in fra ge ge stellt Die mit we ni ger spek ta ku lauml ren Vor tei len aus ge stat te ten Di no sau ri-er exis tier ten auf un se rem Pla ne ten hun dert fuumlnf zig Mil li o nen Jah re ganz zu schwei gen von den seit uumlber vier hun dert Mil li o-nen Jah ren na he zu un ver aumln der ten Nau til iden und Ur schne cken

Ge si chert in der Evo lu ti ons the o rie ist dass kei ne ih rer An nah-men ge si chert ist E vo lu ti ons bi o lo gen die ihre Sa che ernst neh-men muumls sen im mer auch die E vo lu ti ons be dingt heit ih res ei ge-nen Er kennt nis ap pa rats ref ek tie ren also mit hin die Evo lu ti on al ler mensch li chen Er kennt nis raquoLetzt lich istlaquo wie der Neuro bio-lo ge Ger hard Roth schreibt raquoje des Nach den ken uumlber die ob jek-ti ve Re a li taumlt sei es wis sen schaft lich oder nicht an die Be din gun-gen mensch li chen Den kens Spre chens und Han delns ge bun den und muss sich da rin be waumlh renlaquo9

Man muss ref ek tie ren dass die un ver meid li chen Ord nungs-mit tel des Geis tes das Den ken und die Spra che nicht die Wirk-lich keit raquoan sichlaquo auf raumlu men Sie sind Mo del le die die un ver-fuumlg ba re Wirk lich keit nach Maszlig ga be der ei ge nen Spiel re geln er klauml ren Nicht erst seit Er for schung der Evo lu ti on in den letz-ten zwei hun dert Jah ren muumlht sich der mensch li che Geist dem Lauf der Welt ei nen ndash nach mensch li chem Er mes sen ndash raquover nuumlnf-ti genlaquo Sinn zu ge ben Doch das Pa ra do xe der Ge schich te liegt da rin dass der mensch li che Geist selbst Pro dukt evo lu ti o nauml rer Pro zes se ist Er ist Maszlig stab und Ge mes se nes zu gleich

An eine tat saumlch lich ob jek ti ve Er kennt nis der Evo lu ti on waumlre nur halb wegs sinn voll zu den ken wenn die Evo lu ti on des Men-9

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 459783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 45 10082021 10493410082021 104934

schen ab ge schlos sen ist und da mit die Stu fe der groumlszligt moumlg li chen Voll kom men heit er reicht hat In den Zei ten vor La marck und Dar win ha ben das nicht nur The o lo gen son dern auch die Na tur-for scher fast al le samt ge glaubt Das mensch li che Be wusst sein sei die un uuml ber trof fe ne Spit zen leis tung des Schoumlp fer got tes ge schaf-fen die Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Sei nen schoumlns-ten Aus druck fand die se Sicht in ei nem Aus spruch des jun gen Phi lo so phen Fried rich Wil helm Jo seph Schel ling (1775 ndash 1854) Er mein te dass der Mensch je nes We sen sei raquoin dem die Na tur das Auge auf schlaumlgtlaquo und sich da mit ih rer selbst be wusst wird Ein huumlb scher Satz aber doch viel zu pa the tisch for mu liert Von der vol len Er kennt nis der Na tur und un se rer selbst sind wir noch im mer weit ent fernt Aber wir koumln nen da ruuml ber stau nen dass die Evo lu ti on mit uns ein Le be we sen her vor ge bracht hat in dem die Na tur sich fuumlr sich selbst fa szi nier bar ge macht hat Wie hat te es dazu kom men koumln nen

bull Der Pri mat Was ist ein Mensch

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 469783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 46 10082021 10493410082021 104934

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ver waist sein Die Mensch heit wird er wacht sein und die Welt je-nes Ge sicht er hal ten ha ben das uns ge gen waumlr tig er scheint Doch wie sah das aus als die Na tur das ers te Mal in ei nem af fen aumlhn-li chen We sen die Au gen auf schlug War es auf ei ner Wald wie-se in ei nem Hain an ei nem Berg hang oder auf ei ner Lich tung War das er leuch te te We sen ein Maumlnn chen oder ein Weib chen Ging es den gan zen Tag auf recht oder saszlig es noch ger ne in der Ho cke eng ge kau ert an sei ne Bruuml der und Schwes tern Und war es eine Ein ge bung ein Blitz schlag als das Selbst be wusst sein das ers te Mal die Fes seln des Pri ma ten ge hirns spreng te

Wir wis sen nicht wo ran Schel ling dach te als er mein te die Na tur habe im Men schen ihr Auge auf ge schla gen Si cher dach te er nicht an ei nen ein zi gen Mo ment dem Mil li o nen an de re folg-ten Er dach te an den raquoMen schen an sichlaquo Und er wuss te nichts vom ost af ri ka ni schen Great Rift Val ley und von haa ri gen Vor-men schen die dort einst haus ten Er leb te in Jena und in Muumln-chen und ei nen Men schen af fen hat te Schel ling nie ge se hen Der ein zig ar ti ge Mo ment in dem die Na tur sich ih rer selbst be wusst wird bleibt eine Me ta pher

Doch wie wur de der Mensch nun tat saumlch lich zum Men-schen Die For mu lie rung ist dop pel deu tig Denn wie der Mensch zum Men schen wur de ndash das ist nicht ein evo lu ti o nauml rer Pro-zess auf der lee ren Welt buumlh ne son dern ein Spiel von Be ob ach-ter und Be ob ach te tem Schau spie ler und Zu schau er Ge schich-te auch Ent wick lungs ge schich te ist nichts Vor ge fun de nes Der Mensch schrieb der fran zouml si sche Phi lo soph JeanshyPaul Sart re (1905 ndash 1980) macht sich selbst wie der Ro man schrift stel ler sei ne Fi gu ren Er ist ge fer tigt aus bi o lo gi schen (ana to mi schen neu ro lo gi schen und phy si o lo gi schen) Be stand tei len zu al ler meist je doch durch jene we nig bi o lo gi schen Weis hei ten mit de nen sich die se Subs tan zen selbst zum raquoMen schenlaquo er ko ren

Das Glei che gilt fuumlr die mensch li che Stam mes ge schich te Auch sie ist zu naumlchst ein mal eine Ge schich te Ihre Ur spruumln ge lie gen im

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al ten Grie chen land als Aris to te les den Men schen und den Af-fen ver wandt schaft lich na he ruumlckt raquoMan che Tie re ste hen zwi-schen Mensch und Vier fuumlszlig ler in ih rem We sen wie Af fen Meer-kat zen und Pa vi a ne hellip Ihr Ge sicht hat vie le Aumlhn lich kei ten mit dem des Men schen Nase und Oh ren glei chen den sei nen und Zaumlh ne hat er auch wie ein Mensch die Vor der zaumlh ne wie die Ba cken zaumlhnelaquo10 Auch Aris to te lesrsquo Schuuml ler The oph rast (ca 370 v Chr ndash ca 288 v Chr) be steht auf der Aumlhn lich keit zwi schen Men schen und Tie ren Er lehnt es so gar ab Fleisch zu es sen oder Tie re zu op fern da man sei ne Ver wand ten nicht ver spei se

Aris to te les und The oph rast stell ten den Men schen zwar ne-ben den Af fen ndash Men schen af fen kann te man noch nicht ndash aber die al ten Grie chen hat ten ihn nur sehr un ge faumlhr zu ei nem Tier un ter Tie ren er klaumlrt Den naumlchs ten Schritt mach te mehr als zwei-tau send Jah re spauml ter Carl von Linneacute An der Zu ge houml rig keit des Men schen zu den Saumlu ge tie ren be stand fuumlr den Schwe den kein Zwei fel die Be haa rung und das Stil len der Jun gen be lehr ten un-miss ver staumlnd lich da ruuml ber Auch die Ver wandt schaft mit Af fen und Men schen af fen stand au szliger Fra ge Hier wa ren es die fa chen Fin ger- und Fuszlig nauml gel statt der Klau en der ab ge spreiz te Dau-men die Greif haumln de die zwei Zit zen der Weib chen und der frei he run ter haumln gen de statt am Un ter leib an lie gen de Pe nis ndash Merk-ma le die groumlszlig ten teils auch schon Aris to te les auf ge fal len wa ren

Doch Linneacute zouml ger te vor der Kon se quenz Haumln de rin gend such-te der got tes fuumlrch ti ge Ana tom nach ei nem Un ter schied zwi schen dem Men schen und den uumlb ri gen von ihm so ge nann ten raquoPri ma-tenlaquo raquoIch ver lan gelaquo schrieb er 1747 sei nem deut schen Freund Jo hann Ge org Gme lin raquovon Ih nen und von der gan zen Welt dass Sie mir ein Gat tungs merk mal zei gen hellip auf grund des sen man zwi schen Mensch und Affe un ter schei den kann Ich weiszlig selbst mit aumlu szligers ter Ge wiss heit von kei nemlaquo11

Nach sei nen Kri te ri en haumlt te Linneacute den Men schen zu min dest mit dem Schim pan sen ge mein sam in die sel be Gat tung ein ord-10

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nen muumls sen Der Ge dan ke schweb te zeit gleich auch dem Phi lo so-phen JeanshyJacques Rous seau (1712 ndash 1778) vor als er Schim pan-sen Orang-Ut ans und Men schen so gar als Ver tre ter der Spe zi es Mensch an sah Rous seau hat te nie ei nen Men schen af fen ge se-hen Aber die Be rich te die er von Ex pe di ti o nen nach Af ri ka und Suumld ost a si en las lie szligen in ihm kei nen Zwei fel dass die da rin be schrie be nen Men schen af fen raquowe der Tie re noch Goumlt ter son-dern Men schenlaquo sei en12 Fuumlr den Auf klauml rer wa ren Men schen af-fen edle Wil de die von kei ner Zi vi li sa ti on in ih rem fried fer ti gen We sen zer stoumlrt sei en an ders als die Men schen in Eu ro pa Eben-so dach te we nig spauml ter der schot ti sche Sprach for scher James Bur nett Lord Mon boddo (1714 ndash 1799) Auch er be trach te te den Orang-Utan als ei nen Men schen naumlm lich als ei nen raquosprach-losen Wil denlaquo

In ter pre ta ti o nen wie Rous seau sie in Pa ris und Bur nett bald da rauf in Kin card ines hire wag ten wa ren Linneacute im schwe di schen Upp sa la fremd Den Men schen ins Tier reich ein zu ord nen war in den Au gen der stren gen pro tes tan ti schen Kir che Suumln de ge nug und Linneacute zouml ger te den letz ten Schritt zu tun In sei ner Not sor-tier te er 1758 ach sel zu ckend Mensch und Schim pan se in un ter-schied li che Gat tun gen zu sam men ge fasst in der Ord nung der Pri ma ten in der sie auch heu te noch mehr schlecht als recht huumlbsch ge trennt ne ben ei nan der ho cken Homo sap iens der raquoin-tel ligi ble Menschlaquo und Pan trog lody tes der raquohoumlh len be woh nen-de Faunlaquo

So weit so schoumln Der Mensch wur de der obers te Pri mat das houmlchs te raquoHer ren tierlaquo Linneacute be kam kei nen Aumlr ger mit der Kir-che und die Na tur wis sen schaft den gro szligen Wurf des Linneacute rsquoschen Sys tems Wenn nur die se Nach barn nicht wauml ren Seit Be kannt-wer den der Men schen af fen be muumlh ten sich Wis sen schaft ler und The o lo gen im mer wie der um den Ver such den klei nen Gra ben mit gro szligen Was sern zu fuumll len der Homo sap iens und Pan troshyglody tes bei ih rer ord nungs ge mauml szligen Ver ge sell schaf tung auf der 12

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 509783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 50 10082021 10493510082021 104935

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Af fen in sel trennt Sie eva ku ier ten den Men schen vom Pri ma ten-fel sen und schu fen ihm eine ei ge ne Ord nung

In die ser Vor stel lungs welt wuchs auch der The o lo gie stu dent Charles Dar win auf Das fruuml he 19 Jahr hun dert war eine got-tes fuumlrch ti ge bie der mei er li che Zeit Doch je mehr er sich mit der Ver aumln de rung der Ar ten be schaumlf tig te umso deut li cher wur de Dar win dass es mit der of fi zi ell be kun de ten Son der stel lung des Men schen im Uni ver sum nicht weit her sein konn te So no tier te er schon er staun lich fruumlh in sein Ta ge buch raquoDer Mensch haumllt sich in sei ner Ar ro ganz fuumlr ein groszlig ar ti ges Werk des be son de ren Ein grei fens ei ner Gott heit wuumlr dig Es duumlrf te be schei de ner und wie ich glau be auch rich tig sein ihn als aus den Tie ren ent stan-den an zu se henlaquo13

Dar win hat te den noch zwoumllf Jah re ge zouml gert bis er sich schlieszlig lich ge trau te nach der all ge mei nen Dar stel lung ei ner Evo-lu ti ons the o rie im Jahr 1859 sei ne Schluss fol ge run gen in Be zug auf den Men schen in Druck zu ge ben Die Ab stam mung des Men schen aus dem Jahr 1871 ist ein ge maumlch li ches Buch in ver-soumlhn li chem Ton fall Der Na tur for scher er zaumlhlt da rin wie ein gu-ter al ter Groszlig va ter wo her die Pfan zen die Tie re und die Eng-laumln der kom men Die raquoAb wer tunglaquo des Men schen geht da bei ein her mit ei ner kon ti nu ier li chen raquoAuf wer tunglaquo der Tie re raquoWir ha ben ge se henlaquo schreibt Dar win raquodass die Emp fin dun gen und Ein druuml cke die ver schie de nen Er re gun gen und Fauml hig kei ten wie Lie be Ge daumlcht nis Auf merk sam keit Neu gier de Nach ah mung Ver stand usw de ren sich der Mensch ruumlhmt in ei nem be gin nen-den oder zu wei len selbst in ei nem gut ent wi ckel ten Zu stand bei den nie de ren Tie ren ge fun den wer denlaquo14

La marck und Dar win wa ren die Ers ten die mit Mit teln der mo der nen Na tur wis sen schaft be haup te ten was vie le Kul tu ren und Zei ten schon zu vor re li gi oumls ge ahnt hat ten raquoNa tuumlr lichlaquo ist es ab surd eine Tei lung des Tier reichs in zwei Ka te go ri en vor zu-neh men ndash in eine mensch li che und eine nicht mensch li che Ka-13

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9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 519783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 51 10082021 10493510082021 104935

Page 21: Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen · Leseprobe Professor Dr. Richard David Precht Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen »Fazit:

es mit un se rer Er naumlh rung aus Wel che Ar gu men te spre chen da-fuumlr dass Men schen in un se ren heu ti gen west li chen Ge sell schaf-ten noch Tie re touml ten duumlr fen um sich von ih nen zu er naumlh ren Und wel che Ar gu men te spre chen da ge gen Viel leicht gibt es so gar schon in Kuumlr ze ei nen Aus weg der uns end lich hilft die Mas sen-tier hal tung zu be sei ti gen (Jen seits von Wurst und Kaumlse) Eben so stellt sich die Fra ge un ter wel chen Um staumln den Tier ver su che zu-kuumlnf tig er laubt sein soll ten und un ter wel chen nicht (Das Tier als Dum my) Ist es mo ra lisch ver tret bar Tie re in Zo o lo gi schen Gaumlr ten zu hal ten Und wenn ja wel che und wel che nicht (Alshycat raz oder Psycho top) Zoos ver ste hen sich heu te als raquoNa tur-schutz zent renlaquo die Tie re er hal ten die in ih ren Hei mat laumln dern vom Aus ster ben be droht sind Wie ist dies zu be wer ten (Das Zeit al ter der Ein sam keit) Da bei sto szligen wir auf die Schwie rig-keit dass Tier schutz Tier recht und Ar ten schutz kei ne na tuumlr li-chen Ver buumln de ten sind son dern sich in ih rer Phi lo so phie ih rer Welt an schau ung und ih ren Ziel set zun gen stark un ter schei den (Das un ver soumlhn li che Tri um vi rat) Das Schluss wort bi lan ziert die se Er kennt nis se und fragt was wir aus al le dem prag ma tisch fol gern soll ten und in wel chen Schrit ten es ge sche hen koumlnn te (Scho pen hau ers Trep pe)

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 269783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 26 10082021 10493410082021 104934

Das Men schen tier

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Wahr heit zu hal ten Aber die ses Bild hat sich schon oft ver aumln-dert und es wird sich ge wiss noch wei ter ver aumln dern

Men schen nei gen dazu die Welt in der sie le ben auf zu raumlu-men Es ist eine ziem lich art ty pi sche Ver hal tens wei se Wir sor tie-ren die all taumlg li chen Din ge un se res Le bens und eben so sor tie ren wir die Ge dan ken uumlber die Welt die uns um gibt Jede Ord nung auch die der Na tur ist also ein mensch li cher Ent wurf Und al-lem An schein nach ent stand das Be duumlrf nis die Welt zu ord nen in un se rer Ent wick lungs ge schich te pa ral lel zur Ent wick lung der Spra che Denn ohne die kuumlnst li che Auf raumlum ar beit der Spra che waumlre die Vor stel lung von ei ner raquoOrd nung der Schoumlp funglaquo oder der raquoNa turlaquo nicht moumlg lich

Wer auf die Ord nung an ge wie sen ist be wegt sich gern in den si che ren Gren zen ei nes Sys tems Nur in ner halb ei nes sol chen Ord nungs ge fuuml ges fragt man nach Wahr heit und Gel tung Rich-tig keit Me tho de und Be deu tung Zu leicht uumlber sieht der Ord ner dann die kuumlnst li che Be hau sung und die selbst ge zim mer ten Re-ga le in die er die Welt so sorg faumll tig hi nein sor tiert Sel ten ge lingt ihm ein Blick aus dem Fens ter in die un ge wis se Land schaft die ihn um gibt Und nur ein ge wal ti ger Sturm ein Blitz schlag oder eine Er schuumlt te rung zwingt den Ver wal ter der Welt die si che re Wohn statt zu ver las sen und sich ein an de res Haus zu bau en das den An fein dun gen des neu en Kli mas wi der steht

Erst im Ruumlck blick auf die vie len Irr tuuml mer der Ver gan gen heit er ken nen wir dann un se re ei ge ne Un zu laumlng lich keit beim Auf-raumlu men In der Ge gen wart er scheint uns die je wei li ge Ord nung meis tens so selbst ver staumlnd lich dass wir gern uumlber jede Moumlg-lich keit der Ver aumln de rung lauml cheln So ha ben Men schen mit voumll li-ger Ge wiss heit an ge nom men dass die Erde eine Schei be ist und dass Frau en und Skla ven kei ne Rech te zu ste hen Und mit ei nem eben sol chen Lauml cheln be trach ten wir heu te die Gruumln de mit de-nen Men schen sich im Lau fe der Jahr hun der te von den Tie ren zu un ter schei den glaub ten

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Schon die al ten Grie chen ins be son de re Aris to te les (384 v Chr ndash 322 v Chr) ha ben sich fuumlr die Ge schich te und das in vie len De tails ver bor ge ne Sys tem der Na tur in te res siert Er teilt die Tie re in Klas sen ein ver sucht zu er gruumln den was Le ben ist und schafft da mit die Grund la gen der Zo o lo gie Aber Aris to te-les kennt nur we ni ge hun dert Tie re Eine raquovoll staumln di ge Na tur-ge schich telaquo wird das ers te Mal im 18 Jahr hun dert ge schrie-ben ndash und auch sie ist aumlu szligerst un voll staumln dig Seit dem ver fuuml gen wir nicht nur uumlber ei nen rei chen Vor rat an ge dach ten Ord nun-gen von den Schoumlp fungs my then bis hin zur Mo le ku lar bi o lo gie Wir ken nen auch eine Wis sen schaft die sich raquoTax ono mielaquo nennt und jede Pfan ze und je des Tier sys te ma tisch in eine In ven tar liste der Na tur ein traumlgt

Da bei ver ra ten die Denk sche ma ta der Na tur for scher nicht nur et was uumlber die klas si fi zier te Na tur selbst son dern eben so uumlber das Ord nungs be duumlrf nis und die Pfif fig keit des mensch li-chen Geis tes Das 18 Jahr hun dert ist eine Zeit in der das Buumlr-ger tum an die Macht draumlngt und sich zu neh mend ge gen den Adel auf ehnt Sei ne schaumlrfs te Waf fe ist et was das man raquoVer nunftlaquo oder raquoRa ti o na li taumltlaquo nennt und das man ge gen den Glau ben ins Feld fuumlhrt Fuumlr die Phi lo so phen der Ra ti o na li taumlt ist die Welt kei-ne vor ge fun de ne Schoumlp fung mit fes ter Ord nung son dern et was dass man geis tig durch drin gen und auf sei ne Lo gik und Wi der-spruuml che un ter su chen kann Da bei ge ben zu naumlchst die Phy sik und die Ma the ma tik das Sche ma vor nach dem alle Er kennt nis auch jene von Pfan zen und Tie ren funk ti o nie ren soll Die Sys te ma ti-ker der Na tur ge schich te su chen nach un ver ruumlck ba ren Kri te ri en ob jek ti ven Ge setz mauml szligig kei ten und lo gi schen Ver bin dun gen um die un uuml ber sicht li che Welt der Le be we sen ih rer raquowah ren An ord-nunglaquo ge maumlszlig ein zu tei len Aber nicht alle Na tur for scher glau-ben dass ein sol ches Vor ha ben tat saumlch lich ge lin gen kann Man-che hal ten die Na tur fuumlr zu reich hal tig um sie auf die se Wei se zu klas si fi zie ren Welt an schau un gen tref fen auf ei nan der auf der

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ei nen Sei te der Glau be an ein vom Men schen prin zi pi ell voumll lig durch schau ba res Na tur sys tem auf der an de ren Sei te eine un er-gruumlnd li che Schoumlp fung in der der Mensch sich im mer nur tas-tend fort be wegt

Die ers te Va ri an te gilt im 18 Jahr hun dert als der mo der ne-re An satz Man ori en tiert sich da bei an ei nem Ra ti o na lis mus den Reneacute Des car tes (1596 ndash 1650) schon hun dert Jah re zu vor neu be gruumln det hat Die ser Ra ti o na lis mus ori en tiert sich an der Me cha nik Die Schoumlp fung Got tes er scheint als eine ein zi ge klug aus ge tuumlf tel te Ma schi ne die der Mensch Stuumlck fuumlr Stuumlck zu be-herr schen lernt Und das Uni ver sum be steht aus Ma te rie in Be-we gung or ga ni siert nach ma the ma ti schen Ge set zen Ob gleich das 18 Jahr hun dert zent ra le Spe ku la ti o nen des Phi lo so phen wi-der legt ori en tiert es sich in vie lem an Des car tesrsquo me cha nis ti scher Denk wei se Sie tut dies vor zugs wei se in je nen Dis zip li nen de-ren Er kennt nis fort schritt zu naumlchst ge ring bleibt Und nir gend-wo trifft dies in ei nem sol chen Maszlig zu wie bei der Er for schung der bi o lo gi schen Na tur

Doch die ses Welt bild hat prob le ma ti sche Fol gen Wer die Welt kon se quent nach me cha nis ti schen Grund saumlt zen be trach tet hat fuumlr den Be reich der nicht mensch li chen Na tur we nig Ver staumlnd nis Fuumlr Des car tes sind Tie re nichts als Ma schi nen Es macht kei nen Un ter schied ob eine Ma schi ne die aumlu szlige re Ge stalt und die in ne-ren Or ga ne ei nes Af fen hat oder ob es sich da bei tat saumlch lich um ein le ben des Tier han delt Denn relevantes Le ben kommt fuumlr den Den ker nicht durch zir ku lie ren des Blut und Reizempfindungen in den Koumlrper Son dern bedeutsames Le ben ga ran tie ren ein zig und al lein der er leuch te te Geist und sei ne Spra che

Des car tesrsquo Zeit kennt we der den Be griff des raquoOr ga nis muslaquo die Be son der heit des Le bens noch die Evo lu ti on son dern eben nur die Me cha nik Trotz dem ist sei ne The o rie von den Tie ren als see len lo se Au to ma ten im 17 und 18 Jahr hun dert aumlu szligerst um-strit ten Fran zouml si sche Phi lo so phen schrei ben Buch um Buch uumlber

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 329783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 32 10082021 10493410082021 104934

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die Tier-Fra ge und be feh den sich da bei uumlber mehr als hun dert Jah re Noch weiszlig man nichts von ei ner raquoBi o lo gielaquo Man be treibt eine neue Dis zip lin die sich raquoNa tur ge schich telaquo nennt und da-mit auf raumlumt die Ge schich te von Le be we sen als eine wahl lo se Samm lung von Er zaumlh lun gen an zu se hen Bis her schrie ben Au to-ren um stands los von der Fang wei se der Tie re ih rer Ana to mie ih rer bib li schen und al le go ri schen Be deu tung ih rem prak ti schen Ge brauch ih rer Ver meh rung ih ren Stim men und Spra chen ih-ren Be we gun gen ih rem Al ter und von der Sym pa thie oder An-ti pa thie des Ver fas sers Auch Koch re zep te wur den von Fall zu Fall hin zu ge fuumlgt

Ein zo o lo gi sches Sys tem ist zu An fang des 18 Jahr hun derts weit ge hend un be kannt die Ver wandt schafts ver haumllt nis se der Pfan zen und Tie re sind dif fus ge ahnt und wer den eher nach Le-bens raumlu men be stimmt als nach koumlr per li chen Merk ma len Tie re die nachts ja gen ste hen da bei eben so in ei nem Ord nungs ge fuuml ge wie Tie re die fie gen koumln nen im Wald oder in ei nem See le ben Be reits die Pries ter schrift der bib li schen Ge ne sis hat te die Welt der Tie re und Pfan zen nicht nach ana to mi schen Merk ma len un-ter teilt son dern in Be zug auf den Le bens raum Pfan zen und Tie re des Mee res der Luft und der Erde Uumlber mehr als tau send Jah re kann ten auch der Is lam und die Hin dus Ord nungs sys teme die Tie re in ih rem Oumlko sys tem ver an ker ten

In der hin du is ti schen Samk hya-Tra di ti on exis tie ren vier zehn Klas sen un ter schied li cher Le be we sen ein ge teilt in acht For men himm li scher und sechs ir di scher Le be we sen zu de nen auch der Mensch ge houmlrt Als wei te res Un ter schei dungs merk mal dient die Art und Wei se der Ge burt Im gro szligen in di schen Na ti o nal epos aus dem 4 Jahr hun dert dem Ma hab har ata heiszligt es raquoAuf die ser Erde gibt es zwei Ar ten von Le be we sen die Be weg li chen und die Un be weg li chen Die Be weg li chen ha ben ei nen drei fa chen Schoszlig Sie sind aus dem Ei aus feuch ter Hit ze und Le ben dig-Ge bo re ne Von al len be weg li chen Le be we sen wie de rum sind die je ni gen die

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le ben dig ge bo ren sind hellip die bes ten Die bes ten un ter den le ben-dig Ge bo re nen sind die die zum Men schen ge schlecht ge houml ren und die Nutz tie relaquo4

Die neu en Sys te me des 18 Jahr hun derts be frei en die Na tur-ge schich te von al lem was sich mit den Me tho den der Zeit nicht wis sen schaft lich exakt be schrei ben laumlsst Koch re zep te fal len so-wie so un ter den Tisch aber auch man che Ver hal tens be ob ach-tun gen und vor mals wich ti ge Ei gen schaf ten wie zum Bei spiel der Ge ruch Ge forscht wird mit Lupe und Mik ros kop Li ne al und Pin zet te Der wich tigs te Mann auf die sem Ge biet ist der schwe-di sche Na tur for scher Carl von Linneacute (1707 ndash 1778) Er ori en-tiert sich an Aris to te les den er be wun dert nicht an Des car tes Ge ra de zu re vo lu ti o naumlr de mo kra tisch ent wi ckelt der auf ge klaumlr te Schwe de im 18 Jahr hun dert ein be schrei ben des Sys tem der Na-tur frei vom the o lo gi schen Fir le fanz sei ner Zeit Mit der Ak ri bie ei nes Brief mar ken samm lers dem Voll staumln dig keit mehr be deu tet als das Be stau nen ein zel ner Wer te ord net er die be leb te Na tur nach Ar ten Gat tun gen Ord nun gen und Klas sen Vier Va ri ab len die Form der Ele men te ihre An zahl die raumlum li che An ord nung der Ele men te und ihre re la ti ve Grouml szlige be stimm ten von nun an den Platz im Sys tem

Un ter der Leit dis zip lin der Bo ta nik wan delt sich die Na tur ge-schich te in eine ge ord ne te Welt aus Li ni en und Flauml chen Ent schei-dend sind die sicht ba ren Un ter schei dungs merk ma le wie Bluuml ten und Staub ge fauml szlige Blaumlt ter und Fruumlch te Fuumlszlige und Hufe Fe dern und Flos sen So setzt Linneacute fuumlr jede Pfan zen- und Tier klas se jede Ord nung und Gat tung be stimm te Merk ma le fest die er als die wich ti ge ren er ach te t Denn nur un ter der An nah me sol cher pri vi-le gier ter Struk tu ren ist es ihm moumlg lich die ver schie de nen Spe zi es im Ge samt sys tem un miss ver staumlnd lich zu ras tern Der mensch li che Ord ner be schreibt also nicht ein fach die be leb te Na tur Er fuumlgt ihr auch et was hin zu die Ent schei dung naumlm lich was in der For men-viel falt der Le be we sen wich ti ge Merk ma le sind und was nicht4

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 349783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 34 10082021 10493410082021 104934

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Wie alle da ma li gen Na tur for scher nimmt Linneacute an dass die Ein tei lun gen die der mensch li che Ver stand macht tat saumlch lich ei ner ob jek ti ven Ord nung der Na tur ent spre chen Doch Lin neacutes Sys tem ist wie er selbst weiszlig nicht raquona tuumlr lichlaquo Sei ne Struk tu ren sind kei ne die er in der Na tur als Un ter schei dungs kri te ri en vor-fin det Denn was sich am Schreib tisch nun muumlh sam in Ord nun-gen pres sen laumlsst liegt wie der fran zouml si sche Na tur for scher Mishychel Adan son (1727 ndash 1806) fest stellt in der Wild nis wie Kraut und Ruuml ben durch ei nan der raquohellip eine kon fu se Mi schung aus We-sen hellip die der Zu fall ei nan der an ge nauml hert zu ha ben scheint Hier wird das Gold mit ei nem an de ren Me tall mit ei nem Stein oder mit Erde ge mischt Dort waumlchst die Ei che ne ben dem Veil chen Un ter die sen Pfan zen ir ren eben falls der Vier fuumlszlig ler das Rep til und das In sekt um her Die Fi sche mi schen sich so zu sa gen mit dem waumlss ri gen Ele ment in dem sie schwim men und mit den Pfan zen die auf dem Grun de der Ge waumls ser wach sen hellip Die se Mi schung ist so gar so all ge mein und so viel faumll tig dass sie ei nes der Na tur ge set ze zu sein scheintlaquo5

Der Wi der spruch zwi schen ei ner tax ono mi schen und ei ner oumlko lo gi schen Ord nung der Na tur ist of fen sicht lich Er fin det sich noch heu te in der Dis kus si on um die Aumls the tik von Zoo an la gen Soll man die Tie re nach Ver wandt schafts ver haumllt nis sen sam meln also in Raub tier haumlu sern An ti lo pen haumlu sern und Hirsch an la gen so dass der Be su cher zwi schen den ana to mi schen Be son der hei-ten der Ar ten ndash mit un ter so gar den ge o gra fi schen Va ri an ten ei ner ein zi gen Art ndash zu un ter schei den lernt Oder ge waumlhrt die Nach-ge stal tung ei nes Na tur bi o tops ei ner af ri ka ni schen Sa van ne oder ei nes al pi nen Pa no ra mas den wich ti ge ren Ein blick in die Ord-nung der Na tur

Zwar steht fuumlr Linneacute und sei ne Kol le gen fest dass die raquowah-re Ord nunglaquo der Na tur sich an den koumlr per li chen Merk ma len zu ori en tie ren hat doch muss eine Er klauml rung da fuumlr ge fun den wer-den wa rum die se Ord nung in der frei en Na tur nicht von al lein 5

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sicht bar wird Ohne Zwei fel ist das Sys tem der Na tur kei ne zeit-lo se Schoumlp fung son dern durch Ver aumln de run gen ge kenn zeich net die sich in der Erd ge schich te er eig net ha ben Pa ral lel meh ren sich die Fun de von Fos si li en also von Tie ren die mut maszlig lich aus-ge stor ben sind Es hat al lem An schein nach grouml szlige re ge o lo gi sche Ka tast ro phen in un be kann ter Zahl ge ge ben de nen vie le Ar ten zum Op fer ge fal len sind Doch ha ben die se De sas ter auch zur Ent ste hung von neu en For men ge fuumlhrt

Um den Fak tor der Zeit und sei ne Fol gen fuumlr das Sys tem der Na tur ein zu schaumlt zen gibt es vie le Moumlg lich kei ten Die ein fachs te und mensch lichs te al ler zeit li chen Ord nungs vor stel lun gen ist die Idee al les fol ge ei nem Plan und sei auf ein Ziel hin aus ge rich-tet (Te le o lo gie) Re li gi o nen Phi lo so phi en und Ide o lo gi en funk-ti o nie ren na he zu al le samt ziel ge rich tet Es geht um ein bes se res Le ben auf Er den im Jen seits in ei nem ge rech ten Staat um die Herr schaft uumlber die an de ren uumlber die Pro duk ti ons mit tel oder das Boumlse Selbst un ser All tag ge stal tet sich weit ge hend te le o lo-gisch durch traumlnkt von zu kuumlnf ti ger Er war tung Mo tor jed we-der Te le o lo gie ist der Fort schritts ge dan ke Sein ima gi nauml res Ziel ist der voll kom me ne Zu stand So glau ben christ lich-abend laumln-di sche Ge sell schaf ten gern an eine staumln di ge Ver bes se rung durch An stren gung eine Tu gend die nach cal vi nis ti scher Tra di ti on im Him mel wie auf Er den von Gott ma te ri ell ent lohnt wird Wie na he lie gend also auch in der Na tur die Ent ste hung raquohouml he rerlaquo Le bens for men durch Fort schritt er ken nen zu wol len mit dem End ziel des Men schen

Die Un ord nung der Schoumlp fung mit ei nem goumltt li chen Fort-schritts plan in Ein klang zu brin gen ist das Le bens werk des Schwei zer Na tur for schers und Phi lo so phen Charles Bon net (1720 ndash 1793) Fuumlr Bon net ist die Zahl der Ar ten und ihre aumlu-szlige re Ge stalt von Gott ein fuumlr al le Mal fest ge legt Doch kann sich ein je des Le be we sen per fek ti o nie ren Der Weg vom simp-len Ge muumlt zur ge ni a li schen Leis tung ist vom Schoumlp fer vor ge-

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zeich net Und alle Tie re be schrei ten ihn zeit lich ver setzt nach dem glei chen Mus ter das der Mensch ih nen vor ge lebt hat raquoEs wird ei nen mehr oder we ni ger lang sa men und kon ti nu ier li chen Fort schritt al ler Ar ten zu ei ner houml he ren Ver voll komm nung ge-ben so dass alle Gra de der Stu fen lei ter in ei ner de ter mi nie ren den und kons tan ten Be zie hung fort ge setzt va ri a bel sein wer den hellip Es wird un ter den Af fen Leu te wie New ton und un ter Bi bern wie (den Fes tungs bau meis ter RDP) Vau ban ge ben Die Aus-tern und die Po ly pen wer den in Be zie hung zu den houmlchs ten Ar-ten das sein was die Vouml gel fuumlr die Vier fuumlszlig ler im Ver haumllt nis zum Men schen sindlaquo6

Seit Bon net ist die Vor stel lung von der raquoLei ter der Na turlaquo der Sca la nat urae ein wich ti ges In ven tar des na tur ge schicht-li chen Den kens Fort schritt Ver voll komm nung und goumltt li cher Plan ndash die se drei Grouml szligen be stim men die Vor stel lung vom Wer-den der Na tur vom 18 Jahr hun dert bis in die Ge gen wart hi nein Das Prin zip nach dem die Evo lu ti on Le ben her vor bringt sei un ver meid lich und von An fang an vor her be stimmt Nicht we-ni ge E vo lu ti ons the o re ti ker ha ben dies eben falls ge glaubt und zwar mit be acht li cher Kon ti nu i taumlt Der eng li sche Na tur for scher Alf red Rus sel Wall ace (1823 ndash 1913) der ge mein sam mit Dar win die The o rie der na tuumlr li chen Se lek ti on ent wi ckelt hat te hielt nicht nur den mensch li chen Geist und sein Mo ral emp fin den son dern zu dem auch die wei che nack te emp find sa me Haut des Men-schen fuumlr das Re sul tat ei ner not wen di gen Ent wick lung

Doch schon im 18 Jahr hun dert reg ten sich zu gleich vor sich-ti ge Zwei fel an der Stim mig keit ei ner sol chen Vor ge formt heit Denn wie soll te man Na tur ka tast ro phen be wer ten Waumlh rend die meis ten Na tur for scher sie als Teil des goumltt li chen Schoumlp-fungs plans in ter pre tier ten zo gen an de re ver gleichs wei se fins te-re Schluumls se Und so wur de tat saumlch lich ein gro szliges Erd be ben zum in di rek ten Aus louml ser der Evo lu ti ons the o rie naumlm lich je nes von Lis sa bon im Jahr 1755 Wer uumlber die Ka tast ro phe nach dach te 6

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 379783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 37 10082021 10493410082021 104934

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konn te star ken Zwei fel da ran he gen dass die Welt ord nung aus-ge kluuml gelt und har mo nisch sei

Die wei test rei chen den Schluss fol ge run gen zog der eng li-sche Pfar rer und Na ti o nal oumlko nom Tho mas Ro bert Malt hus (1766 ndash 1834) Nicht nur die ge o lo gi sche Na tur und ihr Ge-fah ren ri si ko son dern auch die Ver meh rung der Be voumll ke rung wur de nun als Uumlbel er kannt Im Jahr 1798 pub li zier te Malt-hus sei nen Es say on the Princi ple of Po pu la ti on (Das Be voumllshyke rungs ge setz) die ers te Mahn schrift vor den Ge fah ren ei ner Be voumll ke rungs ex plo si on Bei ei ner Ver dop pe lungs ra te der Welt-be voumll ke rung in ner halb von fuumlnf und zwan zig Jah ren er rech ne-te Malt hus wer de ihr exponent iel les An wach sen auf grund der von der Um welt ge setz ten Gren zen not wen dig zu Ar mut Ka-tast ro phen und Tod fuumlh ren Der bib li sche Auf trag raquoSeid frucht-bar und meh ret euchlaquo er schien mit ei nem Mal als ein Fluch Ein gna den lo ser raquoKampf ums Da seinlaquo (strugg le for life) war ent fes selt Das Ein zi ge was blieb war die Hoff nung die ka-tast ro pha len Fol gen der goumltt li chen An wei sung so weit wie moumlg lich ein daumlm men zu koumln nen

In ei ner Zeit als die Ge sell schafts the o rie noch der Bi o lo-gie den Leuch ter vo ran und nicht wie heu te die Schlep pe hin-terh er traumlgt be geis tert sich vor al lem ein eng li scher Dorf pfar rer Charles Dar win (1809 ndash 1882) fuumlr die Malt hus rsquoschen Ge set ze Denn wenn es rich tig ist dass sich ein Tier mit ei ner so ge rin-gen Ver meh rungs ra te wie der Mensch ge gen uumlber sei nen Art ge-nos sen durch setz te so gab es sicht lich an de re Kri te ri en fuumlr die Uumlber le bens fauml hig keit ei ner Po pu la ti on als die Zahl ih rer Ge bur-ten Der Maszlig stab fuumlr den Er folg ei ner Spe zi es war ihr Durch set-zungs ver mouml gen oder wie Dar win es spauml ter in den Prin zi pi en der Bio logie des jun gen Phi lo so phen Her bert Spen cer (1820 ndash 1903) le sen konn te raquothe sur vi val of the fit testlaquo

Dar wins na tur kund li che Stu di en wa ren ur spruumlng lich von dem Ge dan ken be seelt die nicht a ni ma li sche Iden ti taumlt des Men schen

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zu be wei sen Erst der Sieg des Ent de cker stol zes uumlber das Ent-set zen ver lieh ihm schlieszlig lich den Mut den be ruumlhm ten Satz zu schrei ben raquoUnd ich bin bei na he uumlber zeugt (der Mei nung mit der ich an die Fra ge he ran ge tre ten bin voumll lig ent ge gen ge setzt) dass die Spe zi es (mir ist es als ge staumln de ich ei nen Mord ein) nicht un ver aumln der lich sindlaquo7

Dar wins kuumlh ne Ver mu tung war nicht ganz neu Be reits ein hal bes Jahr hun dert zu vor hat ten der fran zouml si sche Na tur for scher GeorgesshyLou is Lec lerc Comte de Buf fon (1707 ndash 1788) und der Phi lo soph De nis Dide rot (1713 ndash 1784) uumlber eine Ver aumln de-rung der Ar ten spe ku liert Be son ders JeanshyBap tiste de La marck (1744 ndash 1829) be haup te te die all maumlh li che Ent wick lung der Ar-ten aus pri mi ti ve ren Vor for men die so ge nann te Trans mu ta ti on La marck war nicht nur ein Pi o nier der mit Jahr mil li o nen han-tier te als alle Welt die Erde noch ei ni ge tau send bis hun dert tau-send Jah re jung waumlhn te son dern er praumlg te (zur glei chen Zeit wie zwei deut sche Na tur for scher) das Wort Bi o lo gie Bei ihm wan del ten sich die Le be we sen da durch dass sich ihre koumlr per-li chen An stren gun gen auf ihr Erb gut aus wir ken Da bei nahm er al ler dings nicht an dass die Ar ten aus ei nan der her vor ge hen wie Dar win es spauml ter tat La ma rcks The o rie ist nauml her an je ner von Bon net Fuumlr ihn ver voll komm nen die ein zel nen Tier ar ten im Lau fe der Zeit ihre An la gen und ent wi ckeln sich da durch im-mer houml her Be son ders voll kom me ne Tie re wie der Mensch sind dem nach sehr alt denn sie ha ben ei nen wei ten Weg von ei nem pri mi ti ven Or ga nis mus bis hin zur heu ti gen Ge stalt hin ter sich ge las sen An de re wie der pri mi ti ve Suumlszlig was ser po lyp ha ben ihre Rei se durch die Zeit ge ra de erst an ge fan gen

La marck war kein Charis mati ker und die zo o lo gi sche All-macht sei nes Vor ge setz ten am Jar din des Plan tes in Pa ris des Ba rons George Cu vier (1769 ndash 1832) ver hin der te dass man sich all zu sehr mit sei nen The o ri en be schaumlf tig te Cu vier war ein be-deu ten der Mann An die Stel le ei ner nach bo ta ni schem Mus ter 7

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 399783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 39 10082021 10493410082021 104934

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ver fah ren den Zo o lo gie setz te er eine neue Wis sen schaft die sich we ni ger an aumlu szlige ren Merk ma len als am Or ga nis mus der Tie-re ori en tier te Doch was die Trans mu ta ti on an be lang te blieb der Ober auf se her der pro tes tan tisch-the o lo gi schen Fa kul tauml ten Frank reichs beim kon ser va ti ven Mo dell Er ver brei te te wei-ter hin eine Ket te von Na tur ka tast ro phen habe als mo di fi zier-te Sint fu ten gan zen Klas sen von Tie ren den Gar aus ge macht Die se The o rie ist weit ge hend rich tig al ler dings schlieszligt sie die Trans mu ta ti on nicht aus

Das wirk lich Re vo lu ti o nauml re an La marck war die Idee die Ge schich te der Na tur nicht vom Men schen aus bis hi nun ter zur Bak te rie zu schrei ben son dern um ge kehrt von der Bak te rie zum Men schen Aus ei nem Mo dell der raumlum li chen Hie rar chie wur de ein Mo dell der zeit li chen Ent wick lung La marck er kann te zu-dem dass das Be wusst sein ei nes Tie res an die Phy si o lo gie und Neu ro lo gie sei nes Koumlr pers ge bun den ist Dem nach ist je der Geist ers tens be grenzt und zwei tens ver aumln der lich

Die phi lo so phi sche Kon se quenz aus La ma rcks Den ken ist so ra di kal dass sie fast ein hun dert fuumlnf zig Jah re lang von nie man-dem ernst haft in Be tracht ge zo gen wur de Wie kann ein Geist der den Ge set zen der Evo lu ti on un ter wor fen ist sich ei gent lich an ma szligen die Na tur der Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Von die ser Schluss fol ge rung woll te die Bi o lo gie al ler dings bis weit ins 20 Jahr hun dert hi nein nicht viel wis sen

Auch Dar wins The o rie von der na tuumlr li chen Se lek ti on der Le be we sen im Rin gen um ihr Le ben und mit der Um welt ent-wi ckel te sich wei ter Ge witz ten Zeit ge nos sen wie Karl Marx (1818 ndash 1883) war auf ge fal len wie stark Dar wins Den ken dem Zeit geist des Vik to ri a ni schen Zeit al ters ver haf tet war raquoEs ist merk wuumlr dig wie Dar win un ter Bes ti en und Pfan zen sei ne eng li-sche Ge sell schaft mit ih rer Tei lung der Ar beit Kon kur renz Auf-schluss neu er Maumlrk te rsaquoEr fin dun genlsaquo und Malt hus schem rsaquoKampf ums Da seinlsaquo wie der er kenntlaquo8 Die Be to nung des Malt hus rsquoschen 8

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 409783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 40 10082021 10493410082021 104934

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Kamp fes von je dem ge gen je den und auch der Fort schritts glau-be in Dar wins Den ken zei gen ihn stark sei ner Zeit ver haf tet

Eine an de re Kri tik kam aus der Bi o lo gie selbst Dar win hat-te noch nichts von Ge nen ge wusst So konn te er nicht er klauml ren was sich bi o che misch er eig ne te wenn Ar ten sich ver aumln der ten Der raquoDar wi nis muslaquo der Jahr hun dert wen de gab schlieszlig lich die Hoff nung auf die Evo lu ti on lie szlige sich al lein durch die na tuumlr li-che Se lek ti on der Ar ten nach Maszlig ga be ih rer An pas sungs fauml hig-keit an die Um welt be gruumln den Man ent deck te die Rol le der Ge-ne tik und zum neu en Er klauml rungs prin zip wur de das Mo dell der zwei Kons t ruk teu re Das Spiel des Le bens er hielt ei nen Wuumlr fel zu faumll li ge Ver aumln de run gen im Gen ma te ri al also so ge nann te Mu tashyti o nen Im Tri alshyandshyEr ror-Ver fah ren ent ste hen im Erb gut ge le-gent lich Ab wei chun gen die dann er folg reich sind wenn sie sich in der Um welt be waumlh ren Da mit war die Idee vom Tisch dass sich neu er wor be ne Ei gen schaf ten oder raquodie ana to mi schen Aus-wir kun gen koumlr per li cher An stren gun genlaquo wie La marck mein te ver er ben koumlnn ten Noch Dar win hat te dies fuumlr denk bar ge hal ten So ver trau te er Er zaumlh lun gen wo nach bei je nen Volks grup pen zu de ren Ri ten die re gel mauml szligi ge Be schnei dung der Pe nis vor haut ge houmlrt sich die Vor haut all maumlh lich ver kuumlrz te Das haumlt te zwar die Be schnei dung uumlber fuumls sig ge macht aber Dar win hat te ge ra-de an de res Ge wich ti ges zu be den ken als da ruuml ber nach zu sin nen

Die Ver kuumlr zung der Vor haut blieb im Wis sens schatz der Dar wi nis ten bis Au gust Weis mann (1834 ndash 1914) im spauml ten 19 Jahr hun dert nach wies dass ein sol cher In for ma ti ons fuss vom aumlu szlige ren Er schei nungs bild zum Erb ma te ri al nicht moumlg lich sei Uumlber fuumlnf Ge ne ra ti o nen kuumlrz te Weis mann ei nem Stamm von Maumlu sen ihre Schwaumln ze ohne dass eine Nach richt uumlber die sen Ein griff die Keim bah nen der Maumlu se er reich te Denn sie he da Auch die Schwaumln ze der nach fol gen den Maumlu se ge ne ra ti o nen blie-ben gleich lang Da be durf te es schon der Spitz fin dig keit des iri schen Dich ters George Bern ard Shaw (1856 ndash 1950) der Weis-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 419783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 41 10082021 10493410082021 104934

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manns schnei den de Wi der le gung der La marckrsquo schen The o rie leicht fer tig vom Se zier tisch wisch te Die Maumlu se be merk te der Dich ter haumlt ten gar kei ne An stren gun gen un ter nom men ihre Schwaumln ze zu ver lie ren waumlh rend sich die Tie re bei La marck ja da rum be muumlht haumlt ten sich zu ver aumln dern

Im Nach hi n ein also war es der pauml da go gi sche Op ti mis mus der La marck in die Irre ge fuumlhrt ha ben soll te So mach te die Hoff-nung auf ei nen ethisch an spre chen den E vo lu ti ons ver lauf ndash die Er war tung die Mensch heit ent wick le sich qua An pas sung an das so zi a le Mi li eu durch Selbst er zie hung zum Bes se ren ndash nur noch eine et was ab sei ti ge Kar ri e re im staats so zi a lis ti schen Bi o lo gie-un ter richt der Sow jet u ni on Wie kalt da ge gen der uumlber le ge ne raquoKampf ums Da seinlaquo der ja ein Kampf um die Fleisch toumlp fe ist ohne Hoff nung der Mensch wer de den kuumlh nen Geist statt sei-nes ma te ri a lis ti schen Gier hal ses nach Houml he rem stre cken Und ein zig die Kir che be wahr te un ver dros sen ei nen la marc kis ti schen Ge dan ken ndash al ler dings ei nen pes si mis ti schen und kei nen op ti-mis ti schen In bes ter Schuumlt zen hil fe fuumlr den fran zouml si schen Che-va li er ver tei digt sie bis heu te ihr mo le ku lar ge ne tisch be denk li-ches Dog ma Adams Un ge hor sam im Gar ten Eden habe zu ei ner raquoErb suumln delaquo ge fuumlhrt die da rauf hin auf alle zu kuumlnf ti gen Ge ne ra-ti o nen uumlber ge gan gen sei

Im mer hin sind in den bei den letz ten Jahr zehn ten ei ni ge Bi o-lo gen wie der et was of fe ner da fuumlr ge wor den der Ver er bung er-wor be ner Ei gen schaf ten ei nen Platz in der Ge ne tik zu las sen Zwar ver er ben sich psy chi sche und phy si sche Le bens er fah run-gen nicht durch ver aumln der te Gene Aber es koumlnn te doch sein dass jene Schal ter die da ruuml ber be stim men wel che ge ne ti sche In for-ma ti on wei ter ge ge ben wird und wel che nicht durch Um welt-ein fuumls se ver aumln dert wer den Uumlber le gun gen wie die se be schaumlf ti-gen so ge nann te Epi gen eti ker seit ei ni ger Zeit sie ha ben ei nen wach sen den Ein fuss auf un se re Vor stel lung von der Evo lu ti on

Die heu ti ge Leit dis zip lin die uns die Ver wandt schaft des Le-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 429783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 42 10082021 10493410082021 104934

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bens ent schluumls seln soll ist die Ge ne tik Wir un ter su chen die Sum-me al ler ge ne ti schen In for ma ti o nen und re gist rie ren da bei Uumlber-ein stim mun gen und Ab wei chun gen mit an de ren Ar ten Doch der Pro zess die Na tur un se rer Na tur zu er ken nen ist noch lan ge nicht ab ge schlos sen und wird wohl auch nie ab ge schlos sen sein Wir wen den Ord nungs sche ma ta auf The o ri en und The o ri en auf Be ob ach tun gen an Nur so kom men wir zu Kau sa li tauml ten und Ge-set zen Doch ihre Be deu tung ver aumln dert sich in dem Maszlige wie wir den Blick punkt un se rer Auf merk sam keit wie der ver la gern Die ser Vor gang des Ent dec kens und des Ver de ckens durch neue Denk sche ma ta ist prin zi pi ell nicht ab schlieszlig bar denn selbst ge-gen waumlr ti ge Evo lu ti ons the o ri en un ter lie gen wei ter hin der Evo-lu ti on

Er staun li cher wei se hat die mo der ne Evo lu ti ons the o rie nur zu ei ner ge ring fuuml gi gen Kor rek tur al ter Denk sche ma ta ge fuumlhrt Wie fruuml her in der Na tur ge schich te er ken nen wir heu te in der Bi o lo gie uumlber all Re gel haf tigk eit Not wen dig keit und Vor tei-le Doch bei nauml he rer Sicht er weist sich die Evo lu ti on ge ra de zu als Herr schafts ge biet der Aus nah men uumlber die Re geln Sie ist eine raquoZweck mauml szligig keit ohne Zwecklaquo wenn auch al lein fuumlr die 01 Pro zent der heu te noch ndash oder ge ra de ndash exis tie ren den Spe-zi es nicht aber fuumlr die 999 Pro zent die in den Ur fu ten dem Ord ovizium dem Perm der Krei de oder dem Ter ti aumlr das Welt-li che seg ne ten E vo lu ti ons bi o lo gen su chen in der Ge schich te der Na tur uumlber all nach Vor tei len die das Uumlber le ben von Ar ten er-klauml ren sol len Da bei ver men gen sie oft zwei ver schie de ne Vor-teils be grif fe Ein mal geht es um Mu ta ti o nen die si tu a tiv vor teil-haf te Ei gen schaf ten fuumlr eine Tier art her vor ge bracht ha ben sol len Eine grouml szlige re Sta tur ein pom pouml se res Ge weih ein staumlr ke res Ge biss sol len Weib chen be ein dru cken und die Nach kom men schaft er-houml hen Da die se Ei gen schaf ten aber oft nichts nuumlt zen wenn der Zu fall die Spiel re geln der Um welt aumln dert gibt es ei nen zwei ten Vor teils be griff Da nach ist das vor teil haft in der Evo lu ti on was

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 439783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 43 10082021 10493410082021 104934

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vom Ende her be trach tet dazu ge fuumlhrt hat dass eine Art uumlber-lebt Nach die ser Sicht wei se kann der mick rigs te Pa vi an auf dem Fel sen sei ne Gene wei ter ge ben wenn die staumlr ke ren Kon kur ren-ten bei ei nem Erd be ben ums Le ben ge kom men sind

An ge sichts zwei er so un ter schied li cher Be deu tun gen von raquoVor teillaquo fragt es sich ob der Be griff in der Evo lu ti ons the o rie uumlber haupt sinn voll ver wen det wer den kann Tat saumlch lich ist er ein Erbe der The o lo gie des 17 und 18 Jahr hun derts die uumlber-all in der Na tur nach der klu gen Ver nunft Got tes such te Dar win kann te die se Tra di ti on gut Als Stu dent ver ehr te er den The o lo-gen Will iam Pa ley (1743 ndash 1805) der na tur kund lich be schla gen die goumltt li che Vo raus sicht auf den neu es ten Stand ge bracht hat te Als Dar win sich von Gott ver ab schie de te und die na tuumlr li che Se-lek ti on er kann te er setz te er uumlber all wo Pa ley raquoGod doeslaquo ge-schrie ben hat te den Satz durch raquoNat ure doeslaquo An Pa leys Vor-stel lung dass die Na tur zweck mauml szligig ein ge rich tet sei und Vor tei le be loh ne hielt Dar win eben so fest wie vie le spauml te re E vo lu ti ons-the o re ti ker

Die Fra ge ist des halb wich tig weil sie zeigt wie eng un se re Vor stel lung von der Na tur bis hi nein in die mo der ne Evo lu ti-ons the o rie von sehr mensch li chen Vor stel lun gen durch setzt ist Statt Vor tei le zu be nen nen wuumlr de es naumlm lich auch aus rei chen zu sa gen dass al les in der Na tur uumlber le ben kann das fuumlr eine Art kei nen toumld li chen Nach teil hat te Ver mut lich uumlber lebt in der Evo lu ti on nicht nur Zweck mauml szligi ges son dern jede Ver aumln de rung die zu min dest nicht zum Aus ster ben fuumlhr t und moumlg li cher wei se liegt ge ra de hie rin der Grund fuumlr eine gro szlige Ar ten viel falt

Die tra di ti o nell ver eng te Sicht wei se gilt ins be son de re bei der Be trach tung des Men schen E vo lu ti ons bi o lo gen koumln nen zahl-rei che Vor tei le be nen nen die er klauml ren wa rum die mensch li che Art so er folg reich ist Men schen sind aumlu szligerst an pas sungs fauml hig und be sie deln fast alle Le bens raumlu me sie sind Al les fres ser mit ei ner gro szligen Nah rungs band brei te sie ha ben eine fe xib le So zi-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 449783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 44 10082021 10493410082021 104934

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al struk tur und ver fuuml gen uumlber ein Selbst be wusst sein das es ih-nen er moumlg licht ihr Ver hal ten zu kor ri gie ren So ge se hen ist der Mensch gleich sam das op ti mal ste al ler Tie re Doch alldem zum Trotz exis tie ren Men schen der Gat tung Homo sap iens erst seit rund 100 000 Jah ren und ihre lang fris ti gen Zu kunfts chan cen ste hen schlecht Denn mit all den vor teil haf ten Ei gen schaf ten ha-ben Men schen in Re kord zeit ihre Um welt zer stoumlrt und das lang-fris ti ge Uumlber le ben der Spe zi es dra ma tisch in fra ge ge stellt Die mit we ni ger spek ta ku lauml ren Vor tei len aus ge stat te ten Di no sau ri-er exis tier ten auf un se rem Pla ne ten hun dert fuumlnf zig Mil li o nen Jah re ganz zu schwei gen von den seit uumlber vier hun dert Mil li o-nen Jah ren na he zu un ver aumln der ten Nau til iden und Ur schne cken

Ge si chert in der Evo lu ti ons the o rie ist dass kei ne ih rer An nah-men ge si chert ist E vo lu ti ons bi o lo gen die ihre Sa che ernst neh-men muumls sen im mer auch die E vo lu ti ons be dingt heit ih res ei ge-nen Er kennt nis ap pa rats ref ek tie ren also mit hin die Evo lu ti on al ler mensch li chen Er kennt nis raquoLetzt lich istlaquo wie der Neuro bio-lo ge Ger hard Roth schreibt raquoje des Nach den ken uumlber die ob jek-ti ve Re a li taumlt sei es wis sen schaft lich oder nicht an die Be din gun-gen mensch li chen Den kens Spre chens und Han delns ge bun den und muss sich da rin be waumlh renlaquo9

Man muss ref ek tie ren dass die un ver meid li chen Ord nungs-mit tel des Geis tes das Den ken und die Spra che nicht die Wirk-lich keit raquoan sichlaquo auf raumlu men Sie sind Mo del le die die un ver-fuumlg ba re Wirk lich keit nach Maszlig ga be der ei ge nen Spiel re geln er klauml ren Nicht erst seit Er for schung der Evo lu ti on in den letz-ten zwei hun dert Jah ren muumlht sich der mensch li che Geist dem Lauf der Welt ei nen ndash nach mensch li chem Er mes sen ndash raquover nuumlnf-ti genlaquo Sinn zu ge ben Doch das Pa ra do xe der Ge schich te liegt da rin dass der mensch li che Geist selbst Pro dukt evo lu ti o nauml rer Pro zes se ist Er ist Maszlig stab und Ge mes se nes zu gleich

An eine tat saumlch lich ob jek ti ve Er kennt nis der Evo lu ti on waumlre nur halb wegs sinn voll zu den ken wenn die Evo lu ti on des Men-9

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 459783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 45 10082021 10493410082021 104934

schen ab ge schlos sen ist und da mit die Stu fe der groumlszligt moumlg li chen Voll kom men heit er reicht hat In den Zei ten vor La marck und Dar win ha ben das nicht nur The o lo gen son dern auch die Na tur-for scher fast al le samt ge glaubt Das mensch li che Be wusst sein sei die un uuml ber trof fe ne Spit zen leis tung des Schoumlp fer got tes ge schaf-fen die Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Sei nen schoumlns-ten Aus druck fand die se Sicht in ei nem Aus spruch des jun gen Phi lo so phen Fried rich Wil helm Jo seph Schel ling (1775 ndash 1854) Er mein te dass der Mensch je nes We sen sei raquoin dem die Na tur das Auge auf schlaumlgtlaquo und sich da mit ih rer selbst be wusst wird Ein huumlb scher Satz aber doch viel zu pa the tisch for mu liert Von der vol len Er kennt nis der Na tur und un se rer selbst sind wir noch im mer weit ent fernt Aber wir koumln nen da ruuml ber stau nen dass die Evo lu ti on mit uns ein Le be we sen her vor ge bracht hat in dem die Na tur sich fuumlr sich selbst fa szi nier bar ge macht hat Wie hat te es dazu kom men koumln nen

bull Der Pri mat Was ist ein Mensch

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 469783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 46 10082021 10493410082021 104934

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ver waist sein Die Mensch heit wird er wacht sein und die Welt je-nes Ge sicht er hal ten ha ben das uns ge gen waumlr tig er scheint Doch wie sah das aus als die Na tur das ers te Mal in ei nem af fen aumlhn-li chen We sen die Au gen auf schlug War es auf ei ner Wald wie-se in ei nem Hain an ei nem Berg hang oder auf ei ner Lich tung War das er leuch te te We sen ein Maumlnn chen oder ein Weib chen Ging es den gan zen Tag auf recht oder saszlig es noch ger ne in der Ho cke eng ge kau ert an sei ne Bruuml der und Schwes tern Und war es eine Ein ge bung ein Blitz schlag als das Selbst be wusst sein das ers te Mal die Fes seln des Pri ma ten ge hirns spreng te

Wir wis sen nicht wo ran Schel ling dach te als er mein te die Na tur habe im Men schen ihr Auge auf ge schla gen Si cher dach te er nicht an ei nen ein zi gen Mo ment dem Mil li o nen an de re folg-ten Er dach te an den raquoMen schen an sichlaquo Und er wuss te nichts vom ost af ri ka ni schen Great Rift Val ley und von haa ri gen Vor-men schen die dort einst haus ten Er leb te in Jena und in Muumln-chen und ei nen Men schen af fen hat te Schel ling nie ge se hen Der ein zig ar ti ge Mo ment in dem die Na tur sich ih rer selbst be wusst wird bleibt eine Me ta pher

Doch wie wur de der Mensch nun tat saumlch lich zum Men-schen Die For mu lie rung ist dop pel deu tig Denn wie der Mensch zum Men schen wur de ndash das ist nicht ein evo lu ti o nauml rer Pro-zess auf der lee ren Welt buumlh ne son dern ein Spiel von Be ob ach-ter und Be ob ach te tem Schau spie ler und Zu schau er Ge schich-te auch Ent wick lungs ge schich te ist nichts Vor ge fun de nes Der Mensch schrieb der fran zouml si sche Phi lo soph JeanshyPaul Sart re (1905 ndash 1980) macht sich selbst wie der Ro man schrift stel ler sei ne Fi gu ren Er ist ge fer tigt aus bi o lo gi schen (ana to mi schen neu ro lo gi schen und phy si o lo gi schen) Be stand tei len zu al ler meist je doch durch jene we nig bi o lo gi schen Weis hei ten mit de nen sich die se Subs tan zen selbst zum raquoMen schenlaquo er ko ren

Das Glei che gilt fuumlr die mensch li che Stam mes ge schich te Auch sie ist zu naumlchst ein mal eine Ge schich te Ihre Ur spruumln ge lie gen im

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 489783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 48 10082021 10493510082021 104935

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al ten Grie chen land als Aris to te les den Men schen und den Af-fen ver wandt schaft lich na he ruumlckt raquoMan che Tie re ste hen zwi-schen Mensch und Vier fuumlszlig ler in ih rem We sen wie Af fen Meer-kat zen und Pa vi a ne hellip Ihr Ge sicht hat vie le Aumlhn lich kei ten mit dem des Men schen Nase und Oh ren glei chen den sei nen und Zaumlh ne hat er auch wie ein Mensch die Vor der zaumlh ne wie die Ba cken zaumlhnelaquo10 Auch Aris to te lesrsquo Schuuml ler The oph rast (ca 370 v Chr ndash ca 288 v Chr) be steht auf der Aumlhn lich keit zwi schen Men schen und Tie ren Er lehnt es so gar ab Fleisch zu es sen oder Tie re zu op fern da man sei ne Ver wand ten nicht ver spei se

Aris to te les und The oph rast stell ten den Men schen zwar ne-ben den Af fen ndash Men schen af fen kann te man noch nicht ndash aber die al ten Grie chen hat ten ihn nur sehr un ge faumlhr zu ei nem Tier un ter Tie ren er klaumlrt Den naumlchs ten Schritt mach te mehr als zwei-tau send Jah re spauml ter Carl von Linneacute An der Zu ge houml rig keit des Men schen zu den Saumlu ge tie ren be stand fuumlr den Schwe den kein Zwei fel die Be haa rung und das Stil len der Jun gen be lehr ten un-miss ver staumlnd lich da ruuml ber Auch die Ver wandt schaft mit Af fen und Men schen af fen stand au szliger Fra ge Hier wa ren es die fa chen Fin ger- und Fuszlig nauml gel statt der Klau en der ab ge spreiz te Dau-men die Greif haumln de die zwei Zit zen der Weib chen und der frei he run ter haumln gen de statt am Un ter leib an lie gen de Pe nis ndash Merk-ma le die groumlszlig ten teils auch schon Aris to te les auf ge fal len wa ren

Doch Linneacute zouml ger te vor der Kon se quenz Haumln de rin gend such-te der got tes fuumlrch ti ge Ana tom nach ei nem Un ter schied zwi schen dem Men schen und den uumlb ri gen von ihm so ge nann ten raquoPri ma-tenlaquo raquoIch ver lan gelaquo schrieb er 1747 sei nem deut schen Freund Jo hann Ge org Gme lin raquovon Ih nen und von der gan zen Welt dass Sie mir ein Gat tungs merk mal zei gen hellip auf grund des sen man zwi schen Mensch und Affe un ter schei den kann Ich weiszlig selbst mit aumlu szligers ter Ge wiss heit von kei nemlaquo11

Nach sei nen Kri te ri en haumlt te Linneacute den Men schen zu min dest mit dem Schim pan sen ge mein sam in die sel be Gat tung ein ord-10

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9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 499783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 49 10082021 10493510082021 104935

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nen muumls sen Der Ge dan ke schweb te zeit gleich auch dem Phi lo so-phen JeanshyJacques Rous seau (1712 ndash 1778) vor als er Schim pan-sen Orang-Ut ans und Men schen so gar als Ver tre ter der Spe zi es Mensch an sah Rous seau hat te nie ei nen Men schen af fen ge se-hen Aber die Be rich te die er von Ex pe di ti o nen nach Af ri ka und Suumld ost a si en las lie szligen in ihm kei nen Zwei fel dass die da rin be schrie be nen Men schen af fen raquowe der Tie re noch Goumlt ter son-dern Men schenlaquo sei en12 Fuumlr den Auf klauml rer wa ren Men schen af-fen edle Wil de die von kei ner Zi vi li sa ti on in ih rem fried fer ti gen We sen zer stoumlrt sei en an ders als die Men schen in Eu ro pa Eben-so dach te we nig spauml ter der schot ti sche Sprach for scher James Bur nett Lord Mon boddo (1714 ndash 1799) Auch er be trach te te den Orang-Utan als ei nen Men schen naumlm lich als ei nen raquosprach-losen Wil denlaquo

In ter pre ta ti o nen wie Rous seau sie in Pa ris und Bur nett bald da rauf in Kin card ines hire wag ten wa ren Linneacute im schwe di schen Upp sa la fremd Den Men schen ins Tier reich ein zu ord nen war in den Au gen der stren gen pro tes tan ti schen Kir che Suumln de ge nug und Linneacute zouml ger te den letz ten Schritt zu tun In sei ner Not sor-tier te er 1758 ach sel zu ckend Mensch und Schim pan se in un ter-schied li che Gat tun gen zu sam men ge fasst in der Ord nung der Pri ma ten in der sie auch heu te noch mehr schlecht als recht huumlbsch ge trennt ne ben ei nan der ho cken Homo sap iens der raquoin-tel ligi ble Menschlaquo und Pan trog lody tes der raquohoumlh len be woh nen-de Faunlaquo

So weit so schoumln Der Mensch wur de der obers te Pri mat das houmlchs te raquoHer ren tierlaquo Linneacute be kam kei nen Aumlr ger mit der Kir-che und die Na tur wis sen schaft den gro szligen Wurf des Linneacute rsquoschen Sys tems Wenn nur die se Nach barn nicht wauml ren Seit Be kannt-wer den der Men schen af fen be muumlh ten sich Wis sen schaft ler und The o lo gen im mer wie der um den Ver such den klei nen Gra ben mit gro szligen Was sern zu fuumll len der Homo sap iens und Pan troshyglody tes bei ih rer ord nungs ge mauml szligen Ver ge sell schaf tung auf der 12

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 509783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 50 10082021 10493510082021 104935

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Af fen in sel trennt Sie eva ku ier ten den Men schen vom Pri ma ten-fel sen und schu fen ihm eine ei ge ne Ord nung

In die ser Vor stel lungs welt wuchs auch der The o lo gie stu dent Charles Dar win auf Das fruuml he 19 Jahr hun dert war eine got-tes fuumlrch ti ge bie der mei er li che Zeit Doch je mehr er sich mit der Ver aumln de rung der Ar ten be schaumlf tig te umso deut li cher wur de Dar win dass es mit der of fi zi ell be kun de ten Son der stel lung des Men schen im Uni ver sum nicht weit her sein konn te So no tier te er schon er staun lich fruumlh in sein Ta ge buch raquoDer Mensch haumllt sich in sei ner Ar ro ganz fuumlr ein groszlig ar ti ges Werk des be son de ren Ein grei fens ei ner Gott heit wuumlr dig Es duumlrf te be schei de ner und wie ich glau be auch rich tig sein ihn als aus den Tie ren ent stan-den an zu se henlaquo13

Dar win hat te den noch zwoumllf Jah re ge zouml gert bis er sich schlieszlig lich ge trau te nach der all ge mei nen Dar stel lung ei ner Evo-lu ti ons the o rie im Jahr 1859 sei ne Schluss fol ge run gen in Be zug auf den Men schen in Druck zu ge ben Die Ab stam mung des Men schen aus dem Jahr 1871 ist ein ge maumlch li ches Buch in ver-soumlhn li chem Ton fall Der Na tur for scher er zaumlhlt da rin wie ein gu-ter al ter Groszlig va ter wo her die Pfan zen die Tie re und die Eng-laumln der kom men Die raquoAb wer tunglaquo des Men schen geht da bei ein her mit ei ner kon ti nu ier li chen raquoAuf wer tunglaquo der Tie re raquoWir ha ben ge se henlaquo schreibt Dar win raquodass die Emp fin dun gen und Ein druuml cke die ver schie de nen Er re gun gen und Fauml hig kei ten wie Lie be Ge daumlcht nis Auf merk sam keit Neu gier de Nach ah mung Ver stand usw de ren sich der Mensch ruumlhmt in ei nem be gin nen-den oder zu wei len selbst in ei nem gut ent wi ckel ten Zu stand bei den nie de ren Tie ren ge fun den wer denlaquo14

La marck und Dar win wa ren die Ers ten die mit Mit teln der mo der nen Na tur wis sen schaft be haup te ten was vie le Kul tu ren und Zei ten schon zu vor re li gi oumls ge ahnt hat ten raquoNa tuumlr lichlaquo ist es ab surd eine Tei lung des Tier reichs in zwei Ka te go ri en vor zu-neh men ndash in eine mensch li che und eine nicht mensch li che Ka-13

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9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 519783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 51 10082021 10493510082021 104935

Page 22: Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen · Leseprobe Professor Dr. Richard David Precht Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen »Fazit:

Das Men schen tier

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Wahr heit zu hal ten Aber die ses Bild hat sich schon oft ver aumln-dert und es wird sich ge wiss noch wei ter ver aumln dern

Men schen nei gen dazu die Welt in der sie le ben auf zu raumlu-men Es ist eine ziem lich art ty pi sche Ver hal tens wei se Wir sor tie-ren die all taumlg li chen Din ge un se res Le bens und eben so sor tie ren wir die Ge dan ken uumlber die Welt die uns um gibt Jede Ord nung auch die der Na tur ist also ein mensch li cher Ent wurf Und al-lem An schein nach ent stand das Be duumlrf nis die Welt zu ord nen in un se rer Ent wick lungs ge schich te pa ral lel zur Ent wick lung der Spra che Denn ohne die kuumlnst li che Auf raumlum ar beit der Spra che waumlre die Vor stel lung von ei ner raquoOrd nung der Schoumlp funglaquo oder der raquoNa turlaquo nicht moumlg lich

Wer auf die Ord nung an ge wie sen ist be wegt sich gern in den si che ren Gren zen ei nes Sys tems Nur in ner halb ei nes sol chen Ord nungs ge fuuml ges fragt man nach Wahr heit und Gel tung Rich-tig keit Me tho de und Be deu tung Zu leicht uumlber sieht der Ord ner dann die kuumlnst li che Be hau sung und die selbst ge zim mer ten Re-ga le in die er die Welt so sorg faumll tig hi nein sor tiert Sel ten ge lingt ihm ein Blick aus dem Fens ter in die un ge wis se Land schaft die ihn um gibt Und nur ein ge wal ti ger Sturm ein Blitz schlag oder eine Er schuumlt te rung zwingt den Ver wal ter der Welt die si che re Wohn statt zu ver las sen und sich ein an de res Haus zu bau en das den An fein dun gen des neu en Kli mas wi der steht

Erst im Ruumlck blick auf die vie len Irr tuuml mer der Ver gan gen heit er ken nen wir dann un se re ei ge ne Un zu laumlng lich keit beim Auf-raumlu men In der Ge gen wart er scheint uns die je wei li ge Ord nung meis tens so selbst ver staumlnd lich dass wir gern uumlber jede Moumlg-lich keit der Ver aumln de rung lauml cheln So ha ben Men schen mit voumll li-ger Ge wiss heit an ge nom men dass die Erde eine Schei be ist und dass Frau en und Skla ven kei ne Rech te zu ste hen Und mit ei nem eben sol chen Lauml cheln be trach ten wir heu te die Gruumln de mit de-nen Men schen sich im Lau fe der Jahr hun der te von den Tie ren zu un ter schei den glaub ten

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Schon die al ten Grie chen ins be son de re Aris to te les (384 v Chr ndash 322 v Chr) ha ben sich fuumlr die Ge schich te und das in vie len De tails ver bor ge ne Sys tem der Na tur in te res siert Er teilt die Tie re in Klas sen ein ver sucht zu er gruumln den was Le ben ist und schafft da mit die Grund la gen der Zo o lo gie Aber Aris to te-les kennt nur we ni ge hun dert Tie re Eine raquovoll staumln di ge Na tur-ge schich telaquo wird das ers te Mal im 18 Jahr hun dert ge schrie-ben ndash und auch sie ist aumlu szligerst un voll staumln dig Seit dem ver fuuml gen wir nicht nur uumlber ei nen rei chen Vor rat an ge dach ten Ord nun-gen von den Schoumlp fungs my then bis hin zur Mo le ku lar bi o lo gie Wir ken nen auch eine Wis sen schaft die sich raquoTax ono mielaquo nennt und jede Pfan ze und je des Tier sys te ma tisch in eine In ven tar liste der Na tur ein traumlgt

Da bei ver ra ten die Denk sche ma ta der Na tur for scher nicht nur et was uumlber die klas si fi zier te Na tur selbst son dern eben so uumlber das Ord nungs be duumlrf nis und die Pfif fig keit des mensch li-chen Geis tes Das 18 Jahr hun dert ist eine Zeit in der das Buumlr-ger tum an die Macht draumlngt und sich zu neh mend ge gen den Adel auf ehnt Sei ne schaumlrfs te Waf fe ist et was das man raquoVer nunftlaquo oder raquoRa ti o na li taumltlaquo nennt und das man ge gen den Glau ben ins Feld fuumlhrt Fuumlr die Phi lo so phen der Ra ti o na li taumlt ist die Welt kei-ne vor ge fun de ne Schoumlp fung mit fes ter Ord nung son dern et was dass man geis tig durch drin gen und auf sei ne Lo gik und Wi der-spruuml che un ter su chen kann Da bei ge ben zu naumlchst die Phy sik und die Ma the ma tik das Sche ma vor nach dem alle Er kennt nis auch jene von Pfan zen und Tie ren funk ti o nie ren soll Die Sys te ma ti-ker der Na tur ge schich te su chen nach un ver ruumlck ba ren Kri te ri en ob jek ti ven Ge setz mauml szligig kei ten und lo gi schen Ver bin dun gen um die un uuml ber sicht li che Welt der Le be we sen ih rer raquowah ren An ord-nunglaquo ge maumlszlig ein zu tei len Aber nicht alle Na tur for scher glau-ben dass ein sol ches Vor ha ben tat saumlch lich ge lin gen kann Man-che hal ten die Na tur fuumlr zu reich hal tig um sie auf die se Wei se zu klas si fi zie ren Welt an schau un gen tref fen auf ei nan der auf der

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ei nen Sei te der Glau be an ein vom Men schen prin zi pi ell voumll lig durch schau ba res Na tur sys tem auf der an de ren Sei te eine un er-gruumlnd li che Schoumlp fung in der der Mensch sich im mer nur tas-tend fort be wegt

Die ers te Va ri an te gilt im 18 Jahr hun dert als der mo der ne-re An satz Man ori en tiert sich da bei an ei nem Ra ti o na lis mus den Reneacute Des car tes (1596 ndash 1650) schon hun dert Jah re zu vor neu be gruumln det hat Die ser Ra ti o na lis mus ori en tiert sich an der Me cha nik Die Schoumlp fung Got tes er scheint als eine ein zi ge klug aus ge tuumlf tel te Ma schi ne die der Mensch Stuumlck fuumlr Stuumlck zu be-herr schen lernt Und das Uni ver sum be steht aus Ma te rie in Be-we gung or ga ni siert nach ma the ma ti schen Ge set zen Ob gleich das 18 Jahr hun dert zent ra le Spe ku la ti o nen des Phi lo so phen wi-der legt ori en tiert es sich in vie lem an Des car tesrsquo me cha nis ti scher Denk wei se Sie tut dies vor zugs wei se in je nen Dis zip li nen de-ren Er kennt nis fort schritt zu naumlchst ge ring bleibt Und nir gend-wo trifft dies in ei nem sol chen Maszlig zu wie bei der Er for schung der bi o lo gi schen Na tur

Doch die ses Welt bild hat prob le ma ti sche Fol gen Wer die Welt kon se quent nach me cha nis ti schen Grund saumlt zen be trach tet hat fuumlr den Be reich der nicht mensch li chen Na tur we nig Ver staumlnd nis Fuumlr Des car tes sind Tie re nichts als Ma schi nen Es macht kei nen Un ter schied ob eine Ma schi ne die aumlu szlige re Ge stalt und die in ne-ren Or ga ne ei nes Af fen hat oder ob es sich da bei tat saumlch lich um ein le ben des Tier han delt Denn relevantes Le ben kommt fuumlr den Den ker nicht durch zir ku lie ren des Blut und Reizempfindungen in den Koumlrper Son dern bedeutsames Le ben ga ran tie ren ein zig und al lein der er leuch te te Geist und sei ne Spra che

Des car tesrsquo Zeit kennt we der den Be griff des raquoOr ga nis muslaquo die Be son der heit des Le bens noch die Evo lu ti on son dern eben nur die Me cha nik Trotz dem ist sei ne The o rie von den Tie ren als see len lo se Au to ma ten im 17 und 18 Jahr hun dert aumlu szligerst um-strit ten Fran zouml si sche Phi lo so phen schrei ben Buch um Buch uumlber

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 329783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 32 10082021 10493410082021 104934

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die Tier-Fra ge und be feh den sich da bei uumlber mehr als hun dert Jah re Noch weiszlig man nichts von ei ner raquoBi o lo gielaquo Man be treibt eine neue Dis zip lin die sich raquoNa tur ge schich telaquo nennt und da-mit auf raumlumt die Ge schich te von Le be we sen als eine wahl lo se Samm lung von Er zaumlh lun gen an zu se hen Bis her schrie ben Au to-ren um stands los von der Fang wei se der Tie re ih rer Ana to mie ih rer bib li schen und al le go ri schen Be deu tung ih rem prak ti schen Ge brauch ih rer Ver meh rung ih ren Stim men und Spra chen ih-ren Be we gun gen ih rem Al ter und von der Sym pa thie oder An-ti pa thie des Ver fas sers Auch Koch re zep te wur den von Fall zu Fall hin zu ge fuumlgt

Ein zo o lo gi sches Sys tem ist zu An fang des 18 Jahr hun derts weit ge hend un be kannt die Ver wandt schafts ver haumllt nis se der Pfan zen und Tie re sind dif fus ge ahnt und wer den eher nach Le-bens raumlu men be stimmt als nach koumlr per li chen Merk ma len Tie re die nachts ja gen ste hen da bei eben so in ei nem Ord nungs ge fuuml ge wie Tie re die fie gen koumln nen im Wald oder in ei nem See le ben Be reits die Pries ter schrift der bib li schen Ge ne sis hat te die Welt der Tie re und Pfan zen nicht nach ana to mi schen Merk ma len un-ter teilt son dern in Be zug auf den Le bens raum Pfan zen und Tie re des Mee res der Luft und der Erde Uumlber mehr als tau send Jah re kann ten auch der Is lam und die Hin dus Ord nungs sys teme die Tie re in ih rem Oumlko sys tem ver an ker ten

In der hin du is ti schen Samk hya-Tra di ti on exis tie ren vier zehn Klas sen un ter schied li cher Le be we sen ein ge teilt in acht For men himm li scher und sechs ir di scher Le be we sen zu de nen auch der Mensch ge houmlrt Als wei te res Un ter schei dungs merk mal dient die Art und Wei se der Ge burt Im gro szligen in di schen Na ti o nal epos aus dem 4 Jahr hun dert dem Ma hab har ata heiszligt es raquoAuf die ser Erde gibt es zwei Ar ten von Le be we sen die Be weg li chen und die Un be weg li chen Die Be weg li chen ha ben ei nen drei fa chen Schoszlig Sie sind aus dem Ei aus feuch ter Hit ze und Le ben dig-Ge bo re ne Von al len be weg li chen Le be we sen wie de rum sind die je ni gen die

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le ben dig ge bo ren sind hellip die bes ten Die bes ten un ter den le ben-dig Ge bo re nen sind die die zum Men schen ge schlecht ge houml ren und die Nutz tie relaquo4

Die neu en Sys te me des 18 Jahr hun derts be frei en die Na tur-ge schich te von al lem was sich mit den Me tho den der Zeit nicht wis sen schaft lich exakt be schrei ben laumlsst Koch re zep te fal len so-wie so un ter den Tisch aber auch man che Ver hal tens be ob ach-tun gen und vor mals wich ti ge Ei gen schaf ten wie zum Bei spiel der Ge ruch Ge forscht wird mit Lupe und Mik ros kop Li ne al und Pin zet te Der wich tigs te Mann auf die sem Ge biet ist der schwe-di sche Na tur for scher Carl von Linneacute (1707 ndash 1778) Er ori en-tiert sich an Aris to te les den er be wun dert nicht an Des car tes Ge ra de zu re vo lu ti o naumlr de mo kra tisch ent wi ckelt der auf ge klaumlr te Schwe de im 18 Jahr hun dert ein be schrei ben des Sys tem der Na-tur frei vom the o lo gi schen Fir le fanz sei ner Zeit Mit der Ak ri bie ei nes Brief mar ken samm lers dem Voll staumln dig keit mehr be deu tet als das Be stau nen ein zel ner Wer te ord net er die be leb te Na tur nach Ar ten Gat tun gen Ord nun gen und Klas sen Vier Va ri ab len die Form der Ele men te ihre An zahl die raumlum li che An ord nung der Ele men te und ihre re la ti ve Grouml szlige be stimm ten von nun an den Platz im Sys tem

Un ter der Leit dis zip lin der Bo ta nik wan delt sich die Na tur ge-schich te in eine ge ord ne te Welt aus Li ni en und Flauml chen Ent schei-dend sind die sicht ba ren Un ter schei dungs merk ma le wie Bluuml ten und Staub ge fauml szlige Blaumlt ter und Fruumlch te Fuumlszlige und Hufe Fe dern und Flos sen So setzt Linneacute fuumlr jede Pfan zen- und Tier klas se jede Ord nung und Gat tung be stimm te Merk ma le fest die er als die wich ti ge ren er ach te t Denn nur un ter der An nah me sol cher pri vi-le gier ter Struk tu ren ist es ihm moumlg lich die ver schie de nen Spe zi es im Ge samt sys tem un miss ver staumlnd lich zu ras tern Der mensch li che Ord ner be schreibt also nicht ein fach die be leb te Na tur Er fuumlgt ihr auch et was hin zu die Ent schei dung naumlm lich was in der For men-viel falt der Le be we sen wich ti ge Merk ma le sind und was nicht4

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Wie alle da ma li gen Na tur for scher nimmt Linneacute an dass die Ein tei lun gen die der mensch li che Ver stand macht tat saumlch lich ei ner ob jek ti ven Ord nung der Na tur ent spre chen Doch Lin neacutes Sys tem ist wie er selbst weiszlig nicht raquona tuumlr lichlaquo Sei ne Struk tu ren sind kei ne die er in der Na tur als Un ter schei dungs kri te ri en vor-fin det Denn was sich am Schreib tisch nun muumlh sam in Ord nun-gen pres sen laumlsst liegt wie der fran zouml si sche Na tur for scher Mishychel Adan son (1727 ndash 1806) fest stellt in der Wild nis wie Kraut und Ruuml ben durch ei nan der raquohellip eine kon fu se Mi schung aus We-sen hellip die der Zu fall ei nan der an ge nauml hert zu ha ben scheint Hier wird das Gold mit ei nem an de ren Me tall mit ei nem Stein oder mit Erde ge mischt Dort waumlchst die Ei che ne ben dem Veil chen Un ter die sen Pfan zen ir ren eben falls der Vier fuumlszlig ler das Rep til und das In sekt um her Die Fi sche mi schen sich so zu sa gen mit dem waumlss ri gen Ele ment in dem sie schwim men und mit den Pfan zen die auf dem Grun de der Ge waumls ser wach sen hellip Die se Mi schung ist so gar so all ge mein und so viel faumll tig dass sie ei nes der Na tur ge set ze zu sein scheintlaquo5

Der Wi der spruch zwi schen ei ner tax ono mi schen und ei ner oumlko lo gi schen Ord nung der Na tur ist of fen sicht lich Er fin det sich noch heu te in der Dis kus si on um die Aumls the tik von Zoo an la gen Soll man die Tie re nach Ver wandt schafts ver haumllt nis sen sam meln also in Raub tier haumlu sern An ti lo pen haumlu sern und Hirsch an la gen so dass der Be su cher zwi schen den ana to mi schen Be son der hei-ten der Ar ten ndash mit un ter so gar den ge o gra fi schen Va ri an ten ei ner ein zi gen Art ndash zu un ter schei den lernt Oder ge waumlhrt die Nach-ge stal tung ei nes Na tur bi o tops ei ner af ri ka ni schen Sa van ne oder ei nes al pi nen Pa no ra mas den wich ti ge ren Ein blick in die Ord-nung der Na tur

Zwar steht fuumlr Linneacute und sei ne Kol le gen fest dass die raquowah-re Ord nunglaquo der Na tur sich an den koumlr per li chen Merk ma len zu ori en tie ren hat doch muss eine Er klauml rung da fuumlr ge fun den wer-den wa rum die se Ord nung in der frei en Na tur nicht von al lein 5

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sicht bar wird Ohne Zwei fel ist das Sys tem der Na tur kei ne zeit-lo se Schoumlp fung son dern durch Ver aumln de run gen ge kenn zeich net die sich in der Erd ge schich te er eig net ha ben Pa ral lel meh ren sich die Fun de von Fos si li en also von Tie ren die mut maszlig lich aus-ge stor ben sind Es hat al lem An schein nach grouml szlige re ge o lo gi sche Ka tast ro phen in un be kann ter Zahl ge ge ben de nen vie le Ar ten zum Op fer ge fal len sind Doch ha ben die se De sas ter auch zur Ent ste hung von neu en For men ge fuumlhrt

Um den Fak tor der Zeit und sei ne Fol gen fuumlr das Sys tem der Na tur ein zu schaumlt zen gibt es vie le Moumlg lich kei ten Die ein fachs te und mensch lichs te al ler zeit li chen Ord nungs vor stel lun gen ist die Idee al les fol ge ei nem Plan und sei auf ein Ziel hin aus ge rich-tet (Te le o lo gie) Re li gi o nen Phi lo so phi en und Ide o lo gi en funk-ti o nie ren na he zu al le samt ziel ge rich tet Es geht um ein bes se res Le ben auf Er den im Jen seits in ei nem ge rech ten Staat um die Herr schaft uumlber die an de ren uumlber die Pro duk ti ons mit tel oder das Boumlse Selbst un ser All tag ge stal tet sich weit ge hend te le o lo-gisch durch traumlnkt von zu kuumlnf ti ger Er war tung Mo tor jed we-der Te le o lo gie ist der Fort schritts ge dan ke Sein ima gi nauml res Ziel ist der voll kom me ne Zu stand So glau ben christ lich-abend laumln-di sche Ge sell schaf ten gern an eine staumln di ge Ver bes se rung durch An stren gung eine Tu gend die nach cal vi nis ti scher Tra di ti on im Him mel wie auf Er den von Gott ma te ri ell ent lohnt wird Wie na he lie gend also auch in der Na tur die Ent ste hung raquohouml he rerlaquo Le bens for men durch Fort schritt er ken nen zu wol len mit dem End ziel des Men schen

Die Un ord nung der Schoumlp fung mit ei nem goumltt li chen Fort-schritts plan in Ein klang zu brin gen ist das Le bens werk des Schwei zer Na tur for schers und Phi lo so phen Charles Bon net (1720 ndash 1793) Fuumlr Bon net ist die Zahl der Ar ten und ihre aumlu-szlige re Ge stalt von Gott ein fuumlr al le Mal fest ge legt Doch kann sich ein je des Le be we sen per fek ti o nie ren Der Weg vom simp-len Ge muumlt zur ge ni a li schen Leis tung ist vom Schoumlp fer vor ge-

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zeich net Und alle Tie re be schrei ten ihn zeit lich ver setzt nach dem glei chen Mus ter das der Mensch ih nen vor ge lebt hat raquoEs wird ei nen mehr oder we ni ger lang sa men und kon ti nu ier li chen Fort schritt al ler Ar ten zu ei ner houml he ren Ver voll komm nung ge-ben so dass alle Gra de der Stu fen lei ter in ei ner de ter mi nie ren den und kons tan ten Be zie hung fort ge setzt va ri a bel sein wer den hellip Es wird un ter den Af fen Leu te wie New ton und un ter Bi bern wie (den Fes tungs bau meis ter RDP) Vau ban ge ben Die Aus-tern und die Po ly pen wer den in Be zie hung zu den houmlchs ten Ar-ten das sein was die Vouml gel fuumlr die Vier fuumlszlig ler im Ver haumllt nis zum Men schen sindlaquo6

Seit Bon net ist die Vor stel lung von der raquoLei ter der Na turlaquo der Sca la nat urae ein wich ti ges In ven tar des na tur ge schicht-li chen Den kens Fort schritt Ver voll komm nung und goumltt li cher Plan ndash die se drei Grouml szligen be stim men die Vor stel lung vom Wer-den der Na tur vom 18 Jahr hun dert bis in die Ge gen wart hi nein Das Prin zip nach dem die Evo lu ti on Le ben her vor bringt sei un ver meid lich und von An fang an vor her be stimmt Nicht we-ni ge E vo lu ti ons the o re ti ker ha ben dies eben falls ge glaubt und zwar mit be acht li cher Kon ti nu i taumlt Der eng li sche Na tur for scher Alf red Rus sel Wall ace (1823 ndash 1913) der ge mein sam mit Dar win die The o rie der na tuumlr li chen Se lek ti on ent wi ckelt hat te hielt nicht nur den mensch li chen Geist und sein Mo ral emp fin den son dern zu dem auch die wei che nack te emp find sa me Haut des Men-schen fuumlr das Re sul tat ei ner not wen di gen Ent wick lung

Doch schon im 18 Jahr hun dert reg ten sich zu gleich vor sich-ti ge Zwei fel an der Stim mig keit ei ner sol chen Vor ge formt heit Denn wie soll te man Na tur ka tast ro phen be wer ten Waumlh rend die meis ten Na tur for scher sie als Teil des goumltt li chen Schoumlp-fungs plans in ter pre tier ten zo gen an de re ver gleichs wei se fins te-re Schluumls se Und so wur de tat saumlch lich ein gro szliges Erd be ben zum in di rek ten Aus louml ser der Evo lu ti ons the o rie naumlm lich je nes von Lis sa bon im Jahr 1755 Wer uumlber die Ka tast ro phe nach dach te 6

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 379783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 37 10082021 10493410082021 104934

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konn te star ken Zwei fel da ran he gen dass die Welt ord nung aus-ge kluuml gelt und har mo nisch sei

Die wei test rei chen den Schluss fol ge run gen zog der eng li-sche Pfar rer und Na ti o nal oumlko nom Tho mas Ro bert Malt hus (1766 ndash 1834) Nicht nur die ge o lo gi sche Na tur und ihr Ge-fah ren ri si ko son dern auch die Ver meh rung der Be voumll ke rung wur de nun als Uumlbel er kannt Im Jahr 1798 pub li zier te Malt-hus sei nen Es say on the Princi ple of Po pu la ti on (Das Be voumllshyke rungs ge setz) die ers te Mahn schrift vor den Ge fah ren ei ner Be voumll ke rungs ex plo si on Bei ei ner Ver dop pe lungs ra te der Welt-be voumll ke rung in ner halb von fuumlnf und zwan zig Jah ren er rech ne-te Malt hus wer de ihr exponent iel les An wach sen auf grund der von der Um welt ge setz ten Gren zen not wen dig zu Ar mut Ka-tast ro phen und Tod fuumlh ren Der bib li sche Auf trag raquoSeid frucht-bar und meh ret euchlaquo er schien mit ei nem Mal als ein Fluch Ein gna den lo ser raquoKampf ums Da seinlaquo (strugg le for life) war ent fes selt Das Ein zi ge was blieb war die Hoff nung die ka-tast ro pha len Fol gen der goumltt li chen An wei sung so weit wie moumlg lich ein daumlm men zu koumln nen

In ei ner Zeit als die Ge sell schafts the o rie noch der Bi o lo-gie den Leuch ter vo ran und nicht wie heu te die Schlep pe hin-terh er traumlgt be geis tert sich vor al lem ein eng li scher Dorf pfar rer Charles Dar win (1809 ndash 1882) fuumlr die Malt hus rsquoschen Ge set ze Denn wenn es rich tig ist dass sich ein Tier mit ei ner so ge rin-gen Ver meh rungs ra te wie der Mensch ge gen uumlber sei nen Art ge-nos sen durch setz te so gab es sicht lich an de re Kri te ri en fuumlr die Uumlber le bens fauml hig keit ei ner Po pu la ti on als die Zahl ih rer Ge bur-ten Der Maszlig stab fuumlr den Er folg ei ner Spe zi es war ihr Durch set-zungs ver mouml gen oder wie Dar win es spauml ter in den Prin zi pi en der Bio logie des jun gen Phi lo so phen Her bert Spen cer (1820 ndash 1903) le sen konn te raquothe sur vi val of the fit testlaquo

Dar wins na tur kund li che Stu di en wa ren ur spruumlng lich von dem Ge dan ken be seelt die nicht a ni ma li sche Iden ti taumlt des Men schen

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zu be wei sen Erst der Sieg des Ent de cker stol zes uumlber das Ent-set zen ver lieh ihm schlieszlig lich den Mut den be ruumlhm ten Satz zu schrei ben raquoUnd ich bin bei na he uumlber zeugt (der Mei nung mit der ich an die Fra ge he ran ge tre ten bin voumll lig ent ge gen ge setzt) dass die Spe zi es (mir ist es als ge staumln de ich ei nen Mord ein) nicht un ver aumln der lich sindlaquo7

Dar wins kuumlh ne Ver mu tung war nicht ganz neu Be reits ein hal bes Jahr hun dert zu vor hat ten der fran zouml si sche Na tur for scher GeorgesshyLou is Lec lerc Comte de Buf fon (1707 ndash 1788) und der Phi lo soph De nis Dide rot (1713 ndash 1784) uumlber eine Ver aumln de-rung der Ar ten spe ku liert Be son ders JeanshyBap tiste de La marck (1744 ndash 1829) be haup te te die all maumlh li che Ent wick lung der Ar-ten aus pri mi ti ve ren Vor for men die so ge nann te Trans mu ta ti on La marck war nicht nur ein Pi o nier der mit Jahr mil li o nen han-tier te als alle Welt die Erde noch ei ni ge tau send bis hun dert tau-send Jah re jung waumlhn te son dern er praumlg te (zur glei chen Zeit wie zwei deut sche Na tur for scher) das Wort Bi o lo gie Bei ihm wan del ten sich die Le be we sen da durch dass sich ihre koumlr per-li chen An stren gun gen auf ihr Erb gut aus wir ken Da bei nahm er al ler dings nicht an dass die Ar ten aus ei nan der her vor ge hen wie Dar win es spauml ter tat La ma rcks The o rie ist nauml her an je ner von Bon net Fuumlr ihn ver voll komm nen die ein zel nen Tier ar ten im Lau fe der Zeit ihre An la gen und ent wi ckeln sich da durch im-mer houml her Be son ders voll kom me ne Tie re wie der Mensch sind dem nach sehr alt denn sie ha ben ei nen wei ten Weg von ei nem pri mi ti ven Or ga nis mus bis hin zur heu ti gen Ge stalt hin ter sich ge las sen An de re wie der pri mi ti ve Suumlszlig was ser po lyp ha ben ihre Rei se durch die Zeit ge ra de erst an ge fan gen

La marck war kein Charis mati ker und die zo o lo gi sche All-macht sei nes Vor ge setz ten am Jar din des Plan tes in Pa ris des Ba rons George Cu vier (1769 ndash 1832) ver hin der te dass man sich all zu sehr mit sei nen The o ri en be schaumlf tig te Cu vier war ein be-deu ten der Mann An die Stel le ei ner nach bo ta ni schem Mus ter 7

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ver fah ren den Zo o lo gie setz te er eine neue Wis sen schaft die sich we ni ger an aumlu szlige ren Merk ma len als am Or ga nis mus der Tie-re ori en tier te Doch was die Trans mu ta ti on an be lang te blieb der Ober auf se her der pro tes tan tisch-the o lo gi schen Fa kul tauml ten Frank reichs beim kon ser va ti ven Mo dell Er ver brei te te wei-ter hin eine Ket te von Na tur ka tast ro phen habe als mo di fi zier-te Sint fu ten gan zen Klas sen von Tie ren den Gar aus ge macht Die se The o rie ist weit ge hend rich tig al ler dings schlieszligt sie die Trans mu ta ti on nicht aus

Das wirk lich Re vo lu ti o nauml re an La marck war die Idee die Ge schich te der Na tur nicht vom Men schen aus bis hi nun ter zur Bak te rie zu schrei ben son dern um ge kehrt von der Bak te rie zum Men schen Aus ei nem Mo dell der raumlum li chen Hie rar chie wur de ein Mo dell der zeit li chen Ent wick lung La marck er kann te zu-dem dass das Be wusst sein ei nes Tie res an die Phy si o lo gie und Neu ro lo gie sei nes Koumlr pers ge bun den ist Dem nach ist je der Geist ers tens be grenzt und zwei tens ver aumln der lich

Die phi lo so phi sche Kon se quenz aus La ma rcks Den ken ist so ra di kal dass sie fast ein hun dert fuumlnf zig Jah re lang von nie man-dem ernst haft in Be tracht ge zo gen wur de Wie kann ein Geist der den Ge set zen der Evo lu ti on un ter wor fen ist sich ei gent lich an ma szligen die Na tur der Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Von die ser Schluss fol ge rung woll te die Bi o lo gie al ler dings bis weit ins 20 Jahr hun dert hi nein nicht viel wis sen

Auch Dar wins The o rie von der na tuumlr li chen Se lek ti on der Le be we sen im Rin gen um ihr Le ben und mit der Um welt ent-wi ckel te sich wei ter Ge witz ten Zeit ge nos sen wie Karl Marx (1818 ndash 1883) war auf ge fal len wie stark Dar wins Den ken dem Zeit geist des Vik to ri a ni schen Zeit al ters ver haf tet war raquoEs ist merk wuumlr dig wie Dar win un ter Bes ti en und Pfan zen sei ne eng li-sche Ge sell schaft mit ih rer Tei lung der Ar beit Kon kur renz Auf-schluss neu er Maumlrk te rsaquoEr fin dun genlsaquo und Malt hus schem rsaquoKampf ums Da seinlsaquo wie der er kenntlaquo8 Die Be to nung des Malt hus rsquoschen 8

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Kamp fes von je dem ge gen je den und auch der Fort schritts glau-be in Dar wins Den ken zei gen ihn stark sei ner Zeit ver haf tet

Eine an de re Kri tik kam aus der Bi o lo gie selbst Dar win hat-te noch nichts von Ge nen ge wusst So konn te er nicht er klauml ren was sich bi o che misch er eig ne te wenn Ar ten sich ver aumln der ten Der raquoDar wi nis muslaquo der Jahr hun dert wen de gab schlieszlig lich die Hoff nung auf die Evo lu ti on lie szlige sich al lein durch die na tuumlr li-che Se lek ti on der Ar ten nach Maszlig ga be ih rer An pas sungs fauml hig-keit an die Um welt be gruumln den Man ent deck te die Rol le der Ge-ne tik und zum neu en Er klauml rungs prin zip wur de das Mo dell der zwei Kons t ruk teu re Das Spiel des Le bens er hielt ei nen Wuumlr fel zu faumll li ge Ver aumln de run gen im Gen ma te ri al also so ge nann te Mu tashyti o nen Im Tri alshyandshyEr ror-Ver fah ren ent ste hen im Erb gut ge le-gent lich Ab wei chun gen die dann er folg reich sind wenn sie sich in der Um welt be waumlh ren Da mit war die Idee vom Tisch dass sich neu er wor be ne Ei gen schaf ten oder raquodie ana to mi schen Aus-wir kun gen koumlr per li cher An stren gun genlaquo wie La marck mein te ver er ben koumlnn ten Noch Dar win hat te dies fuumlr denk bar ge hal ten So ver trau te er Er zaumlh lun gen wo nach bei je nen Volks grup pen zu de ren Ri ten die re gel mauml szligi ge Be schnei dung der Pe nis vor haut ge houmlrt sich die Vor haut all maumlh lich ver kuumlrz te Das haumlt te zwar die Be schnei dung uumlber fuumls sig ge macht aber Dar win hat te ge ra-de an de res Ge wich ti ges zu be den ken als da ruuml ber nach zu sin nen

Die Ver kuumlr zung der Vor haut blieb im Wis sens schatz der Dar wi nis ten bis Au gust Weis mann (1834 ndash 1914) im spauml ten 19 Jahr hun dert nach wies dass ein sol cher In for ma ti ons fuss vom aumlu szlige ren Er schei nungs bild zum Erb ma te ri al nicht moumlg lich sei Uumlber fuumlnf Ge ne ra ti o nen kuumlrz te Weis mann ei nem Stamm von Maumlu sen ihre Schwaumln ze ohne dass eine Nach richt uumlber die sen Ein griff die Keim bah nen der Maumlu se er reich te Denn sie he da Auch die Schwaumln ze der nach fol gen den Maumlu se ge ne ra ti o nen blie-ben gleich lang Da be durf te es schon der Spitz fin dig keit des iri schen Dich ters George Bern ard Shaw (1856 ndash 1950) der Weis-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 419783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 41 10082021 10493410082021 104934

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manns schnei den de Wi der le gung der La marckrsquo schen The o rie leicht fer tig vom Se zier tisch wisch te Die Maumlu se be merk te der Dich ter haumlt ten gar kei ne An stren gun gen un ter nom men ihre Schwaumln ze zu ver lie ren waumlh rend sich die Tie re bei La marck ja da rum be muumlht haumlt ten sich zu ver aumln dern

Im Nach hi n ein also war es der pauml da go gi sche Op ti mis mus der La marck in die Irre ge fuumlhrt ha ben soll te So mach te die Hoff-nung auf ei nen ethisch an spre chen den E vo lu ti ons ver lauf ndash die Er war tung die Mensch heit ent wick le sich qua An pas sung an das so zi a le Mi li eu durch Selbst er zie hung zum Bes se ren ndash nur noch eine et was ab sei ti ge Kar ri e re im staats so zi a lis ti schen Bi o lo gie-un ter richt der Sow jet u ni on Wie kalt da ge gen der uumlber le ge ne raquoKampf ums Da seinlaquo der ja ein Kampf um die Fleisch toumlp fe ist ohne Hoff nung der Mensch wer de den kuumlh nen Geist statt sei-nes ma te ri a lis ti schen Gier hal ses nach Houml he rem stre cken Und ein zig die Kir che be wahr te un ver dros sen ei nen la marc kis ti schen Ge dan ken ndash al ler dings ei nen pes si mis ti schen und kei nen op ti-mis ti schen In bes ter Schuumlt zen hil fe fuumlr den fran zouml si schen Che-va li er ver tei digt sie bis heu te ihr mo le ku lar ge ne tisch be denk li-ches Dog ma Adams Un ge hor sam im Gar ten Eden habe zu ei ner raquoErb suumln delaquo ge fuumlhrt die da rauf hin auf alle zu kuumlnf ti gen Ge ne ra-ti o nen uumlber ge gan gen sei

Im mer hin sind in den bei den letz ten Jahr zehn ten ei ni ge Bi o-lo gen wie der et was of fe ner da fuumlr ge wor den der Ver er bung er-wor be ner Ei gen schaf ten ei nen Platz in der Ge ne tik zu las sen Zwar ver er ben sich psy chi sche und phy si sche Le bens er fah run-gen nicht durch ver aumln der te Gene Aber es koumlnn te doch sein dass jene Schal ter die da ruuml ber be stim men wel che ge ne ti sche In for-ma ti on wei ter ge ge ben wird und wel che nicht durch Um welt-ein fuumls se ver aumln dert wer den Uumlber le gun gen wie die se be schaumlf ti-gen so ge nann te Epi gen eti ker seit ei ni ger Zeit sie ha ben ei nen wach sen den Ein fuss auf un se re Vor stel lung von der Evo lu ti on

Die heu ti ge Leit dis zip lin die uns die Ver wandt schaft des Le-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 429783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 42 10082021 10493410082021 104934

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bens ent schluumls seln soll ist die Ge ne tik Wir un ter su chen die Sum-me al ler ge ne ti schen In for ma ti o nen und re gist rie ren da bei Uumlber-ein stim mun gen und Ab wei chun gen mit an de ren Ar ten Doch der Pro zess die Na tur un se rer Na tur zu er ken nen ist noch lan ge nicht ab ge schlos sen und wird wohl auch nie ab ge schlos sen sein Wir wen den Ord nungs sche ma ta auf The o ri en und The o ri en auf Be ob ach tun gen an Nur so kom men wir zu Kau sa li tauml ten und Ge-set zen Doch ihre Be deu tung ver aumln dert sich in dem Maszlige wie wir den Blick punkt un se rer Auf merk sam keit wie der ver la gern Die ser Vor gang des Ent dec kens und des Ver de ckens durch neue Denk sche ma ta ist prin zi pi ell nicht ab schlieszlig bar denn selbst ge-gen waumlr ti ge Evo lu ti ons the o ri en un ter lie gen wei ter hin der Evo-lu ti on

Er staun li cher wei se hat die mo der ne Evo lu ti ons the o rie nur zu ei ner ge ring fuuml gi gen Kor rek tur al ter Denk sche ma ta ge fuumlhrt Wie fruuml her in der Na tur ge schich te er ken nen wir heu te in der Bi o lo gie uumlber all Re gel haf tigk eit Not wen dig keit und Vor tei-le Doch bei nauml he rer Sicht er weist sich die Evo lu ti on ge ra de zu als Herr schafts ge biet der Aus nah men uumlber die Re geln Sie ist eine raquoZweck mauml szligig keit ohne Zwecklaquo wenn auch al lein fuumlr die 01 Pro zent der heu te noch ndash oder ge ra de ndash exis tie ren den Spe-zi es nicht aber fuumlr die 999 Pro zent die in den Ur fu ten dem Ord ovizium dem Perm der Krei de oder dem Ter ti aumlr das Welt-li che seg ne ten E vo lu ti ons bi o lo gen su chen in der Ge schich te der Na tur uumlber all nach Vor tei len die das Uumlber le ben von Ar ten er-klauml ren sol len Da bei ver men gen sie oft zwei ver schie de ne Vor-teils be grif fe Ein mal geht es um Mu ta ti o nen die si tu a tiv vor teil-haf te Ei gen schaf ten fuumlr eine Tier art her vor ge bracht ha ben sol len Eine grouml szlige re Sta tur ein pom pouml se res Ge weih ein staumlr ke res Ge biss sol len Weib chen be ein dru cken und die Nach kom men schaft er-houml hen Da die se Ei gen schaf ten aber oft nichts nuumlt zen wenn der Zu fall die Spiel re geln der Um welt aumln dert gibt es ei nen zwei ten Vor teils be griff Da nach ist das vor teil haft in der Evo lu ti on was

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 439783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 43 10082021 10493410082021 104934

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vom Ende her be trach tet dazu ge fuumlhrt hat dass eine Art uumlber-lebt Nach die ser Sicht wei se kann der mick rigs te Pa vi an auf dem Fel sen sei ne Gene wei ter ge ben wenn die staumlr ke ren Kon kur ren-ten bei ei nem Erd be ben ums Le ben ge kom men sind

An ge sichts zwei er so un ter schied li cher Be deu tun gen von raquoVor teillaquo fragt es sich ob der Be griff in der Evo lu ti ons the o rie uumlber haupt sinn voll ver wen det wer den kann Tat saumlch lich ist er ein Erbe der The o lo gie des 17 und 18 Jahr hun derts die uumlber-all in der Na tur nach der klu gen Ver nunft Got tes such te Dar win kann te die se Tra di ti on gut Als Stu dent ver ehr te er den The o lo-gen Will iam Pa ley (1743 ndash 1805) der na tur kund lich be schla gen die goumltt li che Vo raus sicht auf den neu es ten Stand ge bracht hat te Als Dar win sich von Gott ver ab schie de te und die na tuumlr li che Se-lek ti on er kann te er setz te er uumlber all wo Pa ley raquoGod doeslaquo ge-schrie ben hat te den Satz durch raquoNat ure doeslaquo An Pa leys Vor-stel lung dass die Na tur zweck mauml szligig ein ge rich tet sei und Vor tei le be loh ne hielt Dar win eben so fest wie vie le spauml te re E vo lu ti ons-the o re ti ker

Die Fra ge ist des halb wich tig weil sie zeigt wie eng un se re Vor stel lung von der Na tur bis hi nein in die mo der ne Evo lu ti-ons the o rie von sehr mensch li chen Vor stel lun gen durch setzt ist Statt Vor tei le zu be nen nen wuumlr de es naumlm lich auch aus rei chen zu sa gen dass al les in der Na tur uumlber le ben kann das fuumlr eine Art kei nen toumld li chen Nach teil hat te Ver mut lich uumlber lebt in der Evo lu ti on nicht nur Zweck mauml szligi ges son dern jede Ver aumln de rung die zu min dest nicht zum Aus ster ben fuumlhr t und moumlg li cher wei se liegt ge ra de hie rin der Grund fuumlr eine gro szlige Ar ten viel falt

Die tra di ti o nell ver eng te Sicht wei se gilt ins be son de re bei der Be trach tung des Men schen E vo lu ti ons bi o lo gen koumln nen zahl-rei che Vor tei le be nen nen die er klauml ren wa rum die mensch li che Art so er folg reich ist Men schen sind aumlu szligerst an pas sungs fauml hig und be sie deln fast alle Le bens raumlu me sie sind Al les fres ser mit ei ner gro szligen Nah rungs band brei te sie ha ben eine fe xib le So zi-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 449783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 44 10082021 10493410082021 104934

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al struk tur und ver fuuml gen uumlber ein Selbst be wusst sein das es ih-nen er moumlg licht ihr Ver hal ten zu kor ri gie ren So ge se hen ist der Mensch gleich sam das op ti mal ste al ler Tie re Doch alldem zum Trotz exis tie ren Men schen der Gat tung Homo sap iens erst seit rund 100 000 Jah ren und ihre lang fris ti gen Zu kunfts chan cen ste hen schlecht Denn mit all den vor teil haf ten Ei gen schaf ten ha-ben Men schen in Re kord zeit ihre Um welt zer stoumlrt und das lang-fris ti ge Uumlber le ben der Spe zi es dra ma tisch in fra ge ge stellt Die mit we ni ger spek ta ku lauml ren Vor tei len aus ge stat te ten Di no sau ri-er exis tier ten auf un se rem Pla ne ten hun dert fuumlnf zig Mil li o nen Jah re ganz zu schwei gen von den seit uumlber vier hun dert Mil li o-nen Jah ren na he zu un ver aumln der ten Nau til iden und Ur schne cken

Ge si chert in der Evo lu ti ons the o rie ist dass kei ne ih rer An nah-men ge si chert ist E vo lu ti ons bi o lo gen die ihre Sa che ernst neh-men muumls sen im mer auch die E vo lu ti ons be dingt heit ih res ei ge-nen Er kennt nis ap pa rats ref ek tie ren also mit hin die Evo lu ti on al ler mensch li chen Er kennt nis raquoLetzt lich istlaquo wie der Neuro bio-lo ge Ger hard Roth schreibt raquoje des Nach den ken uumlber die ob jek-ti ve Re a li taumlt sei es wis sen schaft lich oder nicht an die Be din gun-gen mensch li chen Den kens Spre chens und Han delns ge bun den und muss sich da rin be waumlh renlaquo9

Man muss ref ek tie ren dass die un ver meid li chen Ord nungs-mit tel des Geis tes das Den ken und die Spra che nicht die Wirk-lich keit raquoan sichlaquo auf raumlu men Sie sind Mo del le die die un ver-fuumlg ba re Wirk lich keit nach Maszlig ga be der ei ge nen Spiel re geln er klauml ren Nicht erst seit Er for schung der Evo lu ti on in den letz-ten zwei hun dert Jah ren muumlht sich der mensch li che Geist dem Lauf der Welt ei nen ndash nach mensch li chem Er mes sen ndash raquover nuumlnf-ti genlaquo Sinn zu ge ben Doch das Pa ra do xe der Ge schich te liegt da rin dass der mensch li che Geist selbst Pro dukt evo lu ti o nauml rer Pro zes se ist Er ist Maszlig stab und Ge mes se nes zu gleich

An eine tat saumlch lich ob jek ti ve Er kennt nis der Evo lu ti on waumlre nur halb wegs sinn voll zu den ken wenn die Evo lu ti on des Men-9

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 459783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 45 10082021 10493410082021 104934

schen ab ge schlos sen ist und da mit die Stu fe der groumlszligt moumlg li chen Voll kom men heit er reicht hat In den Zei ten vor La marck und Dar win ha ben das nicht nur The o lo gen son dern auch die Na tur-for scher fast al le samt ge glaubt Das mensch li che Be wusst sein sei die un uuml ber trof fe ne Spit zen leis tung des Schoumlp fer got tes ge schaf-fen die Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Sei nen schoumlns-ten Aus druck fand die se Sicht in ei nem Aus spruch des jun gen Phi lo so phen Fried rich Wil helm Jo seph Schel ling (1775 ndash 1854) Er mein te dass der Mensch je nes We sen sei raquoin dem die Na tur das Auge auf schlaumlgtlaquo und sich da mit ih rer selbst be wusst wird Ein huumlb scher Satz aber doch viel zu pa the tisch for mu liert Von der vol len Er kennt nis der Na tur und un se rer selbst sind wir noch im mer weit ent fernt Aber wir koumln nen da ruuml ber stau nen dass die Evo lu ti on mit uns ein Le be we sen her vor ge bracht hat in dem die Na tur sich fuumlr sich selbst fa szi nier bar ge macht hat Wie hat te es dazu kom men koumln nen

bull Der Pri mat Was ist ein Mensch

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 469783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 46 10082021 10493410082021 104934

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ver waist sein Die Mensch heit wird er wacht sein und die Welt je-nes Ge sicht er hal ten ha ben das uns ge gen waumlr tig er scheint Doch wie sah das aus als die Na tur das ers te Mal in ei nem af fen aumlhn-li chen We sen die Au gen auf schlug War es auf ei ner Wald wie-se in ei nem Hain an ei nem Berg hang oder auf ei ner Lich tung War das er leuch te te We sen ein Maumlnn chen oder ein Weib chen Ging es den gan zen Tag auf recht oder saszlig es noch ger ne in der Ho cke eng ge kau ert an sei ne Bruuml der und Schwes tern Und war es eine Ein ge bung ein Blitz schlag als das Selbst be wusst sein das ers te Mal die Fes seln des Pri ma ten ge hirns spreng te

Wir wis sen nicht wo ran Schel ling dach te als er mein te die Na tur habe im Men schen ihr Auge auf ge schla gen Si cher dach te er nicht an ei nen ein zi gen Mo ment dem Mil li o nen an de re folg-ten Er dach te an den raquoMen schen an sichlaquo Und er wuss te nichts vom ost af ri ka ni schen Great Rift Val ley und von haa ri gen Vor-men schen die dort einst haus ten Er leb te in Jena und in Muumln-chen und ei nen Men schen af fen hat te Schel ling nie ge se hen Der ein zig ar ti ge Mo ment in dem die Na tur sich ih rer selbst be wusst wird bleibt eine Me ta pher

Doch wie wur de der Mensch nun tat saumlch lich zum Men-schen Die For mu lie rung ist dop pel deu tig Denn wie der Mensch zum Men schen wur de ndash das ist nicht ein evo lu ti o nauml rer Pro-zess auf der lee ren Welt buumlh ne son dern ein Spiel von Be ob ach-ter und Be ob ach te tem Schau spie ler und Zu schau er Ge schich-te auch Ent wick lungs ge schich te ist nichts Vor ge fun de nes Der Mensch schrieb der fran zouml si sche Phi lo soph JeanshyPaul Sart re (1905 ndash 1980) macht sich selbst wie der Ro man schrift stel ler sei ne Fi gu ren Er ist ge fer tigt aus bi o lo gi schen (ana to mi schen neu ro lo gi schen und phy si o lo gi schen) Be stand tei len zu al ler meist je doch durch jene we nig bi o lo gi schen Weis hei ten mit de nen sich die se Subs tan zen selbst zum raquoMen schenlaquo er ko ren

Das Glei che gilt fuumlr die mensch li che Stam mes ge schich te Auch sie ist zu naumlchst ein mal eine Ge schich te Ihre Ur spruumln ge lie gen im

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 489783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 48 10082021 10493510082021 104935

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al ten Grie chen land als Aris to te les den Men schen und den Af-fen ver wandt schaft lich na he ruumlckt raquoMan che Tie re ste hen zwi-schen Mensch und Vier fuumlszlig ler in ih rem We sen wie Af fen Meer-kat zen und Pa vi a ne hellip Ihr Ge sicht hat vie le Aumlhn lich kei ten mit dem des Men schen Nase und Oh ren glei chen den sei nen und Zaumlh ne hat er auch wie ein Mensch die Vor der zaumlh ne wie die Ba cken zaumlhnelaquo10 Auch Aris to te lesrsquo Schuuml ler The oph rast (ca 370 v Chr ndash ca 288 v Chr) be steht auf der Aumlhn lich keit zwi schen Men schen und Tie ren Er lehnt es so gar ab Fleisch zu es sen oder Tie re zu op fern da man sei ne Ver wand ten nicht ver spei se

Aris to te les und The oph rast stell ten den Men schen zwar ne-ben den Af fen ndash Men schen af fen kann te man noch nicht ndash aber die al ten Grie chen hat ten ihn nur sehr un ge faumlhr zu ei nem Tier un ter Tie ren er klaumlrt Den naumlchs ten Schritt mach te mehr als zwei-tau send Jah re spauml ter Carl von Linneacute An der Zu ge houml rig keit des Men schen zu den Saumlu ge tie ren be stand fuumlr den Schwe den kein Zwei fel die Be haa rung und das Stil len der Jun gen be lehr ten un-miss ver staumlnd lich da ruuml ber Auch die Ver wandt schaft mit Af fen und Men schen af fen stand au szliger Fra ge Hier wa ren es die fa chen Fin ger- und Fuszlig nauml gel statt der Klau en der ab ge spreiz te Dau-men die Greif haumln de die zwei Zit zen der Weib chen und der frei he run ter haumln gen de statt am Un ter leib an lie gen de Pe nis ndash Merk-ma le die groumlszlig ten teils auch schon Aris to te les auf ge fal len wa ren

Doch Linneacute zouml ger te vor der Kon se quenz Haumln de rin gend such-te der got tes fuumlrch ti ge Ana tom nach ei nem Un ter schied zwi schen dem Men schen und den uumlb ri gen von ihm so ge nann ten raquoPri ma-tenlaquo raquoIch ver lan gelaquo schrieb er 1747 sei nem deut schen Freund Jo hann Ge org Gme lin raquovon Ih nen und von der gan zen Welt dass Sie mir ein Gat tungs merk mal zei gen hellip auf grund des sen man zwi schen Mensch und Affe un ter schei den kann Ich weiszlig selbst mit aumlu szligers ter Ge wiss heit von kei nemlaquo11

Nach sei nen Kri te ri en haumlt te Linneacute den Men schen zu min dest mit dem Schim pan sen ge mein sam in die sel be Gat tung ein ord-10

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9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 499783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 49 10082021 10493510082021 104935

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nen muumls sen Der Ge dan ke schweb te zeit gleich auch dem Phi lo so-phen JeanshyJacques Rous seau (1712 ndash 1778) vor als er Schim pan-sen Orang-Ut ans und Men schen so gar als Ver tre ter der Spe zi es Mensch an sah Rous seau hat te nie ei nen Men schen af fen ge se-hen Aber die Be rich te die er von Ex pe di ti o nen nach Af ri ka und Suumld ost a si en las lie szligen in ihm kei nen Zwei fel dass die da rin be schrie be nen Men schen af fen raquowe der Tie re noch Goumlt ter son-dern Men schenlaquo sei en12 Fuumlr den Auf klauml rer wa ren Men schen af-fen edle Wil de die von kei ner Zi vi li sa ti on in ih rem fried fer ti gen We sen zer stoumlrt sei en an ders als die Men schen in Eu ro pa Eben-so dach te we nig spauml ter der schot ti sche Sprach for scher James Bur nett Lord Mon boddo (1714 ndash 1799) Auch er be trach te te den Orang-Utan als ei nen Men schen naumlm lich als ei nen raquosprach-losen Wil denlaquo

In ter pre ta ti o nen wie Rous seau sie in Pa ris und Bur nett bald da rauf in Kin card ines hire wag ten wa ren Linneacute im schwe di schen Upp sa la fremd Den Men schen ins Tier reich ein zu ord nen war in den Au gen der stren gen pro tes tan ti schen Kir che Suumln de ge nug und Linneacute zouml ger te den letz ten Schritt zu tun In sei ner Not sor-tier te er 1758 ach sel zu ckend Mensch und Schim pan se in un ter-schied li che Gat tun gen zu sam men ge fasst in der Ord nung der Pri ma ten in der sie auch heu te noch mehr schlecht als recht huumlbsch ge trennt ne ben ei nan der ho cken Homo sap iens der raquoin-tel ligi ble Menschlaquo und Pan trog lody tes der raquohoumlh len be woh nen-de Faunlaquo

So weit so schoumln Der Mensch wur de der obers te Pri mat das houmlchs te raquoHer ren tierlaquo Linneacute be kam kei nen Aumlr ger mit der Kir-che und die Na tur wis sen schaft den gro szligen Wurf des Linneacute rsquoschen Sys tems Wenn nur die se Nach barn nicht wauml ren Seit Be kannt-wer den der Men schen af fen be muumlh ten sich Wis sen schaft ler und The o lo gen im mer wie der um den Ver such den klei nen Gra ben mit gro szligen Was sern zu fuumll len der Homo sap iens und Pan troshyglody tes bei ih rer ord nungs ge mauml szligen Ver ge sell schaf tung auf der 12

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 509783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 50 10082021 10493510082021 104935

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Af fen in sel trennt Sie eva ku ier ten den Men schen vom Pri ma ten-fel sen und schu fen ihm eine ei ge ne Ord nung

In die ser Vor stel lungs welt wuchs auch der The o lo gie stu dent Charles Dar win auf Das fruuml he 19 Jahr hun dert war eine got-tes fuumlrch ti ge bie der mei er li che Zeit Doch je mehr er sich mit der Ver aumln de rung der Ar ten be schaumlf tig te umso deut li cher wur de Dar win dass es mit der of fi zi ell be kun de ten Son der stel lung des Men schen im Uni ver sum nicht weit her sein konn te So no tier te er schon er staun lich fruumlh in sein Ta ge buch raquoDer Mensch haumllt sich in sei ner Ar ro ganz fuumlr ein groszlig ar ti ges Werk des be son de ren Ein grei fens ei ner Gott heit wuumlr dig Es duumlrf te be schei de ner und wie ich glau be auch rich tig sein ihn als aus den Tie ren ent stan-den an zu se henlaquo13

Dar win hat te den noch zwoumllf Jah re ge zouml gert bis er sich schlieszlig lich ge trau te nach der all ge mei nen Dar stel lung ei ner Evo-lu ti ons the o rie im Jahr 1859 sei ne Schluss fol ge run gen in Be zug auf den Men schen in Druck zu ge ben Die Ab stam mung des Men schen aus dem Jahr 1871 ist ein ge maumlch li ches Buch in ver-soumlhn li chem Ton fall Der Na tur for scher er zaumlhlt da rin wie ein gu-ter al ter Groszlig va ter wo her die Pfan zen die Tie re und die Eng-laumln der kom men Die raquoAb wer tunglaquo des Men schen geht da bei ein her mit ei ner kon ti nu ier li chen raquoAuf wer tunglaquo der Tie re raquoWir ha ben ge se henlaquo schreibt Dar win raquodass die Emp fin dun gen und Ein druuml cke die ver schie de nen Er re gun gen und Fauml hig kei ten wie Lie be Ge daumlcht nis Auf merk sam keit Neu gier de Nach ah mung Ver stand usw de ren sich der Mensch ruumlhmt in ei nem be gin nen-den oder zu wei len selbst in ei nem gut ent wi ckel ten Zu stand bei den nie de ren Tie ren ge fun den wer denlaquo14

La marck und Dar win wa ren die Ers ten die mit Mit teln der mo der nen Na tur wis sen schaft be haup te ten was vie le Kul tu ren und Zei ten schon zu vor re li gi oumls ge ahnt hat ten raquoNa tuumlr lichlaquo ist es ab surd eine Tei lung des Tier reichs in zwei Ka te go ri en vor zu-neh men ndash in eine mensch li che und eine nicht mensch li che Ka-13

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9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 519783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 51 10082021 10493510082021 104935

Page 23: Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen · Leseprobe Professor Dr. Richard David Precht Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen »Fazit:

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Wahr heit zu hal ten Aber die ses Bild hat sich schon oft ver aumln-dert und es wird sich ge wiss noch wei ter ver aumln dern

Men schen nei gen dazu die Welt in der sie le ben auf zu raumlu-men Es ist eine ziem lich art ty pi sche Ver hal tens wei se Wir sor tie-ren die all taumlg li chen Din ge un se res Le bens und eben so sor tie ren wir die Ge dan ken uumlber die Welt die uns um gibt Jede Ord nung auch die der Na tur ist also ein mensch li cher Ent wurf Und al-lem An schein nach ent stand das Be duumlrf nis die Welt zu ord nen in un se rer Ent wick lungs ge schich te pa ral lel zur Ent wick lung der Spra che Denn ohne die kuumlnst li che Auf raumlum ar beit der Spra che waumlre die Vor stel lung von ei ner raquoOrd nung der Schoumlp funglaquo oder der raquoNa turlaquo nicht moumlg lich

Wer auf die Ord nung an ge wie sen ist be wegt sich gern in den si che ren Gren zen ei nes Sys tems Nur in ner halb ei nes sol chen Ord nungs ge fuuml ges fragt man nach Wahr heit und Gel tung Rich-tig keit Me tho de und Be deu tung Zu leicht uumlber sieht der Ord ner dann die kuumlnst li che Be hau sung und die selbst ge zim mer ten Re-ga le in die er die Welt so sorg faumll tig hi nein sor tiert Sel ten ge lingt ihm ein Blick aus dem Fens ter in die un ge wis se Land schaft die ihn um gibt Und nur ein ge wal ti ger Sturm ein Blitz schlag oder eine Er schuumlt te rung zwingt den Ver wal ter der Welt die si che re Wohn statt zu ver las sen und sich ein an de res Haus zu bau en das den An fein dun gen des neu en Kli mas wi der steht

Erst im Ruumlck blick auf die vie len Irr tuuml mer der Ver gan gen heit er ken nen wir dann un se re ei ge ne Un zu laumlng lich keit beim Auf-raumlu men In der Ge gen wart er scheint uns die je wei li ge Ord nung meis tens so selbst ver staumlnd lich dass wir gern uumlber jede Moumlg-lich keit der Ver aumln de rung lauml cheln So ha ben Men schen mit voumll li-ger Ge wiss heit an ge nom men dass die Erde eine Schei be ist und dass Frau en und Skla ven kei ne Rech te zu ste hen Und mit ei nem eben sol chen Lauml cheln be trach ten wir heu te die Gruumln de mit de-nen Men schen sich im Lau fe der Jahr hun der te von den Tie ren zu un ter schei den glaub ten

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 309783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 30 10082021 10493410082021 104934

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Schon die al ten Grie chen ins be son de re Aris to te les (384 v Chr ndash 322 v Chr) ha ben sich fuumlr die Ge schich te und das in vie len De tails ver bor ge ne Sys tem der Na tur in te res siert Er teilt die Tie re in Klas sen ein ver sucht zu er gruumln den was Le ben ist und schafft da mit die Grund la gen der Zo o lo gie Aber Aris to te-les kennt nur we ni ge hun dert Tie re Eine raquovoll staumln di ge Na tur-ge schich telaquo wird das ers te Mal im 18 Jahr hun dert ge schrie-ben ndash und auch sie ist aumlu szligerst un voll staumln dig Seit dem ver fuuml gen wir nicht nur uumlber ei nen rei chen Vor rat an ge dach ten Ord nun-gen von den Schoumlp fungs my then bis hin zur Mo le ku lar bi o lo gie Wir ken nen auch eine Wis sen schaft die sich raquoTax ono mielaquo nennt und jede Pfan ze und je des Tier sys te ma tisch in eine In ven tar liste der Na tur ein traumlgt

Da bei ver ra ten die Denk sche ma ta der Na tur for scher nicht nur et was uumlber die klas si fi zier te Na tur selbst son dern eben so uumlber das Ord nungs be duumlrf nis und die Pfif fig keit des mensch li-chen Geis tes Das 18 Jahr hun dert ist eine Zeit in der das Buumlr-ger tum an die Macht draumlngt und sich zu neh mend ge gen den Adel auf ehnt Sei ne schaumlrfs te Waf fe ist et was das man raquoVer nunftlaquo oder raquoRa ti o na li taumltlaquo nennt und das man ge gen den Glau ben ins Feld fuumlhrt Fuumlr die Phi lo so phen der Ra ti o na li taumlt ist die Welt kei-ne vor ge fun de ne Schoumlp fung mit fes ter Ord nung son dern et was dass man geis tig durch drin gen und auf sei ne Lo gik und Wi der-spruuml che un ter su chen kann Da bei ge ben zu naumlchst die Phy sik und die Ma the ma tik das Sche ma vor nach dem alle Er kennt nis auch jene von Pfan zen und Tie ren funk ti o nie ren soll Die Sys te ma ti-ker der Na tur ge schich te su chen nach un ver ruumlck ba ren Kri te ri en ob jek ti ven Ge setz mauml szligig kei ten und lo gi schen Ver bin dun gen um die un uuml ber sicht li che Welt der Le be we sen ih rer raquowah ren An ord-nunglaquo ge maumlszlig ein zu tei len Aber nicht alle Na tur for scher glau-ben dass ein sol ches Vor ha ben tat saumlch lich ge lin gen kann Man-che hal ten die Na tur fuumlr zu reich hal tig um sie auf die se Wei se zu klas si fi zie ren Welt an schau un gen tref fen auf ei nan der auf der

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ei nen Sei te der Glau be an ein vom Men schen prin zi pi ell voumll lig durch schau ba res Na tur sys tem auf der an de ren Sei te eine un er-gruumlnd li che Schoumlp fung in der der Mensch sich im mer nur tas-tend fort be wegt

Die ers te Va ri an te gilt im 18 Jahr hun dert als der mo der ne-re An satz Man ori en tiert sich da bei an ei nem Ra ti o na lis mus den Reneacute Des car tes (1596 ndash 1650) schon hun dert Jah re zu vor neu be gruumln det hat Die ser Ra ti o na lis mus ori en tiert sich an der Me cha nik Die Schoumlp fung Got tes er scheint als eine ein zi ge klug aus ge tuumlf tel te Ma schi ne die der Mensch Stuumlck fuumlr Stuumlck zu be-herr schen lernt Und das Uni ver sum be steht aus Ma te rie in Be-we gung or ga ni siert nach ma the ma ti schen Ge set zen Ob gleich das 18 Jahr hun dert zent ra le Spe ku la ti o nen des Phi lo so phen wi-der legt ori en tiert es sich in vie lem an Des car tesrsquo me cha nis ti scher Denk wei se Sie tut dies vor zugs wei se in je nen Dis zip li nen de-ren Er kennt nis fort schritt zu naumlchst ge ring bleibt Und nir gend-wo trifft dies in ei nem sol chen Maszlig zu wie bei der Er for schung der bi o lo gi schen Na tur

Doch die ses Welt bild hat prob le ma ti sche Fol gen Wer die Welt kon se quent nach me cha nis ti schen Grund saumlt zen be trach tet hat fuumlr den Be reich der nicht mensch li chen Na tur we nig Ver staumlnd nis Fuumlr Des car tes sind Tie re nichts als Ma schi nen Es macht kei nen Un ter schied ob eine Ma schi ne die aumlu szlige re Ge stalt und die in ne-ren Or ga ne ei nes Af fen hat oder ob es sich da bei tat saumlch lich um ein le ben des Tier han delt Denn relevantes Le ben kommt fuumlr den Den ker nicht durch zir ku lie ren des Blut und Reizempfindungen in den Koumlrper Son dern bedeutsames Le ben ga ran tie ren ein zig und al lein der er leuch te te Geist und sei ne Spra che

Des car tesrsquo Zeit kennt we der den Be griff des raquoOr ga nis muslaquo die Be son der heit des Le bens noch die Evo lu ti on son dern eben nur die Me cha nik Trotz dem ist sei ne The o rie von den Tie ren als see len lo se Au to ma ten im 17 und 18 Jahr hun dert aumlu szligerst um-strit ten Fran zouml si sche Phi lo so phen schrei ben Buch um Buch uumlber

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 329783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 32 10082021 10493410082021 104934

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die Tier-Fra ge und be feh den sich da bei uumlber mehr als hun dert Jah re Noch weiszlig man nichts von ei ner raquoBi o lo gielaquo Man be treibt eine neue Dis zip lin die sich raquoNa tur ge schich telaquo nennt und da-mit auf raumlumt die Ge schich te von Le be we sen als eine wahl lo se Samm lung von Er zaumlh lun gen an zu se hen Bis her schrie ben Au to-ren um stands los von der Fang wei se der Tie re ih rer Ana to mie ih rer bib li schen und al le go ri schen Be deu tung ih rem prak ti schen Ge brauch ih rer Ver meh rung ih ren Stim men und Spra chen ih-ren Be we gun gen ih rem Al ter und von der Sym pa thie oder An-ti pa thie des Ver fas sers Auch Koch re zep te wur den von Fall zu Fall hin zu ge fuumlgt

Ein zo o lo gi sches Sys tem ist zu An fang des 18 Jahr hun derts weit ge hend un be kannt die Ver wandt schafts ver haumllt nis se der Pfan zen und Tie re sind dif fus ge ahnt und wer den eher nach Le-bens raumlu men be stimmt als nach koumlr per li chen Merk ma len Tie re die nachts ja gen ste hen da bei eben so in ei nem Ord nungs ge fuuml ge wie Tie re die fie gen koumln nen im Wald oder in ei nem See le ben Be reits die Pries ter schrift der bib li schen Ge ne sis hat te die Welt der Tie re und Pfan zen nicht nach ana to mi schen Merk ma len un-ter teilt son dern in Be zug auf den Le bens raum Pfan zen und Tie re des Mee res der Luft und der Erde Uumlber mehr als tau send Jah re kann ten auch der Is lam und die Hin dus Ord nungs sys teme die Tie re in ih rem Oumlko sys tem ver an ker ten

In der hin du is ti schen Samk hya-Tra di ti on exis tie ren vier zehn Klas sen un ter schied li cher Le be we sen ein ge teilt in acht For men himm li scher und sechs ir di scher Le be we sen zu de nen auch der Mensch ge houmlrt Als wei te res Un ter schei dungs merk mal dient die Art und Wei se der Ge burt Im gro szligen in di schen Na ti o nal epos aus dem 4 Jahr hun dert dem Ma hab har ata heiszligt es raquoAuf die ser Erde gibt es zwei Ar ten von Le be we sen die Be weg li chen und die Un be weg li chen Die Be weg li chen ha ben ei nen drei fa chen Schoszlig Sie sind aus dem Ei aus feuch ter Hit ze und Le ben dig-Ge bo re ne Von al len be weg li chen Le be we sen wie de rum sind die je ni gen die

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le ben dig ge bo ren sind hellip die bes ten Die bes ten un ter den le ben-dig Ge bo re nen sind die die zum Men schen ge schlecht ge houml ren und die Nutz tie relaquo4

Die neu en Sys te me des 18 Jahr hun derts be frei en die Na tur-ge schich te von al lem was sich mit den Me tho den der Zeit nicht wis sen schaft lich exakt be schrei ben laumlsst Koch re zep te fal len so-wie so un ter den Tisch aber auch man che Ver hal tens be ob ach-tun gen und vor mals wich ti ge Ei gen schaf ten wie zum Bei spiel der Ge ruch Ge forscht wird mit Lupe und Mik ros kop Li ne al und Pin zet te Der wich tigs te Mann auf die sem Ge biet ist der schwe-di sche Na tur for scher Carl von Linneacute (1707 ndash 1778) Er ori en-tiert sich an Aris to te les den er be wun dert nicht an Des car tes Ge ra de zu re vo lu ti o naumlr de mo kra tisch ent wi ckelt der auf ge klaumlr te Schwe de im 18 Jahr hun dert ein be schrei ben des Sys tem der Na-tur frei vom the o lo gi schen Fir le fanz sei ner Zeit Mit der Ak ri bie ei nes Brief mar ken samm lers dem Voll staumln dig keit mehr be deu tet als das Be stau nen ein zel ner Wer te ord net er die be leb te Na tur nach Ar ten Gat tun gen Ord nun gen und Klas sen Vier Va ri ab len die Form der Ele men te ihre An zahl die raumlum li che An ord nung der Ele men te und ihre re la ti ve Grouml szlige be stimm ten von nun an den Platz im Sys tem

Un ter der Leit dis zip lin der Bo ta nik wan delt sich die Na tur ge-schich te in eine ge ord ne te Welt aus Li ni en und Flauml chen Ent schei-dend sind die sicht ba ren Un ter schei dungs merk ma le wie Bluuml ten und Staub ge fauml szlige Blaumlt ter und Fruumlch te Fuumlszlige und Hufe Fe dern und Flos sen So setzt Linneacute fuumlr jede Pfan zen- und Tier klas se jede Ord nung und Gat tung be stimm te Merk ma le fest die er als die wich ti ge ren er ach te t Denn nur un ter der An nah me sol cher pri vi-le gier ter Struk tu ren ist es ihm moumlg lich die ver schie de nen Spe zi es im Ge samt sys tem un miss ver staumlnd lich zu ras tern Der mensch li che Ord ner be schreibt also nicht ein fach die be leb te Na tur Er fuumlgt ihr auch et was hin zu die Ent schei dung naumlm lich was in der For men-viel falt der Le be we sen wich ti ge Merk ma le sind und was nicht4

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Wie alle da ma li gen Na tur for scher nimmt Linneacute an dass die Ein tei lun gen die der mensch li che Ver stand macht tat saumlch lich ei ner ob jek ti ven Ord nung der Na tur ent spre chen Doch Lin neacutes Sys tem ist wie er selbst weiszlig nicht raquona tuumlr lichlaquo Sei ne Struk tu ren sind kei ne die er in der Na tur als Un ter schei dungs kri te ri en vor-fin det Denn was sich am Schreib tisch nun muumlh sam in Ord nun-gen pres sen laumlsst liegt wie der fran zouml si sche Na tur for scher Mishychel Adan son (1727 ndash 1806) fest stellt in der Wild nis wie Kraut und Ruuml ben durch ei nan der raquohellip eine kon fu se Mi schung aus We-sen hellip die der Zu fall ei nan der an ge nauml hert zu ha ben scheint Hier wird das Gold mit ei nem an de ren Me tall mit ei nem Stein oder mit Erde ge mischt Dort waumlchst die Ei che ne ben dem Veil chen Un ter die sen Pfan zen ir ren eben falls der Vier fuumlszlig ler das Rep til und das In sekt um her Die Fi sche mi schen sich so zu sa gen mit dem waumlss ri gen Ele ment in dem sie schwim men und mit den Pfan zen die auf dem Grun de der Ge waumls ser wach sen hellip Die se Mi schung ist so gar so all ge mein und so viel faumll tig dass sie ei nes der Na tur ge set ze zu sein scheintlaquo5

Der Wi der spruch zwi schen ei ner tax ono mi schen und ei ner oumlko lo gi schen Ord nung der Na tur ist of fen sicht lich Er fin det sich noch heu te in der Dis kus si on um die Aumls the tik von Zoo an la gen Soll man die Tie re nach Ver wandt schafts ver haumllt nis sen sam meln also in Raub tier haumlu sern An ti lo pen haumlu sern und Hirsch an la gen so dass der Be su cher zwi schen den ana to mi schen Be son der hei-ten der Ar ten ndash mit un ter so gar den ge o gra fi schen Va ri an ten ei ner ein zi gen Art ndash zu un ter schei den lernt Oder ge waumlhrt die Nach-ge stal tung ei nes Na tur bi o tops ei ner af ri ka ni schen Sa van ne oder ei nes al pi nen Pa no ra mas den wich ti ge ren Ein blick in die Ord-nung der Na tur

Zwar steht fuumlr Linneacute und sei ne Kol le gen fest dass die raquowah-re Ord nunglaquo der Na tur sich an den koumlr per li chen Merk ma len zu ori en tie ren hat doch muss eine Er klauml rung da fuumlr ge fun den wer-den wa rum die se Ord nung in der frei en Na tur nicht von al lein 5

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sicht bar wird Ohne Zwei fel ist das Sys tem der Na tur kei ne zeit-lo se Schoumlp fung son dern durch Ver aumln de run gen ge kenn zeich net die sich in der Erd ge schich te er eig net ha ben Pa ral lel meh ren sich die Fun de von Fos si li en also von Tie ren die mut maszlig lich aus-ge stor ben sind Es hat al lem An schein nach grouml szlige re ge o lo gi sche Ka tast ro phen in un be kann ter Zahl ge ge ben de nen vie le Ar ten zum Op fer ge fal len sind Doch ha ben die se De sas ter auch zur Ent ste hung von neu en For men ge fuumlhrt

Um den Fak tor der Zeit und sei ne Fol gen fuumlr das Sys tem der Na tur ein zu schaumlt zen gibt es vie le Moumlg lich kei ten Die ein fachs te und mensch lichs te al ler zeit li chen Ord nungs vor stel lun gen ist die Idee al les fol ge ei nem Plan und sei auf ein Ziel hin aus ge rich-tet (Te le o lo gie) Re li gi o nen Phi lo so phi en und Ide o lo gi en funk-ti o nie ren na he zu al le samt ziel ge rich tet Es geht um ein bes se res Le ben auf Er den im Jen seits in ei nem ge rech ten Staat um die Herr schaft uumlber die an de ren uumlber die Pro duk ti ons mit tel oder das Boumlse Selbst un ser All tag ge stal tet sich weit ge hend te le o lo-gisch durch traumlnkt von zu kuumlnf ti ger Er war tung Mo tor jed we-der Te le o lo gie ist der Fort schritts ge dan ke Sein ima gi nauml res Ziel ist der voll kom me ne Zu stand So glau ben christ lich-abend laumln-di sche Ge sell schaf ten gern an eine staumln di ge Ver bes se rung durch An stren gung eine Tu gend die nach cal vi nis ti scher Tra di ti on im Him mel wie auf Er den von Gott ma te ri ell ent lohnt wird Wie na he lie gend also auch in der Na tur die Ent ste hung raquohouml he rerlaquo Le bens for men durch Fort schritt er ken nen zu wol len mit dem End ziel des Men schen

Die Un ord nung der Schoumlp fung mit ei nem goumltt li chen Fort-schritts plan in Ein klang zu brin gen ist das Le bens werk des Schwei zer Na tur for schers und Phi lo so phen Charles Bon net (1720 ndash 1793) Fuumlr Bon net ist die Zahl der Ar ten und ihre aumlu-szlige re Ge stalt von Gott ein fuumlr al le Mal fest ge legt Doch kann sich ein je des Le be we sen per fek ti o nie ren Der Weg vom simp-len Ge muumlt zur ge ni a li schen Leis tung ist vom Schoumlp fer vor ge-

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zeich net Und alle Tie re be schrei ten ihn zeit lich ver setzt nach dem glei chen Mus ter das der Mensch ih nen vor ge lebt hat raquoEs wird ei nen mehr oder we ni ger lang sa men und kon ti nu ier li chen Fort schritt al ler Ar ten zu ei ner houml he ren Ver voll komm nung ge-ben so dass alle Gra de der Stu fen lei ter in ei ner de ter mi nie ren den und kons tan ten Be zie hung fort ge setzt va ri a bel sein wer den hellip Es wird un ter den Af fen Leu te wie New ton und un ter Bi bern wie (den Fes tungs bau meis ter RDP) Vau ban ge ben Die Aus-tern und die Po ly pen wer den in Be zie hung zu den houmlchs ten Ar-ten das sein was die Vouml gel fuumlr die Vier fuumlszlig ler im Ver haumllt nis zum Men schen sindlaquo6

Seit Bon net ist die Vor stel lung von der raquoLei ter der Na turlaquo der Sca la nat urae ein wich ti ges In ven tar des na tur ge schicht-li chen Den kens Fort schritt Ver voll komm nung und goumltt li cher Plan ndash die se drei Grouml szligen be stim men die Vor stel lung vom Wer-den der Na tur vom 18 Jahr hun dert bis in die Ge gen wart hi nein Das Prin zip nach dem die Evo lu ti on Le ben her vor bringt sei un ver meid lich und von An fang an vor her be stimmt Nicht we-ni ge E vo lu ti ons the o re ti ker ha ben dies eben falls ge glaubt und zwar mit be acht li cher Kon ti nu i taumlt Der eng li sche Na tur for scher Alf red Rus sel Wall ace (1823 ndash 1913) der ge mein sam mit Dar win die The o rie der na tuumlr li chen Se lek ti on ent wi ckelt hat te hielt nicht nur den mensch li chen Geist und sein Mo ral emp fin den son dern zu dem auch die wei che nack te emp find sa me Haut des Men-schen fuumlr das Re sul tat ei ner not wen di gen Ent wick lung

Doch schon im 18 Jahr hun dert reg ten sich zu gleich vor sich-ti ge Zwei fel an der Stim mig keit ei ner sol chen Vor ge formt heit Denn wie soll te man Na tur ka tast ro phen be wer ten Waumlh rend die meis ten Na tur for scher sie als Teil des goumltt li chen Schoumlp-fungs plans in ter pre tier ten zo gen an de re ver gleichs wei se fins te-re Schluumls se Und so wur de tat saumlch lich ein gro szliges Erd be ben zum in di rek ten Aus louml ser der Evo lu ti ons the o rie naumlm lich je nes von Lis sa bon im Jahr 1755 Wer uumlber die Ka tast ro phe nach dach te 6

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 379783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 37 10082021 10493410082021 104934

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konn te star ken Zwei fel da ran he gen dass die Welt ord nung aus-ge kluuml gelt und har mo nisch sei

Die wei test rei chen den Schluss fol ge run gen zog der eng li-sche Pfar rer und Na ti o nal oumlko nom Tho mas Ro bert Malt hus (1766 ndash 1834) Nicht nur die ge o lo gi sche Na tur und ihr Ge-fah ren ri si ko son dern auch die Ver meh rung der Be voumll ke rung wur de nun als Uumlbel er kannt Im Jahr 1798 pub li zier te Malt-hus sei nen Es say on the Princi ple of Po pu la ti on (Das Be voumllshyke rungs ge setz) die ers te Mahn schrift vor den Ge fah ren ei ner Be voumll ke rungs ex plo si on Bei ei ner Ver dop pe lungs ra te der Welt-be voumll ke rung in ner halb von fuumlnf und zwan zig Jah ren er rech ne-te Malt hus wer de ihr exponent iel les An wach sen auf grund der von der Um welt ge setz ten Gren zen not wen dig zu Ar mut Ka-tast ro phen und Tod fuumlh ren Der bib li sche Auf trag raquoSeid frucht-bar und meh ret euchlaquo er schien mit ei nem Mal als ein Fluch Ein gna den lo ser raquoKampf ums Da seinlaquo (strugg le for life) war ent fes selt Das Ein zi ge was blieb war die Hoff nung die ka-tast ro pha len Fol gen der goumltt li chen An wei sung so weit wie moumlg lich ein daumlm men zu koumln nen

In ei ner Zeit als die Ge sell schafts the o rie noch der Bi o lo-gie den Leuch ter vo ran und nicht wie heu te die Schlep pe hin-terh er traumlgt be geis tert sich vor al lem ein eng li scher Dorf pfar rer Charles Dar win (1809 ndash 1882) fuumlr die Malt hus rsquoschen Ge set ze Denn wenn es rich tig ist dass sich ein Tier mit ei ner so ge rin-gen Ver meh rungs ra te wie der Mensch ge gen uumlber sei nen Art ge-nos sen durch setz te so gab es sicht lich an de re Kri te ri en fuumlr die Uumlber le bens fauml hig keit ei ner Po pu la ti on als die Zahl ih rer Ge bur-ten Der Maszlig stab fuumlr den Er folg ei ner Spe zi es war ihr Durch set-zungs ver mouml gen oder wie Dar win es spauml ter in den Prin zi pi en der Bio logie des jun gen Phi lo so phen Her bert Spen cer (1820 ndash 1903) le sen konn te raquothe sur vi val of the fit testlaquo

Dar wins na tur kund li che Stu di en wa ren ur spruumlng lich von dem Ge dan ken be seelt die nicht a ni ma li sche Iden ti taumlt des Men schen

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zu be wei sen Erst der Sieg des Ent de cker stol zes uumlber das Ent-set zen ver lieh ihm schlieszlig lich den Mut den be ruumlhm ten Satz zu schrei ben raquoUnd ich bin bei na he uumlber zeugt (der Mei nung mit der ich an die Fra ge he ran ge tre ten bin voumll lig ent ge gen ge setzt) dass die Spe zi es (mir ist es als ge staumln de ich ei nen Mord ein) nicht un ver aumln der lich sindlaquo7

Dar wins kuumlh ne Ver mu tung war nicht ganz neu Be reits ein hal bes Jahr hun dert zu vor hat ten der fran zouml si sche Na tur for scher GeorgesshyLou is Lec lerc Comte de Buf fon (1707 ndash 1788) und der Phi lo soph De nis Dide rot (1713 ndash 1784) uumlber eine Ver aumln de-rung der Ar ten spe ku liert Be son ders JeanshyBap tiste de La marck (1744 ndash 1829) be haup te te die all maumlh li che Ent wick lung der Ar-ten aus pri mi ti ve ren Vor for men die so ge nann te Trans mu ta ti on La marck war nicht nur ein Pi o nier der mit Jahr mil li o nen han-tier te als alle Welt die Erde noch ei ni ge tau send bis hun dert tau-send Jah re jung waumlhn te son dern er praumlg te (zur glei chen Zeit wie zwei deut sche Na tur for scher) das Wort Bi o lo gie Bei ihm wan del ten sich die Le be we sen da durch dass sich ihre koumlr per-li chen An stren gun gen auf ihr Erb gut aus wir ken Da bei nahm er al ler dings nicht an dass die Ar ten aus ei nan der her vor ge hen wie Dar win es spauml ter tat La ma rcks The o rie ist nauml her an je ner von Bon net Fuumlr ihn ver voll komm nen die ein zel nen Tier ar ten im Lau fe der Zeit ihre An la gen und ent wi ckeln sich da durch im-mer houml her Be son ders voll kom me ne Tie re wie der Mensch sind dem nach sehr alt denn sie ha ben ei nen wei ten Weg von ei nem pri mi ti ven Or ga nis mus bis hin zur heu ti gen Ge stalt hin ter sich ge las sen An de re wie der pri mi ti ve Suumlszlig was ser po lyp ha ben ihre Rei se durch die Zeit ge ra de erst an ge fan gen

La marck war kein Charis mati ker und die zo o lo gi sche All-macht sei nes Vor ge setz ten am Jar din des Plan tes in Pa ris des Ba rons George Cu vier (1769 ndash 1832) ver hin der te dass man sich all zu sehr mit sei nen The o ri en be schaumlf tig te Cu vier war ein be-deu ten der Mann An die Stel le ei ner nach bo ta ni schem Mus ter 7

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ver fah ren den Zo o lo gie setz te er eine neue Wis sen schaft die sich we ni ger an aumlu szlige ren Merk ma len als am Or ga nis mus der Tie-re ori en tier te Doch was die Trans mu ta ti on an be lang te blieb der Ober auf se her der pro tes tan tisch-the o lo gi schen Fa kul tauml ten Frank reichs beim kon ser va ti ven Mo dell Er ver brei te te wei-ter hin eine Ket te von Na tur ka tast ro phen habe als mo di fi zier-te Sint fu ten gan zen Klas sen von Tie ren den Gar aus ge macht Die se The o rie ist weit ge hend rich tig al ler dings schlieszligt sie die Trans mu ta ti on nicht aus

Das wirk lich Re vo lu ti o nauml re an La marck war die Idee die Ge schich te der Na tur nicht vom Men schen aus bis hi nun ter zur Bak te rie zu schrei ben son dern um ge kehrt von der Bak te rie zum Men schen Aus ei nem Mo dell der raumlum li chen Hie rar chie wur de ein Mo dell der zeit li chen Ent wick lung La marck er kann te zu-dem dass das Be wusst sein ei nes Tie res an die Phy si o lo gie und Neu ro lo gie sei nes Koumlr pers ge bun den ist Dem nach ist je der Geist ers tens be grenzt und zwei tens ver aumln der lich

Die phi lo so phi sche Kon se quenz aus La ma rcks Den ken ist so ra di kal dass sie fast ein hun dert fuumlnf zig Jah re lang von nie man-dem ernst haft in Be tracht ge zo gen wur de Wie kann ein Geist der den Ge set zen der Evo lu ti on un ter wor fen ist sich ei gent lich an ma szligen die Na tur der Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Von die ser Schluss fol ge rung woll te die Bi o lo gie al ler dings bis weit ins 20 Jahr hun dert hi nein nicht viel wis sen

Auch Dar wins The o rie von der na tuumlr li chen Se lek ti on der Le be we sen im Rin gen um ihr Le ben und mit der Um welt ent-wi ckel te sich wei ter Ge witz ten Zeit ge nos sen wie Karl Marx (1818 ndash 1883) war auf ge fal len wie stark Dar wins Den ken dem Zeit geist des Vik to ri a ni schen Zeit al ters ver haf tet war raquoEs ist merk wuumlr dig wie Dar win un ter Bes ti en und Pfan zen sei ne eng li-sche Ge sell schaft mit ih rer Tei lung der Ar beit Kon kur renz Auf-schluss neu er Maumlrk te rsaquoEr fin dun genlsaquo und Malt hus schem rsaquoKampf ums Da seinlsaquo wie der er kenntlaquo8 Die Be to nung des Malt hus rsquoschen 8

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Kamp fes von je dem ge gen je den und auch der Fort schritts glau-be in Dar wins Den ken zei gen ihn stark sei ner Zeit ver haf tet

Eine an de re Kri tik kam aus der Bi o lo gie selbst Dar win hat-te noch nichts von Ge nen ge wusst So konn te er nicht er klauml ren was sich bi o che misch er eig ne te wenn Ar ten sich ver aumln der ten Der raquoDar wi nis muslaquo der Jahr hun dert wen de gab schlieszlig lich die Hoff nung auf die Evo lu ti on lie szlige sich al lein durch die na tuumlr li-che Se lek ti on der Ar ten nach Maszlig ga be ih rer An pas sungs fauml hig-keit an die Um welt be gruumln den Man ent deck te die Rol le der Ge-ne tik und zum neu en Er klauml rungs prin zip wur de das Mo dell der zwei Kons t ruk teu re Das Spiel des Le bens er hielt ei nen Wuumlr fel zu faumll li ge Ver aumln de run gen im Gen ma te ri al also so ge nann te Mu tashyti o nen Im Tri alshyandshyEr ror-Ver fah ren ent ste hen im Erb gut ge le-gent lich Ab wei chun gen die dann er folg reich sind wenn sie sich in der Um welt be waumlh ren Da mit war die Idee vom Tisch dass sich neu er wor be ne Ei gen schaf ten oder raquodie ana to mi schen Aus-wir kun gen koumlr per li cher An stren gun genlaquo wie La marck mein te ver er ben koumlnn ten Noch Dar win hat te dies fuumlr denk bar ge hal ten So ver trau te er Er zaumlh lun gen wo nach bei je nen Volks grup pen zu de ren Ri ten die re gel mauml szligi ge Be schnei dung der Pe nis vor haut ge houmlrt sich die Vor haut all maumlh lich ver kuumlrz te Das haumlt te zwar die Be schnei dung uumlber fuumls sig ge macht aber Dar win hat te ge ra-de an de res Ge wich ti ges zu be den ken als da ruuml ber nach zu sin nen

Die Ver kuumlr zung der Vor haut blieb im Wis sens schatz der Dar wi nis ten bis Au gust Weis mann (1834 ndash 1914) im spauml ten 19 Jahr hun dert nach wies dass ein sol cher In for ma ti ons fuss vom aumlu szlige ren Er schei nungs bild zum Erb ma te ri al nicht moumlg lich sei Uumlber fuumlnf Ge ne ra ti o nen kuumlrz te Weis mann ei nem Stamm von Maumlu sen ihre Schwaumln ze ohne dass eine Nach richt uumlber die sen Ein griff die Keim bah nen der Maumlu se er reich te Denn sie he da Auch die Schwaumln ze der nach fol gen den Maumlu se ge ne ra ti o nen blie-ben gleich lang Da be durf te es schon der Spitz fin dig keit des iri schen Dich ters George Bern ard Shaw (1856 ndash 1950) der Weis-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 419783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 41 10082021 10493410082021 104934

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manns schnei den de Wi der le gung der La marckrsquo schen The o rie leicht fer tig vom Se zier tisch wisch te Die Maumlu se be merk te der Dich ter haumlt ten gar kei ne An stren gun gen un ter nom men ihre Schwaumln ze zu ver lie ren waumlh rend sich die Tie re bei La marck ja da rum be muumlht haumlt ten sich zu ver aumln dern

Im Nach hi n ein also war es der pauml da go gi sche Op ti mis mus der La marck in die Irre ge fuumlhrt ha ben soll te So mach te die Hoff-nung auf ei nen ethisch an spre chen den E vo lu ti ons ver lauf ndash die Er war tung die Mensch heit ent wick le sich qua An pas sung an das so zi a le Mi li eu durch Selbst er zie hung zum Bes se ren ndash nur noch eine et was ab sei ti ge Kar ri e re im staats so zi a lis ti schen Bi o lo gie-un ter richt der Sow jet u ni on Wie kalt da ge gen der uumlber le ge ne raquoKampf ums Da seinlaquo der ja ein Kampf um die Fleisch toumlp fe ist ohne Hoff nung der Mensch wer de den kuumlh nen Geist statt sei-nes ma te ri a lis ti schen Gier hal ses nach Houml he rem stre cken Und ein zig die Kir che be wahr te un ver dros sen ei nen la marc kis ti schen Ge dan ken ndash al ler dings ei nen pes si mis ti schen und kei nen op ti-mis ti schen In bes ter Schuumlt zen hil fe fuumlr den fran zouml si schen Che-va li er ver tei digt sie bis heu te ihr mo le ku lar ge ne tisch be denk li-ches Dog ma Adams Un ge hor sam im Gar ten Eden habe zu ei ner raquoErb suumln delaquo ge fuumlhrt die da rauf hin auf alle zu kuumlnf ti gen Ge ne ra-ti o nen uumlber ge gan gen sei

Im mer hin sind in den bei den letz ten Jahr zehn ten ei ni ge Bi o-lo gen wie der et was of fe ner da fuumlr ge wor den der Ver er bung er-wor be ner Ei gen schaf ten ei nen Platz in der Ge ne tik zu las sen Zwar ver er ben sich psy chi sche und phy si sche Le bens er fah run-gen nicht durch ver aumln der te Gene Aber es koumlnn te doch sein dass jene Schal ter die da ruuml ber be stim men wel che ge ne ti sche In for-ma ti on wei ter ge ge ben wird und wel che nicht durch Um welt-ein fuumls se ver aumln dert wer den Uumlber le gun gen wie die se be schaumlf ti-gen so ge nann te Epi gen eti ker seit ei ni ger Zeit sie ha ben ei nen wach sen den Ein fuss auf un se re Vor stel lung von der Evo lu ti on

Die heu ti ge Leit dis zip lin die uns die Ver wandt schaft des Le-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 429783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 42 10082021 10493410082021 104934

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bens ent schluumls seln soll ist die Ge ne tik Wir un ter su chen die Sum-me al ler ge ne ti schen In for ma ti o nen und re gist rie ren da bei Uumlber-ein stim mun gen und Ab wei chun gen mit an de ren Ar ten Doch der Pro zess die Na tur un se rer Na tur zu er ken nen ist noch lan ge nicht ab ge schlos sen und wird wohl auch nie ab ge schlos sen sein Wir wen den Ord nungs sche ma ta auf The o ri en und The o ri en auf Be ob ach tun gen an Nur so kom men wir zu Kau sa li tauml ten und Ge-set zen Doch ihre Be deu tung ver aumln dert sich in dem Maszlige wie wir den Blick punkt un se rer Auf merk sam keit wie der ver la gern Die ser Vor gang des Ent dec kens und des Ver de ckens durch neue Denk sche ma ta ist prin zi pi ell nicht ab schlieszlig bar denn selbst ge-gen waumlr ti ge Evo lu ti ons the o ri en un ter lie gen wei ter hin der Evo-lu ti on

Er staun li cher wei se hat die mo der ne Evo lu ti ons the o rie nur zu ei ner ge ring fuuml gi gen Kor rek tur al ter Denk sche ma ta ge fuumlhrt Wie fruuml her in der Na tur ge schich te er ken nen wir heu te in der Bi o lo gie uumlber all Re gel haf tigk eit Not wen dig keit und Vor tei-le Doch bei nauml he rer Sicht er weist sich die Evo lu ti on ge ra de zu als Herr schafts ge biet der Aus nah men uumlber die Re geln Sie ist eine raquoZweck mauml szligig keit ohne Zwecklaquo wenn auch al lein fuumlr die 01 Pro zent der heu te noch ndash oder ge ra de ndash exis tie ren den Spe-zi es nicht aber fuumlr die 999 Pro zent die in den Ur fu ten dem Ord ovizium dem Perm der Krei de oder dem Ter ti aumlr das Welt-li che seg ne ten E vo lu ti ons bi o lo gen su chen in der Ge schich te der Na tur uumlber all nach Vor tei len die das Uumlber le ben von Ar ten er-klauml ren sol len Da bei ver men gen sie oft zwei ver schie de ne Vor-teils be grif fe Ein mal geht es um Mu ta ti o nen die si tu a tiv vor teil-haf te Ei gen schaf ten fuumlr eine Tier art her vor ge bracht ha ben sol len Eine grouml szlige re Sta tur ein pom pouml se res Ge weih ein staumlr ke res Ge biss sol len Weib chen be ein dru cken und die Nach kom men schaft er-houml hen Da die se Ei gen schaf ten aber oft nichts nuumlt zen wenn der Zu fall die Spiel re geln der Um welt aumln dert gibt es ei nen zwei ten Vor teils be griff Da nach ist das vor teil haft in der Evo lu ti on was

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 439783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 43 10082021 10493410082021 104934

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vom Ende her be trach tet dazu ge fuumlhrt hat dass eine Art uumlber-lebt Nach die ser Sicht wei se kann der mick rigs te Pa vi an auf dem Fel sen sei ne Gene wei ter ge ben wenn die staumlr ke ren Kon kur ren-ten bei ei nem Erd be ben ums Le ben ge kom men sind

An ge sichts zwei er so un ter schied li cher Be deu tun gen von raquoVor teillaquo fragt es sich ob der Be griff in der Evo lu ti ons the o rie uumlber haupt sinn voll ver wen det wer den kann Tat saumlch lich ist er ein Erbe der The o lo gie des 17 und 18 Jahr hun derts die uumlber-all in der Na tur nach der klu gen Ver nunft Got tes such te Dar win kann te die se Tra di ti on gut Als Stu dent ver ehr te er den The o lo-gen Will iam Pa ley (1743 ndash 1805) der na tur kund lich be schla gen die goumltt li che Vo raus sicht auf den neu es ten Stand ge bracht hat te Als Dar win sich von Gott ver ab schie de te und die na tuumlr li che Se-lek ti on er kann te er setz te er uumlber all wo Pa ley raquoGod doeslaquo ge-schrie ben hat te den Satz durch raquoNat ure doeslaquo An Pa leys Vor-stel lung dass die Na tur zweck mauml szligig ein ge rich tet sei und Vor tei le be loh ne hielt Dar win eben so fest wie vie le spauml te re E vo lu ti ons-the o re ti ker

Die Fra ge ist des halb wich tig weil sie zeigt wie eng un se re Vor stel lung von der Na tur bis hi nein in die mo der ne Evo lu ti-ons the o rie von sehr mensch li chen Vor stel lun gen durch setzt ist Statt Vor tei le zu be nen nen wuumlr de es naumlm lich auch aus rei chen zu sa gen dass al les in der Na tur uumlber le ben kann das fuumlr eine Art kei nen toumld li chen Nach teil hat te Ver mut lich uumlber lebt in der Evo lu ti on nicht nur Zweck mauml szligi ges son dern jede Ver aumln de rung die zu min dest nicht zum Aus ster ben fuumlhr t und moumlg li cher wei se liegt ge ra de hie rin der Grund fuumlr eine gro szlige Ar ten viel falt

Die tra di ti o nell ver eng te Sicht wei se gilt ins be son de re bei der Be trach tung des Men schen E vo lu ti ons bi o lo gen koumln nen zahl-rei che Vor tei le be nen nen die er klauml ren wa rum die mensch li che Art so er folg reich ist Men schen sind aumlu szligerst an pas sungs fauml hig und be sie deln fast alle Le bens raumlu me sie sind Al les fres ser mit ei ner gro szligen Nah rungs band brei te sie ha ben eine fe xib le So zi-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 449783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 44 10082021 10493410082021 104934

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al struk tur und ver fuuml gen uumlber ein Selbst be wusst sein das es ih-nen er moumlg licht ihr Ver hal ten zu kor ri gie ren So ge se hen ist der Mensch gleich sam das op ti mal ste al ler Tie re Doch alldem zum Trotz exis tie ren Men schen der Gat tung Homo sap iens erst seit rund 100 000 Jah ren und ihre lang fris ti gen Zu kunfts chan cen ste hen schlecht Denn mit all den vor teil haf ten Ei gen schaf ten ha-ben Men schen in Re kord zeit ihre Um welt zer stoumlrt und das lang-fris ti ge Uumlber le ben der Spe zi es dra ma tisch in fra ge ge stellt Die mit we ni ger spek ta ku lauml ren Vor tei len aus ge stat te ten Di no sau ri-er exis tier ten auf un se rem Pla ne ten hun dert fuumlnf zig Mil li o nen Jah re ganz zu schwei gen von den seit uumlber vier hun dert Mil li o-nen Jah ren na he zu un ver aumln der ten Nau til iden und Ur schne cken

Ge si chert in der Evo lu ti ons the o rie ist dass kei ne ih rer An nah-men ge si chert ist E vo lu ti ons bi o lo gen die ihre Sa che ernst neh-men muumls sen im mer auch die E vo lu ti ons be dingt heit ih res ei ge-nen Er kennt nis ap pa rats ref ek tie ren also mit hin die Evo lu ti on al ler mensch li chen Er kennt nis raquoLetzt lich istlaquo wie der Neuro bio-lo ge Ger hard Roth schreibt raquoje des Nach den ken uumlber die ob jek-ti ve Re a li taumlt sei es wis sen schaft lich oder nicht an die Be din gun-gen mensch li chen Den kens Spre chens und Han delns ge bun den und muss sich da rin be waumlh renlaquo9

Man muss ref ek tie ren dass die un ver meid li chen Ord nungs-mit tel des Geis tes das Den ken und die Spra che nicht die Wirk-lich keit raquoan sichlaquo auf raumlu men Sie sind Mo del le die die un ver-fuumlg ba re Wirk lich keit nach Maszlig ga be der ei ge nen Spiel re geln er klauml ren Nicht erst seit Er for schung der Evo lu ti on in den letz-ten zwei hun dert Jah ren muumlht sich der mensch li che Geist dem Lauf der Welt ei nen ndash nach mensch li chem Er mes sen ndash raquover nuumlnf-ti genlaquo Sinn zu ge ben Doch das Pa ra do xe der Ge schich te liegt da rin dass der mensch li che Geist selbst Pro dukt evo lu ti o nauml rer Pro zes se ist Er ist Maszlig stab und Ge mes se nes zu gleich

An eine tat saumlch lich ob jek ti ve Er kennt nis der Evo lu ti on waumlre nur halb wegs sinn voll zu den ken wenn die Evo lu ti on des Men-9

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 459783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 45 10082021 10493410082021 104934

schen ab ge schlos sen ist und da mit die Stu fe der groumlszligt moumlg li chen Voll kom men heit er reicht hat In den Zei ten vor La marck und Dar win ha ben das nicht nur The o lo gen son dern auch die Na tur-for scher fast al le samt ge glaubt Das mensch li che Be wusst sein sei die un uuml ber trof fe ne Spit zen leis tung des Schoumlp fer got tes ge schaf-fen die Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Sei nen schoumlns-ten Aus druck fand die se Sicht in ei nem Aus spruch des jun gen Phi lo so phen Fried rich Wil helm Jo seph Schel ling (1775 ndash 1854) Er mein te dass der Mensch je nes We sen sei raquoin dem die Na tur das Auge auf schlaumlgtlaquo und sich da mit ih rer selbst be wusst wird Ein huumlb scher Satz aber doch viel zu pa the tisch for mu liert Von der vol len Er kennt nis der Na tur und un se rer selbst sind wir noch im mer weit ent fernt Aber wir koumln nen da ruuml ber stau nen dass die Evo lu ti on mit uns ein Le be we sen her vor ge bracht hat in dem die Na tur sich fuumlr sich selbst fa szi nier bar ge macht hat Wie hat te es dazu kom men koumln nen

bull Der Pri mat Was ist ein Mensch

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 469783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 46 10082021 10493410082021 104934

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ver waist sein Die Mensch heit wird er wacht sein und die Welt je-nes Ge sicht er hal ten ha ben das uns ge gen waumlr tig er scheint Doch wie sah das aus als die Na tur das ers te Mal in ei nem af fen aumlhn-li chen We sen die Au gen auf schlug War es auf ei ner Wald wie-se in ei nem Hain an ei nem Berg hang oder auf ei ner Lich tung War das er leuch te te We sen ein Maumlnn chen oder ein Weib chen Ging es den gan zen Tag auf recht oder saszlig es noch ger ne in der Ho cke eng ge kau ert an sei ne Bruuml der und Schwes tern Und war es eine Ein ge bung ein Blitz schlag als das Selbst be wusst sein das ers te Mal die Fes seln des Pri ma ten ge hirns spreng te

Wir wis sen nicht wo ran Schel ling dach te als er mein te die Na tur habe im Men schen ihr Auge auf ge schla gen Si cher dach te er nicht an ei nen ein zi gen Mo ment dem Mil li o nen an de re folg-ten Er dach te an den raquoMen schen an sichlaquo Und er wuss te nichts vom ost af ri ka ni schen Great Rift Val ley und von haa ri gen Vor-men schen die dort einst haus ten Er leb te in Jena und in Muumln-chen und ei nen Men schen af fen hat te Schel ling nie ge se hen Der ein zig ar ti ge Mo ment in dem die Na tur sich ih rer selbst be wusst wird bleibt eine Me ta pher

Doch wie wur de der Mensch nun tat saumlch lich zum Men-schen Die For mu lie rung ist dop pel deu tig Denn wie der Mensch zum Men schen wur de ndash das ist nicht ein evo lu ti o nauml rer Pro-zess auf der lee ren Welt buumlh ne son dern ein Spiel von Be ob ach-ter und Be ob ach te tem Schau spie ler und Zu schau er Ge schich-te auch Ent wick lungs ge schich te ist nichts Vor ge fun de nes Der Mensch schrieb der fran zouml si sche Phi lo soph JeanshyPaul Sart re (1905 ndash 1980) macht sich selbst wie der Ro man schrift stel ler sei ne Fi gu ren Er ist ge fer tigt aus bi o lo gi schen (ana to mi schen neu ro lo gi schen und phy si o lo gi schen) Be stand tei len zu al ler meist je doch durch jene we nig bi o lo gi schen Weis hei ten mit de nen sich die se Subs tan zen selbst zum raquoMen schenlaquo er ko ren

Das Glei che gilt fuumlr die mensch li che Stam mes ge schich te Auch sie ist zu naumlchst ein mal eine Ge schich te Ihre Ur spruumln ge lie gen im

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 489783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 48 10082021 10493510082021 104935

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al ten Grie chen land als Aris to te les den Men schen und den Af-fen ver wandt schaft lich na he ruumlckt raquoMan che Tie re ste hen zwi-schen Mensch und Vier fuumlszlig ler in ih rem We sen wie Af fen Meer-kat zen und Pa vi a ne hellip Ihr Ge sicht hat vie le Aumlhn lich kei ten mit dem des Men schen Nase und Oh ren glei chen den sei nen und Zaumlh ne hat er auch wie ein Mensch die Vor der zaumlh ne wie die Ba cken zaumlhnelaquo10 Auch Aris to te lesrsquo Schuuml ler The oph rast (ca 370 v Chr ndash ca 288 v Chr) be steht auf der Aumlhn lich keit zwi schen Men schen und Tie ren Er lehnt es so gar ab Fleisch zu es sen oder Tie re zu op fern da man sei ne Ver wand ten nicht ver spei se

Aris to te les und The oph rast stell ten den Men schen zwar ne-ben den Af fen ndash Men schen af fen kann te man noch nicht ndash aber die al ten Grie chen hat ten ihn nur sehr un ge faumlhr zu ei nem Tier un ter Tie ren er klaumlrt Den naumlchs ten Schritt mach te mehr als zwei-tau send Jah re spauml ter Carl von Linneacute An der Zu ge houml rig keit des Men schen zu den Saumlu ge tie ren be stand fuumlr den Schwe den kein Zwei fel die Be haa rung und das Stil len der Jun gen be lehr ten un-miss ver staumlnd lich da ruuml ber Auch die Ver wandt schaft mit Af fen und Men schen af fen stand au szliger Fra ge Hier wa ren es die fa chen Fin ger- und Fuszlig nauml gel statt der Klau en der ab ge spreiz te Dau-men die Greif haumln de die zwei Zit zen der Weib chen und der frei he run ter haumln gen de statt am Un ter leib an lie gen de Pe nis ndash Merk-ma le die groumlszlig ten teils auch schon Aris to te les auf ge fal len wa ren

Doch Linneacute zouml ger te vor der Kon se quenz Haumln de rin gend such-te der got tes fuumlrch ti ge Ana tom nach ei nem Un ter schied zwi schen dem Men schen und den uumlb ri gen von ihm so ge nann ten raquoPri ma-tenlaquo raquoIch ver lan gelaquo schrieb er 1747 sei nem deut schen Freund Jo hann Ge org Gme lin raquovon Ih nen und von der gan zen Welt dass Sie mir ein Gat tungs merk mal zei gen hellip auf grund des sen man zwi schen Mensch und Affe un ter schei den kann Ich weiszlig selbst mit aumlu szligers ter Ge wiss heit von kei nemlaquo11

Nach sei nen Kri te ri en haumlt te Linneacute den Men schen zu min dest mit dem Schim pan sen ge mein sam in die sel be Gat tung ein ord-10

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9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 499783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 49 10082021 10493510082021 104935

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nen muumls sen Der Ge dan ke schweb te zeit gleich auch dem Phi lo so-phen JeanshyJacques Rous seau (1712 ndash 1778) vor als er Schim pan-sen Orang-Ut ans und Men schen so gar als Ver tre ter der Spe zi es Mensch an sah Rous seau hat te nie ei nen Men schen af fen ge se-hen Aber die Be rich te die er von Ex pe di ti o nen nach Af ri ka und Suumld ost a si en las lie szligen in ihm kei nen Zwei fel dass die da rin be schrie be nen Men schen af fen raquowe der Tie re noch Goumlt ter son-dern Men schenlaquo sei en12 Fuumlr den Auf klauml rer wa ren Men schen af-fen edle Wil de die von kei ner Zi vi li sa ti on in ih rem fried fer ti gen We sen zer stoumlrt sei en an ders als die Men schen in Eu ro pa Eben-so dach te we nig spauml ter der schot ti sche Sprach for scher James Bur nett Lord Mon boddo (1714 ndash 1799) Auch er be trach te te den Orang-Utan als ei nen Men schen naumlm lich als ei nen raquosprach-losen Wil denlaquo

In ter pre ta ti o nen wie Rous seau sie in Pa ris und Bur nett bald da rauf in Kin card ines hire wag ten wa ren Linneacute im schwe di schen Upp sa la fremd Den Men schen ins Tier reich ein zu ord nen war in den Au gen der stren gen pro tes tan ti schen Kir che Suumln de ge nug und Linneacute zouml ger te den letz ten Schritt zu tun In sei ner Not sor-tier te er 1758 ach sel zu ckend Mensch und Schim pan se in un ter-schied li che Gat tun gen zu sam men ge fasst in der Ord nung der Pri ma ten in der sie auch heu te noch mehr schlecht als recht huumlbsch ge trennt ne ben ei nan der ho cken Homo sap iens der raquoin-tel ligi ble Menschlaquo und Pan trog lody tes der raquohoumlh len be woh nen-de Faunlaquo

So weit so schoumln Der Mensch wur de der obers te Pri mat das houmlchs te raquoHer ren tierlaquo Linneacute be kam kei nen Aumlr ger mit der Kir-che und die Na tur wis sen schaft den gro szligen Wurf des Linneacute rsquoschen Sys tems Wenn nur die se Nach barn nicht wauml ren Seit Be kannt-wer den der Men schen af fen be muumlh ten sich Wis sen schaft ler und The o lo gen im mer wie der um den Ver such den klei nen Gra ben mit gro szligen Was sern zu fuumll len der Homo sap iens und Pan troshyglody tes bei ih rer ord nungs ge mauml szligen Ver ge sell schaf tung auf der 12

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 509783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 50 10082021 10493510082021 104935

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Af fen in sel trennt Sie eva ku ier ten den Men schen vom Pri ma ten-fel sen und schu fen ihm eine ei ge ne Ord nung

In die ser Vor stel lungs welt wuchs auch der The o lo gie stu dent Charles Dar win auf Das fruuml he 19 Jahr hun dert war eine got-tes fuumlrch ti ge bie der mei er li che Zeit Doch je mehr er sich mit der Ver aumln de rung der Ar ten be schaumlf tig te umso deut li cher wur de Dar win dass es mit der of fi zi ell be kun de ten Son der stel lung des Men schen im Uni ver sum nicht weit her sein konn te So no tier te er schon er staun lich fruumlh in sein Ta ge buch raquoDer Mensch haumllt sich in sei ner Ar ro ganz fuumlr ein groszlig ar ti ges Werk des be son de ren Ein grei fens ei ner Gott heit wuumlr dig Es duumlrf te be schei de ner und wie ich glau be auch rich tig sein ihn als aus den Tie ren ent stan-den an zu se henlaquo13

Dar win hat te den noch zwoumllf Jah re ge zouml gert bis er sich schlieszlig lich ge trau te nach der all ge mei nen Dar stel lung ei ner Evo-lu ti ons the o rie im Jahr 1859 sei ne Schluss fol ge run gen in Be zug auf den Men schen in Druck zu ge ben Die Ab stam mung des Men schen aus dem Jahr 1871 ist ein ge maumlch li ches Buch in ver-soumlhn li chem Ton fall Der Na tur for scher er zaumlhlt da rin wie ein gu-ter al ter Groszlig va ter wo her die Pfan zen die Tie re und die Eng-laumln der kom men Die raquoAb wer tunglaquo des Men schen geht da bei ein her mit ei ner kon ti nu ier li chen raquoAuf wer tunglaquo der Tie re raquoWir ha ben ge se henlaquo schreibt Dar win raquodass die Emp fin dun gen und Ein druuml cke die ver schie de nen Er re gun gen und Fauml hig kei ten wie Lie be Ge daumlcht nis Auf merk sam keit Neu gier de Nach ah mung Ver stand usw de ren sich der Mensch ruumlhmt in ei nem be gin nen-den oder zu wei len selbst in ei nem gut ent wi ckel ten Zu stand bei den nie de ren Tie ren ge fun den wer denlaquo14

La marck und Dar win wa ren die Ers ten die mit Mit teln der mo der nen Na tur wis sen schaft be haup te ten was vie le Kul tu ren und Zei ten schon zu vor re li gi oumls ge ahnt hat ten raquoNa tuumlr lichlaquo ist es ab surd eine Tei lung des Tier reichs in zwei Ka te go ri en vor zu-neh men ndash in eine mensch li che und eine nicht mensch li che Ka-13

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9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 519783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 51 10082021 10493510082021 104935

Page 24: Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen · Leseprobe Professor Dr. Richard David Precht Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen »Fazit:

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Schon die al ten Grie chen ins be son de re Aris to te les (384 v Chr ndash 322 v Chr) ha ben sich fuumlr die Ge schich te und das in vie len De tails ver bor ge ne Sys tem der Na tur in te res siert Er teilt die Tie re in Klas sen ein ver sucht zu er gruumln den was Le ben ist und schafft da mit die Grund la gen der Zo o lo gie Aber Aris to te-les kennt nur we ni ge hun dert Tie re Eine raquovoll staumln di ge Na tur-ge schich telaquo wird das ers te Mal im 18 Jahr hun dert ge schrie-ben ndash und auch sie ist aumlu szligerst un voll staumln dig Seit dem ver fuuml gen wir nicht nur uumlber ei nen rei chen Vor rat an ge dach ten Ord nun-gen von den Schoumlp fungs my then bis hin zur Mo le ku lar bi o lo gie Wir ken nen auch eine Wis sen schaft die sich raquoTax ono mielaquo nennt und jede Pfan ze und je des Tier sys te ma tisch in eine In ven tar liste der Na tur ein traumlgt

Da bei ver ra ten die Denk sche ma ta der Na tur for scher nicht nur et was uumlber die klas si fi zier te Na tur selbst son dern eben so uumlber das Ord nungs be duumlrf nis und die Pfif fig keit des mensch li-chen Geis tes Das 18 Jahr hun dert ist eine Zeit in der das Buumlr-ger tum an die Macht draumlngt und sich zu neh mend ge gen den Adel auf ehnt Sei ne schaumlrfs te Waf fe ist et was das man raquoVer nunftlaquo oder raquoRa ti o na li taumltlaquo nennt und das man ge gen den Glau ben ins Feld fuumlhrt Fuumlr die Phi lo so phen der Ra ti o na li taumlt ist die Welt kei-ne vor ge fun de ne Schoumlp fung mit fes ter Ord nung son dern et was dass man geis tig durch drin gen und auf sei ne Lo gik und Wi der-spruuml che un ter su chen kann Da bei ge ben zu naumlchst die Phy sik und die Ma the ma tik das Sche ma vor nach dem alle Er kennt nis auch jene von Pfan zen und Tie ren funk ti o nie ren soll Die Sys te ma ti-ker der Na tur ge schich te su chen nach un ver ruumlck ba ren Kri te ri en ob jek ti ven Ge setz mauml szligig kei ten und lo gi schen Ver bin dun gen um die un uuml ber sicht li che Welt der Le be we sen ih rer raquowah ren An ord-nunglaquo ge maumlszlig ein zu tei len Aber nicht alle Na tur for scher glau-ben dass ein sol ches Vor ha ben tat saumlch lich ge lin gen kann Man-che hal ten die Na tur fuumlr zu reich hal tig um sie auf die se Wei se zu klas si fi zie ren Welt an schau un gen tref fen auf ei nan der auf der

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 319783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 31 10082021 10493410082021 104934

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ei nen Sei te der Glau be an ein vom Men schen prin zi pi ell voumll lig durch schau ba res Na tur sys tem auf der an de ren Sei te eine un er-gruumlnd li che Schoumlp fung in der der Mensch sich im mer nur tas-tend fort be wegt

Die ers te Va ri an te gilt im 18 Jahr hun dert als der mo der ne-re An satz Man ori en tiert sich da bei an ei nem Ra ti o na lis mus den Reneacute Des car tes (1596 ndash 1650) schon hun dert Jah re zu vor neu be gruumln det hat Die ser Ra ti o na lis mus ori en tiert sich an der Me cha nik Die Schoumlp fung Got tes er scheint als eine ein zi ge klug aus ge tuumlf tel te Ma schi ne die der Mensch Stuumlck fuumlr Stuumlck zu be-herr schen lernt Und das Uni ver sum be steht aus Ma te rie in Be-we gung or ga ni siert nach ma the ma ti schen Ge set zen Ob gleich das 18 Jahr hun dert zent ra le Spe ku la ti o nen des Phi lo so phen wi-der legt ori en tiert es sich in vie lem an Des car tesrsquo me cha nis ti scher Denk wei se Sie tut dies vor zugs wei se in je nen Dis zip li nen de-ren Er kennt nis fort schritt zu naumlchst ge ring bleibt Und nir gend-wo trifft dies in ei nem sol chen Maszlig zu wie bei der Er for schung der bi o lo gi schen Na tur

Doch die ses Welt bild hat prob le ma ti sche Fol gen Wer die Welt kon se quent nach me cha nis ti schen Grund saumlt zen be trach tet hat fuumlr den Be reich der nicht mensch li chen Na tur we nig Ver staumlnd nis Fuumlr Des car tes sind Tie re nichts als Ma schi nen Es macht kei nen Un ter schied ob eine Ma schi ne die aumlu szlige re Ge stalt und die in ne-ren Or ga ne ei nes Af fen hat oder ob es sich da bei tat saumlch lich um ein le ben des Tier han delt Denn relevantes Le ben kommt fuumlr den Den ker nicht durch zir ku lie ren des Blut und Reizempfindungen in den Koumlrper Son dern bedeutsames Le ben ga ran tie ren ein zig und al lein der er leuch te te Geist und sei ne Spra che

Des car tesrsquo Zeit kennt we der den Be griff des raquoOr ga nis muslaquo die Be son der heit des Le bens noch die Evo lu ti on son dern eben nur die Me cha nik Trotz dem ist sei ne The o rie von den Tie ren als see len lo se Au to ma ten im 17 und 18 Jahr hun dert aumlu szligerst um-strit ten Fran zouml si sche Phi lo so phen schrei ben Buch um Buch uumlber

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 329783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 32 10082021 10493410082021 104934

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die Tier-Fra ge und be feh den sich da bei uumlber mehr als hun dert Jah re Noch weiszlig man nichts von ei ner raquoBi o lo gielaquo Man be treibt eine neue Dis zip lin die sich raquoNa tur ge schich telaquo nennt und da-mit auf raumlumt die Ge schich te von Le be we sen als eine wahl lo se Samm lung von Er zaumlh lun gen an zu se hen Bis her schrie ben Au to-ren um stands los von der Fang wei se der Tie re ih rer Ana to mie ih rer bib li schen und al le go ri schen Be deu tung ih rem prak ti schen Ge brauch ih rer Ver meh rung ih ren Stim men und Spra chen ih-ren Be we gun gen ih rem Al ter und von der Sym pa thie oder An-ti pa thie des Ver fas sers Auch Koch re zep te wur den von Fall zu Fall hin zu ge fuumlgt

Ein zo o lo gi sches Sys tem ist zu An fang des 18 Jahr hun derts weit ge hend un be kannt die Ver wandt schafts ver haumllt nis se der Pfan zen und Tie re sind dif fus ge ahnt und wer den eher nach Le-bens raumlu men be stimmt als nach koumlr per li chen Merk ma len Tie re die nachts ja gen ste hen da bei eben so in ei nem Ord nungs ge fuuml ge wie Tie re die fie gen koumln nen im Wald oder in ei nem See le ben Be reits die Pries ter schrift der bib li schen Ge ne sis hat te die Welt der Tie re und Pfan zen nicht nach ana to mi schen Merk ma len un-ter teilt son dern in Be zug auf den Le bens raum Pfan zen und Tie re des Mee res der Luft und der Erde Uumlber mehr als tau send Jah re kann ten auch der Is lam und die Hin dus Ord nungs sys teme die Tie re in ih rem Oumlko sys tem ver an ker ten

In der hin du is ti schen Samk hya-Tra di ti on exis tie ren vier zehn Klas sen un ter schied li cher Le be we sen ein ge teilt in acht For men himm li scher und sechs ir di scher Le be we sen zu de nen auch der Mensch ge houmlrt Als wei te res Un ter schei dungs merk mal dient die Art und Wei se der Ge burt Im gro szligen in di schen Na ti o nal epos aus dem 4 Jahr hun dert dem Ma hab har ata heiszligt es raquoAuf die ser Erde gibt es zwei Ar ten von Le be we sen die Be weg li chen und die Un be weg li chen Die Be weg li chen ha ben ei nen drei fa chen Schoszlig Sie sind aus dem Ei aus feuch ter Hit ze und Le ben dig-Ge bo re ne Von al len be weg li chen Le be we sen wie de rum sind die je ni gen die

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le ben dig ge bo ren sind hellip die bes ten Die bes ten un ter den le ben-dig Ge bo re nen sind die die zum Men schen ge schlecht ge houml ren und die Nutz tie relaquo4

Die neu en Sys te me des 18 Jahr hun derts be frei en die Na tur-ge schich te von al lem was sich mit den Me tho den der Zeit nicht wis sen schaft lich exakt be schrei ben laumlsst Koch re zep te fal len so-wie so un ter den Tisch aber auch man che Ver hal tens be ob ach-tun gen und vor mals wich ti ge Ei gen schaf ten wie zum Bei spiel der Ge ruch Ge forscht wird mit Lupe und Mik ros kop Li ne al und Pin zet te Der wich tigs te Mann auf die sem Ge biet ist der schwe-di sche Na tur for scher Carl von Linneacute (1707 ndash 1778) Er ori en-tiert sich an Aris to te les den er be wun dert nicht an Des car tes Ge ra de zu re vo lu ti o naumlr de mo kra tisch ent wi ckelt der auf ge klaumlr te Schwe de im 18 Jahr hun dert ein be schrei ben des Sys tem der Na-tur frei vom the o lo gi schen Fir le fanz sei ner Zeit Mit der Ak ri bie ei nes Brief mar ken samm lers dem Voll staumln dig keit mehr be deu tet als das Be stau nen ein zel ner Wer te ord net er die be leb te Na tur nach Ar ten Gat tun gen Ord nun gen und Klas sen Vier Va ri ab len die Form der Ele men te ihre An zahl die raumlum li che An ord nung der Ele men te und ihre re la ti ve Grouml szlige be stimm ten von nun an den Platz im Sys tem

Un ter der Leit dis zip lin der Bo ta nik wan delt sich die Na tur ge-schich te in eine ge ord ne te Welt aus Li ni en und Flauml chen Ent schei-dend sind die sicht ba ren Un ter schei dungs merk ma le wie Bluuml ten und Staub ge fauml szlige Blaumlt ter und Fruumlch te Fuumlszlige und Hufe Fe dern und Flos sen So setzt Linneacute fuumlr jede Pfan zen- und Tier klas se jede Ord nung und Gat tung be stimm te Merk ma le fest die er als die wich ti ge ren er ach te t Denn nur un ter der An nah me sol cher pri vi-le gier ter Struk tu ren ist es ihm moumlg lich die ver schie de nen Spe zi es im Ge samt sys tem un miss ver staumlnd lich zu ras tern Der mensch li che Ord ner be schreibt also nicht ein fach die be leb te Na tur Er fuumlgt ihr auch et was hin zu die Ent schei dung naumlm lich was in der For men-viel falt der Le be we sen wich ti ge Merk ma le sind und was nicht4

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 349783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 34 10082021 10493410082021 104934

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Wie alle da ma li gen Na tur for scher nimmt Linneacute an dass die Ein tei lun gen die der mensch li che Ver stand macht tat saumlch lich ei ner ob jek ti ven Ord nung der Na tur ent spre chen Doch Lin neacutes Sys tem ist wie er selbst weiszlig nicht raquona tuumlr lichlaquo Sei ne Struk tu ren sind kei ne die er in der Na tur als Un ter schei dungs kri te ri en vor-fin det Denn was sich am Schreib tisch nun muumlh sam in Ord nun-gen pres sen laumlsst liegt wie der fran zouml si sche Na tur for scher Mishychel Adan son (1727 ndash 1806) fest stellt in der Wild nis wie Kraut und Ruuml ben durch ei nan der raquohellip eine kon fu se Mi schung aus We-sen hellip die der Zu fall ei nan der an ge nauml hert zu ha ben scheint Hier wird das Gold mit ei nem an de ren Me tall mit ei nem Stein oder mit Erde ge mischt Dort waumlchst die Ei che ne ben dem Veil chen Un ter die sen Pfan zen ir ren eben falls der Vier fuumlszlig ler das Rep til und das In sekt um her Die Fi sche mi schen sich so zu sa gen mit dem waumlss ri gen Ele ment in dem sie schwim men und mit den Pfan zen die auf dem Grun de der Ge waumls ser wach sen hellip Die se Mi schung ist so gar so all ge mein und so viel faumll tig dass sie ei nes der Na tur ge set ze zu sein scheintlaquo5

Der Wi der spruch zwi schen ei ner tax ono mi schen und ei ner oumlko lo gi schen Ord nung der Na tur ist of fen sicht lich Er fin det sich noch heu te in der Dis kus si on um die Aumls the tik von Zoo an la gen Soll man die Tie re nach Ver wandt schafts ver haumllt nis sen sam meln also in Raub tier haumlu sern An ti lo pen haumlu sern und Hirsch an la gen so dass der Be su cher zwi schen den ana to mi schen Be son der hei-ten der Ar ten ndash mit un ter so gar den ge o gra fi schen Va ri an ten ei ner ein zi gen Art ndash zu un ter schei den lernt Oder ge waumlhrt die Nach-ge stal tung ei nes Na tur bi o tops ei ner af ri ka ni schen Sa van ne oder ei nes al pi nen Pa no ra mas den wich ti ge ren Ein blick in die Ord-nung der Na tur

Zwar steht fuumlr Linneacute und sei ne Kol le gen fest dass die raquowah-re Ord nunglaquo der Na tur sich an den koumlr per li chen Merk ma len zu ori en tie ren hat doch muss eine Er klauml rung da fuumlr ge fun den wer-den wa rum die se Ord nung in der frei en Na tur nicht von al lein 5

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sicht bar wird Ohne Zwei fel ist das Sys tem der Na tur kei ne zeit-lo se Schoumlp fung son dern durch Ver aumln de run gen ge kenn zeich net die sich in der Erd ge schich te er eig net ha ben Pa ral lel meh ren sich die Fun de von Fos si li en also von Tie ren die mut maszlig lich aus-ge stor ben sind Es hat al lem An schein nach grouml szlige re ge o lo gi sche Ka tast ro phen in un be kann ter Zahl ge ge ben de nen vie le Ar ten zum Op fer ge fal len sind Doch ha ben die se De sas ter auch zur Ent ste hung von neu en For men ge fuumlhrt

Um den Fak tor der Zeit und sei ne Fol gen fuumlr das Sys tem der Na tur ein zu schaumlt zen gibt es vie le Moumlg lich kei ten Die ein fachs te und mensch lichs te al ler zeit li chen Ord nungs vor stel lun gen ist die Idee al les fol ge ei nem Plan und sei auf ein Ziel hin aus ge rich-tet (Te le o lo gie) Re li gi o nen Phi lo so phi en und Ide o lo gi en funk-ti o nie ren na he zu al le samt ziel ge rich tet Es geht um ein bes se res Le ben auf Er den im Jen seits in ei nem ge rech ten Staat um die Herr schaft uumlber die an de ren uumlber die Pro duk ti ons mit tel oder das Boumlse Selbst un ser All tag ge stal tet sich weit ge hend te le o lo-gisch durch traumlnkt von zu kuumlnf ti ger Er war tung Mo tor jed we-der Te le o lo gie ist der Fort schritts ge dan ke Sein ima gi nauml res Ziel ist der voll kom me ne Zu stand So glau ben christ lich-abend laumln-di sche Ge sell schaf ten gern an eine staumln di ge Ver bes se rung durch An stren gung eine Tu gend die nach cal vi nis ti scher Tra di ti on im Him mel wie auf Er den von Gott ma te ri ell ent lohnt wird Wie na he lie gend also auch in der Na tur die Ent ste hung raquohouml he rerlaquo Le bens for men durch Fort schritt er ken nen zu wol len mit dem End ziel des Men schen

Die Un ord nung der Schoumlp fung mit ei nem goumltt li chen Fort-schritts plan in Ein klang zu brin gen ist das Le bens werk des Schwei zer Na tur for schers und Phi lo so phen Charles Bon net (1720 ndash 1793) Fuumlr Bon net ist die Zahl der Ar ten und ihre aumlu-szlige re Ge stalt von Gott ein fuumlr al le Mal fest ge legt Doch kann sich ein je des Le be we sen per fek ti o nie ren Der Weg vom simp-len Ge muumlt zur ge ni a li schen Leis tung ist vom Schoumlp fer vor ge-

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zeich net Und alle Tie re be schrei ten ihn zeit lich ver setzt nach dem glei chen Mus ter das der Mensch ih nen vor ge lebt hat raquoEs wird ei nen mehr oder we ni ger lang sa men und kon ti nu ier li chen Fort schritt al ler Ar ten zu ei ner houml he ren Ver voll komm nung ge-ben so dass alle Gra de der Stu fen lei ter in ei ner de ter mi nie ren den und kons tan ten Be zie hung fort ge setzt va ri a bel sein wer den hellip Es wird un ter den Af fen Leu te wie New ton und un ter Bi bern wie (den Fes tungs bau meis ter RDP) Vau ban ge ben Die Aus-tern und die Po ly pen wer den in Be zie hung zu den houmlchs ten Ar-ten das sein was die Vouml gel fuumlr die Vier fuumlszlig ler im Ver haumllt nis zum Men schen sindlaquo6

Seit Bon net ist die Vor stel lung von der raquoLei ter der Na turlaquo der Sca la nat urae ein wich ti ges In ven tar des na tur ge schicht-li chen Den kens Fort schritt Ver voll komm nung und goumltt li cher Plan ndash die se drei Grouml szligen be stim men die Vor stel lung vom Wer-den der Na tur vom 18 Jahr hun dert bis in die Ge gen wart hi nein Das Prin zip nach dem die Evo lu ti on Le ben her vor bringt sei un ver meid lich und von An fang an vor her be stimmt Nicht we-ni ge E vo lu ti ons the o re ti ker ha ben dies eben falls ge glaubt und zwar mit be acht li cher Kon ti nu i taumlt Der eng li sche Na tur for scher Alf red Rus sel Wall ace (1823 ndash 1913) der ge mein sam mit Dar win die The o rie der na tuumlr li chen Se lek ti on ent wi ckelt hat te hielt nicht nur den mensch li chen Geist und sein Mo ral emp fin den son dern zu dem auch die wei che nack te emp find sa me Haut des Men-schen fuumlr das Re sul tat ei ner not wen di gen Ent wick lung

Doch schon im 18 Jahr hun dert reg ten sich zu gleich vor sich-ti ge Zwei fel an der Stim mig keit ei ner sol chen Vor ge formt heit Denn wie soll te man Na tur ka tast ro phen be wer ten Waumlh rend die meis ten Na tur for scher sie als Teil des goumltt li chen Schoumlp-fungs plans in ter pre tier ten zo gen an de re ver gleichs wei se fins te-re Schluumls se Und so wur de tat saumlch lich ein gro szliges Erd be ben zum in di rek ten Aus louml ser der Evo lu ti ons the o rie naumlm lich je nes von Lis sa bon im Jahr 1755 Wer uumlber die Ka tast ro phe nach dach te 6

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 379783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 37 10082021 10493410082021 104934

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konn te star ken Zwei fel da ran he gen dass die Welt ord nung aus-ge kluuml gelt und har mo nisch sei

Die wei test rei chen den Schluss fol ge run gen zog der eng li-sche Pfar rer und Na ti o nal oumlko nom Tho mas Ro bert Malt hus (1766 ndash 1834) Nicht nur die ge o lo gi sche Na tur und ihr Ge-fah ren ri si ko son dern auch die Ver meh rung der Be voumll ke rung wur de nun als Uumlbel er kannt Im Jahr 1798 pub li zier te Malt-hus sei nen Es say on the Princi ple of Po pu la ti on (Das Be voumllshyke rungs ge setz) die ers te Mahn schrift vor den Ge fah ren ei ner Be voumll ke rungs ex plo si on Bei ei ner Ver dop pe lungs ra te der Welt-be voumll ke rung in ner halb von fuumlnf und zwan zig Jah ren er rech ne-te Malt hus wer de ihr exponent iel les An wach sen auf grund der von der Um welt ge setz ten Gren zen not wen dig zu Ar mut Ka-tast ro phen und Tod fuumlh ren Der bib li sche Auf trag raquoSeid frucht-bar und meh ret euchlaquo er schien mit ei nem Mal als ein Fluch Ein gna den lo ser raquoKampf ums Da seinlaquo (strugg le for life) war ent fes selt Das Ein zi ge was blieb war die Hoff nung die ka-tast ro pha len Fol gen der goumltt li chen An wei sung so weit wie moumlg lich ein daumlm men zu koumln nen

In ei ner Zeit als die Ge sell schafts the o rie noch der Bi o lo-gie den Leuch ter vo ran und nicht wie heu te die Schlep pe hin-terh er traumlgt be geis tert sich vor al lem ein eng li scher Dorf pfar rer Charles Dar win (1809 ndash 1882) fuumlr die Malt hus rsquoschen Ge set ze Denn wenn es rich tig ist dass sich ein Tier mit ei ner so ge rin-gen Ver meh rungs ra te wie der Mensch ge gen uumlber sei nen Art ge-nos sen durch setz te so gab es sicht lich an de re Kri te ri en fuumlr die Uumlber le bens fauml hig keit ei ner Po pu la ti on als die Zahl ih rer Ge bur-ten Der Maszlig stab fuumlr den Er folg ei ner Spe zi es war ihr Durch set-zungs ver mouml gen oder wie Dar win es spauml ter in den Prin zi pi en der Bio logie des jun gen Phi lo so phen Her bert Spen cer (1820 ndash 1903) le sen konn te raquothe sur vi val of the fit testlaquo

Dar wins na tur kund li che Stu di en wa ren ur spruumlng lich von dem Ge dan ken be seelt die nicht a ni ma li sche Iden ti taumlt des Men schen

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zu be wei sen Erst der Sieg des Ent de cker stol zes uumlber das Ent-set zen ver lieh ihm schlieszlig lich den Mut den be ruumlhm ten Satz zu schrei ben raquoUnd ich bin bei na he uumlber zeugt (der Mei nung mit der ich an die Fra ge he ran ge tre ten bin voumll lig ent ge gen ge setzt) dass die Spe zi es (mir ist es als ge staumln de ich ei nen Mord ein) nicht un ver aumln der lich sindlaquo7

Dar wins kuumlh ne Ver mu tung war nicht ganz neu Be reits ein hal bes Jahr hun dert zu vor hat ten der fran zouml si sche Na tur for scher GeorgesshyLou is Lec lerc Comte de Buf fon (1707 ndash 1788) und der Phi lo soph De nis Dide rot (1713 ndash 1784) uumlber eine Ver aumln de-rung der Ar ten spe ku liert Be son ders JeanshyBap tiste de La marck (1744 ndash 1829) be haup te te die all maumlh li che Ent wick lung der Ar-ten aus pri mi ti ve ren Vor for men die so ge nann te Trans mu ta ti on La marck war nicht nur ein Pi o nier der mit Jahr mil li o nen han-tier te als alle Welt die Erde noch ei ni ge tau send bis hun dert tau-send Jah re jung waumlhn te son dern er praumlg te (zur glei chen Zeit wie zwei deut sche Na tur for scher) das Wort Bi o lo gie Bei ihm wan del ten sich die Le be we sen da durch dass sich ihre koumlr per-li chen An stren gun gen auf ihr Erb gut aus wir ken Da bei nahm er al ler dings nicht an dass die Ar ten aus ei nan der her vor ge hen wie Dar win es spauml ter tat La ma rcks The o rie ist nauml her an je ner von Bon net Fuumlr ihn ver voll komm nen die ein zel nen Tier ar ten im Lau fe der Zeit ihre An la gen und ent wi ckeln sich da durch im-mer houml her Be son ders voll kom me ne Tie re wie der Mensch sind dem nach sehr alt denn sie ha ben ei nen wei ten Weg von ei nem pri mi ti ven Or ga nis mus bis hin zur heu ti gen Ge stalt hin ter sich ge las sen An de re wie der pri mi ti ve Suumlszlig was ser po lyp ha ben ihre Rei se durch die Zeit ge ra de erst an ge fan gen

La marck war kein Charis mati ker und die zo o lo gi sche All-macht sei nes Vor ge setz ten am Jar din des Plan tes in Pa ris des Ba rons George Cu vier (1769 ndash 1832) ver hin der te dass man sich all zu sehr mit sei nen The o ri en be schaumlf tig te Cu vier war ein be-deu ten der Mann An die Stel le ei ner nach bo ta ni schem Mus ter 7

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 399783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 39 10082021 10493410082021 104934

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ver fah ren den Zo o lo gie setz te er eine neue Wis sen schaft die sich we ni ger an aumlu szlige ren Merk ma len als am Or ga nis mus der Tie-re ori en tier te Doch was die Trans mu ta ti on an be lang te blieb der Ober auf se her der pro tes tan tisch-the o lo gi schen Fa kul tauml ten Frank reichs beim kon ser va ti ven Mo dell Er ver brei te te wei-ter hin eine Ket te von Na tur ka tast ro phen habe als mo di fi zier-te Sint fu ten gan zen Klas sen von Tie ren den Gar aus ge macht Die se The o rie ist weit ge hend rich tig al ler dings schlieszligt sie die Trans mu ta ti on nicht aus

Das wirk lich Re vo lu ti o nauml re an La marck war die Idee die Ge schich te der Na tur nicht vom Men schen aus bis hi nun ter zur Bak te rie zu schrei ben son dern um ge kehrt von der Bak te rie zum Men schen Aus ei nem Mo dell der raumlum li chen Hie rar chie wur de ein Mo dell der zeit li chen Ent wick lung La marck er kann te zu-dem dass das Be wusst sein ei nes Tie res an die Phy si o lo gie und Neu ro lo gie sei nes Koumlr pers ge bun den ist Dem nach ist je der Geist ers tens be grenzt und zwei tens ver aumln der lich

Die phi lo so phi sche Kon se quenz aus La ma rcks Den ken ist so ra di kal dass sie fast ein hun dert fuumlnf zig Jah re lang von nie man-dem ernst haft in Be tracht ge zo gen wur de Wie kann ein Geist der den Ge set zen der Evo lu ti on un ter wor fen ist sich ei gent lich an ma szligen die Na tur der Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Von die ser Schluss fol ge rung woll te die Bi o lo gie al ler dings bis weit ins 20 Jahr hun dert hi nein nicht viel wis sen

Auch Dar wins The o rie von der na tuumlr li chen Se lek ti on der Le be we sen im Rin gen um ihr Le ben und mit der Um welt ent-wi ckel te sich wei ter Ge witz ten Zeit ge nos sen wie Karl Marx (1818 ndash 1883) war auf ge fal len wie stark Dar wins Den ken dem Zeit geist des Vik to ri a ni schen Zeit al ters ver haf tet war raquoEs ist merk wuumlr dig wie Dar win un ter Bes ti en und Pfan zen sei ne eng li-sche Ge sell schaft mit ih rer Tei lung der Ar beit Kon kur renz Auf-schluss neu er Maumlrk te rsaquoEr fin dun genlsaquo und Malt hus schem rsaquoKampf ums Da seinlsaquo wie der er kenntlaquo8 Die Be to nung des Malt hus rsquoschen 8

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 409783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 40 10082021 10493410082021 104934

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Kamp fes von je dem ge gen je den und auch der Fort schritts glau-be in Dar wins Den ken zei gen ihn stark sei ner Zeit ver haf tet

Eine an de re Kri tik kam aus der Bi o lo gie selbst Dar win hat-te noch nichts von Ge nen ge wusst So konn te er nicht er klauml ren was sich bi o che misch er eig ne te wenn Ar ten sich ver aumln der ten Der raquoDar wi nis muslaquo der Jahr hun dert wen de gab schlieszlig lich die Hoff nung auf die Evo lu ti on lie szlige sich al lein durch die na tuumlr li-che Se lek ti on der Ar ten nach Maszlig ga be ih rer An pas sungs fauml hig-keit an die Um welt be gruumln den Man ent deck te die Rol le der Ge-ne tik und zum neu en Er klauml rungs prin zip wur de das Mo dell der zwei Kons t ruk teu re Das Spiel des Le bens er hielt ei nen Wuumlr fel zu faumll li ge Ver aumln de run gen im Gen ma te ri al also so ge nann te Mu tashyti o nen Im Tri alshyandshyEr ror-Ver fah ren ent ste hen im Erb gut ge le-gent lich Ab wei chun gen die dann er folg reich sind wenn sie sich in der Um welt be waumlh ren Da mit war die Idee vom Tisch dass sich neu er wor be ne Ei gen schaf ten oder raquodie ana to mi schen Aus-wir kun gen koumlr per li cher An stren gun genlaquo wie La marck mein te ver er ben koumlnn ten Noch Dar win hat te dies fuumlr denk bar ge hal ten So ver trau te er Er zaumlh lun gen wo nach bei je nen Volks grup pen zu de ren Ri ten die re gel mauml szligi ge Be schnei dung der Pe nis vor haut ge houmlrt sich die Vor haut all maumlh lich ver kuumlrz te Das haumlt te zwar die Be schnei dung uumlber fuumls sig ge macht aber Dar win hat te ge ra-de an de res Ge wich ti ges zu be den ken als da ruuml ber nach zu sin nen

Die Ver kuumlr zung der Vor haut blieb im Wis sens schatz der Dar wi nis ten bis Au gust Weis mann (1834 ndash 1914) im spauml ten 19 Jahr hun dert nach wies dass ein sol cher In for ma ti ons fuss vom aumlu szlige ren Er schei nungs bild zum Erb ma te ri al nicht moumlg lich sei Uumlber fuumlnf Ge ne ra ti o nen kuumlrz te Weis mann ei nem Stamm von Maumlu sen ihre Schwaumln ze ohne dass eine Nach richt uumlber die sen Ein griff die Keim bah nen der Maumlu se er reich te Denn sie he da Auch die Schwaumln ze der nach fol gen den Maumlu se ge ne ra ti o nen blie-ben gleich lang Da be durf te es schon der Spitz fin dig keit des iri schen Dich ters George Bern ard Shaw (1856 ndash 1950) der Weis-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 419783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 41 10082021 10493410082021 104934

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manns schnei den de Wi der le gung der La marckrsquo schen The o rie leicht fer tig vom Se zier tisch wisch te Die Maumlu se be merk te der Dich ter haumlt ten gar kei ne An stren gun gen un ter nom men ihre Schwaumln ze zu ver lie ren waumlh rend sich die Tie re bei La marck ja da rum be muumlht haumlt ten sich zu ver aumln dern

Im Nach hi n ein also war es der pauml da go gi sche Op ti mis mus der La marck in die Irre ge fuumlhrt ha ben soll te So mach te die Hoff-nung auf ei nen ethisch an spre chen den E vo lu ti ons ver lauf ndash die Er war tung die Mensch heit ent wick le sich qua An pas sung an das so zi a le Mi li eu durch Selbst er zie hung zum Bes se ren ndash nur noch eine et was ab sei ti ge Kar ri e re im staats so zi a lis ti schen Bi o lo gie-un ter richt der Sow jet u ni on Wie kalt da ge gen der uumlber le ge ne raquoKampf ums Da seinlaquo der ja ein Kampf um die Fleisch toumlp fe ist ohne Hoff nung der Mensch wer de den kuumlh nen Geist statt sei-nes ma te ri a lis ti schen Gier hal ses nach Houml he rem stre cken Und ein zig die Kir che be wahr te un ver dros sen ei nen la marc kis ti schen Ge dan ken ndash al ler dings ei nen pes si mis ti schen und kei nen op ti-mis ti schen In bes ter Schuumlt zen hil fe fuumlr den fran zouml si schen Che-va li er ver tei digt sie bis heu te ihr mo le ku lar ge ne tisch be denk li-ches Dog ma Adams Un ge hor sam im Gar ten Eden habe zu ei ner raquoErb suumln delaquo ge fuumlhrt die da rauf hin auf alle zu kuumlnf ti gen Ge ne ra-ti o nen uumlber ge gan gen sei

Im mer hin sind in den bei den letz ten Jahr zehn ten ei ni ge Bi o-lo gen wie der et was of fe ner da fuumlr ge wor den der Ver er bung er-wor be ner Ei gen schaf ten ei nen Platz in der Ge ne tik zu las sen Zwar ver er ben sich psy chi sche und phy si sche Le bens er fah run-gen nicht durch ver aumln der te Gene Aber es koumlnn te doch sein dass jene Schal ter die da ruuml ber be stim men wel che ge ne ti sche In for-ma ti on wei ter ge ge ben wird und wel che nicht durch Um welt-ein fuumls se ver aumln dert wer den Uumlber le gun gen wie die se be schaumlf ti-gen so ge nann te Epi gen eti ker seit ei ni ger Zeit sie ha ben ei nen wach sen den Ein fuss auf un se re Vor stel lung von der Evo lu ti on

Die heu ti ge Leit dis zip lin die uns die Ver wandt schaft des Le-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 429783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 42 10082021 10493410082021 104934

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bens ent schluumls seln soll ist die Ge ne tik Wir un ter su chen die Sum-me al ler ge ne ti schen In for ma ti o nen und re gist rie ren da bei Uumlber-ein stim mun gen und Ab wei chun gen mit an de ren Ar ten Doch der Pro zess die Na tur un se rer Na tur zu er ken nen ist noch lan ge nicht ab ge schlos sen und wird wohl auch nie ab ge schlos sen sein Wir wen den Ord nungs sche ma ta auf The o ri en und The o ri en auf Be ob ach tun gen an Nur so kom men wir zu Kau sa li tauml ten und Ge-set zen Doch ihre Be deu tung ver aumln dert sich in dem Maszlige wie wir den Blick punkt un se rer Auf merk sam keit wie der ver la gern Die ser Vor gang des Ent dec kens und des Ver de ckens durch neue Denk sche ma ta ist prin zi pi ell nicht ab schlieszlig bar denn selbst ge-gen waumlr ti ge Evo lu ti ons the o ri en un ter lie gen wei ter hin der Evo-lu ti on

Er staun li cher wei se hat die mo der ne Evo lu ti ons the o rie nur zu ei ner ge ring fuuml gi gen Kor rek tur al ter Denk sche ma ta ge fuumlhrt Wie fruuml her in der Na tur ge schich te er ken nen wir heu te in der Bi o lo gie uumlber all Re gel haf tigk eit Not wen dig keit und Vor tei-le Doch bei nauml he rer Sicht er weist sich die Evo lu ti on ge ra de zu als Herr schafts ge biet der Aus nah men uumlber die Re geln Sie ist eine raquoZweck mauml szligig keit ohne Zwecklaquo wenn auch al lein fuumlr die 01 Pro zent der heu te noch ndash oder ge ra de ndash exis tie ren den Spe-zi es nicht aber fuumlr die 999 Pro zent die in den Ur fu ten dem Ord ovizium dem Perm der Krei de oder dem Ter ti aumlr das Welt-li che seg ne ten E vo lu ti ons bi o lo gen su chen in der Ge schich te der Na tur uumlber all nach Vor tei len die das Uumlber le ben von Ar ten er-klauml ren sol len Da bei ver men gen sie oft zwei ver schie de ne Vor-teils be grif fe Ein mal geht es um Mu ta ti o nen die si tu a tiv vor teil-haf te Ei gen schaf ten fuumlr eine Tier art her vor ge bracht ha ben sol len Eine grouml szlige re Sta tur ein pom pouml se res Ge weih ein staumlr ke res Ge biss sol len Weib chen be ein dru cken und die Nach kom men schaft er-houml hen Da die se Ei gen schaf ten aber oft nichts nuumlt zen wenn der Zu fall die Spiel re geln der Um welt aumln dert gibt es ei nen zwei ten Vor teils be griff Da nach ist das vor teil haft in der Evo lu ti on was

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 439783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 43 10082021 10493410082021 104934

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vom Ende her be trach tet dazu ge fuumlhrt hat dass eine Art uumlber-lebt Nach die ser Sicht wei se kann der mick rigs te Pa vi an auf dem Fel sen sei ne Gene wei ter ge ben wenn die staumlr ke ren Kon kur ren-ten bei ei nem Erd be ben ums Le ben ge kom men sind

An ge sichts zwei er so un ter schied li cher Be deu tun gen von raquoVor teillaquo fragt es sich ob der Be griff in der Evo lu ti ons the o rie uumlber haupt sinn voll ver wen det wer den kann Tat saumlch lich ist er ein Erbe der The o lo gie des 17 und 18 Jahr hun derts die uumlber-all in der Na tur nach der klu gen Ver nunft Got tes such te Dar win kann te die se Tra di ti on gut Als Stu dent ver ehr te er den The o lo-gen Will iam Pa ley (1743 ndash 1805) der na tur kund lich be schla gen die goumltt li che Vo raus sicht auf den neu es ten Stand ge bracht hat te Als Dar win sich von Gott ver ab schie de te und die na tuumlr li che Se-lek ti on er kann te er setz te er uumlber all wo Pa ley raquoGod doeslaquo ge-schrie ben hat te den Satz durch raquoNat ure doeslaquo An Pa leys Vor-stel lung dass die Na tur zweck mauml szligig ein ge rich tet sei und Vor tei le be loh ne hielt Dar win eben so fest wie vie le spauml te re E vo lu ti ons-the o re ti ker

Die Fra ge ist des halb wich tig weil sie zeigt wie eng un se re Vor stel lung von der Na tur bis hi nein in die mo der ne Evo lu ti-ons the o rie von sehr mensch li chen Vor stel lun gen durch setzt ist Statt Vor tei le zu be nen nen wuumlr de es naumlm lich auch aus rei chen zu sa gen dass al les in der Na tur uumlber le ben kann das fuumlr eine Art kei nen toumld li chen Nach teil hat te Ver mut lich uumlber lebt in der Evo lu ti on nicht nur Zweck mauml szligi ges son dern jede Ver aumln de rung die zu min dest nicht zum Aus ster ben fuumlhr t und moumlg li cher wei se liegt ge ra de hie rin der Grund fuumlr eine gro szlige Ar ten viel falt

Die tra di ti o nell ver eng te Sicht wei se gilt ins be son de re bei der Be trach tung des Men schen E vo lu ti ons bi o lo gen koumln nen zahl-rei che Vor tei le be nen nen die er klauml ren wa rum die mensch li che Art so er folg reich ist Men schen sind aumlu szligerst an pas sungs fauml hig und be sie deln fast alle Le bens raumlu me sie sind Al les fres ser mit ei ner gro szligen Nah rungs band brei te sie ha ben eine fe xib le So zi-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 449783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 44 10082021 10493410082021 104934

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al struk tur und ver fuuml gen uumlber ein Selbst be wusst sein das es ih-nen er moumlg licht ihr Ver hal ten zu kor ri gie ren So ge se hen ist der Mensch gleich sam das op ti mal ste al ler Tie re Doch alldem zum Trotz exis tie ren Men schen der Gat tung Homo sap iens erst seit rund 100 000 Jah ren und ihre lang fris ti gen Zu kunfts chan cen ste hen schlecht Denn mit all den vor teil haf ten Ei gen schaf ten ha-ben Men schen in Re kord zeit ihre Um welt zer stoumlrt und das lang-fris ti ge Uumlber le ben der Spe zi es dra ma tisch in fra ge ge stellt Die mit we ni ger spek ta ku lauml ren Vor tei len aus ge stat te ten Di no sau ri-er exis tier ten auf un se rem Pla ne ten hun dert fuumlnf zig Mil li o nen Jah re ganz zu schwei gen von den seit uumlber vier hun dert Mil li o-nen Jah ren na he zu un ver aumln der ten Nau til iden und Ur schne cken

Ge si chert in der Evo lu ti ons the o rie ist dass kei ne ih rer An nah-men ge si chert ist E vo lu ti ons bi o lo gen die ihre Sa che ernst neh-men muumls sen im mer auch die E vo lu ti ons be dingt heit ih res ei ge-nen Er kennt nis ap pa rats ref ek tie ren also mit hin die Evo lu ti on al ler mensch li chen Er kennt nis raquoLetzt lich istlaquo wie der Neuro bio-lo ge Ger hard Roth schreibt raquoje des Nach den ken uumlber die ob jek-ti ve Re a li taumlt sei es wis sen schaft lich oder nicht an die Be din gun-gen mensch li chen Den kens Spre chens und Han delns ge bun den und muss sich da rin be waumlh renlaquo9

Man muss ref ek tie ren dass die un ver meid li chen Ord nungs-mit tel des Geis tes das Den ken und die Spra che nicht die Wirk-lich keit raquoan sichlaquo auf raumlu men Sie sind Mo del le die die un ver-fuumlg ba re Wirk lich keit nach Maszlig ga be der ei ge nen Spiel re geln er klauml ren Nicht erst seit Er for schung der Evo lu ti on in den letz-ten zwei hun dert Jah ren muumlht sich der mensch li che Geist dem Lauf der Welt ei nen ndash nach mensch li chem Er mes sen ndash raquover nuumlnf-ti genlaquo Sinn zu ge ben Doch das Pa ra do xe der Ge schich te liegt da rin dass der mensch li che Geist selbst Pro dukt evo lu ti o nauml rer Pro zes se ist Er ist Maszlig stab und Ge mes se nes zu gleich

An eine tat saumlch lich ob jek ti ve Er kennt nis der Evo lu ti on waumlre nur halb wegs sinn voll zu den ken wenn die Evo lu ti on des Men-9

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 459783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 45 10082021 10493410082021 104934

schen ab ge schlos sen ist und da mit die Stu fe der groumlszligt moumlg li chen Voll kom men heit er reicht hat In den Zei ten vor La marck und Dar win ha ben das nicht nur The o lo gen son dern auch die Na tur-for scher fast al le samt ge glaubt Das mensch li che Be wusst sein sei die un uuml ber trof fe ne Spit zen leis tung des Schoumlp fer got tes ge schaf-fen die Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Sei nen schoumlns-ten Aus druck fand die se Sicht in ei nem Aus spruch des jun gen Phi lo so phen Fried rich Wil helm Jo seph Schel ling (1775 ndash 1854) Er mein te dass der Mensch je nes We sen sei raquoin dem die Na tur das Auge auf schlaumlgtlaquo und sich da mit ih rer selbst be wusst wird Ein huumlb scher Satz aber doch viel zu pa the tisch for mu liert Von der vol len Er kennt nis der Na tur und un se rer selbst sind wir noch im mer weit ent fernt Aber wir koumln nen da ruuml ber stau nen dass die Evo lu ti on mit uns ein Le be we sen her vor ge bracht hat in dem die Na tur sich fuumlr sich selbst fa szi nier bar ge macht hat Wie hat te es dazu kom men koumln nen

bull Der Pri mat Was ist ein Mensch

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 469783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 46 10082021 10493410082021 104934

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ver waist sein Die Mensch heit wird er wacht sein und die Welt je-nes Ge sicht er hal ten ha ben das uns ge gen waumlr tig er scheint Doch wie sah das aus als die Na tur das ers te Mal in ei nem af fen aumlhn-li chen We sen die Au gen auf schlug War es auf ei ner Wald wie-se in ei nem Hain an ei nem Berg hang oder auf ei ner Lich tung War das er leuch te te We sen ein Maumlnn chen oder ein Weib chen Ging es den gan zen Tag auf recht oder saszlig es noch ger ne in der Ho cke eng ge kau ert an sei ne Bruuml der und Schwes tern Und war es eine Ein ge bung ein Blitz schlag als das Selbst be wusst sein das ers te Mal die Fes seln des Pri ma ten ge hirns spreng te

Wir wis sen nicht wo ran Schel ling dach te als er mein te die Na tur habe im Men schen ihr Auge auf ge schla gen Si cher dach te er nicht an ei nen ein zi gen Mo ment dem Mil li o nen an de re folg-ten Er dach te an den raquoMen schen an sichlaquo Und er wuss te nichts vom ost af ri ka ni schen Great Rift Val ley und von haa ri gen Vor-men schen die dort einst haus ten Er leb te in Jena und in Muumln-chen und ei nen Men schen af fen hat te Schel ling nie ge se hen Der ein zig ar ti ge Mo ment in dem die Na tur sich ih rer selbst be wusst wird bleibt eine Me ta pher

Doch wie wur de der Mensch nun tat saumlch lich zum Men-schen Die For mu lie rung ist dop pel deu tig Denn wie der Mensch zum Men schen wur de ndash das ist nicht ein evo lu ti o nauml rer Pro-zess auf der lee ren Welt buumlh ne son dern ein Spiel von Be ob ach-ter und Be ob ach te tem Schau spie ler und Zu schau er Ge schich-te auch Ent wick lungs ge schich te ist nichts Vor ge fun de nes Der Mensch schrieb der fran zouml si sche Phi lo soph JeanshyPaul Sart re (1905 ndash 1980) macht sich selbst wie der Ro man schrift stel ler sei ne Fi gu ren Er ist ge fer tigt aus bi o lo gi schen (ana to mi schen neu ro lo gi schen und phy si o lo gi schen) Be stand tei len zu al ler meist je doch durch jene we nig bi o lo gi schen Weis hei ten mit de nen sich die se Subs tan zen selbst zum raquoMen schenlaquo er ko ren

Das Glei che gilt fuumlr die mensch li che Stam mes ge schich te Auch sie ist zu naumlchst ein mal eine Ge schich te Ihre Ur spruumln ge lie gen im

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al ten Grie chen land als Aris to te les den Men schen und den Af-fen ver wandt schaft lich na he ruumlckt raquoMan che Tie re ste hen zwi-schen Mensch und Vier fuumlszlig ler in ih rem We sen wie Af fen Meer-kat zen und Pa vi a ne hellip Ihr Ge sicht hat vie le Aumlhn lich kei ten mit dem des Men schen Nase und Oh ren glei chen den sei nen und Zaumlh ne hat er auch wie ein Mensch die Vor der zaumlh ne wie die Ba cken zaumlhnelaquo10 Auch Aris to te lesrsquo Schuuml ler The oph rast (ca 370 v Chr ndash ca 288 v Chr) be steht auf der Aumlhn lich keit zwi schen Men schen und Tie ren Er lehnt es so gar ab Fleisch zu es sen oder Tie re zu op fern da man sei ne Ver wand ten nicht ver spei se

Aris to te les und The oph rast stell ten den Men schen zwar ne-ben den Af fen ndash Men schen af fen kann te man noch nicht ndash aber die al ten Grie chen hat ten ihn nur sehr un ge faumlhr zu ei nem Tier un ter Tie ren er klaumlrt Den naumlchs ten Schritt mach te mehr als zwei-tau send Jah re spauml ter Carl von Linneacute An der Zu ge houml rig keit des Men schen zu den Saumlu ge tie ren be stand fuumlr den Schwe den kein Zwei fel die Be haa rung und das Stil len der Jun gen be lehr ten un-miss ver staumlnd lich da ruuml ber Auch die Ver wandt schaft mit Af fen und Men schen af fen stand au szliger Fra ge Hier wa ren es die fa chen Fin ger- und Fuszlig nauml gel statt der Klau en der ab ge spreiz te Dau-men die Greif haumln de die zwei Zit zen der Weib chen und der frei he run ter haumln gen de statt am Un ter leib an lie gen de Pe nis ndash Merk-ma le die groumlszlig ten teils auch schon Aris to te les auf ge fal len wa ren

Doch Linneacute zouml ger te vor der Kon se quenz Haumln de rin gend such-te der got tes fuumlrch ti ge Ana tom nach ei nem Un ter schied zwi schen dem Men schen und den uumlb ri gen von ihm so ge nann ten raquoPri ma-tenlaquo raquoIch ver lan gelaquo schrieb er 1747 sei nem deut schen Freund Jo hann Ge org Gme lin raquovon Ih nen und von der gan zen Welt dass Sie mir ein Gat tungs merk mal zei gen hellip auf grund des sen man zwi schen Mensch und Affe un ter schei den kann Ich weiszlig selbst mit aumlu szligers ter Ge wiss heit von kei nemlaquo11

Nach sei nen Kri te ri en haumlt te Linneacute den Men schen zu min dest mit dem Schim pan sen ge mein sam in die sel be Gat tung ein ord-10

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9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 499783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 49 10082021 10493510082021 104935

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nen muumls sen Der Ge dan ke schweb te zeit gleich auch dem Phi lo so-phen JeanshyJacques Rous seau (1712 ndash 1778) vor als er Schim pan-sen Orang-Ut ans und Men schen so gar als Ver tre ter der Spe zi es Mensch an sah Rous seau hat te nie ei nen Men schen af fen ge se-hen Aber die Be rich te die er von Ex pe di ti o nen nach Af ri ka und Suumld ost a si en las lie szligen in ihm kei nen Zwei fel dass die da rin be schrie be nen Men schen af fen raquowe der Tie re noch Goumlt ter son-dern Men schenlaquo sei en12 Fuumlr den Auf klauml rer wa ren Men schen af-fen edle Wil de die von kei ner Zi vi li sa ti on in ih rem fried fer ti gen We sen zer stoumlrt sei en an ders als die Men schen in Eu ro pa Eben-so dach te we nig spauml ter der schot ti sche Sprach for scher James Bur nett Lord Mon boddo (1714 ndash 1799) Auch er be trach te te den Orang-Utan als ei nen Men schen naumlm lich als ei nen raquosprach-losen Wil denlaquo

In ter pre ta ti o nen wie Rous seau sie in Pa ris und Bur nett bald da rauf in Kin card ines hire wag ten wa ren Linneacute im schwe di schen Upp sa la fremd Den Men schen ins Tier reich ein zu ord nen war in den Au gen der stren gen pro tes tan ti schen Kir che Suumln de ge nug und Linneacute zouml ger te den letz ten Schritt zu tun In sei ner Not sor-tier te er 1758 ach sel zu ckend Mensch und Schim pan se in un ter-schied li che Gat tun gen zu sam men ge fasst in der Ord nung der Pri ma ten in der sie auch heu te noch mehr schlecht als recht huumlbsch ge trennt ne ben ei nan der ho cken Homo sap iens der raquoin-tel ligi ble Menschlaquo und Pan trog lody tes der raquohoumlh len be woh nen-de Faunlaquo

So weit so schoumln Der Mensch wur de der obers te Pri mat das houmlchs te raquoHer ren tierlaquo Linneacute be kam kei nen Aumlr ger mit der Kir-che und die Na tur wis sen schaft den gro szligen Wurf des Linneacute rsquoschen Sys tems Wenn nur die se Nach barn nicht wauml ren Seit Be kannt-wer den der Men schen af fen be muumlh ten sich Wis sen schaft ler und The o lo gen im mer wie der um den Ver such den klei nen Gra ben mit gro szligen Was sern zu fuumll len der Homo sap iens und Pan troshyglody tes bei ih rer ord nungs ge mauml szligen Ver ge sell schaf tung auf der 12

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 509783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 50 10082021 10493510082021 104935

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Af fen in sel trennt Sie eva ku ier ten den Men schen vom Pri ma ten-fel sen und schu fen ihm eine ei ge ne Ord nung

In die ser Vor stel lungs welt wuchs auch der The o lo gie stu dent Charles Dar win auf Das fruuml he 19 Jahr hun dert war eine got-tes fuumlrch ti ge bie der mei er li che Zeit Doch je mehr er sich mit der Ver aumln de rung der Ar ten be schaumlf tig te umso deut li cher wur de Dar win dass es mit der of fi zi ell be kun de ten Son der stel lung des Men schen im Uni ver sum nicht weit her sein konn te So no tier te er schon er staun lich fruumlh in sein Ta ge buch raquoDer Mensch haumllt sich in sei ner Ar ro ganz fuumlr ein groszlig ar ti ges Werk des be son de ren Ein grei fens ei ner Gott heit wuumlr dig Es duumlrf te be schei de ner und wie ich glau be auch rich tig sein ihn als aus den Tie ren ent stan-den an zu se henlaquo13

Dar win hat te den noch zwoumllf Jah re ge zouml gert bis er sich schlieszlig lich ge trau te nach der all ge mei nen Dar stel lung ei ner Evo-lu ti ons the o rie im Jahr 1859 sei ne Schluss fol ge run gen in Be zug auf den Men schen in Druck zu ge ben Die Ab stam mung des Men schen aus dem Jahr 1871 ist ein ge maumlch li ches Buch in ver-soumlhn li chem Ton fall Der Na tur for scher er zaumlhlt da rin wie ein gu-ter al ter Groszlig va ter wo her die Pfan zen die Tie re und die Eng-laumln der kom men Die raquoAb wer tunglaquo des Men schen geht da bei ein her mit ei ner kon ti nu ier li chen raquoAuf wer tunglaquo der Tie re raquoWir ha ben ge se henlaquo schreibt Dar win raquodass die Emp fin dun gen und Ein druuml cke die ver schie de nen Er re gun gen und Fauml hig kei ten wie Lie be Ge daumlcht nis Auf merk sam keit Neu gier de Nach ah mung Ver stand usw de ren sich der Mensch ruumlhmt in ei nem be gin nen-den oder zu wei len selbst in ei nem gut ent wi ckel ten Zu stand bei den nie de ren Tie ren ge fun den wer denlaquo14

La marck und Dar win wa ren die Ers ten die mit Mit teln der mo der nen Na tur wis sen schaft be haup te ten was vie le Kul tu ren und Zei ten schon zu vor re li gi oumls ge ahnt hat ten raquoNa tuumlr lichlaquo ist es ab surd eine Tei lung des Tier reichs in zwei Ka te go ri en vor zu-neh men ndash in eine mensch li che und eine nicht mensch li che Ka-13

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9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 519783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 51 10082021 10493510082021 104935

Page 25: Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen · Leseprobe Professor Dr. Richard David Precht Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen »Fazit:

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ei nen Sei te der Glau be an ein vom Men schen prin zi pi ell voumll lig durch schau ba res Na tur sys tem auf der an de ren Sei te eine un er-gruumlnd li che Schoumlp fung in der der Mensch sich im mer nur tas-tend fort be wegt

Die ers te Va ri an te gilt im 18 Jahr hun dert als der mo der ne-re An satz Man ori en tiert sich da bei an ei nem Ra ti o na lis mus den Reneacute Des car tes (1596 ndash 1650) schon hun dert Jah re zu vor neu be gruumln det hat Die ser Ra ti o na lis mus ori en tiert sich an der Me cha nik Die Schoumlp fung Got tes er scheint als eine ein zi ge klug aus ge tuumlf tel te Ma schi ne die der Mensch Stuumlck fuumlr Stuumlck zu be-herr schen lernt Und das Uni ver sum be steht aus Ma te rie in Be-we gung or ga ni siert nach ma the ma ti schen Ge set zen Ob gleich das 18 Jahr hun dert zent ra le Spe ku la ti o nen des Phi lo so phen wi-der legt ori en tiert es sich in vie lem an Des car tesrsquo me cha nis ti scher Denk wei se Sie tut dies vor zugs wei se in je nen Dis zip li nen de-ren Er kennt nis fort schritt zu naumlchst ge ring bleibt Und nir gend-wo trifft dies in ei nem sol chen Maszlig zu wie bei der Er for schung der bi o lo gi schen Na tur

Doch die ses Welt bild hat prob le ma ti sche Fol gen Wer die Welt kon se quent nach me cha nis ti schen Grund saumlt zen be trach tet hat fuumlr den Be reich der nicht mensch li chen Na tur we nig Ver staumlnd nis Fuumlr Des car tes sind Tie re nichts als Ma schi nen Es macht kei nen Un ter schied ob eine Ma schi ne die aumlu szlige re Ge stalt und die in ne-ren Or ga ne ei nes Af fen hat oder ob es sich da bei tat saumlch lich um ein le ben des Tier han delt Denn relevantes Le ben kommt fuumlr den Den ker nicht durch zir ku lie ren des Blut und Reizempfindungen in den Koumlrper Son dern bedeutsames Le ben ga ran tie ren ein zig und al lein der er leuch te te Geist und sei ne Spra che

Des car tesrsquo Zeit kennt we der den Be griff des raquoOr ga nis muslaquo die Be son der heit des Le bens noch die Evo lu ti on son dern eben nur die Me cha nik Trotz dem ist sei ne The o rie von den Tie ren als see len lo se Au to ma ten im 17 und 18 Jahr hun dert aumlu szligerst um-strit ten Fran zouml si sche Phi lo so phen schrei ben Buch um Buch uumlber

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 329783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 32 10082021 10493410082021 104934

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die Tier-Fra ge und be feh den sich da bei uumlber mehr als hun dert Jah re Noch weiszlig man nichts von ei ner raquoBi o lo gielaquo Man be treibt eine neue Dis zip lin die sich raquoNa tur ge schich telaquo nennt und da-mit auf raumlumt die Ge schich te von Le be we sen als eine wahl lo se Samm lung von Er zaumlh lun gen an zu se hen Bis her schrie ben Au to-ren um stands los von der Fang wei se der Tie re ih rer Ana to mie ih rer bib li schen und al le go ri schen Be deu tung ih rem prak ti schen Ge brauch ih rer Ver meh rung ih ren Stim men und Spra chen ih-ren Be we gun gen ih rem Al ter und von der Sym pa thie oder An-ti pa thie des Ver fas sers Auch Koch re zep te wur den von Fall zu Fall hin zu ge fuumlgt

Ein zo o lo gi sches Sys tem ist zu An fang des 18 Jahr hun derts weit ge hend un be kannt die Ver wandt schafts ver haumllt nis se der Pfan zen und Tie re sind dif fus ge ahnt und wer den eher nach Le-bens raumlu men be stimmt als nach koumlr per li chen Merk ma len Tie re die nachts ja gen ste hen da bei eben so in ei nem Ord nungs ge fuuml ge wie Tie re die fie gen koumln nen im Wald oder in ei nem See le ben Be reits die Pries ter schrift der bib li schen Ge ne sis hat te die Welt der Tie re und Pfan zen nicht nach ana to mi schen Merk ma len un-ter teilt son dern in Be zug auf den Le bens raum Pfan zen und Tie re des Mee res der Luft und der Erde Uumlber mehr als tau send Jah re kann ten auch der Is lam und die Hin dus Ord nungs sys teme die Tie re in ih rem Oumlko sys tem ver an ker ten

In der hin du is ti schen Samk hya-Tra di ti on exis tie ren vier zehn Klas sen un ter schied li cher Le be we sen ein ge teilt in acht For men himm li scher und sechs ir di scher Le be we sen zu de nen auch der Mensch ge houmlrt Als wei te res Un ter schei dungs merk mal dient die Art und Wei se der Ge burt Im gro szligen in di schen Na ti o nal epos aus dem 4 Jahr hun dert dem Ma hab har ata heiszligt es raquoAuf die ser Erde gibt es zwei Ar ten von Le be we sen die Be weg li chen und die Un be weg li chen Die Be weg li chen ha ben ei nen drei fa chen Schoszlig Sie sind aus dem Ei aus feuch ter Hit ze und Le ben dig-Ge bo re ne Von al len be weg li chen Le be we sen wie de rum sind die je ni gen die

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 339783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 33 10082021 10493410082021 104934

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le ben dig ge bo ren sind hellip die bes ten Die bes ten un ter den le ben-dig Ge bo re nen sind die die zum Men schen ge schlecht ge houml ren und die Nutz tie relaquo4

Die neu en Sys te me des 18 Jahr hun derts be frei en die Na tur-ge schich te von al lem was sich mit den Me tho den der Zeit nicht wis sen schaft lich exakt be schrei ben laumlsst Koch re zep te fal len so-wie so un ter den Tisch aber auch man che Ver hal tens be ob ach-tun gen und vor mals wich ti ge Ei gen schaf ten wie zum Bei spiel der Ge ruch Ge forscht wird mit Lupe und Mik ros kop Li ne al und Pin zet te Der wich tigs te Mann auf die sem Ge biet ist der schwe-di sche Na tur for scher Carl von Linneacute (1707 ndash 1778) Er ori en-tiert sich an Aris to te les den er be wun dert nicht an Des car tes Ge ra de zu re vo lu ti o naumlr de mo kra tisch ent wi ckelt der auf ge klaumlr te Schwe de im 18 Jahr hun dert ein be schrei ben des Sys tem der Na-tur frei vom the o lo gi schen Fir le fanz sei ner Zeit Mit der Ak ri bie ei nes Brief mar ken samm lers dem Voll staumln dig keit mehr be deu tet als das Be stau nen ein zel ner Wer te ord net er die be leb te Na tur nach Ar ten Gat tun gen Ord nun gen und Klas sen Vier Va ri ab len die Form der Ele men te ihre An zahl die raumlum li che An ord nung der Ele men te und ihre re la ti ve Grouml szlige be stimm ten von nun an den Platz im Sys tem

Un ter der Leit dis zip lin der Bo ta nik wan delt sich die Na tur ge-schich te in eine ge ord ne te Welt aus Li ni en und Flauml chen Ent schei-dend sind die sicht ba ren Un ter schei dungs merk ma le wie Bluuml ten und Staub ge fauml szlige Blaumlt ter und Fruumlch te Fuumlszlige und Hufe Fe dern und Flos sen So setzt Linneacute fuumlr jede Pfan zen- und Tier klas se jede Ord nung und Gat tung be stimm te Merk ma le fest die er als die wich ti ge ren er ach te t Denn nur un ter der An nah me sol cher pri vi-le gier ter Struk tu ren ist es ihm moumlg lich die ver schie de nen Spe zi es im Ge samt sys tem un miss ver staumlnd lich zu ras tern Der mensch li che Ord ner be schreibt also nicht ein fach die be leb te Na tur Er fuumlgt ihr auch et was hin zu die Ent schei dung naumlm lich was in der For men-viel falt der Le be we sen wich ti ge Merk ma le sind und was nicht4

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 349783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 34 10082021 10493410082021 104934

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Wie alle da ma li gen Na tur for scher nimmt Linneacute an dass die Ein tei lun gen die der mensch li che Ver stand macht tat saumlch lich ei ner ob jek ti ven Ord nung der Na tur ent spre chen Doch Lin neacutes Sys tem ist wie er selbst weiszlig nicht raquona tuumlr lichlaquo Sei ne Struk tu ren sind kei ne die er in der Na tur als Un ter schei dungs kri te ri en vor-fin det Denn was sich am Schreib tisch nun muumlh sam in Ord nun-gen pres sen laumlsst liegt wie der fran zouml si sche Na tur for scher Mishychel Adan son (1727 ndash 1806) fest stellt in der Wild nis wie Kraut und Ruuml ben durch ei nan der raquohellip eine kon fu se Mi schung aus We-sen hellip die der Zu fall ei nan der an ge nauml hert zu ha ben scheint Hier wird das Gold mit ei nem an de ren Me tall mit ei nem Stein oder mit Erde ge mischt Dort waumlchst die Ei che ne ben dem Veil chen Un ter die sen Pfan zen ir ren eben falls der Vier fuumlszlig ler das Rep til und das In sekt um her Die Fi sche mi schen sich so zu sa gen mit dem waumlss ri gen Ele ment in dem sie schwim men und mit den Pfan zen die auf dem Grun de der Ge waumls ser wach sen hellip Die se Mi schung ist so gar so all ge mein und so viel faumll tig dass sie ei nes der Na tur ge set ze zu sein scheintlaquo5

Der Wi der spruch zwi schen ei ner tax ono mi schen und ei ner oumlko lo gi schen Ord nung der Na tur ist of fen sicht lich Er fin det sich noch heu te in der Dis kus si on um die Aumls the tik von Zoo an la gen Soll man die Tie re nach Ver wandt schafts ver haumllt nis sen sam meln also in Raub tier haumlu sern An ti lo pen haumlu sern und Hirsch an la gen so dass der Be su cher zwi schen den ana to mi schen Be son der hei-ten der Ar ten ndash mit un ter so gar den ge o gra fi schen Va ri an ten ei ner ein zi gen Art ndash zu un ter schei den lernt Oder ge waumlhrt die Nach-ge stal tung ei nes Na tur bi o tops ei ner af ri ka ni schen Sa van ne oder ei nes al pi nen Pa no ra mas den wich ti ge ren Ein blick in die Ord-nung der Na tur

Zwar steht fuumlr Linneacute und sei ne Kol le gen fest dass die raquowah-re Ord nunglaquo der Na tur sich an den koumlr per li chen Merk ma len zu ori en tie ren hat doch muss eine Er klauml rung da fuumlr ge fun den wer-den wa rum die se Ord nung in der frei en Na tur nicht von al lein 5

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 359783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 35 10082021 10493410082021 104934

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sicht bar wird Ohne Zwei fel ist das Sys tem der Na tur kei ne zeit-lo se Schoumlp fung son dern durch Ver aumln de run gen ge kenn zeich net die sich in der Erd ge schich te er eig net ha ben Pa ral lel meh ren sich die Fun de von Fos si li en also von Tie ren die mut maszlig lich aus-ge stor ben sind Es hat al lem An schein nach grouml szlige re ge o lo gi sche Ka tast ro phen in un be kann ter Zahl ge ge ben de nen vie le Ar ten zum Op fer ge fal len sind Doch ha ben die se De sas ter auch zur Ent ste hung von neu en For men ge fuumlhrt

Um den Fak tor der Zeit und sei ne Fol gen fuumlr das Sys tem der Na tur ein zu schaumlt zen gibt es vie le Moumlg lich kei ten Die ein fachs te und mensch lichs te al ler zeit li chen Ord nungs vor stel lun gen ist die Idee al les fol ge ei nem Plan und sei auf ein Ziel hin aus ge rich-tet (Te le o lo gie) Re li gi o nen Phi lo so phi en und Ide o lo gi en funk-ti o nie ren na he zu al le samt ziel ge rich tet Es geht um ein bes se res Le ben auf Er den im Jen seits in ei nem ge rech ten Staat um die Herr schaft uumlber die an de ren uumlber die Pro duk ti ons mit tel oder das Boumlse Selbst un ser All tag ge stal tet sich weit ge hend te le o lo-gisch durch traumlnkt von zu kuumlnf ti ger Er war tung Mo tor jed we-der Te le o lo gie ist der Fort schritts ge dan ke Sein ima gi nauml res Ziel ist der voll kom me ne Zu stand So glau ben christ lich-abend laumln-di sche Ge sell schaf ten gern an eine staumln di ge Ver bes se rung durch An stren gung eine Tu gend die nach cal vi nis ti scher Tra di ti on im Him mel wie auf Er den von Gott ma te ri ell ent lohnt wird Wie na he lie gend also auch in der Na tur die Ent ste hung raquohouml he rerlaquo Le bens for men durch Fort schritt er ken nen zu wol len mit dem End ziel des Men schen

Die Un ord nung der Schoumlp fung mit ei nem goumltt li chen Fort-schritts plan in Ein klang zu brin gen ist das Le bens werk des Schwei zer Na tur for schers und Phi lo so phen Charles Bon net (1720 ndash 1793) Fuumlr Bon net ist die Zahl der Ar ten und ihre aumlu-szlige re Ge stalt von Gott ein fuumlr al le Mal fest ge legt Doch kann sich ein je des Le be we sen per fek ti o nie ren Der Weg vom simp-len Ge muumlt zur ge ni a li schen Leis tung ist vom Schoumlp fer vor ge-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 369783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 36 10082021 10493410082021 104934

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zeich net Und alle Tie re be schrei ten ihn zeit lich ver setzt nach dem glei chen Mus ter das der Mensch ih nen vor ge lebt hat raquoEs wird ei nen mehr oder we ni ger lang sa men und kon ti nu ier li chen Fort schritt al ler Ar ten zu ei ner houml he ren Ver voll komm nung ge-ben so dass alle Gra de der Stu fen lei ter in ei ner de ter mi nie ren den und kons tan ten Be zie hung fort ge setzt va ri a bel sein wer den hellip Es wird un ter den Af fen Leu te wie New ton und un ter Bi bern wie (den Fes tungs bau meis ter RDP) Vau ban ge ben Die Aus-tern und die Po ly pen wer den in Be zie hung zu den houmlchs ten Ar-ten das sein was die Vouml gel fuumlr die Vier fuumlszlig ler im Ver haumllt nis zum Men schen sindlaquo6

Seit Bon net ist die Vor stel lung von der raquoLei ter der Na turlaquo der Sca la nat urae ein wich ti ges In ven tar des na tur ge schicht-li chen Den kens Fort schritt Ver voll komm nung und goumltt li cher Plan ndash die se drei Grouml szligen be stim men die Vor stel lung vom Wer-den der Na tur vom 18 Jahr hun dert bis in die Ge gen wart hi nein Das Prin zip nach dem die Evo lu ti on Le ben her vor bringt sei un ver meid lich und von An fang an vor her be stimmt Nicht we-ni ge E vo lu ti ons the o re ti ker ha ben dies eben falls ge glaubt und zwar mit be acht li cher Kon ti nu i taumlt Der eng li sche Na tur for scher Alf red Rus sel Wall ace (1823 ndash 1913) der ge mein sam mit Dar win die The o rie der na tuumlr li chen Se lek ti on ent wi ckelt hat te hielt nicht nur den mensch li chen Geist und sein Mo ral emp fin den son dern zu dem auch die wei che nack te emp find sa me Haut des Men-schen fuumlr das Re sul tat ei ner not wen di gen Ent wick lung

Doch schon im 18 Jahr hun dert reg ten sich zu gleich vor sich-ti ge Zwei fel an der Stim mig keit ei ner sol chen Vor ge formt heit Denn wie soll te man Na tur ka tast ro phen be wer ten Waumlh rend die meis ten Na tur for scher sie als Teil des goumltt li chen Schoumlp-fungs plans in ter pre tier ten zo gen an de re ver gleichs wei se fins te-re Schluumls se Und so wur de tat saumlch lich ein gro szliges Erd be ben zum in di rek ten Aus louml ser der Evo lu ti ons the o rie naumlm lich je nes von Lis sa bon im Jahr 1755 Wer uumlber die Ka tast ro phe nach dach te 6

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 379783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 37 10082021 10493410082021 104934

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konn te star ken Zwei fel da ran he gen dass die Welt ord nung aus-ge kluuml gelt und har mo nisch sei

Die wei test rei chen den Schluss fol ge run gen zog der eng li-sche Pfar rer und Na ti o nal oumlko nom Tho mas Ro bert Malt hus (1766 ndash 1834) Nicht nur die ge o lo gi sche Na tur und ihr Ge-fah ren ri si ko son dern auch die Ver meh rung der Be voumll ke rung wur de nun als Uumlbel er kannt Im Jahr 1798 pub li zier te Malt-hus sei nen Es say on the Princi ple of Po pu la ti on (Das Be voumllshyke rungs ge setz) die ers te Mahn schrift vor den Ge fah ren ei ner Be voumll ke rungs ex plo si on Bei ei ner Ver dop pe lungs ra te der Welt-be voumll ke rung in ner halb von fuumlnf und zwan zig Jah ren er rech ne-te Malt hus wer de ihr exponent iel les An wach sen auf grund der von der Um welt ge setz ten Gren zen not wen dig zu Ar mut Ka-tast ro phen und Tod fuumlh ren Der bib li sche Auf trag raquoSeid frucht-bar und meh ret euchlaquo er schien mit ei nem Mal als ein Fluch Ein gna den lo ser raquoKampf ums Da seinlaquo (strugg le for life) war ent fes selt Das Ein zi ge was blieb war die Hoff nung die ka-tast ro pha len Fol gen der goumltt li chen An wei sung so weit wie moumlg lich ein daumlm men zu koumln nen

In ei ner Zeit als die Ge sell schafts the o rie noch der Bi o lo-gie den Leuch ter vo ran und nicht wie heu te die Schlep pe hin-terh er traumlgt be geis tert sich vor al lem ein eng li scher Dorf pfar rer Charles Dar win (1809 ndash 1882) fuumlr die Malt hus rsquoschen Ge set ze Denn wenn es rich tig ist dass sich ein Tier mit ei ner so ge rin-gen Ver meh rungs ra te wie der Mensch ge gen uumlber sei nen Art ge-nos sen durch setz te so gab es sicht lich an de re Kri te ri en fuumlr die Uumlber le bens fauml hig keit ei ner Po pu la ti on als die Zahl ih rer Ge bur-ten Der Maszlig stab fuumlr den Er folg ei ner Spe zi es war ihr Durch set-zungs ver mouml gen oder wie Dar win es spauml ter in den Prin zi pi en der Bio logie des jun gen Phi lo so phen Her bert Spen cer (1820 ndash 1903) le sen konn te raquothe sur vi val of the fit testlaquo

Dar wins na tur kund li che Stu di en wa ren ur spruumlng lich von dem Ge dan ken be seelt die nicht a ni ma li sche Iden ti taumlt des Men schen

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 389783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 38 10082021 10493410082021 104934

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zu be wei sen Erst der Sieg des Ent de cker stol zes uumlber das Ent-set zen ver lieh ihm schlieszlig lich den Mut den be ruumlhm ten Satz zu schrei ben raquoUnd ich bin bei na he uumlber zeugt (der Mei nung mit der ich an die Fra ge he ran ge tre ten bin voumll lig ent ge gen ge setzt) dass die Spe zi es (mir ist es als ge staumln de ich ei nen Mord ein) nicht un ver aumln der lich sindlaquo7

Dar wins kuumlh ne Ver mu tung war nicht ganz neu Be reits ein hal bes Jahr hun dert zu vor hat ten der fran zouml si sche Na tur for scher GeorgesshyLou is Lec lerc Comte de Buf fon (1707 ndash 1788) und der Phi lo soph De nis Dide rot (1713 ndash 1784) uumlber eine Ver aumln de-rung der Ar ten spe ku liert Be son ders JeanshyBap tiste de La marck (1744 ndash 1829) be haup te te die all maumlh li che Ent wick lung der Ar-ten aus pri mi ti ve ren Vor for men die so ge nann te Trans mu ta ti on La marck war nicht nur ein Pi o nier der mit Jahr mil li o nen han-tier te als alle Welt die Erde noch ei ni ge tau send bis hun dert tau-send Jah re jung waumlhn te son dern er praumlg te (zur glei chen Zeit wie zwei deut sche Na tur for scher) das Wort Bi o lo gie Bei ihm wan del ten sich die Le be we sen da durch dass sich ihre koumlr per-li chen An stren gun gen auf ihr Erb gut aus wir ken Da bei nahm er al ler dings nicht an dass die Ar ten aus ei nan der her vor ge hen wie Dar win es spauml ter tat La ma rcks The o rie ist nauml her an je ner von Bon net Fuumlr ihn ver voll komm nen die ein zel nen Tier ar ten im Lau fe der Zeit ihre An la gen und ent wi ckeln sich da durch im-mer houml her Be son ders voll kom me ne Tie re wie der Mensch sind dem nach sehr alt denn sie ha ben ei nen wei ten Weg von ei nem pri mi ti ven Or ga nis mus bis hin zur heu ti gen Ge stalt hin ter sich ge las sen An de re wie der pri mi ti ve Suumlszlig was ser po lyp ha ben ihre Rei se durch die Zeit ge ra de erst an ge fan gen

La marck war kein Charis mati ker und die zo o lo gi sche All-macht sei nes Vor ge setz ten am Jar din des Plan tes in Pa ris des Ba rons George Cu vier (1769 ndash 1832) ver hin der te dass man sich all zu sehr mit sei nen The o ri en be schaumlf tig te Cu vier war ein be-deu ten der Mann An die Stel le ei ner nach bo ta ni schem Mus ter 7

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 399783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 39 10082021 10493410082021 104934

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ver fah ren den Zo o lo gie setz te er eine neue Wis sen schaft die sich we ni ger an aumlu szlige ren Merk ma len als am Or ga nis mus der Tie-re ori en tier te Doch was die Trans mu ta ti on an be lang te blieb der Ober auf se her der pro tes tan tisch-the o lo gi schen Fa kul tauml ten Frank reichs beim kon ser va ti ven Mo dell Er ver brei te te wei-ter hin eine Ket te von Na tur ka tast ro phen habe als mo di fi zier-te Sint fu ten gan zen Klas sen von Tie ren den Gar aus ge macht Die se The o rie ist weit ge hend rich tig al ler dings schlieszligt sie die Trans mu ta ti on nicht aus

Das wirk lich Re vo lu ti o nauml re an La marck war die Idee die Ge schich te der Na tur nicht vom Men schen aus bis hi nun ter zur Bak te rie zu schrei ben son dern um ge kehrt von der Bak te rie zum Men schen Aus ei nem Mo dell der raumlum li chen Hie rar chie wur de ein Mo dell der zeit li chen Ent wick lung La marck er kann te zu-dem dass das Be wusst sein ei nes Tie res an die Phy si o lo gie und Neu ro lo gie sei nes Koumlr pers ge bun den ist Dem nach ist je der Geist ers tens be grenzt und zwei tens ver aumln der lich

Die phi lo so phi sche Kon se quenz aus La ma rcks Den ken ist so ra di kal dass sie fast ein hun dert fuumlnf zig Jah re lang von nie man-dem ernst haft in Be tracht ge zo gen wur de Wie kann ein Geist der den Ge set zen der Evo lu ti on un ter wor fen ist sich ei gent lich an ma szligen die Na tur der Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Von die ser Schluss fol ge rung woll te die Bi o lo gie al ler dings bis weit ins 20 Jahr hun dert hi nein nicht viel wis sen

Auch Dar wins The o rie von der na tuumlr li chen Se lek ti on der Le be we sen im Rin gen um ihr Le ben und mit der Um welt ent-wi ckel te sich wei ter Ge witz ten Zeit ge nos sen wie Karl Marx (1818 ndash 1883) war auf ge fal len wie stark Dar wins Den ken dem Zeit geist des Vik to ri a ni schen Zeit al ters ver haf tet war raquoEs ist merk wuumlr dig wie Dar win un ter Bes ti en und Pfan zen sei ne eng li-sche Ge sell schaft mit ih rer Tei lung der Ar beit Kon kur renz Auf-schluss neu er Maumlrk te rsaquoEr fin dun genlsaquo und Malt hus schem rsaquoKampf ums Da seinlsaquo wie der er kenntlaquo8 Die Be to nung des Malt hus rsquoschen 8

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 409783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 40 10082021 10493410082021 104934

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Kamp fes von je dem ge gen je den und auch der Fort schritts glau-be in Dar wins Den ken zei gen ihn stark sei ner Zeit ver haf tet

Eine an de re Kri tik kam aus der Bi o lo gie selbst Dar win hat-te noch nichts von Ge nen ge wusst So konn te er nicht er klauml ren was sich bi o che misch er eig ne te wenn Ar ten sich ver aumln der ten Der raquoDar wi nis muslaquo der Jahr hun dert wen de gab schlieszlig lich die Hoff nung auf die Evo lu ti on lie szlige sich al lein durch die na tuumlr li-che Se lek ti on der Ar ten nach Maszlig ga be ih rer An pas sungs fauml hig-keit an die Um welt be gruumln den Man ent deck te die Rol le der Ge-ne tik und zum neu en Er klauml rungs prin zip wur de das Mo dell der zwei Kons t ruk teu re Das Spiel des Le bens er hielt ei nen Wuumlr fel zu faumll li ge Ver aumln de run gen im Gen ma te ri al also so ge nann te Mu tashyti o nen Im Tri alshyandshyEr ror-Ver fah ren ent ste hen im Erb gut ge le-gent lich Ab wei chun gen die dann er folg reich sind wenn sie sich in der Um welt be waumlh ren Da mit war die Idee vom Tisch dass sich neu er wor be ne Ei gen schaf ten oder raquodie ana to mi schen Aus-wir kun gen koumlr per li cher An stren gun genlaquo wie La marck mein te ver er ben koumlnn ten Noch Dar win hat te dies fuumlr denk bar ge hal ten So ver trau te er Er zaumlh lun gen wo nach bei je nen Volks grup pen zu de ren Ri ten die re gel mauml szligi ge Be schnei dung der Pe nis vor haut ge houmlrt sich die Vor haut all maumlh lich ver kuumlrz te Das haumlt te zwar die Be schnei dung uumlber fuumls sig ge macht aber Dar win hat te ge ra-de an de res Ge wich ti ges zu be den ken als da ruuml ber nach zu sin nen

Die Ver kuumlr zung der Vor haut blieb im Wis sens schatz der Dar wi nis ten bis Au gust Weis mann (1834 ndash 1914) im spauml ten 19 Jahr hun dert nach wies dass ein sol cher In for ma ti ons fuss vom aumlu szlige ren Er schei nungs bild zum Erb ma te ri al nicht moumlg lich sei Uumlber fuumlnf Ge ne ra ti o nen kuumlrz te Weis mann ei nem Stamm von Maumlu sen ihre Schwaumln ze ohne dass eine Nach richt uumlber die sen Ein griff die Keim bah nen der Maumlu se er reich te Denn sie he da Auch die Schwaumln ze der nach fol gen den Maumlu se ge ne ra ti o nen blie-ben gleich lang Da be durf te es schon der Spitz fin dig keit des iri schen Dich ters George Bern ard Shaw (1856 ndash 1950) der Weis-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 419783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 41 10082021 10493410082021 104934

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manns schnei den de Wi der le gung der La marckrsquo schen The o rie leicht fer tig vom Se zier tisch wisch te Die Maumlu se be merk te der Dich ter haumlt ten gar kei ne An stren gun gen un ter nom men ihre Schwaumln ze zu ver lie ren waumlh rend sich die Tie re bei La marck ja da rum be muumlht haumlt ten sich zu ver aumln dern

Im Nach hi n ein also war es der pauml da go gi sche Op ti mis mus der La marck in die Irre ge fuumlhrt ha ben soll te So mach te die Hoff-nung auf ei nen ethisch an spre chen den E vo lu ti ons ver lauf ndash die Er war tung die Mensch heit ent wick le sich qua An pas sung an das so zi a le Mi li eu durch Selbst er zie hung zum Bes se ren ndash nur noch eine et was ab sei ti ge Kar ri e re im staats so zi a lis ti schen Bi o lo gie-un ter richt der Sow jet u ni on Wie kalt da ge gen der uumlber le ge ne raquoKampf ums Da seinlaquo der ja ein Kampf um die Fleisch toumlp fe ist ohne Hoff nung der Mensch wer de den kuumlh nen Geist statt sei-nes ma te ri a lis ti schen Gier hal ses nach Houml he rem stre cken Und ein zig die Kir che be wahr te un ver dros sen ei nen la marc kis ti schen Ge dan ken ndash al ler dings ei nen pes si mis ti schen und kei nen op ti-mis ti schen In bes ter Schuumlt zen hil fe fuumlr den fran zouml si schen Che-va li er ver tei digt sie bis heu te ihr mo le ku lar ge ne tisch be denk li-ches Dog ma Adams Un ge hor sam im Gar ten Eden habe zu ei ner raquoErb suumln delaquo ge fuumlhrt die da rauf hin auf alle zu kuumlnf ti gen Ge ne ra-ti o nen uumlber ge gan gen sei

Im mer hin sind in den bei den letz ten Jahr zehn ten ei ni ge Bi o-lo gen wie der et was of fe ner da fuumlr ge wor den der Ver er bung er-wor be ner Ei gen schaf ten ei nen Platz in der Ge ne tik zu las sen Zwar ver er ben sich psy chi sche und phy si sche Le bens er fah run-gen nicht durch ver aumln der te Gene Aber es koumlnn te doch sein dass jene Schal ter die da ruuml ber be stim men wel che ge ne ti sche In for-ma ti on wei ter ge ge ben wird und wel che nicht durch Um welt-ein fuumls se ver aumln dert wer den Uumlber le gun gen wie die se be schaumlf ti-gen so ge nann te Epi gen eti ker seit ei ni ger Zeit sie ha ben ei nen wach sen den Ein fuss auf un se re Vor stel lung von der Evo lu ti on

Die heu ti ge Leit dis zip lin die uns die Ver wandt schaft des Le-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 429783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 42 10082021 10493410082021 104934

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bens ent schluumls seln soll ist die Ge ne tik Wir un ter su chen die Sum-me al ler ge ne ti schen In for ma ti o nen und re gist rie ren da bei Uumlber-ein stim mun gen und Ab wei chun gen mit an de ren Ar ten Doch der Pro zess die Na tur un se rer Na tur zu er ken nen ist noch lan ge nicht ab ge schlos sen und wird wohl auch nie ab ge schlos sen sein Wir wen den Ord nungs sche ma ta auf The o ri en und The o ri en auf Be ob ach tun gen an Nur so kom men wir zu Kau sa li tauml ten und Ge-set zen Doch ihre Be deu tung ver aumln dert sich in dem Maszlige wie wir den Blick punkt un se rer Auf merk sam keit wie der ver la gern Die ser Vor gang des Ent dec kens und des Ver de ckens durch neue Denk sche ma ta ist prin zi pi ell nicht ab schlieszlig bar denn selbst ge-gen waumlr ti ge Evo lu ti ons the o ri en un ter lie gen wei ter hin der Evo-lu ti on

Er staun li cher wei se hat die mo der ne Evo lu ti ons the o rie nur zu ei ner ge ring fuuml gi gen Kor rek tur al ter Denk sche ma ta ge fuumlhrt Wie fruuml her in der Na tur ge schich te er ken nen wir heu te in der Bi o lo gie uumlber all Re gel haf tigk eit Not wen dig keit und Vor tei-le Doch bei nauml he rer Sicht er weist sich die Evo lu ti on ge ra de zu als Herr schafts ge biet der Aus nah men uumlber die Re geln Sie ist eine raquoZweck mauml szligig keit ohne Zwecklaquo wenn auch al lein fuumlr die 01 Pro zent der heu te noch ndash oder ge ra de ndash exis tie ren den Spe-zi es nicht aber fuumlr die 999 Pro zent die in den Ur fu ten dem Ord ovizium dem Perm der Krei de oder dem Ter ti aumlr das Welt-li che seg ne ten E vo lu ti ons bi o lo gen su chen in der Ge schich te der Na tur uumlber all nach Vor tei len die das Uumlber le ben von Ar ten er-klauml ren sol len Da bei ver men gen sie oft zwei ver schie de ne Vor-teils be grif fe Ein mal geht es um Mu ta ti o nen die si tu a tiv vor teil-haf te Ei gen schaf ten fuumlr eine Tier art her vor ge bracht ha ben sol len Eine grouml szlige re Sta tur ein pom pouml se res Ge weih ein staumlr ke res Ge biss sol len Weib chen be ein dru cken und die Nach kom men schaft er-houml hen Da die se Ei gen schaf ten aber oft nichts nuumlt zen wenn der Zu fall die Spiel re geln der Um welt aumln dert gibt es ei nen zwei ten Vor teils be griff Da nach ist das vor teil haft in der Evo lu ti on was

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 439783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 43 10082021 10493410082021 104934

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vom Ende her be trach tet dazu ge fuumlhrt hat dass eine Art uumlber-lebt Nach die ser Sicht wei se kann der mick rigs te Pa vi an auf dem Fel sen sei ne Gene wei ter ge ben wenn die staumlr ke ren Kon kur ren-ten bei ei nem Erd be ben ums Le ben ge kom men sind

An ge sichts zwei er so un ter schied li cher Be deu tun gen von raquoVor teillaquo fragt es sich ob der Be griff in der Evo lu ti ons the o rie uumlber haupt sinn voll ver wen det wer den kann Tat saumlch lich ist er ein Erbe der The o lo gie des 17 und 18 Jahr hun derts die uumlber-all in der Na tur nach der klu gen Ver nunft Got tes such te Dar win kann te die se Tra di ti on gut Als Stu dent ver ehr te er den The o lo-gen Will iam Pa ley (1743 ndash 1805) der na tur kund lich be schla gen die goumltt li che Vo raus sicht auf den neu es ten Stand ge bracht hat te Als Dar win sich von Gott ver ab schie de te und die na tuumlr li che Se-lek ti on er kann te er setz te er uumlber all wo Pa ley raquoGod doeslaquo ge-schrie ben hat te den Satz durch raquoNat ure doeslaquo An Pa leys Vor-stel lung dass die Na tur zweck mauml szligig ein ge rich tet sei und Vor tei le be loh ne hielt Dar win eben so fest wie vie le spauml te re E vo lu ti ons-the o re ti ker

Die Fra ge ist des halb wich tig weil sie zeigt wie eng un se re Vor stel lung von der Na tur bis hi nein in die mo der ne Evo lu ti-ons the o rie von sehr mensch li chen Vor stel lun gen durch setzt ist Statt Vor tei le zu be nen nen wuumlr de es naumlm lich auch aus rei chen zu sa gen dass al les in der Na tur uumlber le ben kann das fuumlr eine Art kei nen toumld li chen Nach teil hat te Ver mut lich uumlber lebt in der Evo lu ti on nicht nur Zweck mauml szligi ges son dern jede Ver aumln de rung die zu min dest nicht zum Aus ster ben fuumlhr t und moumlg li cher wei se liegt ge ra de hie rin der Grund fuumlr eine gro szlige Ar ten viel falt

Die tra di ti o nell ver eng te Sicht wei se gilt ins be son de re bei der Be trach tung des Men schen E vo lu ti ons bi o lo gen koumln nen zahl-rei che Vor tei le be nen nen die er klauml ren wa rum die mensch li che Art so er folg reich ist Men schen sind aumlu szligerst an pas sungs fauml hig und be sie deln fast alle Le bens raumlu me sie sind Al les fres ser mit ei ner gro szligen Nah rungs band brei te sie ha ben eine fe xib le So zi-

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al struk tur und ver fuuml gen uumlber ein Selbst be wusst sein das es ih-nen er moumlg licht ihr Ver hal ten zu kor ri gie ren So ge se hen ist der Mensch gleich sam das op ti mal ste al ler Tie re Doch alldem zum Trotz exis tie ren Men schen der Gat tung Homo sap iens erst seit rund 100 000 Jah ren und ihre lang fris ti gen Zu kunfts chan cen ste hen schlecht Denn mit all den vor teil haf ten Ei gen schaf ten ha-ben Men schen in Re kord zeit ihre Um welt zer stoumlrt und das lang-fris ti ge Uumlber le ben der Spe zi es dra ma tisch in fra ge ge stellt Die mit we ni ger spek ta ku lauml ren Vor tei len aus ge stat te ten Di no sau ri-er exis tier ten auf un se rem Pla ne ten hun dert fuumlnf zig Mil li o nen Jah re ganz zu schwei gen von den seit uumlber vier hun dert Mil li o-nen Jah ren na he zu un ver aumln der ten Nau til iden und Ur schne cken

Ge si chert in der Evo lu ti ons the o rie ist dass kei ne ih rer An nah-men ge si chert ist E vo lu ti ons bi o lo gen die ihre Sa che ernst neh-men muumls sen im mer auch die E vo lu ti ons be dingt heit ih res ei ge-nen Er kennt nis ap pa rats ref ek tie ren also mit hin die Evo lu ti on al ler mensch li chen Er kennt nis raquoLetzt lich istlaquo wie der Neuro bio-lo ge Ger hard Roth schreibt raquoje des Nach den ken uumlber die ob jek-ti ve Re a li taumlt sei es wis sen schaft lich oder nicht an die Be din gun-gen mensch li chen Den kens Spre chens und Han delns ge bun den und muss sich da rin be waumlh renlaquo9

Man muss ref ek tie ren dass die un ver meid li chen Ord nungs-mit tel des Geis tes das Den ken und die Spra che nicht die Wirk-lich keit raquoan sichlaquo auf raumlu men Sie sind Mo del le die die un ver-fuumlg ba re Wirk lich keit nach Maszlig ga be der ei ge nen Spiel re geln er klauml ren Nicht erst seit Er for schung der Evo lu ti on in den letz-ten zwei hun dert Jah ren muumlht sich der mensch li che Geist dem Lauf der Welt ei nen ndash nach mensch li chem Er mes sen ndash raquover nuumlnf-ti genlaquo Sinn zu ge ben Doch das Pa ra do xe der Ge schich te liegt da rin dass der mensch li che Geist selbst Pro dukt evo lu ti o nauml rer Pro zes se ist Er ist Maszlig stab und Ge mes se nes zu gleich

An eine tat saumlch lich ob jek ti ve Er kennt nis der Evo lu ti on waumlre nur halb wegs sinn voll zu den ken wenn die Evo lu ti on des Men-9

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 459783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 45 10082021 10493410082021 104934

schen ab ge schlos sen ist und da mit die Stu fe der groumlszligt moumlg li chen Voll kom men heit er reicht hat In den Zei ten vor La marck und Dar win ha ben das nicht nur The o lo gen son dern auch die Na tur-for scher fast al le samt ge glaubt Das mensch li che Be wusst sein sei die un uuml ber trof fe ne Spit zen leis tung des Schoumlp fer got tes ge schaf-fen die Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Sei nen schoumlns-ten Aus druck fand die se Sicht in ei nem Aus spruch des jun gen Phi lo so phen Fried rich Wil helm Jo seph Schel ling (1775 ndash 1854) Er mein te dass der Mensch je nes We sen sei raquoin dem die Na tur das Auge auf schlaumlgtlaquo und sich da mit ih rer selbst be wusst wird Ein huumlb scher Satz aber doch viel zu pa the tisch for mu liert Von der vol len Er kennt nis der Na tur und un se rer selbst sind wir noch im mer weit ent fernt Aber wir koumln nen da ruuml ber stau nen dass die Evo lu ti on mit uns ein Le be we sen her vor ge bracht hat in dem die Na tur sich fuumlr sich selbst fa szi nier bar ge macht hat Wie hat te es dazu kom men koumln nen

bull Der Pri mat Was ist ein Mensch

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 469783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 46 10082021 10493410082021 104934

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ver waist sein Die Mensch heit wird er wacht sein und die Welt je-nes Ge sicht er hal ten ha ben das uns ge gen waumlr tig er scheint Doch wie sah das aus als die Na tur das ers te Mal in ei nem af fen aumlhn-li chen We sen die Au gen auf schlug War es auf ei ner Wald wie-se in ei nem Hain an ei nem Berg hang oder auf ei ner Lich tung War das er leuch te te We sen ein Maumlnn chen oder ein Weib chen Ging es den gan zen Tag auf recht oder saszlig es noch ger ne in der Ho cke eng ge kau ert an sei ne Bruuml der und Schwes tern Und war es eine Ein ge bung ein Blitz schlag als das Selbst be wusst sein das ers te Mal die Fes seln des Pri ma ten ge hirns spreng te

Wir wis sen nicht wo ran Schel ling dach te als er mein te die Na tur habe im Men schen ihr Auge auf ge schla gen Si cher dach te er nicht an ei nen ein zi gen Mo ment dem Mil li o nen an de re folg-ten Er dach te an den raquoMen schen an sichlaquo Und er wuss te nichts vom ost af ri ka ni schen Great Rift Val ley und von haa ri gen Vor-men schen die dort einst haus ten Er leb te in Jena und in Muumln-chen und ei nen Men schen af fen hat te Schel ling nie ge se hen Der ein zig ar ti ge Mo ment in dem die Na tur sich ih rer selbst be wusst wird bleibt eine Me ta pher

Doch wie wur de der Mensch nun tat saumlch lich zum Men-schen Die For mu lie rung ist dop pel deu tig Denn wie der Mensch zum Men schen wur de ndash das ist nicht ein evo lu ti o nauml rer Pro-zess auf der lee ren Welt buumlh ne son dern ein Spiel von Be ob ach-ter und Be ob ach te tem Schau spie ler und Zu schau er Ge schich-te auch Ent wick lungs ge schich te ist nichts Vor ge fun de nes Der Mensch schrieb der fran zouml si sche Phi lo soph JeanshyPaul Sart re (1905 ndash 1980) macht sich selbst wie der Ro man schrift stel ler sei ne Fi gu ren Er ist ge fer tigt aus bi o lo gi schen (ana to mi schen neu ro lo gi schen und phy si o lo gi schen) Be stand tei len zu al ler meist je doch durch jene we nig bi o lo gi schen Weis hei ten mit de nen sich die se Subs tan zen selbst zum raquoMen schenlaquo er ko ren

Das Glei che gilt fuumlr die mensch li che Stam mes ge schich te Auch sie ist zu naumlchst ein mal eine Ge schich te Ihre Ur spruumln ge lie gen im

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 489783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 48 10082021 10493510082021 104935

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al ten Grie chen land als Aris to te les den Men schen und den Af-fen ver wandt schaft lich na he ruumlckt raquoMan che Tie re ste hen zwi-schen Mensch und Vier fuumlszlig ler in ih rem We sen wie Af fen Meer-kat zen und Pa vi a ne hellip Ihr Ge sicht hat vie le Aumlhn lich kei ten mit dem des Men schen Nase und Oh ren glei chen den sei nen und Zaumlh ne hat er auch wie ein Mensch die Vor der zaumlh ne wie die Ba cken zaumlhnelaquo10 Auch Aris to te lesrsquo Schuuml ler The oph rast (ca 370 v Chr ndash ca 288 v Chr) be steht auf der Aumlhn lich keit zwi schen Men schen und Tie ren Er lehnt es so gar ab Fleisch zu es sen oder Tie re zu op fern da man sei ne Ver wand ten nicht ver spei se

Aris to te les und The oph rast stell ten den Men schen zwar ne-ben den Af fen ndash Men schen af fen kann te man noch nicht ndash aber die al ten Grie chen hat ten ihn nur sehr un ge faumlhr zu ei nem Tier un ter Tie ren er klaumlrt Den naumlchs ten Schritt mach te mehr als zwei-tau send Jah re spauml ter Carl von Linneacute An der Zu ge houml rig keit des Men schen zu den Saumlu ge tie ren be stand fuumlr den Schwe den kein Zwei fel die Be haa rung und das Stil len der Jun gen be lehr ten un-miss ver staumlnd lich da ruuml ber Auch die Ver wandt schaft mit Af fen und Men schen af fen stand au szliger Fra ge Hier wa ren es die fa chen Fin ger- und Fuszlig nauml gel statt der Klau en der ab ge spreiz te Dau-men die Greif haumln de die zwei Zit zen der Weib chen und der frei he run ter haumln gen de statt am Un ter leib an lie gen de Pe nis ndash Merk-ma le die groumlszlig ten teils auch schon Aris to te les auf ge fal len wa ren

Doch Linneacute zouml ger te vor der Kon se quenz Haumln de rin gend such-te der got tes fuumlrch ti ge Ana tom nach ei nem Un ter schied zwi schen dem Men schen und den uumlb ri gen von ihm so ge nann ten raquoPri ma-tenlaquo raquoIch ver lan gelaquo schrieb er 1747 sei nem deut schen Freund Jo hann Ge org Gme lin raquovon Ih nen und von der gan zen Welt dass Sie mir ein Gat tungs merk mal zei gen hellip auf grund des sen man zwi schen Mensch und Affe un ter schei den kann Ich weiszlig selbst mit aumlu szligers ter Ge wiss heit von kei nemlaquo11

Nach sei nen Kri te ri en haumlt te Linneacute den Men schen zu min dest mit dem Schim pan sen ge mein sam in die sel be Gat tung ein ord-10

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nen muumls sen Der Ge dan ke schweb te zeit gleich auch dem Phi lo so-phen JeanshyJacques Rous seau (1712 ndash 1778) vor als er Schim pan-sen Orang-Ut ans und Men schen so gar als Ver tre ter der Spe zi es Mensch an sah Rous seau hat te nie ei nen Men schen af fen ge se-hen Aber die Be rich te die er von Ex pe di ti o nen nach Af ri ka und Suumld ost a si en las lie szligen in ihm kei nen Zwei fel dass die da rin be schrie be nen Men schen af fen raquowe der Tie re noch Goumlt ter son-dern Men schenlaquo sei en12 Fuumlr den Auf klauml rer wa ren Men schen af-fen edle Wil de die von kei ner Zi vi li sa ti on in ih rem fried fer ti gen We sen zer stoumlrt sei en an ders als die Men schen in Eu ro pa Eben-so dach te we nig spauml ter der schot ti sche Sprach for scher James Bur nett Lord Mon boddo (1714 ndash 1799) Auch er be trach te te den Orang-Utan als ei nen Men schen naumlm lich als ei nen raquosprach-losen Wil denlaquo

In ter pre ta ti o nen wie Rous seau sie in Pa ris und Bur nett bald da rauf in Kin card ines hire wag ten wa ren Linneacute im schwe di schen Upp sa la fremd Den Men schen ins Tier reich ein zu ord nen war in den Au gen der stren gen pro tes tan ti schen Kir che Suumln de ge nug und Linneacute zouml ger te den letz ten Schritt zu tun In sei ner Not sor-tier te er 1758 ach sel zu ckend Mensch und Schim pan se in un ter-schied li che Gat tun gen zu sam men ge fasst in der Ord nung der Pri ma ten in der sie auch heu te noch mehr schlecht als recht huumlbsch ge trennt ne ben ei nan der ho cken Homo sap iens der raquoin-tel ligi ble Menschlaquo und Pan trog lody tes der raquohoumlh len be woh nen-de Faunlaquo

So weit so schoumln Der Mensch wur de der obers te Pri mat das houmlchs te raquoHer ren tierlaquo Linneacute be kam kei nen Aumlr ger mit der Kir-che und die Na tur wis sen schaft den gro szligen Wurf des Linneacute rsquoschen Sys tems Wenn nur die se Nach barn nicht wauml ren Seit Be kannt-wer den der Men schen af fen be muumlh ten sich Wis sen schaft ler und The o lo gen im mer wie der um den Ver such den klei nen Gra ben mit gro szligen Was sern zu fuumll len der Homo sap iens und Pan troshyglody tes bei ih rer ord nungs ge mauml szligen Ver ge sell schaf tung auf der 12

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 509783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 50 10082021 10493510082021 104935

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Af fen in sel trennt Sie eva ku ier ten den Men schen vom Pri ma ten-fel sen und schu fen ihm eine ei ge ne Ord nung

In die ser Vor stel lungs welt wuchs auch der The o lo gie stu dent Charles Dar win auf Das fruuml he 19 Jahr hun dert war eine got-tes fuumlrch ti ge bie der mei er li che Zeit Doch je mehr er sich mit der Ver aumln de rung der Ar ten be schaumlf tig te umso deut li cher wur de Dar win dass es mit der of fi zi ell be kun de ten Son der stel lung des Men schen im Uni ver sum nicht weit her sein konn te So no tier te er schon er staun lich fruumlh in sein Ta ge buch raquoDer Mensch haumllt sich in sei ner Ar ro ganz fuumlr ein groszlig ar ti ges Werk des be son de ren Ein grei fens ei ner Gott heit wuumlr dig Es duumlrf te be schei de ner und wie ich glau be auch rich tig sein ihn als aus den Tie ren ent stan-den an zu se henlaquo13

Dar win hat te den noch zwoumllf Jah re ge zouml gert bis er sich schlieszlig lich ge trau te nach der all ge mei nen Dar stel lung ei ner Evo-lu ti ons the o rie im Jahr 1859 sei ne Schluss fol ge run gen in Be zug auf den Men schen in Druck zu ge ben Die Ab stam mung des Men schen aus dem Jahr 1871 ist ein ge maumlch li ches Buch in ver-soumlhn li chem Ton fall Der Na tur for scher er zaumlhlt da rin wie ein gu-ter al ter Groszlig va ter wo her die Pfan zen die Tie re und die Eng-laumln der kom men Die raquoAb wer tunglaquo des Men schen geht da bei ein her mit ei ner kon ti nu ier li chen raquoAuf wer tunglaquo der Tie re raquoWir ha ben ge se henlaquo schreibt Dar win raquodass die Emp fin dun gen und Ein druuml cke die ver schie de nen Er re gun gen und Fauml hig kei ten wie Lie be Ge daumlcht nis Auf merk sam keit Neu gier de Nach ah mung Ver stand usw de ren sich der Mensch ruumlhmt in ei nem be gin nen-den oder zu wei len selbst in ei nem gut ent wi ckel ten Zu stand bei den nie de ren Tie ren ge fun den wer denlaquo14

La marck und Dar win wa ren die Ers ten die mit Mit teln der mo der nen Na tur wis sen schaft be haup te ten was vie le Kul tu ren und Zei ten schon zu vor re li gi oumls ge ahnt hat ten raquoNa tuumlr lichlaquo ist es ab surd eine Tei lung des Tier reichs in zwei Ka te go ri en vor zu-neh men ndash in eine mensch li che und eine nicht mensch li che Ka-13

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9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 519783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 51 10082021 10493510082021 104935

Page 26: Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen · Leseprobe Professor Dr. Richard David Precht Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen »Fazit:

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die Tier-Fra ge und be feh den sich da bei uumlber mehr als hun dert Jah re Noch weiszlig man nichts von ei ner raquoBi o lo gielaquo Man be treibt eine neue Dis zip lin die sich raquoNa tur ge schich telaquo nennt und da-mit auf raumlumt die Ge schich te von Le be we sen als eine wahl lo se Samm lung von Er zaumlh lun gen an zu se hen Bis her schrie ben Au to-ren um stands los von der Fang wei se der Tie re ih rer Ana to mie ih rer bib li schen und al le go ri schen Be deu tung ih rem prak ti schen Ge brauch ih rer Ver meh rung ih ren Stim men und Spra chen ih-ren Be we gun gen ih rem Al ter und von der Sym pa thie oder An-ti pa thie des Ver fas sers Auch Koch re zep te wur den von Fall zu Fall hin zu ge fuumlgt

Ein zo o lo gi sches Sys tem ist zu An fang des 18 Jahr hun derts weit ge hend un be kannt die Ver wandt schafts ver haumllt nis se der Pfan zen und Tie re sind dif fus ge ahnt und wer den eher nach Le-bens raumlu men be stimmt als nach koumlr per li chen Merk ma len Tie re die nachts ja gen ste hen da bei eben so in ei nem Ord nungs ge fuuml ge wie Tie re die fie gen koumln nen im Wald oder in ei nem See le ben Be reits die Pries ter schrift der bib li schen Ge ne sis hat te die Welt der Tie re und Pfan zen nicht nach ana to mi schen Merk ma len un-ter teilt son dern in Be zug auf den Le bens raum Pfan zen und Tie re des Mee res der Luft und der Erde Uumlber mehr als tau send Jah re kann ten auch der Is lam und die Hin dus Ord nungs sys teme die Tie re in ih rem Oumlko sys tem ver an ker ten

In der hin du is ti schen Samk hya-Tra di ti on exis tie ren vier zehn Klas sen un ter schied li cher Le be we sen ein ge teilt in acht For men himm li scher und sechs ir di scher Le be we sen zu de nen auch der Mensch ge houmlrt Als wei te res Un ter schei dungs merk mal dient die Art und Wei se der Ge burt Im gro szligen in di schen Na ti o nal epos aus dem 4 Jahr hun dert dem Ma hab har ata heiszligt es raquoAuf die ser Erde gibt es zwei Ar ten von Le be we sen die Be weg li chen und die Un be weg li chen Die Be weg li chen ha ben ei nen drei fa chen Schoszlig Sie sind aus dem Ei aus feuch ter Hit ze und Le ben dig-Ge bo re ne Von al len be weg li chen Le be we sen wie de rum sind die je ni gen die

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 339783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 33 10082021 10493410082021 104934

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le ben dig ge bo ren sind hellip die bes ten Die bes ten un ter den le ben-dig Ge bo re nen sind die die zum Men schen ge schlecht ge houml ren und die Nutz tie relaquo4

Die neu en Sys te me des 18 Jahr hun derts be frei en die Na tur-ge schich te von al lem was sich mit den Me tho den der Zeit nicht wis sen schaft lich exakt be schrei ben laumlsst Koch re zep te fal len so-wie so un ter den Tisch aber auch man che Ver hal tens be ob ach-tun gen und vor mals wich ti ge Ei gen schaf ten wie zum Bei spiel der Ge ruch Ge forscht wird mit Lupe und Mik ros kop Li ne al und Pin zet te Der wich tigs te Mann auf die sem Ge biet ist der schwe-di sche Na tur for scher Carl von Linneacute (1707 ndash 1778) Er ori en-tiert sich an Aris to te les den er be wun dert nicht an Des car tes Ge ra de zu re vo lu ti o naumlr de mo kra tisch ent wi ckelt der auf ge klaumlr te Schwe de im 18 Jahr hun dert ein be schrei ben des Sys tem der Na-tur frei vom the o lo gi schen Fir le fanz sei ner Zeit Mit der Ak ri bie ei nes Brief mar ken samm lers dem Voll staumln dig keit mehr be deu tet als das Be stau nen ein zel ner Wer te ord net er die be leb te Na tur nach Ar ten Gat tun gen Ord nun gen und Klas sen Vier Va ri ab len die Form der Ele men te ihre An zahl die raumlum li che An ord nung der Ele men te und ihre re la ti ve Grouml szlige be stimm ten von nun an den Platz im Sys tem

Un ter der Leit dis zip lin der Bo ta nik wan delt sich die Na tur ge-schich te in eine ge ord ne te Welt aus Li ni en und Flauml chen Ent schei-dend sind die sicht ba ren Un ter schei dungs merk ma le wie Bluuml ten und Staub ge fauml szlige Blaumlt ter und Fruumlch te Fuumlszlige und Hufe Fe dern und Flos sen So setzt Linneacute fuumlr jede Pfan zen- und Tier klas se jede Ord nung und Gat tung be stimm te Merk ma le fest die er als die wich ti ge ren er ach te t Denn nur un ter der An nah me sol cher pri vi-le gier ter Struk tu ren ist es ihm moumlg lich die ver schie de nen Spe zi es im Ge samt sys tem un miss ver staumlnd lich zu ras tern Der mensch li che Ord ner be schreibt also nicht ein fach die be leb te Na tur Er fuumlgt ihr auch et was hin zu die Ent schei dung naumlm lich was in der For men-viel falt der Le be we sen wich ti ge Merk ma le sind und was nicht4

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 349783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 34 10082021 10493410082021 104934

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Wie alle da ma li gen Na tur for scher nimmt Linneacute an dass die Ein tei lun gen die der mensch li che Ver stand macht tat saumlch lich ei ner ob jek ti ven Ord nung der Na tur ent spre chen Doch Lin neacutes Sys tem ist wie er selbst weiszlig nicht raquona tuumlr lichlaquo Sei ne Struk tu ren sind kei ne die er in der Na tur als Un ter schei dungs kri te ri en vor-fin det Denn was sich am Schreib tisch nun muumlh sam in Ord nun-gen pres sen laumlsst liegt wie der fran zouml si sche Na tur for scher Mishychel Adan son (1727 ndash 1806) fest stellt in der Wild nis wie Kraut und Ruuml ben durch ei nan der raquohellip eine kon fu se Mi schung aus We-sen hellip die der Zu fall ei nan der an ge nauml hert zu ha ben scheint Hier wird das Gold mit ei nem an de ren Me tall mit ei nem Stein oder mit Erde ge mischt Dort waumlchst die Ei che ne ben dem Veil chen Un ter die sen Pfan zen ir ren eben falls der Vier fuumlszlig ler das Rep til und das In sekt um her Die Fi sche mi schen sich so zu sa gen mit dem waumlss ri gen Ele ment in dem sie schwim men und mit den Pfan zen die auf dem Grun de der Ge waumls ser wach sen hellip Die se Mi schung ist so gar so all ge mein und so viel faumll tig dass sie ei nes der Na tur ge set ze zu sein scheintlaquo5

Der Wi der spruch zwi schen ei ner tax ono mi schen und ei ner oumlko lo gi schen Ord nung der Na tur ist of fen sicht lich Er fin det sich noch heu te in der Dis kus si on um die Aumls the tik von Zoo an la gen Soll man die Tie re nach Ver wandt schafts ver haumllt nis sen sam meln also in Raub tier haumlu sern An ti lo pen haumlu sern und Hirsch an la gen so dass der Be su cher zwi schen den ana to mi schen Be son der hei-ten der Ar ten ndash mit un ter so gar den ge o gra fi schen Va ri an ten ei ner ein zi gen Art ndash zu un ter schei den lernt Oder ge waumlhrt die Nach-ge stal tung ei nes Na tur bi o tops ei ner af ri ka ni schen Sa van ne oder ei nes al pi nen Pa no ra mas den wich ti ge ren Ein blick in die Ord-nung der Na tur

Zwar steht fuumlr Linneacute und sei ne Kol le gen fest dass die raquowah-re Ord nunglaquo der Na tur sich an den koumlr per li chen Merk ma len zu ori en tie ren hat doch muss eine Er klauml rung da fuumlr ge fun den wer-den wa rum die se Ord nung in der frei en Na tur nicht von al lein 5

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 359783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 35 10082021 10493410082021 104934

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sicht bar wird Ohne Zwei fel ist das Sys tem der Na tur kei ne zeit-lo se Schoumlp fung son dern durch Ver aumln de run gen ge kenn zeich net die sich in der Erd ge schich te er eig net ha ben Pa ral lel meh ren sich die Fun de von Fos si li en also von Tie ren die mut maszlig lich aus-ge stor ben sind Es hat al lem An schein nach grouml szlige re ge o lo gi sche Ka tast ro phen in un be kann ter Zahl ge ge ben de nen vie le Ar ten zum Op fer ge fal len sind Doch ha ben die se De sas ter auch zur Ent ste hung von neu en For men ge fuumlhrt

Um den Fak tor der Zeit und sei ne Fol gen fuumlr das Sys tem der Na tur ein zu schaumlt zen gibt es vie le Moumlg lich kei ten Die ein fachs te und mensch lichs te al ler zeit li chen Ord nungs vor stel lun gen ist die Idee al les fol ge ei nem Plan und sei auf ein Ziel hin aus ge rich-tet (Te le o lo gie) Re li gi o nen Phi lo so phi en und Ide o lo gi en funk-ti o nie ren na he zu al le samt ziel ge rich tet Es geht um ein bes se res Le ben auf Er den im Jen seits in ei nem ge rech ten Staat um die Herr schaft uumlber die an de ren uumlber die Pro duk ti ons mit tel oder das Boumlse Selbst un ser All tag ge stal tet sich weit ge hend te le o lo-gisch durch traumlnkt von zu kuumlnf ti ger Er war tung Mo tor jed we-der Te le o lo gie ist der Fort schritts ge dan ke Sein ima gi nauml res Ziel ist der voll kom me ne Zu stand So glau ben christ lich-abend laumln-di sche Ge sell schaf ten gern an eine staumln di ge Ver bes se rung durch An stren gung eine Tu gend die nach cal vi nis ti scher Tra di ti on im Him mel wie auf Er den von Gott ma te ri ell ent lohnt wird Wie na he lie gend also auch in der Na tur die Ent ste hung raquohouml he rerlaquo Le bens for men durch Fort schritt er ken nen zu wol len mit dem End ziel des Men schen

Die Un ord nung der Schoumlp fung mit ei nem goumltt li chen Fort-schritts plan in Ein klang zu brin gen ist das Le bens werk des Schwei zer Na tur for schers und Phi lo so phen Charles Bon net (1720 ndash 1793) Fuumlr Bon net ist die Zahl der Ar ten und ihre aumlu-szlige re Ge stalt von Gott ein fuumlr al le Mal fest ge legt Doch kann sich ein je des Le be we sen per fek ti o nie ren Der Weg vom simp-len Ge muumlt zur ge ni a li schen Leis tung ist vom Schoumlp fer vor ge-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 369783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 36 10082021 10493410082021 104934

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zeich net Und alle Tie re be schrei ten ihn zeit lich ver setzt nach dem glei chen Mus ter das der Mensch ih nen vor ge lebt hat raquoEs wird ei nen mehr oder we ni ger lang sa men und kon ti nu ier li chen Fort schritt al ler Ar ten zu ei ner houml he ren Ver voll komm nung ge-ben so dass alle Gra de der Stu fen lei ter in ei ner de ter mi nie ren den und kons tan ten Be zie hung fort ge setzt va ri a bel sein wer den hellip Es wird un ter den Af fen Leu te wie New ton und un ter Bi bern wie (den Fes tungs bau meis ter RDP) Vau ban ge ben Die Aus-tern und die Po ly pen wer den in Be zie hung zu den houmlchs ten Ar-ten das sein was die Vouml gel fuumlr die Vier fuumlszlig ler im Ver haumllt nis zum Men schen sindlaquo6

Seit Bon net ist die Vor stel lung von der raquoLei ter der Na turlaquo der Sca la nat urae ein wich ti ges In ven tar des na tur ge schicht-li chen Den kens Fort schritt Ver voll komm nung und goumltt li cher Plan ndash die se drei Grouml szligen be stim men die Vor stel lung vom Wer-den der Na tur vom 18 Jahr hun dert bis in die Ge gen wart hi nein Das Prin zip nach dem die Evo lu ti on Le ben her vor bringt sei un ver meid lich und von An fang an vor her be stimmt Nicht we-ni ge E vo lu ti ons the o re ti ker ha ben dies eben falls ge glaubt und zwar mit be acht li cher Kon ti nu i taumlt Der eng li sche Na tur for scher Alf red Rus sel Wall ace (1823 ndash 1913) der ge mein sam mit Dar win die The o rie der na tuumlr li chen Se lek ti on ent wi ckelt hat te hielt nicht nur den mensch li chen Geist und sein Mo ral emp fin den son dern zu dem auch die wei che nack te emp find sa me Haut des Men-schen fuumlr das Re sul tat ei ner not wen di gen Ent wick lung

Doch schon im 18 Jahr hun dert reg ten sich zu gleich vor sich-ti ge Zwei fel an der Stim mig keit ei ner sol chen Vor ge formt heit Denn wie soll te man Na tur ka tast ro phen be wer ten Waumlh rend die meis ten Na tur for scher sie als Teil des goumltt li chen Schoumlp-fungs plans in ter pre tier ten zo gen an de re ver gleichs wei se fins te-re Schluumls se Und so wur de tat saumlch lich ein gro szliges Erd be ben zum in di rek ten Aus louml ser der Evo lu ti ons the o rie naumlm lich je nes von Lis sa bon im Jahr 1755 Wer uumlber die Ka tast ro phe nach dach te 6

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 379783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 37 10082021 10493410082021 104934

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konn te star ken Zwei fel da ran he gen dass die Welt ord nung aus-ge kluuml gelt und har mo nisch sei

Die wei test rei chen den Schluss fol ge run gen zog der eng li-sche Pfar rer und Na ti o nal oumlko nom Tho mas Ro bert Malt hus (1766 ndash 1834) Nicht nur die ge o lo gi sche Na tur und ihr Ge-fah ren ri si ko son dern auch die Ver meh rung der Be voumll ke rung wur de nun als Uumlbel er kannt Im Jahr 1798 pub li zier te Malt-hus sei nen Es say on the Princi ple of Po pu la ti on (Das Be voumllshyke rungs ge setz) die ers te Mahn schrift vor den Ge fah ren ei ner Be voumll ke rungs ex plo si on Bei ei ner Ver dop pe lungs ra te der Welt-be voumll ke rung in ner halb von fuumlnf und zwan zig Jah ren er rech ne-te Malt hus wer de ihr exponent iel les An wach sen auf grund der von der Um welt ge setz ten Gren zen not wen dig zu Ar mut Ka-tast ro phen und Tod fuumlh ren Der bib li sche Auf trag raquoSeid frucht-bar und meh ret euchlaquo er schien mit ei nem Mal als ein Fluch Ein gna den lo ser raquoKampf ums Da seinlaquo (strugg le for life) war ent fes selt Das Ein zi ge was blieb war die Hoff nung die ka-tast ro pha len Fol gen der goumltt li chen An wei sung so weit wie moumlg lich ein daumlm men zu koumln nen

In ei ner Zeit als die Ge sell schafts the o rie noch der Bi o lo-gie den Leuch ter vo ran und nicht wie heu te die Schlep pe hin-terh er traumlgt be geis tert sich vor al lem ein eng li scher Dorf pfar rer Charles Dar win (1809 ndash 1882) fuumlr die Malt hus rsquoschen Ge set ze Denn wenn es rich tig ist dass sich ein Tier mit ei ner so ge rin-gen Ver meh rungs ra te wie der Mensch ge gen uumlber sei nen Art ge-nos sen durch setz te so gab es sicht lich an de re Kri te ri en fuumlr die Uumlber le bens fauml hig keit ei ner Po pu la ti on als die Zahl ih rer Ge bur-ten Der Maszlig stab fuumlr den Er folg ei ner Spe zi es war ihr Durch set-zungs ver mouml gen oder wie Dar win es spauml ter in den Prin zi pi en der Bio logie des jun gen Phi lo so phen Her bert Spen cer (1820 ndash 1903) le sen konn te raquothe sur vi val of the fit testlaquo

Dar wins na tur kund li che Stu di en wa ren ur spruumlng lich von dem Ge dan ken be seelt die nicht a ni ma li sche Iden ti taumlt des Men schen

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 389783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 38 10082021 10493410082021 104934

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zu be wei sen Erst der Sieg des Ent de cker stol zes uumlber das Ent-set zen ver lieh ihm schlieszlig lich den Mut den be ruumlhm ten Satz zu schrei ben raquoUnd ich bin bei na he uumlber zeugt (der Mei nung mit der ich an die Fra ge he ran ge tre ten bin voumll lig ent ge gen ge setzt) dass die Spe zi es (mir ist es als ge staumln de ich ei nen Mord ein) nicht un ver aumln der lich sindlaquo7

Dar wins kuumlh ne Ver mu tung war nicht ganz neu Be reits ein hal bes Jahr hun dert zu vor hat ten der fran zouml si sche Na tur for scher GeorgesshyLou is Lec lerc Comte de Buf fon (1707 ndash 1788) und der Phi lo soph De nis Dide rot (1713 ndash 1784) uumlber eine Ver aumln de-rung der Ar ten spe ku liert Be son ders JeanshyBap tiste de La marck (1744 ndash 1829) be haup te te die all maumlh li che Ent wick lung der Ar-ten aus pri mi ti ve ren Vor for men die so ge nann te Trans mu ta ti on La marck war nicht nur ein Pi o nier der mit Jahr mil li o nen han-tier te als alle Welt die Erde noch ei ni ge tau send bis hun dert tau-send Jah re jung waumlhn te son dern er praumlg te (zur glei chen Zeit wie zwei deut sche Na tur for scher) das Wort Bi o lo gie Bei ihm wan del ten sich die Le be we sen da durch dass sich ihre koumlr per-li chen An stren gun gen auf ihr Erb gut aus wir ken Da bei nahm er al ler dings nicht an dass die Ar ten aus ei nan der her vor ge hen wie Dar win es spauml ter tat La ma rcks The o rie ist nauml her an je ner von Bon net Fuumlr ihn ver voll komm nen die ein zel nen Tier ar ten im Lau fe der Zeit ihre An la gen und ent wi ckeln sich da durch im-mer houml her Be son ders voll kom me ne Tie re wie der Mensch sind dem nach sehr alt denn sie ha ben ei nen wei ten Weg von ei nem pri mi ti ven Or ga nis mus bis hin zur heu ti gen Ge stalt hin ter sich ge las sen An de re wie der pri mi ti ve Suumlszlig was ser po lyp ha ben ihre Rei se durch die Zeit ge ra de erst an ge fan gen

La marck war kein Charis mati ker und die zo o lo gi sche All-macht sei nes Vor ge setz ten am Jar din des Plan tes in Pa ris des Ba rons George Cu vier (1769 ndash 1832) ver hin der te dass man sich all zu sehr mit sei nen The o ri en be schaumlf tig te Cu vier war ein be-deu ten der Mann An die Stel le ei ner nach bo ta ni schem Mus ter 7

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 399783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 39 10082021 10493410082021 104934

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ver fah ren den Zo o lo gie setz te er eine neue Wis sen schaft die sich we ni ger an aumlu szlige ren Merk ma len als am Or ga nis mus der Tie-re ori en tier te Doch was die Trans mu ta ti on an be lang te blieb der Ober auf se her der pro tes tan tisch-the o lo gi schen Fa kul tauml ten Frank reichs beim kon ser va ti ven Mo dell Er ver brei te te wei-ter hin eine Ket te von Na tur ka tast ro phen habe als mo di fi zier-te Sint fu ten gan zen Klas sen von Tie ren den Gar aus ge macht Die se The o rie ist weit ge hend rich tig al ler dings schlieszligt sie die Trans mu ta ti on nicht aus

Das wirk lich Re vo lu ti o nauml re an La marck war die Idee die Ge schich te der Na tur nicht vom Men schen aus bis hi nun ter zur Bak te rie zu schrei ben son dern um ge kehrt von der Bak te rie zum Men schen Aus ei nem Mo dell der raumlum li chen Hie rar chie wur de ein Mo dell der zeit li chen Ent wick lung La marck er kann te zu-dem dass das Be wusst sein ei nes Tie res an die Phy si o lo gie und Neu ro lo gie sei nes Koumlr pers ge bun den ist Dem nach ist je der Geist ers tens be grenzt und zwei tens ver aumln der lich

Die phi lo so phi sche Kon se quenz aus La ma rcks Den ken ist so ra di kal dass sie fast ein hun dert fuumlnf zig Jah re lang von nie man-dem ernst haft in Be tracht ge zo gen wur de Wie kann ein Geist der den Ge set zen der Evo lu ti on un ter wor fen ist sich ei gent lich an ma szligen die Na tur der Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Von die ser Schluss fol ge rung woll te die Bi o lo gie al ler dings bis weit ins 20 Jahr hun dert hi nein nicht viel wis sen

Auch Dar wins The o rie von der na tuumlr li chen Se lek ti on der Le be we sen im Rin gen um ihr Le ben und mit der Um welt ent-wi ckel te sich wei ter Ge witz ten Zeit ge nos sen wie Karl Marx (1818 ndash 1883) war auf ge fal len wie stark Dar wins Den ken dem Zeit geist des Vik to ri a ni schen Zeit al ters ver haf tet war raquoEs ist merk wuumlr dig wie Dar win un ter Bes ti en und Pfan zen sei ne eng li-sche Ge sell schaft mit ih rer Tei lung der Ar beit Kon kur renz Auf-schluss neu er Maumlrk te rsaquoEr fin dun genlsaquo und Malt hus schem rsaquoKampf ums Da seinlsaquo wie der er kenntlaquo8 Die Be to nung des Malt hus rsquoschen 8

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 409783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 40 10082021 10493410082021 104934

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Kamp fes von je dem ge gen je den und auch der Fort schritts glau-be in Dar wins Den ken zei gen ihn stark sei ner Zeit ver haf tet

Eine an de re Kri tik kam aus der Bi o lo gie selbst Dar win hat-te noch nichts von Ge nen ge wusst So konn te er nicht er klauml ren was sich bi o che misch er eig ne te wenn Ar ten sich ver aumln der ten Der raquoDar wi nis muslaquo der Jahr hun dert wen de gab schlieszlig lich die Hoff nung auf die Evo lu ti on lie szlige sich al lein durch die na tuumlr li-che Se lek ti on der Ar ten nach Maszlig ga be ih rer An pas sungs fauml hig-keit an die Um welt be gruumln den Man ent deck te die Rol le der Ge-ne tik und zum neu en Er klauml rungs prin zip wur de das Mo dell der zwei Kons t ruk teu re Das Spiel des Le bens er hielt ei nen Wuumlr fel zu faumll li ge Ver aumln de run gen im Gen ma te ri al also so ge nann te Mu tashyti o nen Im Tri alshyandshyEr ror-Ver fah ren ent ste hen im Erb gut ge le-gent lich Ab wei chun gen die dann er folg reich sind wenn sie sich in der Um welt be waumlh ren Da mit war die Idee vom Tisch dass sich neu er wor be ne Ei gen schaf ten oder raquodie ana to mi schen Aus-wir kun gen koumlr per li cher An stren gun genlaquo wie La marck mein te ver er ben koumlnn ten Noch Dar win hat te dies fuumlr denk bar ge hal ten So ver trau te er Er zaumlh lun gen wo nach bei je nen Volks grup pen zu de ren Ri ten die re gel mauml szligi ge Be schnei dung der Pe nis vor haut ge houmlrt sich die Vor haut all maumlh lich ver kuumlrz te Das haumlt te zwar die Be schnei dung uumlber fuumls sig ge macht aber Dar win hat te ge ra-de an de res Ge wich ti ges zu be den ken als da ruuml ber nach zu sin nen

Die Ver kuumlr zung der Vor haut blieb im Wis sens schatz der Dar wi nis ten bis Au gust Weis mann (1834 ndash 1914) im spauml ten 19 Jahr hun dert nach wies dass ein sol cher In for ma ti ons fuss vom aumlu szlige ren Er schei nungs bild zum Erb ma te ri al nicht moumlg lich sei Uumlber fuumlnf Ge ne ra ti o nen kuumlrz te Weis mann ei nem Stamm von Maumlu sen ihre Schwaumln ze ohne dass eine Nach richt uumlber die sen Ein griff die Keim bah nen der Maumlu se er reich te Denn sie he da Auch die Schwaumln ze der nach fol gen den Maumlu se ge ne ra ti o nen blie-ben gleich lang Da be durf te es schon der Spitz fin dig keit des iri schen Dich ters George Bern ard Shaw (1856 ndash 1950) der Weis-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 419783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 41 10082021 10493410082021 104934

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manns schnei den de Wi der le gung der La marckrsquo schen The o rie leicht fer tig vom Se zier tisch wisch te Die Maumlu se be merk te der Dich ter haumlt ten gar kei ne An stren gun gen un ter nom men ihre Schwaumln ze zu ver lie ren waumlh rend sich die Tie re bei La marck ja da rum be muumlht haumlt ten sich zu ver aumln dern

Im Nach hi n ein also war es der pauml da go gi sche Op ti mis mus der La marck in die Irre ge fuumlhrt ha ben soll te So mach te die Hoff-nung auf ei nen ethisch an spre chen den E vo lu ti ons ver lauf ndash die Er war tung die Mensch heit ent wick le sich qua An pas sung an das so zi a le Mi li eu durch Selbst er zie hung zum Bes se ren ndash nur noch eine et was ab sei ti ge Kar ri e re im staats so zi a lis ti schen Bi o lo gie-un ter richt der Sow jet u ni on Wie kalt da ge gen der uumlber le ge ne raquoKampf ums Da seinlaquo der ja ein Kampf um die Fleisch toumlp fe ist ohne Hoff nung der Mensch wer de den kuumlh nen Geist statt sei-nes ma te ri a lis ti schen Gier hal ses nach Houml he rem stre cken Und ein zig die Kir che be wahr te un ver dros sen ei nen la marc kis ti schen Ge dan ken ndash al ler dings ei nen pes si mis ti schen und kei nen op ti-mis ti schen In bes ter Schuumlt zen hil fe fuumlr den fran zouml si schen Che-va li er ver tei digt sie bis heu te ihr mo le ku lar ge ne tisch be denk li-ches Dog ma Adams Un ge hor sam im Gar ten Eden habe zu ei ner raquoErb suumln delaquo ge fuumlhrt die da rauf hin auf alle zu kuumlnf ti gen Ge ne ra-ti o nen uumlber ge gan gen sei

Im mer hin sind in den bei den letz ten Jahr zehn ten ei ni ge Bi o-lo gen wie der et was of fe ner da fuumlr ge wor den der Ver er bung er-wor be ner Ei gen schaf ten ei nen Platz in der Ge ne tik zu las sen Zwar ver er ben sich psy chi sche und phy si sche Le bens er fah run-gen nicht durch ver aumln der te Gene Aber es koumlnn te doch sein dass jene Schal ter die da ruuml ber be stim men wel che ge ne ti sche In for-ma ti on wei ter ge ge ben wird und wel che nicht durch Um welt-ein fuumls se ver aumln dert wer den Uumlber le gun gen wie die se be schaumlf ti-gen so ge nann te Epi gen eti ker seit ei ni ger Zeit sie ha ben ei nen wach sen den Ein fuss auf un se re Vor stel lung von der Evo lu ti on

Die heu ti ge Leit dis zip lin die uns die Ver wandt schaft des Le-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 429783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 42 10082021 10493410082021 104934

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bens ent schluumls seln soll ist die Ge ne tik Wir un ter su chen die Sum-me al ler ge ne ti schen In for ma ti o nen und re gist rie ren da bei Uumlber-ein stim mun gen und Ab wei chun gen mit an de ren Ar ten Doch der Pro zess die Na tur un se rer Na tur zu er ken nen ist noch lan ge nicht ab ge schlos sen und wird wohl auch nie ab ge schlos sen sein Wir wen den Ord nungs sche ma ta auf The o ri en und The o ri en auf Be ob ach tun gen an Nur so kom men wir zu Kau sa li tauml ten und Ge-set zen Doch ihre Be deu tung ver aumln dert sich in dem Maszlige wie wir den Blick punkt un se rer Auf merk sam keit wie der ver la gern Die ser Vor gang des Ent dec kens und des Ver de ckens durch neue Denk sche ma ta ist prin zi pi ell nicht ab schlieszlig bar denn selbst ge-gen waumlr ti ge Evo lu ti ons the o ri en un ter lie gen wei ter hin der Evo-lu ti on

Er staun li cher wei se hat die mo der ne Evo lu ti ons the o rie nur zu ei ner ge ring fuuml gi gen Kor rek tur al ter Denk sche ma ta ge fuumlhrt Wie fruuml her in der Na tur ge schich te er ken nen wir heu te in der Bi o lo gie uumlber all Re gel haf tigk eit Not wen dig keit und Vor tei-le Doch bei nauml he rer Sicht er weist sich die Evo lu ti on ge ra de zu als Herr schafts ge biet der Aus nah men uumlber die Re geln Sie ist eine raquoZweck mauml szligig keit ohne Zwecklaquo wenn auch al lein fuumlr die 01 Pro zent der heu te noch ndash oder ge ra de ndash exis tie ren den Spe-zi es nicht aber fuumlr die 999 Pro zent die in den Ur fu ten dem Ord ovizium dem Perm der Krei de oder dem Ter ti aumlr das Welt-li che seg ne ten E vo lu ti ons bi o lo gen su chen in der Ge schich te der Na tur uumlber all nach Vor tei len die das Uumlber le ben von Ar ten er-klauml ren sol len Da bei ver men gen sie oft zwei ver schie de ne Vor-teils be grif fe Ein mal geht es um Mu ta ti o nen die si tu a tiv vor teil-haf te Ei gen schaf ten fuumlr eine Tier art her vor ge bracht ha ben sol len Eine grouml szlige re Sta tur ein pom pouml se res Ge weih ein staumlr ke res Ge biss sol len Weib chen be ein dru cken und die Nach kom men schaft er-houml hen Da die se Ei gen schaf ten aber oft nichts nuumlt zen wenn der Zu fall die Spiel re geln der Um welt aumln dert gibt es ei nen zwei ten Vor teils be griff Da nach ist das vor teil haft in der Evo lu ti on was

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 439783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 43 10082021 10493410082021 104934

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vom Ende her be trach tet dazu ge fuumlhrt hat dass eine Art uumlber-lebt Nach die ser Sicht wei se kann der mick rigs te Pa vi an auf dem Fel sen sei ne Gene wei ter ge ben wenn die staumlr ke ren Kon kur ren-ten bei ei nem Erd be ben ums Le ben ge kom men sind

An ge sichts zwei er so un ter schied li cher Be deu tun gen von raquoVor teillaquo fragt es sich ob der Be griff in der Evo lu ti ons the o rie uumlber haupt sinn voll ver wen det wer den kann Tat saumlch lich ist er ein Erbe der The o lo gie des 17 und 18 Jahr hun derts die uumlber-all in der Na tur nach der klu gen Ver nunft Got tes such te Dar win kann te die se Tra di ti on gut Als Stu dent ver ehr te er den The o lo-gen Will iam Pa ley (1743 ndash 1805) der na tur kund lich be schla gen die goumltt li che Vo raus sicht auf den neu es ten Stand ge bracht hat te Als Dar win sich von Gott ver ab schie de te und die na tuumlr li che Se-lek ti on er kann te er setz te er uumlber all wo Pa ley raquoGod doeslaquo ge-schrie ben hat te den Satz durch raquoNat ure doeslaquo An Pa leys Vor-stel lung dass die Na tur zweck mauml szligig ein ge rich tet sei und Vor tei le be loh ne hielt Dar win eben so fest wie vie le spauml te re E vo lu ti ons-the o re ti ker

Die Fra ge ist des halb wich tig weil sie zeigt wie eng un se re Vor stel lung von der Na tur bis hi nein in die mo der ne Evo lu ti-ons the o rie von sehr mensch li chen Vor stel lun gen durch setzt ist Statt Vor tei le zu be nen nen wuumlr de es naumlm lich auch aus rei chen zu sa gen dass al les in der Na tur uumlber le ben kann das fuumlr eine Art kei nen toumld li chen Nach teil hat te Ver mut lich uumlber lebt in der Evo lu ti on nicht nur Zweck mauml szligi ges son dern jede Ver aumln de rung die zu min dest nicht zum Aus ster ben fuumlhr t und moumlg li cher wei se liegt ge ra de hie rin der Grund fuumlr eine gro szlige Ar ten viel falt

Die tra di ti o nell ver eng te Sicht wei se gilt ins be son de re bei der Be trach tung des Men schen E vo lu ti ons bi o lo gen koumln nen zahl-rei che Vor tei le be nen nen die er klauml ren wa rum die mensch li che Art so er folg reich ist Men schen sind aumlu szligerst an pas sungs fauml hig und be sie deln fast alle Le bens raumlu me sie sind Al les fres ser mit ei ner gro szligen Nah rungs band brei te sie ha ben eine fe xib le So zi-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 449783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 44 10082021 10493410082021 104934

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al struk tur und ver fuuml gen uumlber ein Selbst be wusst sein das es ih-nen er moumlg licht ihr Ver hal ten zu kor ri gie ren So ge se hen ist der Mensch gleich sam das op ti mal ste al ler Tie re Doch alldem zum Trotz exis tie ren Men schen der Gat tung Homo sap iens erst seit rund 100 000 Jah ren und ihre lang fris ti gen Zu kunfts chan cen ste hen schlecht Denn mit all den vor teil haf ten Ei gen schaf ten ha-ben Men schen in Re kord zeit ihre Um welt zer stoumlrt und das lang-fris ti ge Uumlber le ben der Spe zi es dra ma tisch in fra ge ge stellt Die mit we ni ger spek ta ku lauml ren Vor tei len aus ge stat te ten Di no sau ri-er exis tier ten auf un se rem Pla ne ten hun dert fuumlnf zig Mil li o nen Jah re ganz zu schwei gen von den seit uumlber vier hun dert Mil li o-nen Jah ren na he zu un ver aumln der ten Nau til iden und Ur schne cken

Ge si chert in der Evo lu ti ons the o rie ist dass kei ne ih rer An nah-men ge si chert ist E vo lu ti ons bi o lo gen die ihre Sa che ernst neh-men muumls sen im mer auch die E vo lu ti ons be dingt heit ih res ei ge-nen Er kennt nis ap pa rats ref ek tie ren also mit hin die Evo lu ti on al ler mensch li chen Er kennt nis raquoLetzt lich istlaquo wie der Neuro bio-lo ge Ger hard Roth schreibt raquoje des Nach den ken uumlber die ob jek-ti ve Re a li taumlt sei es wis sen schaft lich oder nicht an die Be din gun-gen mensch li chen Den kens Spre chens und Han delns ge bun den und muss sich da rin be waumlh renlaquo9

Man muss ref ek tie ren dass die un ver meid li chen Ord nungs-mit tel des Geis tes das Den ken und die Spra che nicht die Wirk-lich keit raquoan sichlaquo auf raumlu men Sie sind Mo del le die die un ver-fuumlg ba re Wirk lich keit nach Maszlig ga be der ei ge nen Spiel re geln er klauml ren Nicht erst seit Er for schung der Evo lu ti on in den letz-ten zwei hun dert Jah ren muumlht sich der mensch li che Geist dem Lauf der Welt ei nen ndash nach mensch li chem Er mes sen ndash raquover nuumlnf-ti genlaquo Sinn zu ge ben Doch das Pa ra do xe der Ge schich te liegt da rin dass der mensch li che Geist selbst Pro dukt evo lu ti o nauml rer Pro zes se ist Er ist Maszlig stab und Ge mes se nes zu gleich

An eine tat saumlch lich ob jek ti ve Er kennt nis der Evo lu ti on waumlre nur halb wegs sinn voll zu den ken wenn die Evo lu ti on des Men-9

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schen ab ge schlos sen ist und da mit die Stu fe der groumlszligt moumlg li chen Voll kom men heit er reicht hat In den Zei ten vor La marck und Dar win ha ben das nicht nur The o lo gen son dern auch die Na tur-for scher fast al le samt ge glaubt Das mensch li che Be wusst sein sei die un uuml ber trof fe ne Spit zen leis tung des Schoumlp fer got tes ge schaf-fen die Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Sei nen schoumlns-ten Aus druck fand die se Sicht in ei nem Aus spruch des jun gen Phi lo so phen Fried rich Wil helm Jo seph Schel ling (1775 ndash 1854) Er mein te dass der Mensch je nes We sen sei raquoin dem die Na tur das Auge auf schlaumlgtlaquo und sich da mit ih rer selbst be wusst wird Ein huumlb scher Satz aber doch viel zu pa the tisch for mu liert Von der vol len Er kennt nis der Na tur und un se rer selbst sind wir noch im mer weit ent fernt Aber wir koumln nen da ruuml ber stau nen dass die Evo lu ti on mit uns ein Le be we sen her vor ge bracht hat in dem die Na tur sich fuumlr sich selbst fa szi nier bar ge macht hat Wie hat te es dazu kom men koumln nen

bull Der Pri mat Was ist ein Mensch

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ver waist sein Die Mensch heit wird er wacht sein und die Welt je-nes Ge sicht er hal ten ha ben das uns ge gen waumlr tig er scheint Doch wie sah das aus als die Na tur das ers te Mal in ei nem af fen aumlhn-li chen We sen die Au gen auf schlug War es auf ei ner Wald wie-se in ei nem Hain an ei nem Berg hang oder auf ei ner Lich tung War das er leuch te te We sen ein Maumlnn chen oder ein Weib chen Ging es den gan zen Tag auf recht oder saszlig es noch ger ne in der Ho cke eng ge kau ert an sei ne Bruuml der und Schwes tern Und war es eine Ein ge bung ein Blitz schlag als das Selbst be wusst sein das ers te Mal die Fes seln des Pri ma ten ge hirns spreng te

Wir wis sen nicht wo ran Schel ling dach te als er mein te die Na tur habe im Men schen ihr Auge auf ge schla gen Si cher dach te er nicht an ei nen ein zi gen Mo ment dem Mil li o nen an de re folg-ten Er dach te an den raquoMen schen an sichlaquo Und er wuss te nichts vom ost af ri ka ni schen Great Rift Val ley und von haa ri gen Vor-men schen die dort einst haus ten Er leb te in Jena und in Muumln-chen und ei nen Men schen af fen hat te Schel ling nie ge se hen Der ein zig ar ti ge Mo ment in dem die Na tur sich ih rer selbst be wusst wird bleibt eine Me ta pher

Doch wie wur de der Mensch nun tat saumlch lich zum Men-schen Die For mu lie rung ist dop pel deu tig Denn wie der Mensch zum Men schen wur de ndash das ist nicht ein evo lu ti o nauml rer Pro-zess auf der lee ren Welt buumlh ne son dern ein Spiel von Be ob ach-ter und Be ob ach te tem Schau spie ler und Zu schau er Ge schich-te auch Ent wick lungs ge schich te ist nichts Vor ge fun de nes Der Mensch schrieb der fran zouml si sche Phi lo soph JeanshyPaul Sart re (1905 ndash 1980) macht sich selbst wie der Ro man schrift stel ler sei ne Fi gu ren Er ist ge fer tigt aus bi o lo gi schen (ana to mi schen neu ro lo gi schen und phy si o lo gi schen) Be stand tei len zu al ler meist je doch durch jene we nig bi o lo gi schen Weis hei ten mit de nen sich die se Subs tan zen selbst zum raquoMen schenlaquo er ko ren

Das Glei che gilt fuumlr die mensch li che Stam mes ge schich te Auch sie ist zu naumlchst ein mal eine Ge schich te Ihre Ur spruumln ge lie gen im

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al ten Grie chen land als Aris to te les den Men schen und den Af-fen ver wandt schaft lich na he ruumlckt raquoMan che Tie re ste hen zwi-schen Mensch und Vier fuumlszlig ler in ih rem We sen wie Af fen Meer-kat zen und Pa vi a ne hellip Ihr Ge sicht hat vie le Aumlhn lich kei ten mit dem des Men schen Nase und Oh ren glei chen den sei nen und Zaumlh ne hat er auch wie ein Mensch die Vor der zaumlh ne wie die Ba cken zaumlhnelaquo10 Auch Aris to te lesrsquo Schuuml ler The oph rast (ca 370 v Chr ndash ca 288 v Chr) be steht auf der Aumlhn lich keit zwi schen Men schen und Tie ren Er lehnt es so gar ab Fleisch zu es sen oder Tie re zu op fern da man sei ne Ver wand ten nicht ver spei se

Aris to te les und The oph rast stell ten den Men schen zwar ne-ben den Af fen ndash Men schen af fen kann te man noch nicht ndash aber die al ten Grie chen hat ten ihn nur sehr un ge faumlhr zu ei nem Tier un ter Tie ren er klaumlrt Den naumlchs ten Schritt mach te mehr als zwei-tau send Jah re spauml ter Carl von Linneacute An der Zu ge houml rig keit des Men schen zu den Saumlu ge tie ren be stand fuumlr den Schwe den kein Zwei fel die Be haa rung und das Stil len der Jun gen be lehr ten un-miss ver staumlnd lich da ruuml ber Auch die Ver wandt schaft mit Af fen und Men schen af fen stand au szliger Fra ge Hier wa ren es die fa chen Fin ger- und Fuszlig nauml gel statt der Klau en der ab ge spreiz te Dau-men die Greif haumln de die zwei Zit zen der Weib chen und der frei he run ter haumln gen de statt am Un ter leib an lie gen de Pe nis ndash Merk-ma le die groumlszlig ten teils auch schon Aris to te les auf ge fal len wa ren

Doch Linneacute zouml ger te vor der Kon se quenz Haumln de rin gend such-te der got tes fuumlrch ti ge Ana tom nach ei nem Un ter schied zwi schen dem Men schen und den uumlb ri gen von ihm so ge nann ten raquoPri ma-tenlaquo raquoIch ver lan gelaquo schrieb er 1747 sei nem deut schen Freund Jo hann Ge org Gme lin raquovon Ih nen und von der gan zen Welt dass Sie mir ein Gat tungs merk mal zei gen hellip auf grund des sen man zwi schen Mensch und Affe un ter schei den kann Ich weiszlig selbst mit aumlu szligers ter Ge wiss heit von kei nemlaquo11

Nach sei nen Kri te ri en haumlt te Linneacute den Men schen zu min dest mit dem Schim pan sen ge mein sam in die sel be Gat tung ein ord-10

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nen muumls sen Der Ge dan ke schweb te zeit gleich auch dem Phi lo so-phen JeanshyJacques Rous seau (1712 ndash 1778) vor als er Schim pan-sen Orang-Ut ans und Men schen so gar als Ver tre ter der Spe zi es Mensch an sah Rous seau hat te nie ei nen Men schen af fen ge se-hen Aber die Be rich te die er von Ex pe di ti o nen nach Af ri ka und Suumld ost a si en las lie szligen in ihm kei nen Zwei fel dass die da rin be schrie be nen Men schen af fen raquowe der Tie re noch Goumlt ter son-dern Men schenlaquo sei en12 Fuumlr den Auf klauml rer wa ren Men schen af-fen edle Wil de die von kei ner Zi vi li sa ti on in ih rem fried fer ti gen We sen zer stoumlrt sei en an ders als die Men schen in Eu ro pa Eben-so dach te we nig spauml ter der schot ti sche Sprach for scher James Bur nett Lord Mon boddo (1714 ndash 1799) Auch er be trach te te den Orang-Utan als ei nen Men schen naumlm lich als ei nen raquosprach-losen Wil denlaquo

In ter pre ta ti o nen wie Rous seau sie in Pa ris und Bur nett bald da rauf in Kin card ines hire wag ten wa ren Linneacute im schwe di schen Upp sa la fremd Den Men schen ins Tier reich ein zu ord nen war in den Au gen der stren gen pro tes tan ti schen Kir che Suumln de ge nug und Linneacute zouml ger te den letz ten Schritt zu tun In sei ner Not sor-tier te er 1758 ach sel zu ckend Mensch und Schim pan se in un ter-schied li che Gat tun gen zu sam men ge fasst in der Ord nung der Pri ma ten in der sie auch heu te noch mehr schlecht als recht huumlbsch ge trennt ne ben ei nan der ho cken Homo sap iens der raquoin-tel ligi ble Menschlaquo und Pan trog lody tes der raquohoumlh len be woh nen-de Faunlaquo

So weit so schoumln Der Mensch wur de der obers te Pri mat das houmlchs te raquoHer ren tierlaquo Linneacute be kam kei nen Aumlr ger mit der Kir-che und die Na tur wis sen schaft den gro szligen Wurf des Linneacute rsquoschen Sys tems Wenn nur die se Nach barn nicht wauml ren Seit Be kannt-wer den der Men schen af fen be muumlh ten sich Wis sen schaft ler und The o lo gen im mer wie der um den Ver such den klei nen Gra ben mit gro szligen Was sern zu fuumll len der Homo sap iens und Pan troshyglody tes bei ih rer ord nungs ge mauml szligen Ver ge sell schaf tung auf der 12

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 509783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 50 10082021 10493510082021 104935

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Af fen in sel trennt Sie eva ku ier ten den Men schen vom Pri ma ten-fel sen und schu fen ihm eine ei ge ne Ord nung

In die ser Vor stel lungs welt wuchs auch der The o lo gie stu dent Charles Dar win auf Das fruuml he 19 Jahr hun dert war eine got-tes fuumlrch ti ge bie der mei er li che Zeit Doch je mehr er sich mit der Ver aumln de rung der Ar ten be schaumlf tig te umso deut li cher wur de Dar win dass es mit der of fi zi ell be kun de ten Son der stel lung des Men schen im Uni ver sum nicht weit her sein konn te So no tier te er schon er staun lich fruumlh in sein Ta ge buch raquoDer Mensch haumllt sich in sei ner Ar ro ganz fuumlr ein groszlig ar ti ges Werk des be son de ren Ein grei fens ei ner Gott heit wuumlr dig Es duumlrf te be schei de ner und wie ich glau be auch rich tig sein ihn als aus den Tie ren ent stan-den an zu se henlaquo13

Dar win hat te den noch zwoumllf Jah re ge zouml gert bis er sich schlieszlig lich ge trau te nach der all ge mei nen Dar stel lung ei ner Evo-lu ti ons the o rie im Jahr 1859 sei ne Schluss fol ge run gen in Be zug auf den Men schen in Druck zu ge ben Die Ab stam mung des Men schen aus dem Jahr 1871 ist ein ge maumlch li ches Buch in ver-soumlhn li chem Ton fall Der Na tur for scher er zaumlhlt da rin wie ein gu-ter al ter Groszlig va ter wo her die Pfan zen die Tie re und die Eng-laumln der kom men Die raquoAb wer tunglaquo des Men schen geht da bei ein her mit ei ner kon ti nu ier li chen raquoAuf wer tunglaquo der Tie re raquoWir ha ben ge se henlaquo schreibt Dar win raquodass die Emp fin dun gen und Ein druuml cke die ver schie de nen Er re gun gen und Fauml hig kei ten wie Lie be Ge daumlcht nis Auf merk sam keit Neu gier de Nach ah mung Ver stand usw de ren sich der Mensch ruumlhmt in ei nem be gin nen-den oder zu wei len selbst in ei nem gut ent wi ckel ten Zu stand bei den nie de ren Tie ren ge fun den wer denlaquo14

La marck und Dar win wa ren die Ers ten die mit Mit teln der mo der nen Na tur wis sen schaft be haup te ten was vie le Kul tu ren und Zei ten schon zu vor re li gi oumls ge ahnt hat ten raquoNa tuumlr lichlaquo ist es ab surd eine Tei lung des Tier reichs in zwei Ka te go ri en vor zu-neh men ndash in eine mensch li che und eine nicht mensch li che Ka-13

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9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 519783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 51 10082021 10493510082021 104935

Page 27: Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen · Leseprobe Professor Dr. Richard David Precht Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen »Fazit:

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le ben dig ge bo ren sind hellip die bes ten Die bes ten un ter den le ben-dig Ge bo re nen sind die die zum Men schen ge schlecht ge houml ren und die Nutz tie relaquo4

Die neu en Sys te me des 18 Jahr hun derts be frei en die Na tur-ge schich te von al lem was sich mit den Me tho den der Zeit nicht wis sen schaft lich exakt be schrei ben laumlsst Koch re zep te fal len so-wie so un ter den Tisch aber auch man che Ver hal tens be ob ach-tun gen und vor mals wich ti ge Ei gen schaf ten wie zum Bei spiel der Ge ruch Ge forscht wird mit Lupe und Mik ros kop Li ne al und Pin zet te Der wich tigs te Mann auf die sem Ge biet ist der schwe-di sche Na tur for scher Carl von Linneacute (1707 ndash 1778) Er ori en-tiert sich an Aris to te les den er be wun dert nicht an Des car tes Ge ra de zu re vo lu ti o naumlr de mo kra tisch ent wi ckelt der auf ge klaumlr te Schwe de im 18 Jahr hun dert ein be schrei ben des Sys tem der Na-tur frei vom the o lo gi schen Fir le fanz sei ner Zeit Mit der Ak ri bie ei nes Brief mar ken samm lers dem Voll staumln dig keit mehr be deu tet als das Be stau nen ein zel ner Wer te ord net er die be leb te Na tur nach Ar ten Gat tun gen Ord nun gen und Klas sen Vier Va ri ab len die Form der Ele men te ihre An zahl die raumlum li che An ord nung der Ele men te und ihre re la ti ve Grouml szlige be stimm ten von nun an den Platz im Sys tem

Un ter der Leit dis zip lin der Bo ta nik wan delt sich die Na tur ge-schich te in eine ge ord ne te Welt aus Li ni en und Flauml chen Ent schei-dend sind die sicht ba ren Un ter schei dungs merk ma le wie Bluuml ten und Staub ge fauml szlige Blaumlt ter und Fruumlch te Fuumlszlige und Hufe Fe dern und Flos sen So setzt Linneacute fuumlr jede Pfan zen- und Tier klas se jede Ord nung und Gat tung be stimm te Merk ma le fest die er als die wich ti ge ren er ach te t Denn nur un ter der An nah me sol cher pri vi-le gier ter Struk tu ren ist es ihm moumlg lich die ver schie de nen Spe zi es im Ge samt sys tem un miss ver staumlnd lich zu ras tern Der mensch li che Ord ner be schreibt also nicht ein fach die be leb te Na tur Er fuumlgt ihr auch et was hin zu die Ent schei dung naumlm lich was in der For men-viel falt der Le be we sen wich ti ge Merk ma le sind und was nicht4

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 349783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 34 10082021 10493410082021 104934

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Wie alle da ma li gen Na tur for scher nimmt Linneacute an dass die Ein tei lun gen die der mensch li che Ver stand macht tat saumlch lich ei ner ob jek ti ven Ord nung der Na tur ent spre chen Doch Lin neacutes Sys tem ist wie er selbst weiszlig nicht raquona tuumlr lichlaquo Sei ne Struk tu ren sind kei ne die er in der Na tur als Un ter schei dungs kri te ri en vor-fin det Denn was sich am Schreib tisch nun muumlh sam in Ord nun-gen pres sen laumlsst liegt wie der fran zouml si sche Na tur for scher Mishychel Adan son (1727 ndash 1806) fest stellt in der Wild nis wie Kraut und Ruuml ben durch ei nan der raquohellip eine kon fu se Mi schung aus We-sen hellip die der Zu fall ei nan der an ge nauml hert zu ha ben scheint Hier wird das Gold mit ei nem an de ren Me tall mit ei nem Stein oder mit Erde ge mischt Dort waumlchst die Ei che ne ben dem Veil chen Un ter die sen Pfan zen ir ren eben falls der Vier fuumlszlig ler das Rep til und das In sekt um her Die Fi sche mi schen sich so zu sa gen mit dem waumlss ri gen Ele ment in dem sie schwim men und mit den Pfan zen die auf dem Grun de der Ge waumls ser wach sen hellip Die se Mi schung ist so gar so all ge mein und so viel faumll tig dass sie ei nes der Na tur ge set ze zu sein scheintlaquo5

Der Wi der spruch zwi schen ei ner tax ono mi schen und ei ner oumlko lo gi schen Ord nung der Na tur ist of fen sicht lich Er fin det sich noch heu te in der Dis kus si on um die Aumls the tik von Zoo an la gen Soll man die Tie re nach Ver wandt schafts ver haumllt nis sen sam meln also in Raub tier haumlu sern An ti lo pen haumlu sern und Hirsch an la gen so dass der Be su cher zwi schen den ana to mi schen Be son der hei-ten der Ar ten ndash mit un ter so gar den ge o gra fi schen Va ri an ten ei ner ein zi gen Art ndash zu un ter schei den lernt Oder ge waumlhrt die Nach-ge stal tung ei nes Na tur bi o tops ei ner af ri ka ni schen Sa van ne oder ei nes al pi nen Pa no ra mas den wich ti ge ren Ein blick in die Ord-nung der Na tur

Zwar steht fuumlr Linneacute und sei ne Kol le gen fest dass die raquowah-re Ord nunglaquo der Na tur sich an den koumlr per li chen Merk ma len zu ori en tie ren hat doch muss eine Er klauml rung da fuumlr ge fun den wer-den wa rum die se Ord nung in der frei en Na tur nicht von al lein 5

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sicht bar wird Ohne Zwei fel ist das Sys tem der Na tur kei ne zeit-lo se Schoumlp fung son dern durch Ver aumln de run gen ge kenn zeich net die sich in der Erd ge schich te er eig net ha ben Pa ral lel meh ren sich die Fun de von Fos si li en also von Tie ren die mut maszlig lich aus-ge stor ben sind Es hat al lem An schein nach grouml szlige re ge o lo gi sche Ka tast ro phen in un be kann ter Zahl ge ge ben de nen vie le Ar ten zum Op fer ge fal len sind Doch ha ben die se De sas ter auch zur Ent ste hung von neu en For men ge fuumlhrt

Um den Fak tor der Zeit und sei ne Fol gen fuumlr das Sys tem der Na tur ein zu schaumlt zen gibt es vie le Moumlg lich kei ten Die ein fachs te und mensch lichs te al ler zeit li chen Ord nungs vor stel lun gen ist die Idee al les fol ge ei nem Plan und sei auf ein Ziel hin aus ge rich-tet (Te le o lo gie) Re li gi o nen Phi lo so phi en und Ide o lo gi en funk-ti o nie ren na he zu al le samt ziel ge rich tet Es geht um ein bes se res Le ben auf Er den im Jen seits in ei nem ge rech ten Staat um die Herr schaft uumlber die an de ren uumlber die Pro duk ti ons mit tel oder das Boumlse Selbst un ser All tag ge stal tet sich weit ge hend te le o lo-gisch durch traumlnkt von zu kuumlnf ti ger Er war tung Mo tor jed we-der Te le o lo gie ist der Fort schritts ge dan ke Sein ima gi nauml res Ziel ist der voll kom me ne Zu stand So glau ben christ lich-abend laumln-di sche Ge sell schaf ten gern an eine staumln di ge Ver bes se rung durch An stren gung eine Tu gend die nach cal vi nis ti scher Tra di ti on im Him mel wie auf Er den von Gott ma te ri ell ent lohnt wird Wie na he lie gend also auch in der Na tur die Ent ste hung raquohouml he rerlaquo Le bens for men durch Fort schritt er ken nen zu wol len mit dem End ziel des Men schen

Die Un ord nung der Schoumlp fung mit ei nem goumltt li chen Fort-schritts plan in Ein klang zu brin gen ist das Le bens werk des Schwei zer Na tur for schers und Phi lo so phen Charles Bon net (1720 ndash 1793) Fuumlr Bon net ist die Zahl der Ar ten und ihre aumlu-szlige re Ge stalt von Gott ein fuumlr al le Mal fest ge legt Doch kann sich ein je des Le be we sen per fek ti o nie ren Der Weg vom simp-len Ge muumlt zur ge ni a li schen Leis tung ist vom Schoumlp fer vor ge-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 369783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 36 10082021 10493410082021 104934

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zeich net Und alle Tie re be schrei ten ihn zeit lich ver setzt nach dem glei chen Mus ter das der Mensch ih nen vor ge lebt hat raquoEs wird ei nen mehr oder we ni ger lang sa men und kon ti nu ier li chen Fort schritt al ler Ar ten zu ei ner houml he ren Ver voll komm nung ge-ben so dass alle Gra de der Stu fen lei ter in ei ner de ter mi nie ren den und kons tan ten Be zie hung fort ge setzt va ri a bel sein wer den hellip Es wird un ter den Af fen Leu te wie New ton und un ter Bi bern wie (den Fes tungs bau meis ter RDP) Vau ban ge ben Die Aus-tern und die Po ly pen wer den in Be zie hung zu den houmlchs ten Ar-ten das sein was die Vouml gel fuumlr die Vier fuumlszlig ler im Ver haumllt nis zum Men schen sindlaquo6

Seit Bon net ist die Vor stel lung von der raquoLei ter der Na turlaquo der Sca la nat urae ein wich ti ges In ven tar des na tur ge schicht-li chen Den kens Fort schritt Ver voll komm nung und goumltt li cher Plan ndash die se drei Grouml szligen be stim men die Vor stel lung vom Wer-den der Na tur vom 18 Jahr hun dert bis in die Ge gen wart hi nein Das Prin zip nach dem die Evo lu ti on Le ben her vor bringt sei un ver meid lich und von An fang an vor her be stimmt Nicht we-ni ge E vo lu ti ons the o re ti ker ha ben dies eben falls ge glaubt und zwar mit be acht li cher Kon ti nu i taumlt Der eng li sche Na tur for scher Alf red Rus sel Wall ace (1823 ndash 1913) der ge mein sam mit Dar win die The o rie der na tuumlr li chen Se lek ti on ent wi ckelt hat te hielt nicht nur den mensch li chen Geist und sein Mo ral emp fin den son dern zu dem auch die wei che nack te emp find sa me Haut des Men-schen fuumlr das Re sul tat ei ner not wen di gen Ent wick lung

Doch schon im 18 Jahr hun dert reg ten sich zu gleich vor sich-ti ge Zwei fel an der Stim mig keit ei ner sol chen Vor ge formt heit Denn wie soll te man Na tur ka tast ro phen be wer ten Waumlh rend die meis ten Na tur for scher sie als Teil des goumltt li chen Schoumlp-fungs plans in ter pre tier ten zo gen an de re ver gleichs wei se fins te-re Schluumls se Und so wur de tat saumlch lich ein gro szliges Erd be ben zum in di rek ten Aus louml ser der Evo lu ti ons the o rie naumlm lich je nes von Lis sa bon im Jahr 1755 Wer uumlber die Ka tast ro phe nach dach te 6

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 379783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 37 10082021 10493410082021 104934

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konn te star ken Zwei fel da ran he gen dass die Welt ord nung aus-ge kluuml gelt und har mo nisch sei

Die wei test rei chen den Schluss fol ge run gen zog der eng li-sche Pfar rer und Na ti o nal oumlko nom Tho mas Ro bert Malt hus (1766 ndash 1834) Nicht nur die ge o lo gi sche Na tur und ihr Ge-fah ren ri si ko son dern auch die Ver meh rung der Be voumll ke rung wur de nun als Uumlbel er kannt Im Jahr 1798 pub li zier te Malt-hus sei nen Es say on the Princi ple of Po pu la ti on (Das Be voumllshyke rungs ge setz) die ers te Mahn schrift vor den Ge fah ren ei ner Be voumll ke rungs ex plo si on Bei ei ner Ver dop pe lungs ra te der Welt-be voumll ke rung in ner halb von fuumlnf und zwan zig Jah ren er rech ne-te Malt hus wer de ihr exponent iel les An wach sen auf grund der von der Um welt ge setz ten Gren zen not wen dig zu Ar mut Ka-tast ro phen und Tod fuumlh ren Der bib li sche Auf trag raquoSeid frucht-bar und meh ret euchlaquo er schien mit ei nem Mal als ein Fluch Ein gna den lo ser raquoKampf ums Da seinlaquo (strugg le for life) war ent fes selt Das Ein zi ge was blieb war die Hoff nung die ka-tast ro pha len Fol gen der goumltt li chen An wei sung so weit wie moumlg lich ein daumlm men zu koumln nen

In ei ner Zeit als die Ge sell schafts the o rie noch der Bi o lo-gie den Leuch ter vo ran und nicht wie heu te die Schlep pe hin-terh er traumlgt be geis tert sich vor al lem ein eng li scher Dorf pfar rer Charles Dar win (1809 ndash 1882) fuumlr die Malt hus rsquoschen Ge set ze Denn wenn es rich tig ist dass sich ein Tier mit ei ner so ge rin-gen Ver meh rungs ra te wie der Mensch ge gen uumlber sei nen Art ge-nos sen durch setz te so gab es sicht lich an de re Kri te ri en fuumlr die Uumlber le bens fauml hig keit ei ner Po pu la ti on als die Zahl ih rer Ge bur-ten Der Maszlig stab fuumlr den Er folg ei ner Spe zi es war ihr Durch set-zungs ver mouml gen oder wie Dar win es spauml ter in den Prin zi pi en der Bio logie des jun gen Phi lo so phen Her bert Spen cer (1820 ndash 1903) le sen konn te raquothe sur vi val of the fit testlaquo

Dar wins na tur kund li che Stu di en wa ren ur spruumlng lich von dem Ge dan ken be seelt die nicht a ni ma li sche Iden ti taumlt des Men schen

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zu be wei sen Erst der Sieg des Ent de cker stol zes uumlber das Ent-set zen ver lieh ihm schlieszlig lich den Mut den be ruumlhm ten Satz zu schrei ben raquoUnd ich bin bei na he uumlber zeugt (der Mei nung mit der ich an die Fra ge he ran ge tre ten bin voumll lig ent ge gen ge setzt) dass die Spe zi es (mir ist es als ge staumln de ich ei nen Mord ein) nicht un ver aumln der lich sindlaquo7

Dar wins kuumlh ne Ver mu tung war nicht ganz neu Be reits ein hal bes Jahr hun dert zu vor hat ten der fran zouml si sche Na tur for scher GeorgesshyLou is Lec lerc Comte de Buf fon (1707 ndash 1788) und der Phi lo soph De nis Dide rot (1713 ndash 1784) uumlber eine Ver aumln de-rung der Ar ten spe ku liert Be son ders JeanshyBap tiste de La marck (1744 ndash 1829) be haup te te die all maumlh li che Ent wick lung der Ar-ten aus pri mi ti ve ren Vor for men die so ge nann te Trans mu ta ti on La marck war nicht nur ein Pi o nier der mit Jahr mil li o nen han-tier te als alle Welt die Erde noch ei ni ge tau send bis hun dert tau-send Jah re jung waumlhn te son dern er praumlg te (zur glei chen Zeit wie zwei deut sche Na tur for scher) das Wort Bi o lo gie Bei ihm wan del ten sich die Le be we sen da durch dass sich ihre koumlr per-li chen An stren gun gen auf ihr Erb gut aus wir ken Da bei nahm er al ler dings nicht an dass die Ar ten aus ei nan der her vor ge hen wie Dar win es spauml ter tat La ma rcks The o rie ist nauml her an je ner von Bon net Fuumlr ihn ver voll komm nen die ein zel nen Tier ar ten im Lau fe der Zeit ihre An la gen und ent wi ckeln sich da durch im-mer houml her Be son ders voll kom me ne Tie re wie der Mensch sind dem nach sehr alt denn sie ha ben ei nen wei ten Weg von ei nem pri mi ti ven Or ga nis mus bis hin zur heu ti gen Ge stalt hin ter sich ge las sen An de re wie der pri mi ti ve Suumlszlig was ser po lyp ha ben ihre Rei se durch die Zeit ge ra de erst an ge fan gen

La marck war kein Charis mati ker und die zo o lo gi sche All-macht sei nes Vor ge setz ten am Jar din des Plan tes in Pa ris des Ba rons George Cu vier (1769 ndash 1832) ver hin der te dass man sich all zu sehr mit sei nen The o ri en be schaumlf tig te Cu vier war ein be-deu ten der Mann An die Stel le ei ner nach bo ta ni schem Mus ter 7

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 399783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 39 10082021 10493410082021 104934

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ver fah ren den Zo o lo gie setz te er eine neue Wis sen schaft die sich we ni ger an aumlu szlige ren Merk ma len als am Or ga nis mus der Tie-re ori en tier te Doch was die Trans mu ta ti on an be lang te blieb der Ober auf se her der pro tes tan tisch-the o lo gi schen Fa kul tauml ten Frank reichs beim kon ser va ti ven Mo dell Er ver brei te te wei-ter hin eine Ket te von Na tur ka tast ro phen habe als mo di fi zier-te Sint fu ten gan zen Klas sen von Tie ren den Gar aus ge macht Die se The o rie ist weit ge hend rich tig al ler dings schlieszligt sie die Trans mu ta ti on nicht aus

Das wirk lich Re vo lu ti o nauml re an La marck war die Idee die Ge schich te der Na tur nicht vom Men schen aus bis hi nun ter zur Bak te rie zu schrei ben son dern um ge kehrt von der Bak te rie zum Men schen Aus ei nem Mo dell der raumlum li chen Hie rar chie wur de ein Mo dell der zeit li chen Ent wick lung La marck er kann te zu-dem dass das Be wusst sein ei nes Tie res an die Phy si o lo gie und Neu ro lo gie sei nes Koumlr pers ge bun den ist Dem nach ist je der Geist ers tens be grenzt und zwei tens ver aumln der lich

Die phi lo so phi sche Kon se quenz aus La ma rcks Den ken ist so ra di kal dass sie fast ein hun dert fuumlnf zig Jah re lang von nie man-dem ernst haft in Be tracht ge zo gen wur de Wie kann ein Geist der den Ge set zen der Evo lu ti on un ter wor fen ist sich ei gent lich an ma szligen die Na tur der Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Von die ser Schluss fol ge rung woll te die Bi o lo gie al ler dings bis weit ins 20 Jahr hun dert hi nein nicht viel wis sen

Auch Dar wins The o rie von der na tuumlr li chen Se lek ti on der Le be we sen im Rin gen um ihr Le ben und mit der Um welt ent-wi ckel te sich wei ter Ge witz ten Zeit ge nos sen wie Karl Marx (1818 ndash 1883) war auf ge fal len wie stark Dar wins Den ken dem Zeit geist des Vik to ri a ni schen Zeit al ters ver haf tet war raquoEs ist merk wuumlr dig wie Dar win un ter Bes ti en und Pfan zen sei ne eng li-sche Ge sell schaft mit ih rer Tei lung der Ar beit Kon kur renz Auf-schluss neu er Maumlrk te rsaquoEr fin dun genlsaquo und Malt hus schem rsaquoKampf ums Da seinlsaquo wie der er kenntlaquo8 Die Be to nung des Malt hus rsquoschen 8

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 409783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 40 10082021 10493410082021 104934

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Kamp fes von je dem ge gen je den und auch der Fort schritts glau-be in Dar wins Den ken zei gen ihn stark sei ner Zeit ver haf tet

Eine an de re Kri tik kam aus der Bi o lo gie selbst Dar win hat-te noch nichts von Ge nen ge wusst So konn te er nicht er klauml ren was sich bi o che misch er eig ne te wenn Ar ten sich ver aumln der ten Der raquoDar wi nis muslaquo der Jahr hun dert wen de gab schlieszlig lich die Hoff nung auf die Evo lu ti on lie szlige sich al lein durch die na tuumlr li-che Se lek ti on der Ar ten nach Maszlig ga be ih rer An pas sungs fauml hig-keit an die Um welt be gruumln den Man ent deck te die Rol le der Ge-ne tik und zum neu en Er klauml rungs prin zip wur de das Mo dell der zwei Kons t ruk teu re Das Spiel des Le bens er hielt ei nen Wuumlr fel zu faumll li ge Ver aumln de run gen im Gen ma te ri al also so ge nann te Mu tashyti o nen Im Tri alshyandshyEr ror-Ver fah ren ent ste hen im Erb gut ge le-gent lich Ab wei chun gen die dann er folg reich sind wenn sie sich in der Um welt be waumlh ren Da mit war die Idee vom Tisch dass sich neu er wor be ne Ei gen schaf ten oder raquodie ana to mi schen Aus-wir kun gen koumlr per li cher An stren gun genlaquo wie La marck mein te ver er ben koumlnn ten Noch Dar win hat te dies fuumlr denk bar ge hal ten So ver trau te er Er zaumlh lun gen wo nach bei je nen Volks grup pen zu de ren Ri ten die re gel mauml szligi ge Be schnei dung der Pe nis vor haut ge houmlrt sich die Vor haut all maumlh lich ver kuumlrz te Das haumlt te zwar die Be schnei dung uumlber fuumls sig ge macht aber Dar win hat te ge ra-de an de res Ge wich ti ges zu be den ken als da ruuml ber nach zu sin nen

Die Ver kuumlr zung der Vor haut blieb im Wis sens schatz der Dar wi nis ten bis Au gust Weis mann (1834 ndash 1914) im spauml ten 19 Jahr hun dert nach wies dass ein sol cher In for ma ti ons fuss vom aumlu szlige ren Er schei nungs bild zum Erb ma te ri al nicht moumlg lich sei Uumlber fuumlnf Ge ne ra ti o nen kuumlrz te Weis mann ei nem Stamm von Maumlu sen ihre Schwaumln ze ohne dass eine Nach richt uumlber die sen Ein griff die Keim bah nen der Maumlu se er reich te Denn sie he da Auch die Schwaumln ze der nach fol gen den Maumlu se ge ne ra ti o nen blie-ben gleich lang Da be durf te es schon der Spitz fin dig keit des iri schen Dich ters George Bern ard Shaw (1856 ndash 1950) der Weis-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 419783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 41 10082021 10493410082021 104934

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manns schnei den de Wi der le gung der La marckrsquo schen The o rie leicht fer tig vom Se zier tisch wisch te Die Maumlu se be merk te der Dich ter haumlt ten gar kei ne An stren gun gen un ter nom men ihre Schwaumln ze zu ver lie ren waumlh rend sich die Tie re bei La marck ja da rum be muumlht haumlt ten sich zu ver aumln dern

Im Nach hi n ein also war es der pauml da go gi sche Op ti mis mus der La marck in die Irre ge fuumlhrt ha ben soll te So mach te die Hoff-nung auf ei nen ethisch an spre chen den E vo lu ti ons ver lauf ndash die Er war tung die Mensch heit ent wick le sich qua An pas sung an das so zi a le Mi li eu durch Selbst er zie hung zum Bes se ren ndash nur noch eine et was ab sei ti ge Kar ri e re im staats so zi a lis ti schen Bi o lo gie-un ter richt der Sow jet u ni on Wie kalt da ge gen der uumlber le ge ne raquoKampf ums Da seinlaquo der ja ein Kampf um die Fleisch toumlp fe ist ohne Hoff nung der Mensch wer de den kuumlh nen Geist statt sei-nes ma te ri a lis ti schen Gier hal ses nach Houml he rem stre cken Und ein zig die Kir che be wahr te un ver dros sen ei nen la marc kis ti schen Ge dan ken ndash al ler dings ei nen pes si mis ti schen und kei nen op ti-mis ti schen In bes ter Schuumlt zen hil fe fuumlr den fran zouml si schen Che-va li er ver tei digt sie bis heu te ihr mo le ku lar ge ne tisch be denk li-ches Dog ma Adams Un ge hor sam im Gar ten Eden habe zu ei ner raquoErb suumln delaquo ge fuumlhrt die da rauf hin auf alle zu kuumlnf ti gen Ge ne ra-ti o nen uumlber ge gan gen sei

Im mer hin sind in den bei den letz ten Jahr zehn ten ei ni ge Bi o-lo gen wie der et was of fe ner da fuumlr ge wor den der Ver er bung er-wor be ner Ei gen schaf ten ei nen Platz in der Ge ne tik zu las sen Zwar ver er ben sich psy chi sche und phy si sche Le bens er fah run-gen nicht durch ver aumln der te Gene Aber es koumlnn te doch sein dass jene Schal ter die da ruuml ber be stim men wel che ge ne ti sche In for-ma ti on wei ter ge ge ben wird und wel che nicht durch Um welt-ein fuumls se ver aumln dert wer den Uumlber le gun gen wie die se be schaumlf ti-gen so ge nann te Epi gen eti ker seit ei ni ger Zeit sie ha ben ei nen wach sen den Ein fuss auf un se re Vor stel lung von der Evo lu ti on

Die heu ti ge Leit dis zip lin die uns die Ver wandt schaft des Le-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 429783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 42 10082021 10493410082021 104934

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bens ent schluumls seln soll ist die Ge ne tik Wir un ter su chen die Sum-me al ler ge ne ti schen In for ma ti o nen und re gist rie ren da bei Uumlber-ein stim mun gen und Ab wei chun gen mit an de ren Ar ten Doch der Pro zess die Na tur un se rer Na tur zu er ken nen ist noch lan ge nicht ab ge schlos sen und wird wohl auch nie ab ge schlos sen sein Wir wen den Ord nungs sche ma ta auf The o ri en und The o ri en auf Be ob ach tun gen an Nur so kom men wir zu Kau sa li tauml ten und Ge-set zen Doch ihre Be deu tung ver aumln dert sich in dem Maszlige wie wir den Blick punkt un se rer Auf merk sam keit wie der ver la gern Die ser Vor gang des Ent dec kens und des Ver de ckens durch neue Denk sche ma ta ist prin zi pi ell nicht ab schlieszlig bar denn selbst ge-gen waumlr ti ge Evo lu ti ons the o ri en un ter lie gen wei ter hin der Evo-lu ti on

Er staun li cher wei se hat die mo der ne Evo lu ti ons the o rie nur zu ei ner ge ring fuuml gi gen Kor rek tur al ter Denk sche ma ta ge fuumlhrt Wie fruuml her in der Na tur ge schich te er ken nen wir heu te in der Bi o lo gie uumlber all Re gel haf tigk eit Not wen dig keit und Vor tei-le Doch bei nauml he rer Sicht er weist sich die Evo lu ti on ge ra de zu als Herr schafts ge biet der Aus nah men uumlber die Re geln Sie ist eine raquoZweck mauml szligig keit ohne Zwecklaquo wenn auch al lein fuumlr die 01 Pro zent der heu te noch ndash oder ge ra de ndash exis tie ren den Spe-zi es nicht aber fuumlr die 999 Pro zent die in den Ur fu ten dem Ord ovizium dem Perm der Krei de oder dem Ter ti aumlr das Welt-li che seg ne ten E vo lu ti ons bi o lo gen su chen in der Ge schich te der Na tur uumlber all nach Vor tei len die das Uumlber le ben von Ar ten er-klauml ren sol len Da bei ver men gen sie oft zwei ver schie de ne Vor-teils be grif fe Ein mal geht es um Mu ta ti o nen die si tu a tiv vor teil-haf te Ei gen schaf ten fuumlr eine Tier art her vor ge bracht ha ben sol len Eine grouml szlige re Sta tur ein pom pouml se res Ge weih ein staumlr ke res Ge biss sol len Weib chen be ein dru cken und die Nach kom men schaft er-houml hen Da die se Ei gen schaf ten aber oft nichts nuumlt zen wenn der Zu fall die Spiel re geln der Um welt aumln dert gibt es ei nen zwei ten Vor teils be griff Da nach ist das vor teil haft in der Evo lu ti on was

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 439783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 43 10082021 10493410082021 104934

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vom Ende her be trach tet dazu ge fuumlhrt hat dass eine Art uumlber-lebt Nach die ser Sicht wei se kann der mick rigs te Pa vi an auf dem Fel sen sei ne Gene wei ter ge ben wenn die staumlr ke ren Kon kur ren-ten bei ei nem Erd be ben ums Le ben ge kom men sind

An ge sichts zwei er so un ter schied li cher Be deu tun gen von raquoVor teillaquo fragt es sich ob der Be griff in der Evo lu ti ons the o rie uumlber haupt sinn voll ver wen det wer den kann Tat saumlch lich ist er ein Erbe der The o lo gie des 17 und 18 Jahr hun derts die uumlber-all in der Na tur nach der klu gen Ver nunft Got tes such te Dar win kann te die se Tra di ti on gut Als Stu dent ver ehr te er den The o lo-gen Will iam Pa ley (1743 ndash 1805) der na tur kund lich be schla gen die goumltt li che Vo raus sicht auf den neu es ten Stand ge bracht hat te Als Dar win sich von Gott ver ab schie de te und die na tuumlr li che Se-lek ti on er kann te er setz te er uumlber all wo Pa ley raquoGod doeslaquo ge-schrie ben hat te den Satz durch raquoNat ure doeslaquo An Pa leys Vor-stel lung dass die Na tur zweck mauml szligig ein ge rich tet sei und Vor tei le be loh ne hielt Dar win eben so fest wie vie le spauml te re E vo lu ti ons-the o re ti ker

Die Fra ge ist des halb wich tig weil sie zeigt wie eng un se re Vor stel lung von der Na tur bis hi nein in die mo der ne Evo lu ti-ons the o rie von sehr mensch li chen Vor stel lun gen durch setzt ist Statt Vor tei le zu be nen nen wuumlr de es naumlm lich auch aus rei chen zu sa gen dass al les in der Na tur uumlber le ben kann das fuumlr eine Art kei nen toumld li chen Nach teil hat te Ver mut lich uumlber lebt in der Evo lu ti on nicht nur Zweck mauml szligi ges son dern jede Ver aumln de rung die zu min dest nicht zum Aus ster ben fuumlhr t und moumlg li cher wei se liegt ge ra de hie rin der Grund fuumlr eine gro szlige Ar ten viel falt

Die tra di ti o nell ver eng te Sicht wei se gilt ins be son de re bei der Be trach tung des Men schen E vo lu ti ons bi o lo gen koumln nen zahl-rei che Vor tei le be nen nen die er klauml ren wa rum die mensch li che Art so er folg reich ist Men schen sind aumlu szligerst an pas sungs fauml hig und be sie deln fast alle Le bens raumlu me sie sind Al les fres ser mit ei ner gro szligen Nah rungs band brei te sie ha ben eine fe xib le So zi-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 449783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 44 10082021 10493410082021 104934

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al struk tur und ver fuuml gen uumlber ein Selbst be wusst sein das es ih-nen er moumlg licht ihr Ver hal ten zu kor ri gie ren So ge se hen ist der Mensch gleich sam das op ti mal ste al ler Tie re Doch alldem zum Trotz exis tie ren Men schen der Gat tung Homo sap iens erst seit rund 100 000 Jah ren und ihre lang fris ti gen Zu kunfts chan cen ste hen schlecht Denn mit all den vor teil haf ten Ei gen schaf ten ha-ben Men schen in Re kord zeit ihre Um welt zer stoumlrt und das lang-fris ti ge Uumlber le ben der Spe zi es dra ma tisch in fra ge ge stellt Die mit we ni ger spek ta ku lauml ren Vor tei len aus ge stat te ten Di no sau ri-er exis tier ten auf un se rem Pla ne ten hun dert fuumlnf zig Mil li o nen Jah re ganz zu schwei gen von den seit uumlber vier hun dert Mil li o-nen Jah ren na he zu un ver aumln der ten Nau til iden und Ur schne cken

Ge si chert in der Evo lu ti ons the o rie ist dass kei ne ih rer An nah-men ge si chert ist E vo lu ti ons bi o lo gen die ihre Sa che ernst neh-men muumls sen im mer auch die E vo lu ti ons be dingt heit ih res ei ge-nen Er kennt nis ap pa rats ref ek tie ren also mit hin die Evo lu ti on al ler mensch li chen Er kennt nis raquoLetzt lich istlaquo wie der Neuro bio-lo ge Ger hard Roth schreibt raquoje des Nach den ken uumlber die ob jek-ti ve Re a li taumlt sei es wis sen schaft lich oder nicht an die Be din gun-gen mensch li chen Den kens Spre chens und Han delns ge bun den und muss sich da rin be waumlh renlaquo9

Man muss ref ek tie ren dass die un ver meid li chen Ord nungs-mit tel des Geis tes das Den ken und die Spra che nicht die Wirk-lich keit raquoan sichlaquo auf raumlu men Sie sind Mo del le die die un ver-fuumlg ba re Wirk lich keit nach Maszlig ga be der ei ge nen Spiel re geln er klauml ren Nicht erst seit Er for schung der Evo lu ti on in den letz-ten zwei hun dert Jah ren muumlht sich der mensch li che Geist dem Lauf der Welt ei nen ndash nach mensch li chem Er mes sen ndash raquover nuumlnf-ti genlaquo Sinn zu ge ben Doch das Pa ra do xe der Ge schich te liegt da rin dass der mensch li che Geist selbst Pro dukt evo lu ti o nauml rer Pro zes se ist Er ist Maszlig stab und Ge mes se nes zu gleich

An eine tat saumlch lich ob jek ti ve Er kennt nis der Evo lu ti on waumlre nur halb wegs sinn voll zu den ken wenn die Evo lu ti on des Men-9

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 459783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 45 10082021 10493410082021 104934

schen ab ge schlos sen ist und da mit die Stu fe der groumlszligt moumlg li chen Voll kom men heit er reicht hat In den Zei ten vor La marck und Dar win ha ben das nicht nur The o lo gen son dern auch die Na tur-for scher fast al le samt ge glaubt Das mensch li che Be wusst sein sei die un uuml ber trof fe ne Spit zen leis tung des Schoumlp fer got tes ge schaf-fen die Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Sei nen schoumlns-ten Aus druck fand die se Sicht in ei nem Aus spruch des jun gen Phi lo so phen Fried rich Wil helm Jo seph Schel ling (1775 ndash 1854) Er mein te dass der Mensch je nes We sen sei raquoin dem die Na tur das Auge auf schlaumlgtlaquo und sich da mit ih rer selbst be wusst wird Ein huumlb scher Satz aber doch viel zu pa the tisch for mu liert Von der vol len Er kennt nis der Na tur und un se rer selbst sind wir noch im mer weit ent fernt Aber wir koumln nen da ruuml ber stau nen dass die Evo lu ti on mit uns ein Le be we sen her vor ge bracht hat in dem die Na tur sich fuumlr sich selbst fa szi nier bar ge macht hat Wie hat te es dazu kom men koumln nen

bull Der Pri mat Was ist ein Mensch

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 469783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 46 10082021 10493410082021 104934

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ver waist sein Die Mensch heit wird er wacht sein und die Welt je-nes Ge sicht er hal ten ha ben das uns ge gen waumlr tig er scheint Doch wie sah das aus als die Na tur das ers te Mal in ei nem af fen aumlhn-li chen We sen die Au gen auf schlug War es auf ei ner Wald wie-se in ei nem Hain an ei nem Berg hang oder auf ei ner Lich tung War das er leuch te te We sen ein Maumlnn chen oder ein Weib chen Ging es den gan zen Tag auf recht oder saszlig es noch ger ne in der Ho cke eng ge kau ert an sei ne Bruuml der und Schwes tern Und war es eine Ein ge bung ein Blitz schlag als das Selbst be wusst sein das ers te Mal die Fes seln des Pri ma ten ge hirns spreng te

Wir wis sen nicht wo ran Schel ling dach te als er mein te die Na tur habe im Men schen ihr Auge auf ge schla gen Si cher dach te er nicht an ei nen ein zi gen Mo ment dem Mil li o nen an de re folg-ten Er dach te an den raquoMen schen an sichlaquo Und er wuss te nichts vom ost af ri ka ni schen Great Rift Val ley und von haa ri gen Vor-men schen die dort einst haus ten Er leb te in Jena und in Muumln-chen und ei nen Men schen af fen hat te Schel ling nie ge se hen Der ein zig ar ti ge Mo ment in dem die Na tur sich ih rer selbst be wusst wird bleibt eine Me ta pher

Doch wie wur de der Mensch nun tat saumlch lich zum Men-schen Die For mu lie rung ist dop pel deu tig Denn wie der Mensch zum Men schen wur de ndash das ist nicht ein evo lu ti o nauml rer Pro-zess auf der lee ren Welt buumlh ne son dern ein Spiel von Be ob ach-ter und Be ob ach te tem Schau spie ler und Zu schau er Ge schich-te auch Ent wick lungs ge schich te ist nichts Vor ge fun de nes Der Mensch schrieb der fran zouml si sche Phi lo soph JeanshyPaul Sart re (1905 ndash 1980) macht sich selbst wie der Ro man schrift stel ler sei ne Fi gu ren Er ist ge fer tigt aus bi o lo gi schen (ana to mi schen neu ro lo gi schen und phy si o lo gi schen) Be stand tei len zu al ler meist je doch durch jene we nig bi o lo gi schen Weis hei ten mit de nen sich die se Subs tan zen selbst zum raquoMen schenlaquo er ko ren

Das Glei che gilt fuumlr die mensch li che Stam mes ge schich te Auch sie ist zu naumlchst ein mal eine Ge schich te Ihre Ur spruumln ge lie gen im

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 489783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 48 10082021 10493510082021 104935

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al ten Grie chen land als Aris to te les den Men schen und den Af-fen ver wandt schaft lich na he ruumlckt raquoMan che Tie re ste hen zwi-schen Mensch und Vier fuumlszlig ler in ih rem We sen wie Af fen Meer-kat zen und Pa vi a ne hellip Ihr Ge sicht hat vie le Aumlhn lich kei ten mit dem des Men schen Nase und Oh ren glei chen den sei nen und Zaumlh ne hat er auch wie ein Mensch die Vor der zaumlh ne wie die Ba cken zaumlhnelaquo10 Auch Aris to te lesrsquo Schuuml ler The oph rast (ca 370 v Chr ndash ca 288 v Chr) be steht auf der Aumlhn lich keit zwi schen Men schen und Tie ren Er lehnt es so gar ab Fleisch zu es sen oder Tie re zu op fern da man sei ne Ver wand ten nicht ver spei se

Aris to te les und The oph rast stell ten den Men schen zwar ne-ben den Af fen ndash Men schen af fen kann te man noch nicht ndash aber die al ten Grie chen hat ten ihn nur sehr un ge faumlhr zu ei nem Tier un ter Tie ren er klaumlrt Den naumlchs ten Schritt mach te mehr als zwei-tau send Jah re spauml ter Carl von Linneacute An der Zu ge houml rig keit des Men schen zu den Saumlu ge tie ren be stand fuumlr den Schwe den kein Zwei fel die Be haa rung und das Stil len der Jun gen be lehr ten un-miss ver staumlnd lich da ruuml ber Auch die Ver wandt schaft mit Af fen und Men schen af fen stand au szliger Fra ge Hier wa ren es die fa chen Fin ger- und Fuszlig nauml gel statt der Klau en der ab ge spreiz te Dau-men die Greif haumln de die zwei Zit zen der Weib chen und der frei he run ter haumln gen de statt am Un ter leib an lie gen de Pe nis ndash Merk-ma le die groumlszlig ten teils auch schon Aris to te les auf ge fal len wa ren

Doch Linneacute zouml ger te vor der Kon se quenz Haumln de rin gend such-te der got tes fuumlrch ti ge Ana tom nach ei nem Un ter schied zwi schen dem Men schen und den uumlb ri gen von ihm so ge nann ten raquoPri ma-tenlaquo raquoIch ver lan gelaquo schrieb er 1747 sei nem deut schen Freund Jo hann Ge org Gme lin raquovon Ih nen und von der gan zen Welt dass Sie mir ein Gat tungs merk mal zei gen hellip auf grund des sen man zwi schen Mensch und Affe un ter schei den kann Ich weiszlig selbst mit aumlu szligers ter Ge wiss heit von kei nemlaquo11

Nach sei nen Kri te ri en haumlt te Linneacute den Men schen zu min dest mit dem Schim pan sen ge mein sam in die sel be Gat tung ein ord-10

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9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 499783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 49 10082021 10493510082021 104935

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nen muumls sen Der Ge dan ke schweb te zeit gleich auch dem Phi lo so-phen JeanshyJacques Rous seau (1712 ndash 1778) vor als er Schim pan-sen Orang-Ut ans und Men schen so gar als Ver tre ter der Spe zi es Mensch an sah Rous seau hat te nie ei nen Men schen af fen ge se-hen Aber die Be rich te die er von Ex pe di ti o nen nach Af ri ka und Suumld ost a si en las lie szligen in ihm kei nen Zwei fel dass die da rin be schrie be nen Men schen af fen raquowe der Tie re noch Goumlt ter son-dern Men schenlaquo sei en12 Fuumlr den Auf klauml rer wa ren Men schen af-fen edle Wil de die von kei ner Zi vi li sa ti on in ih rem fried fer ti gen We sen zer stoumlrt sei en an ders als die Men schen in Eu ro pa Eben-so dach te we nig spauml ter der schot ti sche Sprach for scher James Bur nett Lord Mon boddo (1714 ndash 1799) Auch er be trach te te den Orang-Utan als ei nen Men schen naumlm lich als ei nen raquosprach-losen Wil denlaquo

In ter pre ta ti o nen wie Rous seau sie in Pa ris und Bur nett bald da rauf in Kin card ines hire wag ten wa ren Linneacute im schwe di schen Upp sa la fremd Den Men schen ins Tier reich ein zu ord nen war in den Au gen der stren gen pro tes tan ti schen Kir che Suumln de ge nug und Linneacute zouml ger te den letz ten Schritt zu tun In sei ner Not sor-tier te er 1758 ach sel zu ckend Mensch und Schim pan se in un ter-schied li che Gat tun gen zu sam men ge fasst in der Ord nung der Pri ma ten in der sie auch heu te noch mehr schlecht als recht huumlbsch ge trennt ne ben ei nan der ho cken Homo sap iens der raquoin-tel ligi ble Menschlaquo und Pan trog lody tes der raquohoumlh len be woh nen-de Faunlaquo

So weit so schoumln Der Mensch wur de der obers te Pri mat das houmlchs te raquoHer ren tierlaquo Linneacute be kam kei nen Aumlr ger mit der Kir-che und die Na tur wis sen schaft den gro szligen Wurf des Linneacute rsquoschen Sys tems Wenn nur die se Nach barn nicht wauml ren Seit Be kannt-wer den der Men schen af fen be muumlh ten sich Wis sen schaft ler und The o lo gen im mer wie der um den Ver such den klei nen Gra ben mit gro szligen Was sern zu fuumll len der Homo sap iens und Pan troshyglody tes bei ih rer ord nungs ge mauml szligen Ver ge sell schaf tung auf der 12

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 509783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 50 10082021 10493510082021 104935

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Af fen in sel trennt Sie eva ku ier ten den Men schen vom Pri ma ten-fel sen und schu fen ihm eine ei ge ne Ord nung

In die ser Vor stel lungs welt wuchs auch der The o lo gie stu dent Charles Dar win auf Das fruuml he 19 Jahr hun dert war eine got-tes fuumlrch ti ge bie der mei er li che Zeit Doch je mehr er sich mit der Ver aumln de rung der Ar ten be schaumlf tig te umso deut li cher wur de Dar win dass es mit der of fi zi ell be kun de ten Son der stel lung des Men schen im Uni ver sum nicht weit her sein konn te So no tier te er schon er staun lich fruumlh in sein Ta ge buch raquoDer Mensch haumllt sich in sei ner Ar ro ganz fuumlr ein groszlig ar ti ges Werk des be son de ren Ein grei fens ei ner Gott heit wuumlr dig Es duumlrf te be schei de ner und wie ich glau be auch rich tig sein ihn als aus den Tie ren ent stan-den an zu se henlaquo13

Dar win hat te den noch zwoumllf Jah re ge zouml gert bis er sich schlieszlig lich ge trau te nach der all ge mei nen Dar stel lung ei ner Evo-lu ti ons the o rie im Jahr 1859 sei ne Schluss fol ge run gen in Be zug auf den Men schen in Druck zu ge ben Die Ab stam mung des Men schen aus dem Jahr 1871 ist ein ge maumlch li ches Buch in ver-soumlhn li chem Ton fall Der Na tur for scher er zaumlhlt da rin wie ein gu-ter al ter Groszlig va ter wo her die Pfan zen die Tie re und die Eng-laumln der kom men Die raquoAb wer tunglaquo des Men schen geht da bei ein her mit ei ner kon ti nu ier li chen raquoAuf wer tunglaquo der Tie re raquoWir ha ben ge se henlaquo schreibt Dar win raquodass die Emp fin dun gen und Ein druuml cke die ver schie de nen Er re gun gen und Fauml hig kei ten wie Lie be Ge daumlcht nis Auf merk sam keit Neu gier de Nach ah mung Ver stand usw de ren sich der Mensch ruumlhmt in ei nem be gin nen-den oder zu wei len selbst in ei nem gut ent wi ckel ten Zu stand bei den nie de ren Tie ren ge fun den wer denlaquo14

La marck und Dar win wa ren die Ers ten die mit Mit teln der mo der nen Na tur wis sen schaft be haup te ten was vie le Kul tu ren und Zei ten schon zu vor re li gi oumls ge ahnt hat ten raquoNa tuumlr lichlaquo ist es ab surd eine Tei lung des Tier reichs in zwei Ka te go ri en vor zu-neh men ndash in eine mensch li che und eine nicht mensch li che Ka-13

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9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 519783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 51 10082021 10493510082021 104935

Page 28: Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen · Leseprobe Professor Dr. Richard David Precht Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen »Fazit:

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Wie alle da ma li gen Na tur for scher nimmt Linneacute an dass die Ein tei lun gen die der mensch li che Ver stand macht tat saumlch lich ei ner ob jek ti ven Ord nung der Na tur ent spre chen Doch Lin neacutes Sys tem ist wie er selbst weiszlig nicht raquona tuumlr lichlaquo Sei ne Struk tu ren sind kei ne die er in der Na tur als Un ter schei dungs kri te ri en vor-fin det Denn was sich am Schreib tisch nun muumlh sam in Ord nun-gen pres sen laumlsst liegt wie der fran zouml si sche Na tur for scher Mishychel Adan son (1727 ndash 1806) fest stellt in der Wild nis wie Kraut und Ruuml ben durch ei nan der raquohellip eine kon fu se Mi schung aus We-sen hellip die der Zu fall ei nan der an ge nauml hert zu ha ben scheint Hier wird das Gold mit ei nem an de ren Me tall mit ei nem Stein oder mit Erde ge mischt Dort waumlchst die Ei che ne ben dem Veil chen Un ter die sen Pfan zen ir ren eben falls der Vier fuumlszlig ler das Rep til und das In sekt um her Die Fi sche mi schen sich so zu sa gen mit dem waumlss ri gen Ele ment in dem sie schwim men und mit den Pfan zen die auf dem Grun de der Ge waumls ser wach sen hellip Die se Mi schung ist so gar so all ge mein und so viel faumll tig dass sie ei nes der Na tur ge set ze zu sein scheintlaquo5

Der Wi der spruch zwi schen ei ner tax ono mi schen und ei ner oumlko lo gi schen Ord nung der Na tur ist of fen sicht lich Er fin det sich noch heu te in der Dis kus si on um die Aumls the tik von Zoo an la gen Soll man die Tie re nach Ver wandt schafts ver haumllt nis sen sam meln also in Raub tier haumlu sern An ti lo pen haumlu sern und Hirsch an la gen so dass der Be su cher zwi schen den ana to mi schen Be son der hei-ten der Ar ten ndash mit un ter so gar den ge o gra fi schen Va ri an ten ei ner ein zi gen Art ndash zu un ter schei den lernt Oder ge waumlhrt die Nach-ge stal tung ei nes Na tur bi o tops ei ner af ri ka ni schen Sa van ne oder ei nes al pi nen Pa no ra mas den wich ti ge ren Ein blick in die Ord-nung der Na tur

Zwar steht fuumlr Linneacute und sei ne Kol le gen fest dass die raquowah-re Ord nunglaquo der Na tur sich an den koumlr per li chen Merk ma len zu ori en tie ren hat doch muss eine Er klauml rung da fuumlr ge fun den wer-den wa rum die se Ord nung in der frei en Na tur nicht von al lein 5

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 359783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 35 10082021 10493410082021 104934

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sicht bar wird Ohne Zwei fel ist das Sys tem der Na tur kei ne zeit-lo se Schoumlp fung son dern durch Ver aumln de run gen ge kenn zeich net die sich in der Erd ge schich te er eig net ha ben Pa ral lel meh ren sich die Fun de von Fos si li en also von Tie ren die mut maszlig lich aus-ge stor ben sind Es hat al lem An schein nach grouml szlige re ge o lo gi sche Ka tast ro phen in un be kann ter Zahl ge ge ben de nen vie le Ar ten zum Op fer ge fal len sind Doch ha ben die se De sas ter auch zur Ent ste hung von neu en For men ge fuumlhrt

Um den Fak tor der Zeit und sei ne Fol gen fuumlr das Sys tem der Na tur ein zu schaumlt zen gibt es vie le Moumlg lich kei ten Die ein fachs te und mensch lichs te al ler zeit li chen Ord nungs vor stel lun gen ist die Idee al les fol ge ei nem Plan und sei auf ein Ziel hin aus ge rich-tet (Te le o lo gie) Re li gi o nen Phi lo so phi en und Ide o lo gi en funk-ti o nie ren na he zu al le samt ziel ge rich tet Es geht um ein bes se res Le ben auf Er den im Jen seits in ei nem ge rech ten Staat um die Herr schaft uumlber die an de ren uumlber die Pro duk ti ons mit tel oder das Boumlse Selbst un ser All tag ge stal tet sich weit ge hend te le o lo-gisch durch traumlnkt von zu kuumlnf ti ger Er war tung Mo tor jed we-der Te le o lo gie ist der Fort schritts ge dan ke Sein ima gi nauml res Ziel ist der voll kom me ne Zu stand So glau ben christ lich-abend laumln-di sche Ge sell schaf ten gern an eine staumln di ge Ver bes se rung durch An stren gung eine Tu gend die nach cal vi nis ti scher Tra di ti on im Him mel wie auf Er den von Gott ma te ri ell ent lohnt wird Wie na he lie gend also auch in der Na tur die Ent ste hung raquohouml he rerlaquo Le bens for men durch Fort schritt er ken nen zu wol len mit dem End ziel des Men schen

Die Un ord nung der Schoumlp fung mit ei nem goumltt li chen Fort-schritts plan in Ein klang zu brin gen ist das Le bens werk des Schwei zer Na tur for schers und Phi lo so phen Charles Bon net (1720 ndash 1793) Fuumlr Bon net ist die Zahl der Ar ten und ihre aumlu-szlige re Ge stalt von Gott ein fuumlr al le Mal fest ge legt Doch kann sich ein je des Le be we sen per fek ti o nie ren Der Weg vom simp-len Ge muumlt zur ge ni a li schen Leis tung ist vom Schoumlp fer vor ge-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 369783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 36 10082021 10493410082021 104934

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zeich net Und alle Tie re be schrei ten ihn zeit lich ver setzt nach dem glei chen Mus ter das der Mensch ih nen vor ge lebt hat raquoEs wird ei nen mehr oder we ni ger lang sa men und kon ti nu ier li chen Fort schritt al ler Ar ten zu ei ner houml he ren Ver voll komm nung ge-ben so dass alle Gra de der Stu fen lei ter in ei ner de ter mi nie ren den und kons tan ten Be zie hung fort ge setzt va ri a bel sein wer den hellip Es wird un ter den Af fen Leu te wie New ton und un ter Bi bern wie (den Fes tungs bau meis ter RDP) Vau ban ge ben Die Aus-tern und die Po ly pen wer den in Be zie hung zu den houmlchs ten Ar-ten das sein was die Vouml gel fuumlr die Vier fuumlszlig ler im Ver haumllt nis zum Men schen sindlaquo6

Seit Bon net ist die Vor stel lung von der raquoLei ter der Na turlaquo der Sca la nat urae ein wich ti ges In ven tar des na tur ge schicht-li chen Den kens Fort schritt Ver voll komm nung und goumltt li cher Plan ndash die se drei Grouml szligen be stim men die Vor stel lung vom Wer-den der Na tur vom 18 Jahr hun dert bis in die Ge gen wart hi nein Das Prin zip nach dem die Evo lu ti on Le ben her vor bringt sei un ver meid lich und von An fang an vor her be stimmt Nicht we-ni ge E vo lu ti ons the o re ti ker ha ben dies eben falls ge glaubt und zwar mit be acht li cher Kon ti nu i taumlt Der eng li sche Na tur for scher Alf red Rus sel Wall ace (1823 ndash 1913) der ge mein sam mit Dar win die The o rie der na tuumlr li chen Se lek ti on ent wi ckelt hat te hielt nicht nur den mensch li chen Geist und sein Mo ral emp fin den son dern zu dem auch die wei che nack te emp find sa me Haut des Men-schen fuumlr das Re sul tat ei ner not wen di gen Ent wick lung

Doch schon im 18 Jahr hun dert reg ten sich zu gleich vor sich-ti ge Zwei fel an der Stim mig keit ei ner sol chen Vor ge formt heit Denn wie soll te man Na tur ka tast ro phen be wer ten Waumlh rend die meis ten Na tur for scher sie als Teil des goumltt li chen Schoumlp-fungs plans in ter pre tier ten zo gen an de re ver gleichs wei se fins te-re Schluumls se Und so wur de tat saumlch lich ein gro szliges Erd be ben zum in di rek ten Aus louml ser der Evo lu ti ons the o rie naumlm lich je nes von Lis sa bon im Jahr 1755 Wer uumlber die Ka tast ro phe nach dach te 6

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 379783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 37 10082021 10493410082021 104934

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konn te star ken Zwei fel da ran he gen dass die Welt ord nung aus-ge kluuml gelt und har mo nisch sei

Die wei test rei chen den Schluss fol ge run gen zog der eng li-sche Pfar rer und Na ti o nal oumlko nom Tho mas Ro bert Malt hus (1766 ndash 1834) Nicht nur die ge o lo gi sche Na tur und ihr Ge-fah ren ri si ko son dern auch die Ver meh rung der Be voumll ke rung wur de nun als Uumlbel er kannt Im Jahr 1798 pub li zier te Malt-hus sei nen Es say on the Princi ple of Po pu la ti on (Das Be voumllshyke rungs ge setz) die ers te Mahn schrift vor den Ge fah ren ei ner Be voumll ke rungs ex plo si on Bei ei ner Ver dop pe lungs ra te der Welt-be voumll ke rung in ner halb von fuumlnf und zwan zig Jah ren er rech ne-te Malt hus wer de ihr exponent iel les An wach sen auf grund der von der Um welt ge setz ten Gren zen not wen dig zu Ar mut Ka-tast ro phen und Tod fuumlh ren Der bib li sche Auf trag raquoSeid frucht-bar und meh ret euchlaquo er schien mit ei nem Mal als ein Fluch Ein gna den lo ser raquoKampf ums Da seinlaquo (strugg le for life) war ent fes selt Das Ein zi ge was blieb war die Hoff nung die ka-tast ro pha len Fol gen der goumltt li chen An wei sung so weit wie moumlg lich ein daumlm men zu koumln nen

In ei ner Zeit als die Ge sell schafts the o rie noch der Bi o lo-gie den Leuch ter vo ran und nicht wie heu te die Schlep pe hin-terh er traumlgt be geis tert sich vor al lem ein eng li scher Dorf pfar rer Charles Dar win (1809 ndash 1882) fuumlr die Malt hus rsquoschen Ge set ze Denn wenn es rich tig ist dass sich ein Tier mit ei ner so ge rin-gen Ver meh rungs ra te wie der Mensch ge gen uumlber sei nen Art ge-nos sen durch setz te so gab es sicht lich an de re Kri te ri en fuumlr die Uumlber le bens fauml hig keit ei ner Po pu la ti on als die Zahl ih rer Ge bur-ten Der Maszlig stab fuumlr den Er folg ei ner Spe zi es war ihr Durch set-zungs ver mouml gen oder wie Dar win es spauml ter in den Prin zi pi en der Bio logie des jun gen Phi lo so phen Her bert Spen cer (1820 ndash 1903) le sen konn te raquothe sur vi val of the fit testlaquo

Dar wins na tur kund li che Stu di en wa ren ur spruumlng lich von dem Ge dan ken be seelt die nicht a ni ma li sche Iden ti taumlt des Men schen

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zu be wei sen Erst der Sieg des Ent de cker stol zes uumlber das Ent-set zen ver lieh ihm schlieszlig lich den Mut den be ruumlhm ten Satz zu schrei ben raquoUnd ich bin bei na he uumlber zeugt (der Mei nung mit der ich an die Fra ge he ran ge tre ten bin voumll lig ent ge gen ge setzt) dass die Spe zi es (mir ist es als ge staumln de ich ei nen Mord ein) nicht un ver aumln der lich sindlaquo7

Dar wins kuumlh ne Ver mu tung war nicht ganz neu Be reits ein hal bes Jahr hun dert zu vor hat ten der fran zouml si sche Na tur for scher GeorgesshyLou is Lec lerc Comte de Buf fon (1707 ndash 1788) und der Phi lo soph De nis Dide rot (1713 ndash 1784) uumlber eine Ver aumln de-rung der Ar ten spe ku liert Be son ders JeanshyBap tiste de La marck (1744 ndash 1829) be haup te te die all maumlh li che Ent wick lung der Ar-ten aus pri mi ti ve ren Vor for men die so ge nann te Trans mu ta ti on La marck war nicht nur ein Pi o nier der mit Jahr mil li o nen han-tier te als alle Welt die Erde noch ei ni ge tau send bis hun dert tau-send Jah re jung waumlhn te son dern er praumlg te (zur glei chen Zeit wie zwei deut sche Na tur for scher) das Wort Bi o lo gie Bei ihm wan del ten sich die Le be we sen da durch dass sich ihre koumlr per-li chen An stren gun gen auf ihr Erb gut aus wir ken Da bei nahm er al ler dings nicht an dass die Ar ten aus ei nan der her vor ge hen wie Dar win es spauml ter tat La ma rcks The o rie ist nauml her an je ner von Bon net Fuumlr ihn ver voll komm nen die ein zel nen Tier ar ten im Lau fe der Zeit ihre An la gen und ent wi ckeln sich da durch im-mer houml her Be son ders voll kom me ne Tie re wie der Mensch sind dem nach sehr alt denn sie ha ben ei nen wei ten Weg von ei nem pri mi ti ven Or ga nis mus bis hin zur heu ti gen Ge stalt hin ter sich ge las sen An de re wie der pri mi ti ve Suumlszlig was ser po lyp ha ben ihre Rei se durch die Zeit ge ra de erst an ge fan gen

La marck war kein Charis mati ker und die zo o lo gi sche All-macht sei nes Vor ge setz ten am Jar din des Plan tes in Pa ris des Ba rons George Cu vier (1769 ndash 1832) ver hin der te dass man sich all zu sehr mit sei nen The o ri en be schaumlf tig te Cu vier war ein be-deu ten der Mann An die Stel le ei ner nach bo ta ni schem Mus ter 7

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 399783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 39 10082021 10493410082021 104934

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ver fah ren den Zo o lo gie setz te er eine neue Wis sen schaft die sich we ni ger an aumlu szlige ren Merk ma len als am Or ga nis mus der Tie-re ori en tier te Doch was die Trans mu ta ti on an be lang te blieb der Ober auf se her der pro tes tan tisch-the o lo gi schen Fa kul tauml ten Frank reichs beim kon ser va ti ven Mo dell Er ver brei te te wei-ter hin eine Ket te von Na tur ka tast ro phen habe als mo di fi zier-te Sint fu ten gan zen Klas sen von Tie ren den Gar aus ge macht Die se The o rie ist weit ge hend rich tig al ler dings schlieszligt sie die Trans mu ta ti on nicht aus

Das wirk lich Re vo lu ti o nauml re an La marck war die Idee die Ge schich te der Na tur nicht vom Men schen aus bis hi nun ter zur Bak te rie zu schrei ben son dern um ge kehrt von der Bak te rie zum Men schen Aus ei nem Mo dell der raumlum li chen Hie rar chie wur de ein Mo dell der zeit li chen Ent wick lung La marck er kann te zu-dem dass das Be wusst sein ei nes Tie res an die Phy si o lo gie und Neu ro lo gie sei nes Koumlr pers ge bun den ist Dem nach ist je der Geist ers tens be grenzt und zwei tens ver aumln der lich

Die phi lo so phi sche Kon se quenz aus La ma rcks Den ken ist so ra di kal dass sie fast ein hun dert fuumlnf zig Jah re lang von nie man-dem ernst haft in Be tracht ge zo gen wur de Wie kann ein Geist der den Ge set zen der Evo lu ti on un ter wor fen ist sich ei gent lich an ma szligen die Na tur der Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Von die ser Schluss fol ge rung woll te die Bi o lo gie al ler dings bis weit ins 20 Jahr hun dert hi nein nicht viel wis sen

Auch Dar wins The o rie von der na tuumlr li chen Se lek ti on der Le be we sen im Rin gen um ihr Le ben und mit der Um welt ent-wi ckel te sich wei ter Ge witz ten Zeit ge nos sen wie Karl Marx (1818 ndash 1883) war auf ge fal len wie stark Dar wins Den ken dem Zeit geist des Vik to ri a ni schen Zeit al ters ver haf tet war raquoEs ist merk wuumlr dig wie Dar win un ter Bes ti en und Pfan zen sei ne eng li-sche Ge sell schaft mit ih rer Tei lung der Ar beit Kon kur renz Auf-schluss neu er Maumlrk te rsaquoEr fin dun genlsaquo und Malt hus schem rsaquoKampf ums Da seinlsaquo wie der er kenntlaquo8 Die Be to nung des Malt hus rsquoschen 8

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Kamp fes von je dem ge gen je den und auch der Fort schritts glau-be in Dar wins Den ken zei gen ihn stark sei ner Zeit ver haf tet

Eine an de re Kri tik kam aus der Bi o lo gie selbst Dar win hat-te noch nichts von Ge nen ge wusst So konn te er nicht er klauml ren was sich bi o che misch er eig ne te wenn Ar ten sich ver aumln der ten Der raquoDar wi nis muslaquo der Jahr hun dert wen de gab schlieszlig lich die Hoff nung auf die Evo lu ti on lie szlige sich al lein durch die na tuumlr li-che Se lek ti on der Ar ten nach Maszlig ga be ih rer An pas sungs fauml hig-keit an die Um welt be gruumln den Man ent deck te die Rol le der Ge-ne tik und zum neu en Er klauml rungs prin zip wur de das Mo dell der zwei Kons t ruk teu re Das Spiel des Le bens er hielt ei nen Wuumlr fel zu faumll li ge Ver aumln de run gen im Gen ma te ri al also so ge nann te Mu tashyti o nen Im Tri alshyandshyEr ror-Ver fah ren ent ste hen im Erb gut ge le-gent lich Ab wei chun gen die dann er folg reich sind wenn sie sich in der Um welt be waumlh ren Da mit war die Idee vom Tisch dass sich neu er wor be ne Ei gen schaf ten oder raquodie ana to mi schen Aus-wir kun gen koumlr per li cher An stren gun genlaquo wie La marck mein te ver er ben koumlnn ten Noch Dar win hat te dies fuumlr denk bar ge hal ten So ver trau te er Er zaumlh lun gen wo nach bei je nen Volks grup pen zu de ren Ri ten die re gel mauml szligi ge Be schnei dung der Pe nis vor haut ge houmlrt sich die Vor haut all maumlh lich ver kuumlrz te Das haumlt te zwar die Be schnei dung uumlber fuumls sig ge macht aber Dar win hat te ge ra-de an de res Ge wich ti ges zu be den ken als da ruuml ber nach zu sin nen

Die Ver kuumlr zung der Vor haut blieb im Wis sens schatz der Dar wi nis ten bis Au gust Weis mann (1834 ndash 1914) im spauml ten 19 Jahr hun dert nach wies dass ein sol cher In for ma ti ons fuss vom aumlu szlige ren Er schei nungs bild zum Erb ma te ri al nicht moumlg lich sei Uumlber fuumlnf Ge ne ra ti o nen kuumlrz te Weis mann ei nem Stamm von Maumlu sen ihre Schwaumln ze ohne dass eine Nach richt uumlber die sen Ein griff die Keim bah nen der Maumlu se er reich te Denn sie he da Auch die Schwaumln ze der nach fol gen den Maumlu se ge ne ra ti o nen blie-ben gleich lang Da be durf te es schon der Spitz fin dig keit des iri schen Dich ters George Bern ard Shaw (1856 ndash 1950) der Weis-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 419783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 41 10082021 10493410082021 104934

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manns schnei den de Wi der le gung der La marckrsquo schen The o rie leicht fer tig vom Se zier tisch wisch te Die Maumlu se be merk te der Dich ter haumlt ten gar kei ne An stren gun gen un ter nom men ihre Schwaumln ze zu ver lie ren waumlh rend sich die Tie re bei La marck ja da rum be muumlht haumlt ten sich zu ver aumln dern

Im Nach hi n ein also war es der pauml da go gi sche Op ti mis mus der La marck in die Irre ge fuumlhrt ha ben soll te So mach te die Hoff-nung auf ei nen ethisch an spre chen den E vo lu ti ons ver lauf ndash die Er war tung die Mensch heit ent wick le sich qua An pas sung an das so zi a le Mi li eu durch Selbst er zie hung zum Bes se ren ndash nur noch eine et was ab sei ti ge Kar ri e re im staats so zi a lis ti schen Bi o lo gie-un ter richt der Sow jet u ni on Wie kalt da ge gen der uumlber le ge ne raquoKampf ums Da seinlaquo der ja ein Kampf um die Fleisch toumlp fe ist ohne Hoff nung der Mensch wer de den kuumlh nen Geist statt sei-nes ma te ri a lis ti schen Gier hal ses nach Houml he rem stre cken Und ein zig die Kir che be wahr te un ver dros sen ei nen la marc kis ti schen Ge dan ken ndash al ler dings ei nen pes si mis ti schen und kei nen op ti-mis ti schen In bes ter Schuumlt zen hil fe fuumlr den fran zouml si schen Che-va li er ver tei digt sie bis heu te ihr mo le ku lar ge ne tisch be denk li-ches Dog ma Adams Un ge hor sam im Gar ten Eden habe zu ei ner raquoErb suumln delaquo ge fuumlhrt die da rauf hin auf alle zu kuumlnf ti gen Ge ne ra-ti o nen uumlber ge gan gen sei

Im mer hin sind in den bei den letz ten Jahr zehn ten ei ni ge Bi o-lo gen wie der et was of fe ner da fuumlr ge wor den der Ver er bung er-wor be ner Ei gen schaf ten ei nen Platz in der Ge ne tik zu las sen Zwar ver er ben sich psy chi sche und phy si sche Le bens er fah run-gen nicht durch ver aumln der te Gene Aber es koumlnn te doch sein dass jene Schal ter die da ruuml ber be stim men wel che ge ne ti sche In for-ma ti on wei ter ge ge ben wird und wel che nicht durch Um welt-ein fuumls se ver aumln dert wer den Uumlber le gun gen wie die se be schaumlf ti-gen so ge nann te Epi gen eti ker seit ei ni ger Zeit sie ha ben ei nen wach sen den Ein fuss auf un se re Vor stel lung von der Evo lu ti on

Die heu ti ge Leit dis zip lin die uns die Ver wandt schaft des Le-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 429783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 42 10082021 10493410082021 104934

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bens ent schluumls seln soll ist die Ge ne tik Wir un ter su chen die Sum-me al ler ge ne ti schen In for ma ti o nen und re gist rie ren da bei Uumlber-ein stim mun gen und Ab wei chun gen mit an de ren Ar ten Doch der Pro zess die Na tur un se rer Na tur zu er ken nen ist noch lan ge nicht ab ge schlos sen und wird wohl auch nie ab ge schlos sen sein Wir wen den Ord nungs sche ma ta auf The o ri en und The o ri en auf Be ob ach tun gen an Nur so kom men wir zu Kau sa li tauml ten und Ge-set zen Doch ihre Be deu tung ver aumln dert sich in dem Maszlige wie wir den Blick punkt un se rer Auf merk sam keit wie der ver la gern Die ser Vor gang des Ent dec kens und des Ver de ckens durch neue Denk sche ma ta ist prin zi pi ell nicht ab schlieszlig bar denn selbst ge-gen waumlr ti ge Evo lu ti ons the o ri en un ter lie gen wei ter hin der Evo-lu ti on

Er staun li cher wei se hat die mo der ne Evo lu ti ons the o rie nur zu ei ner ge ring fuuml gi gen Kor rek tur al ter Denk sche ma ta ge fuumlhrt Wie fruuml her in der Na tur ge schich te er ken nen wir heu te in der Bi o lo gie uumlber all Re gel haf tigk eit Not wen dig keit und Vor tei-le Doch bei nauml he rer Sicht er weist sich die Evo lu ti on ge ra de zu als Herr schafts ge biet der Aus nah men uumlber die Re geln Sie ist eine raquoZweck mauml szligig keit ohne Zwecklaquo wenn auch al lein fuumlr die 01 Pro zent der heu te noch ndash oder ge ra de ndash exis tie ren den Spe-zi es nicht aber fuumlr die 999 Pro zent die in den Ur fu ten dem Ord ovizium dem Perm der Krei de oder dem Ter ti aumlr das Welt-li che seg ne ten E vo lu ti ons bi o lo gen su chen in der Ge schich te der Na tur uumlber all nach Vor tei len die das Uumlber le ben von Ar ten er-klauml ren sol len Da bei ver men gen sie oft zwei ver schie de ne Vor-teils be grif fe Ein mal geht es um Mu ta ti o nen die si tu a tiv vor teil-haf te Ei gen schaf ten fuumlr eine Tier art her vor ge bracht ha ben sol len Eine grouml szlige re Sta tur ein pom pouml se res Ge weih ein staumlr ke res Ge biss sol len Weib chen be ein dru cken und die Nach kom men schaft er-houml hen Da die se Ei gen schaf ten aber oft nichts nuumlt zen wenn der Zu fall die Spiel re geln der Um welt aumln dert gibt es ei nen zwei ten Vor teils be griff Da nach ist das vor teil haft in der Evo lu ti on was

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 439783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 43 10082021 10493410082021 104934

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vom Ende her be trach tet dazu ge fuumlhrt hat dass eine Art uumlber-lebt Nach die ser Sicht wei se kann der mick rigs te Pa vi an auf dem Fel sen sei ne Gene wei ter ge ben wenn die staumlr ke ren Kon kur ren-ten bei ei nem Erd be ben ums Le ben ge kom men sind

An ge sichts zwei er so un ter schied li cher Be deu tun gen von raquoVor teillaquo fragt es sich ob der Be griff in der Evo lu ti ons the o rie uumlber haupt sinn voll ver wen det wer den kann Tat saumlch lich ist er ein Erbe der The o lo gie des 17 und 18 Jahr hun derts die uumlber-all in der Na tur nach der klu gen Ver nunft Got tes such te Dar win kann te die se Tra di ti on gut Als Stu dent ver ehr te er den The o lo-gen Will iam Pa ley (1743 ndash 1805) der na tur kund lich be schla gen die goumltt li che Vo raus sicht auf den neu es ten Stand ge bracht hat te Als Dar win sich von Gott ver ab schie de te und die na tuumlr li che Se-lek ti on er kann te er setz te er uumlber all wo Pa ley raquoGod doeslaquo ge-schrie ben hat te den Satz durch raquoNat ure doeslaquo An Pa leys Vor-stel lung dass die Na tur zweck mauml szligig ein ge rich tet sei und Vor tei le be loh ne hielt Dar win eben so fest wie vie le spauml te re E vo lu ti ons-the o re ti ker

Die Fra ge ist des halb wich tig weil sie zeigt wie eng un se re Vor stel lung von der Na tur bis hi nein in die mo der ne Evo lu ti-ons the o rie von sehr mensch li chen Vor stel lun gen durch setzt ist Statt Vor tei le zu be nen nen wuumlr de es naumlm lich auch aus rei chen zu sa gen dass al les in der Na tur uumlber le ben kann das fuumlr eine Art kei nen toumld li chen Nach teil hat te Ver mut lich uumlber lebt in der Evo lu ti on nicht nur Zweck mauml szligi ges son dern jede Ver aumln de rung die zu min dest nicht zum Aus ster ben fuumlhr t und moumlg li cher wei se liegt ge ra de hie rin der Grund fuumlr eine gro szlige Ar ten viel falt

Die tra di ti o nell ver eng te Sicht wei se gilt ins be son de re bei der Be trach tung des Men schen E vo lu ti ons bi o lo gen koumln nen zahl-rei che Vor tei le be nen nen die er klauml ren wa rum die mensch li che Art so er folg reich ist Men schen sind aumlu szligerst an pas sungs fauml hig und be sie deln fast alle Le bens raumlu me sie sind Al les fres ser mit ei ner gro szligen Nah rungs band brei te sie ha ben eine fe xib le So zi-

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al struk tur und ver fuuml gen uumlber ein Selbst be wusst sein das es ih-nen er moumlg licht ihr Ver hal ten zu kor ri gie ren So ge se hen ist der Mensch gleich sam das op ti mal ste al ler Tie re Doch alldem zum Trotz exis tie ren Men schen der Gat tung Homo sap iens erst seit rund 100 000 Jah ren und ihre lang fris ti gen Zu kunfts chan cen ste hen schlecht Denn mit all den vor teil haf ten Ei gen schaf ten ha-ben Men schen in Re kord zeit ihre Um welt zer stoumlrt und das lang-fris ti ge Uumlber le ben der Spe zi es dra ma tisch in fra ge ge stellt Die mit we ni ger spek ta ku lauml ren Vor tei len aus ge stat te ten Di no sau ri-er exis tier ten auf un se rem Pla ne ten hun dert fuumlnf zig Mil li o nen Jah re ganz zu schwei gen von den seit uumlber vier hun dert Mil li o-nen Jah ren na he zu un ver aumln der ten Nau til iden und Ur schne cken

Ge si chert in der Evo lu ti ons the o rie ist dass kei ne ih rer An nah-men ge si chert ist E vo lu ti ons bi o lo gen die ihre Sa che ernst neh-men muumls sen im mer auch die E vo lu ti ons be dingt heit ih res ei ge-nen Er kennt nis ap pa rats ref ek tie ren also mit hin die Evo lu ti on al ler mensch li chen Er kennt nis raquoLetzt lich istlaquo wie der Neuro bio-lo ge Ger hard Roth schreibt raquoje des Nach den ken uumlber die ob jek-ti ve Re a li taumlt sei es wis sen schaft lich oder nicht an die Be din gun-gen mensch li chen Den kens Spre chens und Han delns ge bun den und muss sich da rin be waumlh renlaquo9

Man muss ref ek tie ren dass die un ver meid li chen Ord nungs-mit tel des Geis tes das Den ken und die Spra che nicht die Wirk-lich keit raquoan sichlaquo auf raumlu men Sie sind Mo del le die die un ver-fuumlg ba re Wirk lich keit nach Maszlig ga be der ei ge nen Spiel re geln er klauml ren Nicht erst seit Er for schung der Evo lu ti on in den letz-ten zwei hun dert Jah ren muumlht sich der mensch li che Geist dem Lauf der Welt ei nen ndash nach mensch li chem Er mes sen ndash raquover nuumlnf-ti genlaquo Sinn zu ge ben Doch das Pa ra do xe der Ge schich te liegt da rin dass der mensch li che Geist selbst Pro dukt evo lu ti o nauml rer Pro zes se ist Er ist Maszlig stab und Ge mes se nes zu gleich

An eine tat saumlch lich ob jek ti ve Er kennt nis der Evo lu ti on waumlre nur halb wegs sinn voll zu den ken wenn die Evo lu ti on des Men-9

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schen ab ge schlos sen ist und da mit die Stu fe der groumlszligt moumlg li chen Voll kom men heit er reicht hat In den Zei ten vor La marck und Dar win ha ben das nicht nur The o lo gen son dern auch die Na tur-for scher fast al le samt ge glaubt Das mensch li che Be wusst sein sei die un uuml ber trof fe ne Spit zen leis tung des Schoumlp fer got tes ge schaf-fen die Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Sei nen schoumlns-ten Aus druck fand die se Sicht in ei nem Aus spruch des jun gen Phi lo so phen Fried rich Wil helm Jo seph Schel ling (1775 ndash 1854) Er mein te dass der Mensch je nes We sen sei raquoin dem die Na tur das Auge auf schlaumlgtlaquo und sich da mit ih rer selbst be wusst wird Ein huumlb scher Satz aber doch viel zu pa the tisch for mu liert Von der vol len Er kennt nis der Na tur und un se rer selbst sind wir noch im mer weit ent fernt Aber wir koumln nen da ruuml ber stau nen dass die Evo lu ti on mit uns ein Le be we sen her vor ge bracht hat in dem die Na tur sich fuumlr sich selbst fa szi nier bar ge macht hat Wie hat te es dazu kom men koumln nen

bull Der Pri mat Was ist ein Mensch

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ver waist sein Die Mensch heit wird er wacht sein und die Welt je-nes Ge sicht er hal ten ha ben das uns ge gen waumlr tig er scheint Doch wie sah das aus als die Na tur das ers te Mal in ei nem af fen aumlhn-li chen We sen die Au gen auf schlug War es auf ei ner Wald wie-se in ei nem Hain an ei nem Berg hang oder auf ei ner Lich tung War das er leuch te te We sen ein Maumlnn chen oder ein Weib chen Ging es den gan zen Tag auf recht oder saszlig es noch ger ne in der Ho cke eng ge kau ert an sei ne Bruuml der und Schwes tern Und war es eine Ein ge bung ein Blitz schlag als das Selbst be wusst sein das ers te Mal die Fes seln des Pri ma ten ge hirns spreng te

Wir wis sen nicht wo ran Schel ling dach te als er mein te die Na tur habe im Men schen ihr Auge auf ge schla gen Si cher dach te er nicht an ei nen ein zi gen Mo ment dem Mil li o nen an de re folg-ten Er dach te an den raquoMen schen an sichlaquo Und er wuss te nichts vom ost af ri ka ni schen Great Rift Val ley und von haa ri gen Vor-men schen die dort einst haus ten Er leb te in Jena und in Muumln-chen und ei nen Men schen af fen hat te Schel ling nie ge se hen Der ein zig ar ti ge Mo ment in dem die Na tur sich ih rer selbst be wusst wird bleibt eine Me ta pher

Doch wie wur de der Mensch nun tat saumlch lich zum Men-schen Die For mu lie rung ist dop pel deu tig Denn wie der Mensch zum Men schen wur de ndash das ist nicht ein evo lu ti o nauml rer Pro-zess auf der lee ren Welt buumlh ne son dern ein Spiel von Be ob ach-ter und Be ob ach te tem Schau spie ler und Zu schau er Ge schich-te auch Ent wick lungs ge schich te ist nichts Vor ge fun de nes Der Mensch schrieb der fran zouml si sche Phi lo soph JeanshyPaul Sart re (1905 ndash 1980) macht sich selbst wie der Ro man schrift stel ler sei ne Fi gu ren Er ist ge fer tigt aus bi o lo gi schen (ana to mi schen neu ro lo gi schen und phy si o lo gi schen) Be stand tei len zu al ler meist je doch durch jene we nig bi o lo gi schen Weis hei ten mit de nen sich die se Subs tan zen selbst zum raquoMen schenlaquo er ko ren

Das Glei che gilt fuumlr die mensch li che Stam mes ge schich te Auch sie ist zu naumlchst ein mal eine Ge schich te Ihre Ur spruumln ge lie gen im

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 489783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 48 10082021 10493510082021 104935

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al ten Grie chen land als Aris to te les den Men schen und den Af-fen ver wandt schaft lich na he ruumlckt raquoMan che Tie re ste hen zwi-schen Mensch und Vier fuumlszlig ler in ih rem We sen wie Af fen Meer-kat zen und Pa vi a ne hellip Ihr Ge sicht hat vie le Aumlhn lich kei ten mit dem des Men schen Nase und Oh ren glei chen den sei nen und Zaumlh ne hat er auch wie ein Mensch die Vor der zaumlh ne wie die Ba cken zaumlhnelaquo10 Auch Aris to te lesrsquo Schuuml ler The oph rast (ca 370 v Chr ndash ca 288 v Chr) be steht auf der Aumlhn lich keit zwi schen Men schen und Tie ren Er lehnt es so gar ab Fleisch zu es sen oder Tie re zu op fern da man sei ne Ver wand ten nicht ver spei se

Aris to te les und The oph rast stell ten den Men schen zwar ne-ben den Af fen ndash Men schen af fen kann te man noch nicht ndash aber die al ten Grie chen hat ten ihn nur sehr un ge faumlhr zu ei nem Tier un ter Tie ren er klaumlrt Den naumlchs ten Schritt mach te mehr als zwei-tau send Jah re spauml ter Carl von Linneacute An der Zu ge houml rig keit des Men schen zu den Saumlu ge tie ren be stand fuumlr den Schwe den kein Zwei fel die Be haa rung und das Stil len der Jun gen be lehr ten un-miss ver staumlnd lich da ruuml ber Auch die Ver wandt schaft mit Af fen und Men schen af fen stand au szliger Fra ge Hier wa ren es die fa chen Fin ger- und Fuszlig nauml gel statt der Klau en der ab ge spreiz te Dau-men die Greif haumln de die zwei Zit zen der Weib chen und der frei he run ter haumln gen de statt am Un ter leib an lie gen de Pe nis ndash Merk-ma le die groumlszlig ten teils auch schon Aris to te les auf ge fal len wa ren

Doch Linneacute zouml ger te vor der Kon se quenz Haumln de rin gend such-te der got tes fuumlrch ti ge Ana tom nach ei nem Un ter schied zwi schen dem Men schen und den uumlb ri gen von ihm so ge nann ten raquoPri ma-tenlaquo raquoIch ver lan gelaquo schrieb er 1747 sei nem deut schen Freund Jo hann Ge org Gme lin raquovon Ih nen und von der gan zen Welt dass Sie mir ein Gat tungs merk mal zei gen hellip auf grund des sen man zwi schen Mensch und Affe un ter schei den kann Ich weiszlig selbst mit aumlu szligers ter Ge wiss heit von kei nemlaquo11

Nach sei nen Kri te ri en haumlt te Linneacute den Men schen zu min dest mit dem Schim pan sen ge mein sam in die sel be Gat tung ein ord-10

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nen muumls sen Der Ge dan ke schweb te zeit gleich auch dem Phi lo so-phen JeanshyJacques Rous seau (1712 ndash 1778) vor als er Schim pan-sen Orang-Ut ans und Men schen so gar als Ver tre ter der Spe zi es Mensch an sah Rous seau hat te nie ei nen Men schen af fen ge se-hen Aber die Be rich te die er von Ex pe di ti o nen nach Af ri ka und Suumld ost a si en las lie szligen in ihm kei nen Zwei fel dass die da rin be schrie be nen Men schen af fen raquowe der Tie re noch Goumlt ter son-dern Men schenlaquo sei en12 Fuumlr den Auf klauml rer wa ren Men schen af-fen edle Wil de die von kei ner Zi vi li sa ti on in ih rem fried fer ti gen We sen zer stoumlrt sei en an ders als die Men schen in Eu ro pa Eben-so dach te we nig spauml ter der schot ti sche Sprach for scher James Bur nett Lord Mon boddo (1714 ndash 1799) Auch er be trach te te den Orang-Utan als ei nen Men schen naumlm lich als ei nen raquosprach-losen Wil denlaquo

In ter pre ta ti o nen wie Rous seau sie in Pa ris und Bur nett bald da rauf in Kin card ines hire wag ten wa ren Linneacute im schwe di schen Upp sa la fremd Den Men schen ins Tier reich ein zu ord nen war in den Au gen der stren gen pro tes tan ti schen Kir che Suumln de ge nug und Linneacute zouml ger te den letz ten Schritt zu tun In sei ner Not sor-tier te er 1758 ach sel zu ckend Mensch und Schim pan se in un ter-schied li che Gat tun gen zu sam men ge fasst in der Ord nung der Pri ma ten in der sie auch heu te noch mehr schlecht als recht huumlbsch ge trennt ne ben ei nan der ho cken Homo sap iens der raquoin-tel ligi ble Menschlaquo und Pan trog lody tes der raquohoumlh len be woh nen-de Faunlaquo

So weit so schoumln Der Mensch wur de der obers te Pri mat das houmlchs te raquoHer ren tierlaquo Linneacute be kam kei nen Aumlr ger mit der Kir-che und die Na tur wis sen schaft den gro szligen Wurf des Linneacute rsquoschen Sys tems Wenn nur die se Nach barn nicht wauml ren Seit Be kannt-wer den der Men schen af fen be muumlh ten sich Wis sen schaft ler und The o lo gen im mer wie der um den Ver such den klei nen Gra ben mit gro szligen Was sern zu fuumll len der Homo sap iens und Pan troshyglody tes bei ih rer ord nungs ge mauml szligen Ver ge sell schaf tung auf der 12

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 509783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 50 10082021 10493510082021 104935

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Af fen in sel trennt Sie eva ku ier ten den Men schen vom Pri ma ten-fel sen und schu fen ihm eine ei ge ne Ord nung

In die ser Vor stel lungs welt wuchs auch der The o lo gie stu dent Charles Dar win auf Das fruuml he 19 Jahr hun dert war eine got-tes fuumlrch ti ge bie der mei er li che Zeit Doch je mehr er sich mit der Ver aumln de rung der Ar ten be schaumlf tig te umso deut li cher wur de Dar win dass es mit der of fi zi ell be kun de ten Son der stel lung des Men schen im Uni ver sum nicht weit her sein konn te So no tier te er schon er staun lich fruumlh in sein Ta ge buch raquoDer Mensch haumllt sich in sei ner Ar ro ganz fuumlr ein groszlig ar ti ges Werk des be son de ren Ein grei fens ei ner Gott heit wuumlr dig Es duumlrf te be schei de ner und wie ich glau be auch rich tig sein ihn als aus den Tie ren ent stan-den an zu se henlaquo13

Dar win hat te den noch zwoumllf Jah re ge zouml gert bis er sich schlieszlig lich ge trau te nach der all ge mei nen Dar stel lung ei ner Evo-lu ti ons the o rie im Jahr 1859 sei ne Schluss fol ge run gen in Be zug auf den Men schen in Druck zu ge ben Die Ab stam mung des Men schen aus dem Jahr 1871 ist ein ge maumlch li ches Buch in ver-soumlhn li chem Ton fall Der Na tur for scher er zaumlhlt da rin wie ein gu-ter al ter Groszlig va ter wo her die Pfan zen die Tie re und die Eng-laumln der kom men Die raquoAb wer tunglaquo des Men schen geht da bei ein her mit ei ner kon ti nu ier li chen raquoAuf wer tunglaquo der Tie re raquoWir ha ben ge se henlaquo schreibt Dar win raquodass die Emp fin dun gen und Ein druuml cke die ver schie de nen Er re gun gen und Fauml hig kei ten wie Lie be Ge daumlcht nis Auf merk sam keit Neu gier de Nach ah mung Ver stand usw de ren sich der Mensch ruumlhmt in ei nem be gin nen-den oder zu wei len selbst in ei nem gut ent wi ckel ten Zu stand bei den nie de ren Tie ren ge fun den wer denlaquo14

La marck und Dar win wa ren die Ers ten die mit Mit teln der mo der nen Na tur wis sen schaft be haup te ten was vie le Kul tu ren und Zei ten schon zu vor re li gi oumls ge ahnt hat ten raquoNa tuumlr lichlaquo ist es ab surd eine Tei lung des Tier reichs in zwei Ka te go ri en vor zu-neh men ndash in eine mensch li che und eine nicht mensch li che Ka-13

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Page 29: Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen · Leseprobe Professor Dr. Richard David Precht Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen »Fazit:

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sicht bar wird Ohne Zwei fel ist das Sys tem der Na tur kei ne zeit-lo se Schoumlp fung son dern durch Ver aumln de run gen ge kenn zeich net die sich in der Erd ge schich te er eig net ha ben Pa ral lel meh ren sich die Fun de von Fos si li en also von Tie ren die mut maszlig lich aus-ge stor ben sind Es hat al lem An schein nach grouml szlige re ge o lo gi sche Ka tast ro phen in un be kann ter Zahl ge ge ben de nen vie le Ar ten zum Op fer ge fal len sind Doch ha ben die se De sas ter auch zur Ent ste hung von neu en For men ge fuumlhrt

Um den Fak tor der Zeit und sei ne Fol gen fuumlr das Sys tem der Na tur ein zu schaumlt zen gibt es vie le Moumlg lich kei ten Die ein fachs te und mensch lichs te al ler zeit li chen Ord nungs vor stel lun gen ist die Idee al les fol ge ei nem Plan und sei auf ein Ziel hin aus ge rich-tet (Te le o lo gie) Re li gi o nen Phi lo so phi en und Ide o lo gi en funk-ti o nie ren na he zu al le samt ziel ge rich tet Es geht um ein bes se res Le ben auf Er den im Jen seits in ei nem ge rech ten Staat um die Herr schaft uumlber die an de ren uumlber die Pro duk ti ons mit tel oder das Boumlse Selbst un ser All tag ge stal tet sich weit ge hend te le o lo-gisch durch traumlnkt von zu kuumlnf ti ger Er war tung Mo tor jed we-der Te le o lo gie ist der Fort schritts ge dan ke Sein ima gi nauml res Ziel ist der voll kom me ne Zu stand So glau ben christ lich-abend laumln-di sche Ge sell schaf ten gern an eine staumln di ge Ver bes se rung durch An stren gung eine Tu gend die nach cal vi nis ti scher Tra di ti on im Him mel wie auf Er den von Gott ma te ri ell ent lohnt wird Wie na he lie gend also auch in der Na tur die Ent ste hung raquohouml he rerlaquo Le bens for men durch Fort schritt er ken nen zu wol len mit dem End ziel des Men schen

Die Un ord nung der Schoumlp fung mit ei nem goumltt li chen Fort-schritts plan in Ein klang zu brin gen ist das Le bens werk des Schwei zer Na tur for schers und Phi lo so phen Charles Bon net (1720 ndash 1793) Fuumlr Bon net ist die Zahl der Ar ten und ihre aumlu-szlige re Ge stalt von Gott ein fuumlr al le Mal fest ge legt Doch kann sich ein je des Le be we sen per fek ti o nie ren Der Weg vom simp-len Ge muumlt zur ge ni a li schen Leis tung ist vom Schoumlp fer vor ge-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 369783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 36 10082021 10493410082021 104934

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zeich net Und alle Tie re be schrei ten ihn zeit lich ver setzt nach dem glei chen Mus ter das der Mensch ih nen vor ge lebt hat raquoEs wird ei nen mehr oder we ni ger lang sa men und kon ti nu ier li chen Fort schritt al ler Ar ten zu ei ner houml he ren Ver voll komm nung ge-ben so dass alle Gra de der Stu fen lei ter in ei ner de ter mi nie ren den und kons tan ten Be zie hung fort ge setzt va ri a bel sein wer den hellip Es wird un ter den Af fen Leu te wie New ton und un ter Bi bern wie (den Fes tungs bau meis ter RDP) Vau ban ge ben Die Aus-tern und die Po ly pen wer den in Be zie hung zu den houmlchs ten Ar-ten das sein was die Vouml gel fuumlr die Vier fuumlszlig ler im Ver haumllt nis zum Men schen sindlaquo6

Seit Bon net ist die Vor stel lung von der raquoLei ter der Na turlaquo der Sca la nat urae ein wich ti ges In ven tar des na tur ge schicht-li chen Den kens Fort schritt Ver voll komm nung und goumltt li cher Plan ndash die se drei Grouml szligen be stim men die Vor stel lung vom Wer-den der Na tur vom 18 Jahr hun dert bis in die Ge gen wart hi nein Das Prin zip nach dem die Evo lu ti on Le ben her vor bringt sei un ver meid lich und von An fang an vor her be stimmt Nicht we-ni ge E vo lu ti ons the o re ti ker ha ben dies eben falls ge glaubt und zwar mit be acht li cher Kon ti nu i taumlt Der eng li sche Na tur for scher Alf red Rus sel Wall ace (1823 ndash 1913) der ge mein sam mit Dar win die The o rie der na tuumlr li chen Se lek ti on ent wi ckelt hat te hielt nicht nur den mensch li chen Geist und sein Mo ral emp fin den son dern zu dem auch die wei che nack te emp find sa me Haut des Men-schen fuumlr das Re sul tat ei ner not wen di gen Ent wick lung

Doch schon im 18 Jahr hun dert reg ten sich zu gleich vor sich-ti ge Zwei fel an der Stim mig keit ei ner sol chen Vor ge formt heit Denn wie soll te man Na tur ka tast ro phen be wer ten Waumlh rend die meis ten Na tur for scher sie als Teil des goumltt li chen Schoumlp-fungs plans in ter pre tier ten zo gen an de re ver gleichs wei se fins te-re Schluumls se Und so wur de tat saumlch lich ein gro szliges Erd be ben zum in di rek ten Aus louml ser der Evo lu ti ons the o rie naumlm lich je nes von Lis sa bon im Jahr 1755 Wer uumlber die Ka tast ro phe nach dach te 6

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konn te star ken Zwei fel da ran he gen dass die Welt ord nung aus-ge kluuml gelt und har mo nisch sei

Die wei test rei chen den Schluss fol ge run gen zog der eng li-sche Pfar rer und Na ti o nal oumlko nom Tho mas Ro bert Malt hus (1766 ndash 1834) Nicht nur die ge o lo gi sche Na tur und ihr Ge-fah ren ri si ko son dern auch die Ver meh rung der Be voumll ke rung wur de nun als Uumlbel er kannt Im Jahr 1798 pub li zier te Malt-hus sei nen Es say on the Princi ple of Po pu la ti on (Das Be voumllshyke rungs ge setz) die ers te Mahn schrift vor den Ge fah ren ei ner Be voumll ke rungs ex plo si on Bei ei ner Ver dop pe lungs ra te der Welt-be voumll ke rung in ner halb von fuumlnf und zwan zig Jah ren er rech ne-te Malt hus wer de ihr exponent iel les An wach sen auf grund der von der Um welt ge setz ten Gren zen not wen dig zu Ar mut Ka-tast ro phen und Tod fuumlh ren Der bib li sche Auf trag raquoSeid frucht-bar und meh ret euchlaquo er schien mit ei nem Mal als ein Fluch Ein gna den lo ser raquoKampf ums Da seinlaquo (strugg le for life) war ent fes selt Das Ein zi ge was blieb war die Hoff nung die ka-tast ro pha len Fol gen der goumltt li chen An wei sung so weit wie moumlg lich ein daumlm men zu koumln nen

In ei ner Zeit als die Ge sell schafts the o rie noch der Bi o lo-gie den Leuch ter vo ran und nicht wie heu te die Schlep pe hin-terh er traumlgt be geis tert sich vor al lem ein eng li scher Dorf pfar rer Charles Dar win (1809 ndash 1882) fuumlr die Malt hus rsquoschen Ge set ze Denn wenn es rich tig ist dass sich ein Tier mit ei ner so ge rin-gen Ver meh rungs ra te wie der Mensch ge gen uumlber sei nen Art ge-nos sen durch setz te so gab es sicht lich an de re Kri te ri en fuumlr die Uumlber le bens fauml hig keit ei ner Po pu la ti on als die Zahl ih rer Ge bur-ten Der Maszlig stab fuumlr den Er folg ei ner Spe zi es war ihr Durch set-zungs ver mouml gen oder wie Dar win es spauml ter in den Prin zi pi en der Bio logie des jun gen Phi lo so phen Her bert Spen cer (1820 ndash 1903) le sen konn te raquothe sur vi val of the fit testlaquo

Dar wins na tur kund li che Stu di en wa ren ur spruumlng lich von dem Ge dan ken be seelt die nicht a ni ma li sche Iden ti taumlt des Men schen

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 389783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 38 10082021 10493410082021 104934

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zu be wei sen Erst der Sieg des Ent de cker stol zes uumlber das Ent-set zen ver lieh ihm schlieszlig lich den Mut den be ruumlhm ten Satz zu schrei ben raquoUnd ich bin bei na he uumlber zeugt (der Mei nung mit der ich an die Fra ge he ran ge tre ten bin voumll lig ent ge gen ge setzt) dass die Spe zi es (mir ist es als ge staumln de ich ei nen Mord ein) nicht un ver aumln der lich sindlaquo7

Dar wins kuumlh ne Ver mu tung war nicht ganz neu Be reits ein hal bes Jahr hun dert zu vor hat ten der fran zouml si sche Na tur for scher GeorgesshyLou is Lec lerc Comte de Buf fon (1707 ndash 1788) und der Phi lo soph De nis Dide rot (1713 ndash 1784) uumlber eine Ver aumln de-rung der Ar ten spe ku liert Be son ders JeanshyBap tiste de La marck (1744 ndash 1829) be haup te te die all maumlh li che Ent wick lung der Ar-ten aus pri mi ti ve ren Vor for men die so ge nann te Trans mu ta ti on La marck war nicht nur ein Pi o nier der mit Jahr mil li o nen han-tier te als alle Welt die Erde noch ei ni ge tau send bis hun dert tau-send Jah re jung waumlhn te son dern er praumlg te (zur glei chen Zeit wie zwei deut sche Na tur for scher) das Wort Bi o lo gie Bei ihm wan del ten sich die Le be we sen da durch dass sich ihre koumlr per-li chen An stren gun gen auf ihr Erb gut aus wir ken Da bei nahm er al ler dings nicht an dass die Ar ten aus ei nan der her vor ge hen wie Dar win es spauml ter tat La ma rcks The o rie ist nauml her an je ner von Bon net Fuumlr ihn ver voll komm nen die ein zel nen Tier ar ten im Lau fe der Zeit ihre An la gen und ent wi ckeln sich da durch im-mer houml her Be son ders voll kom me ne Tie re wie der Mensch sind dem nach sehr alt denn sie ha ben ei nen wei ten Weg von ei nem pri mi ti ven Or ga nis mus bis hin zur heu ti gen Ge stalt hin ter sich ge las sen An de re wie der pri mi ti ve Suumlszlig was ser po lyp ha ben ihre Rei se durch die Zeit ge ra de erst an ge fan gen

La marck war kein Charis mati ker und die zo o lo gi sche All-macht sei nes Vor ge setz ten am Jar din des Plan tes in Pa ris des Ba rons George Cu vier (1769 ndash 1832) ver hin der te dass man sich all zu sehr mit sei nen The o ri en be schaumlf tig te Cu vier war ein be-deu ten der Mann An die Stel le ei ner nach bo ta ni schem Mus ter 7

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 399783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 39 10082021 10493410082021 104934

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ver fah ren den Zo o lo gie setz te er eine neue Wis sen schaft die sich we ni ger an aumlu szlige ren Merk ma len als am Or ga nis mus der Tie-re ori en tier te Doch was die Trans mu ta ti on an be lang te blieb der Ober auf se her der pro tes tan tisch-the o lo gi schen Fa kul tauml ten Frank reichs beim kon ser va ti ven Mo dell Er ver brei te te wei-ter hin eine Ket te von Na tur ka tast ro phen habe als mo di fi zier-te Sint fu ten gan zen Klas sen von Tie ren den Gar aus ge macht Die se The o rie ist weit ge hend rich tig al ler dings schlieszligt sie die Trans mu ta ti on nicht aus

Das wirk lich Re vo lu ti o nauml re an La marck war die Idee die Ge schich te der Na tur nicht vom Men schen aus bis hi nun ter zur Bak te rie zu schrei ben son dern um ge kehrt von der Bak te rie zum Men schen Aus ei nem Mo dell der raumlum li chen Hie rar chie wur de ein Mo dell der zeit li chen Ent wick lung La marck er kann te zu-dem dass das Be wusst sein ei nes Tie res an die Phy si o lo gie und Neu ro lo gie sei nes Koumlr pers ge bun den ist Dem nach ist je der Geist ers tens be grenzt und zwei tens ver aumln der lich

Die phi lo so phi sche Kon se quenz aus La ma rcks Den ken ist so ra di kal dass sie fast ein hun dert fuumlnf zig Jah re lang von nie man-dem ernst haft in Be tracht ge zo gen wur de Wie kann ein Geist der den Ge set zen der Evo lu ti on un ter wor fen ist sich ei gent lich an ma szligen die Na tur der Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Von die ser Schluss fol ge rung woll te die Bi o lo gie al ler dings bis weit ins 20 Jahr hun dert hi nein nicht viel wis sen

Auch Dar wins The o rie von der na tuumlr li chen Se lek ti on der Le be we sen im Rin gen um ihr Le ben und mit der Um welt ent-wi ckel te sich wei ter Ge witz ten Zeit ge nos sen wie Karl Marx (1818 ndash 1883) war auf ge fal len wie stark Dar wins Den ken dem Zeit geist des Vik to ri a ni schen Zeit al ters ver haf tet war raquoEs ist merk wuumlr dig wie Dar win un ter Bes ti en und Pfan zen sei ne eng li-sche Ge sell schaft mit ih rer Tei lung der Ar beit Kon kur renz Auf-schluss neu er Maumlrk te rsaquoEr fin dun genlsaquo und Malt hus schem rsaquoKampf ums Da seinlsaquo wie der er kenntlaquo8 Die Be to nung des Malt hus rsquoschen 8

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Kamp fes von je dem ge gen je den und auch der Fort schritts glau-be in Dar wins Den ken zei gen ihn stark sei ner Zeit ver haf tet

Eine an de re Kri tik kam aus der Bi o lo gie selbst Dar win hat-te noch nichts von Ge nen ge wusst So konn te er nicht er klauml ren was sich bi o che misch er eig ne te wenn Ar ten sich ver aumln der ten Der raquoDar wi nis muslaquo der Jahr hun dert wen de gab schlieszlig lich die Hoff nung auf die Evo lu ti on lie szlige sich al lein durch die na tuumlr li-che Se lek ti on der Ar ten nach Maszlig ga be ih rer An pas sungs fauml hig-keit an die Um welt be gruumln den Man ent deck te die Rol le der Ge-ne tik und zum neu en Er klauml rungs prin zip wur de das Mo dell der zwei Kons t ruk teu re Das Spiel des Le bens er hielt ei nen Wuumlr fel zu faumll li ge Ver aumln de run gen im Gen ma te ri al also so ge nann te Mu tashyti o nen Im Tri alshyandshyEr ror-Ver fah ren ent ste hen im Erb gut ge le-gent lich Ab wei chun gen die dann er folg reich sind wenn sie sich in der Um welt be waumlh ren Da mit war die Idee vom Tisch dass sich neu er wor be ne Ei gen schaf ten oder raquodie ana to mi schen Aus-wir kun gen koumlr per li cher An stren gun genlaquo wie La marck mein te ver er ben koumlnn ten Noch Dar win hat te dies fuumlr denk bar ge hal ten So ver trau te er Er zaumlh lun gen wo nach bei je nen Volks grup pen zu de ren Ri ten die re gel mauml szligi ge Be schnei dung der Pe nis vor haut ge houmlrt sich die Vor haut all maumlh lich ver kuumlrz te Das haumlt te zwar die Be schnei dung uumlber fuumls sig ge macht aber Dar win hat te ge ra-de an de res Ge wich ti ges zu be den ken als da ruuml ber nach zu sin nen

Die Ver kuumlr zung der Vor haut blieb im Wis sens schatz der Dar wi nis ten bis Au gust Weis mann (1834 ndash 1914) im spauml ten 19 Jahr hun dert nach wies dass ein sol cher In for ma ti ons fuss vom aumlu szlige ren Er schei nungs bild zum Erb ma te ri al nicht moumlg lich sei Uumlber fuumlnf Ge ne ra ti o nen kuumlrz te Weis mann ei nem Stamm von Maumlu sen ihre Schwaumln ze ohne dass eine Nach richt uumlber die sen Ein griff die Keim bah nen der Maumlu se er reich te Denn sie he da Auch die Schwaumln ze der nach fol gen den Maumlu se ge ne ra ti o nen blie-ben gleich lang Da be durf te es schon der Spitz fin dig keit des iri schen Dich ters George Bern ard Shaw (1856 ndash 1950) der Weis-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 419783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 41 10082021 10493410082021 104934

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manns schnei den de Wi der le gung der La marckrsquo schen The o rie leicht fer tig vom Se zier tisch wisch te Die Maumlu se be merk te der Dich ter haumlt ten gar kei ne An stren gun gen un ter nom men ihre Schwaumln ze zu ver lie ren waumlh rend sich die Tie re bei La marck ja da rum be muumlht haumlt ten sich zu ver aumln dern

Im Nach hi n ein also war es der pauml da go gi sche Op ti mis mus der La marck in die Irre ge fuumlhrt ha ben soll te So mach te die Hoff-nung auf ei nen ethisch an spre chen den E vo lu ti ons ver lauf ndash die Er war tung die Mensch heit ent wick le sich qua An pas sung an das so zi a le Mi li eu durch Selbst er zie hung zum Bes se ren ndash nur noch eine et was ab sei ti ge Kar ri e re im staats so zi a lis ti schen Bi o lo gie-un ter richt der Sow jet u ni on Wie kalt da ge gen der uumlber le ge ne raquoKampf ums Da seinlaquo der ja ein Kampf um die Fleisch toumlp fe ist ohne Hoff nung der Mensch wer de den kuumlh nen Geist statt sei-nes ma te ri a lis ti schen Gier hal ses nach Houml he rem stre cken Und ein zig die Kir che be wahr te un ver dros sen ei nen la marc kis ti schen Ge dan ken ndash al ler dings ei nen pes si mis ti schen und kei nen op ti-mis ti schen In bes ter Schuumlt zen hil fe fuumlr den fran zouml si schen Che-va li er ver tei digt sie bis heu te ihr mo le ku lar ge ne tisch be denk li-ches Dog ma Adams Un ge hor sam im Gar ten Eden habe zu ei ner raquoErb suumln delaquo ge fuumlhrt die da rauf hin auf alle zu kuumlnf ti gen Ge ne ra-ti o nen uumlber ge gan gen sei

Im mer hin sind in den bei den letz ten Jahr zehn ten ei ni ge Bi o-lo gen wie der et was of fe ner da fuumlr ge wor den der Ver er bung er-wor be ner Ei gen schaf ten ei nen Platz in der Ge ne tik zu las sen Zwar ver er ben sich psy chi sche und phy si sche Le bens er fah run-gen nicht durch ver aumln der te Gene Aber es koumlnn te doch sein dass jene Schal ter die da ruuml ber be stim men wel che ge ne ti sche In for-ma ti on wei ter ge ge ben wird und wel che nicht durch Um welt-ein fuumls se ver aumln dert wer den Uumlber le gun gen wie die se be schaumlf ti-gen so ge nann te Epi gen eti ker seit ei ni ger Zeit sie ha ben ei nen wach sen den Ein fuss auf un se re Vor stel lung von der Evo lu ti on

Die heu ti ge Leit dis zip lin die uns die Ver wandt schaft des Le-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 429783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 42 10082021 10493410082021 104934

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bens ent schluumls seln soll ist die Ge ne tik Wir un ter su chen die Sum-me al ler ge ne ti schen In for ma ti o nen und re gist rie ren da bei Uumlber-ein stim mun gen und Ab wei chun gen mit an de ren Ar ten Doch der Pro zess die Na tur un se rer Na tur zu er ken nen ist noch lan ge nicht ab ge schlos sen und wird wohl auch nie ab ge schlos sen sein Wir wen den Ord nungs sche ma ta auf The o ri en und The o ri en auf Be ob ach tun gen an Nur so kom men wir zu Kau sa li tauml ten und Ge-set zen Doch ihre Be deu tung ver aumln dert sich in dem Maszlige wie wir den Blick punkt un se rer Auf merk sam keit wie der ver la gern Die ser Vor gang des Ent dec kens und des Ver de ckens durch neue Denk sche ma ta ist prin zi pi ell nicht ab schlieszlig bar denn selbst ge-gen waumlr ti ge Evo lu ti ons the o ri en un ter lie gen wei ter hin der Evo-lu ti on

Er staun li cher wei se hat die mo der ne Evo lu ti ons the o rie nur zu ei ner ge ring fuuml gi gen Kor rek tur al ter Denk sche ma ta ge fuumlhrt Wie fruuml her in der Na tur ge schich te er ken nen wir heu te in der Bi o lo gie uumlber all Re gel haf tigk eit Not wen dig keit und Vor tei-le Doch bei nauml he rer Sicht er weist sich die Evo lu ti on ge ra de zu als Herr schafts ge biet der Aus nah men uumlber die Re geln Sie ist eine raquoZweck mauml szligig keit ohne Zwecklaquo wenn auch al lein fuumlr die 01 Pro zent der heu te noch ndash oder ge ra de ndash exis tie ren den Spe-zi es nicht aber fuumlr die 999 Pro zent die in den Ur fu ten dem Ord ovizium dem Perm der Krei de oder dem Ter ti aumlr das Welt-li che seg ne ten E vo lu ti ons bi o lo gen su chen in der Ge schich te der Na tur uumlber all nach Vor tei len die das Uumlber le ben von Ar ten er-klauml ren sol len Da bei ver men gen sie oft zwei ver schie de ne Vor-teils be grif fe Ein mal geht es um Mu ta ti o nen die si tu a tiv vor teil-haf te Ei gen schaf ten fuumlr eine Tier art her vor ge bracht ha ben sol len Eine grouml szlige re Sta tur ein pom pouml se res Ge weih ein staumlr ke res Ge biss sol len Weib chen be ein dru cken und die Nach kom men schaft er-houml hen Da die se Ei gen schaf ten aber oft nichts nuumlt zen wenn der Zu fall die Spiel re geln der Um welt aumln dert gibt es ei nen zwei ten Vor teils be griff Da nach ist das vor teil haft in der Evo lu ti on was

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 439783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 43 10082021 10493410082021 104934

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vom Ende her be trach tet dazu ge fuumlhrt hat dass eine Art uumlber-lebt Nach die ser Sicht wei se kann der mick rigs te Pa vi an auf dem Fel sen sei ne Gene wei ter ge ben wenn die staumlr ke ren Kon kur ren-ten bei ei nem Erd be ben ums Le ben ge kom men sind

An ge sichts zwei er so un ter schied li cher Be deu tun gen von raquoVor teillaquo fragt es sich ob der Be griff in der Evo lu ti ons the o rie uumlber haupt sinn voll ver wen det wer den kann Tat saumlch lich ist er ein Erbe der The o lo gie des 17 und 18 Jahr hun derts die uumlber-all in der Na tur nach der klu gen Ver nunft Got tes such te Dar win kann te die se Tra di ti on gut Als Stu dent ver ehr te er den The o lo-gen Will iam Pa ley (1743 ndash 1805) der na tur kund lich be schla gen die goumltt li che Vo raus sicht auf den neu es ten Stand ge bracht hat te Als Dar win sich von Gott ver ab schie de te und die na tuumlr li che Se-lek ti on er kann te er setz te er uumlber all wo Pa ley raquoGod doeslaquo ge-schrie ben hat te den Satz durch raquoNat ure doeslaquo An Pa leys Vor-stel lung dass die Na tur zweck mauml szligig ein ge rich tet sei und Vor tei le be loh ne hielt Dar win eben so fest wie vie le spauml te re E vo lu ti ons-the o re ti ker

Die Fra ge ist des halb wich tig weil sie zeigt wie eng un se re Vor stel lung von der Na tur bis hi nein in die mo der ne Evo lu ti-ons the o rie von sehr mensch li chen Vor stel lun gen durch setzt ist Statt Vor tei le zu be nen nen wuumlr de es naumlm lich auch aus rei chen zu sa gen dass al les in der Na tur uumlber le ben kann das fuumlr eine Art kei nen toumld li chen Nach teil hat te Ver mut lich uumlber lebt in der Evo lu ti on nicht nur Zweck mauml szligi ges son dern jede Ver aumln de rung die zu min dest nicht zum Aus ster ben fuumlhr t und moumlg li cher wei se liegt ge ra de hie rin der Grund fuumlr eine gro szlige Ar ten viel falt

Die tra di ti o nell ver eng te Sicht wei se gilt ins be son de re bei der Be trach tung des Men schen E vo lu ti ons bi o lo gen koumln nen zahl-rei che Vor tei le be nen nen die er klauml ren wa rum die mensch li che Art so er folg reich ist Men schen sind aumlu szligerst an pas sungs fauml hig und be sie deln fast alle Le bens raumlu me sie sind Al les fres ser mit ei ner gro szligen Nah rungs band brei te sie ha ben eine fe xib le So zi-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 449783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 44 10082021 10493410082021 104934

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al struk tur und ver fuuml gen uumlber ein Selbst be wusst sein das es ih-nen er moumlg licht ihr Ver hal ten zu kor ri gie ren So ge se hen ist der Mensch gleich sam das op ti mal ste al ler Tie re Doch alldem zum Trotz exis tie ren Men schen der Gat tung Homo sap iens erst seit rund 100 000 Jah ren und ihre lang fris ti gen Zu kunfts chan cen ste hen schlecht Denn mit all den vor teil haf ten Ei gen schaf ten ha-ben Men schen in Re kord zeit ihre Um welt zer stoumlrt und das lang-fris ti ge Uumlber le ben der Spe zi es dra ma tisch in fra ge ge stellt Die mit we ni ger spek ta ku lauml ren Vor tei len aus ge stat te ten Di no sau ri-er exis tier ten auf un se rem Pla ne ten hun dert fuumlnf zig Mil li o nen Jah re ganz zu schwei gen von den seit uumlber vier hun dert Mil li o-nen Jah ren na he zu un ver aumln der ten Nau til iden und Ur schne cken

Ge si chert in der Evo lu ti ons the o rie ist dass kei ne ih rer An nah-men ge si chert ist E vo lu ti ons bi o lo gen die ihre Sa che ernst neh-men muumls sen im mer auch die E vo lu ti ons be dingt heit ih res ei ge-nen Er kennt nis ap pa rats ref ek tie ren also mit hin die Evo lu ti on al ler mensch li chen Er kennt nis raquoLetzt lich istlaquo wie der Neuro bio-lo ge Ger hard Roth schreibt raquoje des Nach den ken uumlber die ob jek-ti ve Re a li taumlt sei es wis sen schaft lich oder nicht an die Be din gun-gen mensch li chen Den kens Spre chens und Han delns ge bun den und muss sich da rin be waumlh renlaquo9

Man muss ref ek tie ren dass die un ver meid li chen Ord nungs-mit tel des Geis tes das Den ken und die Spra che nicht die Wirk-lich keit raquoan sichlaquo auf raumlu men Sie sind Mo del le die die un ver-fuumlg ba re Wirk lich keit nach Maszlig ga be der ei ge nen Spiel re geln er klauml ren Nicht erst seit Er for schung der Evo lu ti on in den letz-ten zwei hun dert Jah ren muumlht sich der mensch li che Geist dem Lauf der Welt ei nen ndash nach mensch li chem Er mes sen ndash raquover nuumlnf-ti genlaquo Sinn zu ge ben Doch das Pa ra do xe der Ge schich te liegt da rin dass der mensch li che Geist selbst Pro dukt evo lu ti o nauml rer Pro zes se ist Er ist Maszlig stab und Ge mes se nes zu gleich

An eine tat saumlch lich ob jek ti ve Er kennt nis der Evo lu ti on waumlre nur halb wegs sinn voll zu den ken wenn die Evo lu ti on des Men-9

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 459783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 45 10082021 10493410082021 104934

schen ab ge schlos sen ist und da mit die Stu fe der groumlszligt moumlg li chen Voll kom men heit er reicht hat In den Zei ten vor La marck und Dar win ha ben das nicht nur The o lo gen son dern auch die Na tur-for scher fast al le samt ge glaubt Das mensch li che Be wusst sein sei die un uuml ber trof fe ne Spit zen leis tung des Schoumlp fer got tes ge schaf-fen die Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Sei nen schoumlns-ten Aus druck fand die se Sicht in ei nem Aus spruch des jun gen Phi lo so phen Fried rich Wil helm Jo seph Schel ling (1775 ndash 1854) Er mein te dass der Mensch je nes We sen sei raquoin dem die Na tur das Auge auf schlaumlgtlaquo und sich da mit ih rer selbst be wusst wird Ein huumlb scher Satz aber doch viel zu pa the tisch for mu liert Von der vol len Er kennt nis der Na tur und un se rer selbst sind wir noch im mer weit ent fernt Aber wir koumln nen da ruuml ber stau nen dass die Evo lu ti on mit uns ein Le be we sen her vor ge bracht hat in dem die Na tur sich fuumlr sich selbst fa szi nier bar ge macht hat Wie hat te es dazu kom men koumln nen

bull Der Pri mat Was ist ein Mensch

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 469783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 46 10082021 10493410082021 104934

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ver waist sein Die Mensch heit wird er wacht sein und die Welt je-nes Ge sicht er hal ten ha ben das uns ge gen waumlr tig er scheint Doch wie sah das aus als die Na tur das ers te Mal in ei nem af fen aumlhn-li chen We sen die Au gen auf schlug War es auf ei ner Wald wie-se in ei nem Hain an ei nem Berg hang oder auf ei ner Lich tung War das er leuch te te We sen ein Maumlnn chen oder ein Weib chen Ging es den gan zen Tag auf recht oder saszlig es noch ger ne in der Ho cke eng ge kau ert an sei ne Bruuml der und Schwes tern Und war es eine Ein ge bung ein Blitz schlag als das Selbst be wusst sein das ers te Mal die Fes seln des Pri ma ten ge hirns spreng te

Wir wis sen nicht wo ran Schel ling dach te als er mein te die Na tur habe im Men schen ihr Auge auf ge schla gen Si cher dach te er nicht an ei nen ein zi gen Mo ment dem Mil li o nen an de re folg-ten Er dach te an den raquoMen schen an sichlaquo Und er wuss te nichts vom ost af ri ka ni schen Great Rift Val ley und von haa ri gen Vor-men schen die dort einst haus ten Er leb te in Jena und in Muumln-chen und ei nen Men schen af fen hat te Schel ling nie ge se hen Der ein zig ar ti ge Mo ment in dem die Na tur sich ih rer selbst be wusst wird bleibt eine Me ta pher

Doch wie wur de der Mensch nun tat saumlch lich zum Men-schen Die For mu lie rung ist dop pel deu tig Denn wie der Mensch zum Men schen wur de ndash das ist nicht ein evo lu ti o nauml rer Pro-zess auf der lee ren Welt buumlh ne son dern ein Spiel von Be ob ach-ter und Be ob ach te tem Schau spie ler und Zu schau er Ge schich-te auch Ent wick lungs ge schich te ist nichts Vor ge fun de nes Der Mensch schrieb der fran zouml si sche Phi lo soph JeanshyPaul Sart re (1905 ndash 1980) macht sich selbst wie der Ro man schrift stel ler sei ne Fi gu ren Er ist ge fer tigt aus bi o lo gi schen (ana to mi schen neu ro lo gi schen und phy si o lo gi schen) Be stand tei len zu al ler meist je doch durch jene we nig bi o lo gi schen Weis hei ten mit de nen sich die se Subs tan zen selbst zum raquoMen schenlaquo er ko ren

Das Glei che gilt fuumlr die mensch li che Stam mes ge schich te Auch sie ist zu naumlchst ein mal eine Ge schich te Ihre Ur spruumln ge lie gen im

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al ten Grie chen land als Aris to te les den Men schen und den Af-fen ver wandt schaft lich na he ruumlckt raquoMan che Tie re ste hen zwi-schen Mensch und Vier fuumlszlig ler in ih rem We sen wie Af fen Meer-kat zen und Pa vi a ne hellip Ihr Ge sicht hat vie le Aumlhn lich kei ten mit dem des Men schen Nase und Oh ren glei chen den sei nen und Zaumlh ne hat er auch wie ein Mensch die Vor der zaumlh ne wie die Ba cken zaumlhnelaquo10 Auch Aris to te lesrsquo Schuuml ler The oph rast (ca 370 v Chr ndash ca 288 v Chr) be steht auf der Aumlhn lich keit zwi schen Men schen und Tie ren Er lehnt es so gar ab Fleisch zu es sen oder Tie re zu op fern da man sei ne Ver wand ten nicht ver spei se

Aris to te les und The oph rast stell ten den Men schen zwar ne-ben den Af fen ndash Men schen af fen kann te man noch nicht ndash aber die al ten Grie chen hat ten ihn nur sehr un ge faumlhr zu ei nem Tier un ter Tie ren er klaumlrt Den naumlchs ten Schritt mach te mehr als zwei-tau send Jah re spauml ter Carl von Linneacute An der Zu ge houml rig keit des Men schen zu den Saumlu ge tie ren be stand fuumlr den Schwe den kein Zwei fel die Be haa rung und das Stil len der Jun gen be lehr ten un-miss ver staumlnd lich da ruuml ber Auch die Ver wandt schaft mit Af fen und Men schen af fen stand au szliger Fra ge Hier wa ren es die fa chen Fin ger- und Fuszlig nauml gel statt der Klau en der ab ge spreiz te Dau-men die Greif haumln de die zwei Zit zen der Weib chen und der frei he run ter haumln gen de statt am Un ter leib an lie gen de Pe nis ndash Merk-ma le die groumlszlig ten teils auch schon Aris to te les auf ge fal len wa ren

Doch Linneacute zouml ger te vor der Kon se quenz Haumln de rin gend such-te der got tes fuumlrch ti ge Ana tom nach ei nem Un ter schied zwi schen dem Men schen und den uumlb ri gen von ihm so ge nann ten raquoPri ma-tenlaquo raquoIch ver lan gelaquo schrieb er 1747 sei nem deut schen Freund Jo hann Ge org Gme lin raquovon Ih nen und von der gan zen Welt dass Sie mir ein Gat tungs merk mal zei gen hellip auf grund des sen man zwi schen Mensch und Affe un ter schei den kann Ich weiszlig selbst mit aumlu szligers ter Ge wiss heit von kei nemlaquo11

Nach sei nen Kri te ri en haumlt te Linneacute den Men schen zu min dest mit dem Schim pan sen ge mein sam in die sel be Gat tung ein ord-10

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9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 499783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 49 10082021 10493510082021 104935

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nen muumls sen Der Ge dan ke schweb te zeit gleich auch dem Phi lo so-phen JeanshyJacques Rous seau (1712 ndash 1778) vor als er Schim pan-sen Orang-Ut ans und Men schen so gar als Ver tre ter der Spe zi es Mensch an sah Rous seau hat te nie ei nen Men schen af fen ge se-hen Aber die Be rich te die er von Ex pe di ti o nen nach Af ri ka und Suumld ost a si en las lie szligen in ihm kei nen Zwei fel dass die da rin be schrie be nen Men schen af fen raquowe der Tie re noch Goumlt ter son-dern Men schenlaquo sei en12 Fuumlr den Auf klauml rer wa ren Men schen af-fen edle Wil de die von kei ner Zi vi li sa ti on in ih rem fried fer ti gen We sen zer stoumlrt sei en an ders als die Men schen in Eu ro pa Eben-so dach te we nig spauml ter der schot ti sche Sprach for scher James Bur nett Lord Mon boddo (1714 ndash 1799) Auch er be trach te te den Orang-Utan als ei nen Men schen naumlm lich als ei nen raquosprach-losen Wil denlaquo

In ter pre ta ti o nen wie Rous seau sie in Pa ris und Bur nett bald da rauf in Kin card ines hire wag ten wa ren Linneacute im schwe di schen Upp sa la fremd Den Men schen ins Tier reich ein zu ord nen war in den Au gen der stren gen pro tes tan ti schen Kir che Suumln de ge nug und Linneacute zouml ger te den letz ten Schritt zu tun In sei ner Not sor-tier te er 1758 ach sel zu ckend Mensch und Schim pan se in un ter-schied li che Gat tun gen zu sam men ge fasst in der Ord nung der Pri ma ten in der sie auch heu te noch mehr schlecht als recht huumlbsch ge trennt ne ben ei nan der ho cken Homo sap iens der raquoin-tel ligi ble Menschlaquo und Pan trog lody tes der raquohoumlh len be woh nen-de Faunlaquo

So weit so schoumln Der Mensch wur de der obers te Pri mat das houmlchs te raquoHer ren tierlaquo Linneacute be kam kei nen Aumlr ger mit der Kir-che und die Na tur wis sen schaft den gro szligen Wurf des Linneacute rsquoschen Sys tems Wenn nur die se Nach barn nicht wauml ren Seit Be kannt-wer den der Men schen af fen be muumlh ten sich Wis sen schaft ler und The o lo gen im mer wie der um den Ver such den klei nen Gra ben mit gro szligen Was sern zu fuumll len der Homo sap iens und Pan troshyglody tes bei ih rer ord nungs ge mauml szligen Ver ge sell schaf tung auf der 12

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 509783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 50 10082021 10493510082021 104935

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Af fen in sel trennt Sie eva ku ier ten den Men schen vom Pri ma ten-fel sen und schu fen ihm eine ei ge ne Ord nung

In die ser Vor stel lungs welt wuchs auch der The o lo gie stu dent Charles Dar win auf Das fruuml he 19 Jahr hun dert war eine got-tes fuumlrch ti ge bie der mei er li che Zeit Doch je mehr er sich mit der Ver aumln de rung der Ar ten be schaumlf tig te umso deut li cher wur de Dar win dass es mit der of fi zi ell be kun de ten Son der stel lung des Men schen im Uni ver sum nicht weit her sein konn te So no tier te er schon er staun lich fruumlh in sein Ta ge buch raquoDer Mensch haumllt sich in sei ner Ar ro ganz fuumlr ein groszlig ar ti ges Werk des be son de ren Ein grei fens ei ner Gott heit wuumlr dig Es duumlrf te be schei de ner und wie ich glau be auch rich tig sein ihn als aus den Tie ren ent stan-den an zu se henlaquo13

Dar win hat te den noch zwoumllf Jah re ge zouml gert bis er sich schlieszlig lich ge trau te nach der all ge mei nen Dar stel lung ei ner Evo-lu ti ons the o rie im Jahr 1859 sei ne Schluss fol ge run gen in Be zug auf den Men schen in Druck zu ge ben Die Ab stam mung des Men schen aus dem Jahr 1871 ist ein ge maumlch li ches Buch in ver-soumlhn li chem Ton fall Der Na tur for scher er zaumlhlt da rin wie ein gu-ter al ter Groszlig va ter wo her die Pfan zen die Tie re und die Eng-laumln der kom men Die raquoAb wer tunglaquo des Men schen geht da bei ein her mit ei ner kon ti nu ier li chen raquoAuf wer tunglaquo der Tie re raquoWir ha ben ge se henlaquo schreibt Dar win raquodass die Emp fin dun gen und Ein druuml cke die ver schie de nen Er re gun gen und Fauml hig kei ten wie Lie be Ge daumlcht nis Auf merk sam keit Neu gier de Nach ah mung Ver stand usw de ren sich der Mensch ruumlhmt in ei nem be gin nen-den oder zu wei len selbst in ei nem gut ent wi ckel ten Zu stand bei den nie de ren Tie ren ge fun den wer denlaquo14

La marck und Dar win wa ren die Ers ten die mit Mit teln der mo der nen Na tur wis sen schaft be haup te ten was vie le Kul tu ren und Zei ten schon zu vor re li gi oumls ge ahnt hat ten raquoNa tuumlr lichlaquo ist es ab surd eine Tei lung des Tier reichs in zwei Ka te go ri en vor zu-neh men ndash in eine mensch li che und eine nicht mensch li che Ka-13

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9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 519783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 51 10082021 10493510082021 104935

Page 30: Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen · Leseprobe Professor Dr. Richard David Precht Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen »Fazit:

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zeich net Und alle Tie re be schrei ten ihn zeit lich ver setzt nach dem glei chen Mus ter das der Mensch ih nen vor ge lebt hat raquoEs wird ei nen mehr oder we ni ger lang sa men und kon ti nu ier li chen Fort schritt al ler Ar ten zu ei ner houml he ren Ver voll komm nung ge-ben so dass alle Gra de der Stu fen lei ter in ei ner de ter mi nie ren den und kons tan ten Be zie hung fort ge setzt va ri a bel sein wer den hellip Es wird un ter den Af fen Leu te wie New ton und un ter Bi bern wie (den Fes tungs bau meis ter RDP) Vau ban ge ben Die Aus-tern und die Po ly pen wer den in Be zie hung zu den houmlchs ten Ar-ten das sein was die Vouml gel fuumlr die Vier fuumlszlig ler im Ver haumllt nis zum Men schen sindlaquo6

Seit Bon net ist die Vor stel lung von der raquoLei ter der Na turlaquo der Sca la nat urae ein wich ti ges In ven tar des na tur ge schicht-li chen Den kens Fort schritt Ver voll komm nung und goumltt li cher Plan ndash die se drei Grouml szligen be stim men die Vor stel lung vom Wer-den der Na tur vom 18 Jahr hun dert bis in die Ge gen wart hi nein Das Prin zip nach dem die Evo lu ti on Le ben her vor bringt sei un ver meid lich und von An fang an vor her be stimmt Nicht we-ni ge E vo lu ti ons the o re ti ker ha ben dies eben falls ge glaubt und zwar mit be acht li cher Kon ti nu i taumlt Der eng li sche Na tur for scher Alf red Rus sel Wall ace (1823 ndash 1913) der ge mein sam mit Dar win die The o rie der na tuumlr li chen Se lek ti on ent wi ckelt hat te hielt nicht nur den mensch li chen Geist und sein Mo ral emp fin den son dern zu dem auch die wei che nack te emp find sa me Haut des Men-schen fuumlr das Re sul tat ei ner not wen di gen Ent wick lung

Doch schon im 18 Jahr hun dert reg ten sich zu gleich vor sich-ti ge Zwei fel an der Stim mig keit ei ner sol chen Vor ge formt heit Denn wie soll te man Na tur ka tast ro phen be wer ten Waumlh rend die meis ten Na tur for scher sie als Teil des goumltt li chen Schoumlp-fungs plans in ter pre tier ten zo gen an de re ver gleichs wei se fins te-re Schluumls se Und so wur de tat saumlch lich ein gro szliges Erd be ben zum in di rek ten Aus louml ser der Evo lu ti ons the o rie naumlm lich je nes von Lis sa bon im Jahr 1755 Wer uumlber die Ka tast ro phe nach dach te 6

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 379783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 37 10082021 10493410082021 104934

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konn te star ken Zwei fel da ran he gen dass die Welt ord nung aus-ge kluuml gelt und har mo nisch sei

Die wei test rei chen den Schluss fol ge run gen zog der eng li-sche Pfar rer und Na ti o nal oumlko nom Tho mas Ro bert Malt hus (1766 ndash 1834) Nicht nur die ge o lo gi sche Na tur und ihr Ge-fah ren ri si ko son dern auch die Ver meh rung der Be voumll ke rung wur de nun als Uumlbel er kannt Im Jahr 1798 pub li zier te Malt-hus sei nen Es say on the Princi ple of Po pu la ti on (Das Be voumllshyke rungs ge setz) die ers te Mahn schrift vor den Ge fah ren ei ner Be voumll ke rungs ex plo si on Bei ei ner Ver dop pe lungs ra te der Welt-be voumll ke rung in ner halb von fuumlnf und zwan zig Jah ren er rech ne-te Malt hus wer de ihr exponent iel les An wach sen auf grund der von der Um welt ge setz ten Gren zen not wen dig zu Ar mut Ka-tast ro phen und Tod fuumlh ren Der bib li sche Auf trag raquoSeid frucht-bar und meh ret euchlaquo er schien mit ei nem Mal als ein Fluch Ein gna den lo ser raquoKampf ums Da seinlaquo (strugg le for life) war ent fes selt Das Ein zi ge was blieb war die Hoff nung die ka-tast ro pha len Fol gen der goumltt li chen An wei sung so weit wie moumlg lich ein daumlm men zu koumln nen

In ei ner Zeit als die Ge sell schafts the o rie noch der Bi o lo-gie den Leuch ter vo ran und nicht wie heu te die Schlep pe hin-terh er traumlgt be geis tert sich vor al lem ein eng li scher Dorf pfar rer Charles Dar win (1809 ndash 1882) fuumlr die Malt hus rsquoschen Ge set ze Denn wenn es rich tig ist dass sich ein Tier mit ei ner so ge rin-gen Ver meh rungs ra te wie der Mensch ge gen uumlber sei nen Art ge-nos sen durch setz te so gab es sicht lich an de re Kri te ri en fuumlr die Uumlber le bens fauml hig keit ei ner Po pu la ti on als die Zahl ih rer Ge bur-ten Der Maszlig stab fuumlr den Er folg ei ner Spe zi es war ihr Durch set-zungs ver mouml gen oder wie Dar win es spauml ter in den Prin zi pi en der Bio logie des jun gen Phi lo so phen Her bert Spen cer (1820 ndash 1903) le sen konn te raquothe sur vi val of the fit testlaquo

Dar wins na tur kund li che Stu di en wa ren ur spruumlng lich von dem Ge dan ken be seelt die nicht a ni ma li sche Iden ti taumlt des Men schen

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 389783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 38 10082021 10493410082021 104934

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zu be wei sen Erst der Sieg des Ent de cker stol zes uumlber das Ent-set zen ver lieh ihm schlieszlig lich den Mut den be ruumlhm ten Satz zu schrei ben raquoUnd ich bin bei na he uumlber zeugt (der Mei nung mit der ich an die Fra ge he ran ge tre ten bin voumll lig ent ge gen ge setzt) dass die Spe zi es (mir ist es als ge staumln de ich ei nen Mord ein) nicht un ver aumln der lich sindlaquo7

Dar wins kuumlh ne Ver mu tung war nicht ganz neu Be reits ein hal bes Jahr hun dert zu vor hat ten der fran zouml si sche Na tur for scher GeorgesshyLou is Lec lerc Comte de Buf fon (1707 ndash 1788) und der Phi lo soph De nis Dide rot (1713 ndash 1784) uumlber eine Ver aumln de-rung der Ar ten spe ku liert Be son ders JeanshyBap tiste de La marck (1744 ndash 1829) be haup te te die all maumlh li che Ent wick lung der Ar-ten aus pri mi ti ve ren Vor for men die so ge nann te Trans mu ta ti on La marck war nicht nur ein Pi o nier der mit Jahr mil li o nen han-tier te als alle Welt die Erde noch ei ni ge tau send bis hun dert tau-send Jah re jung waumlhn te son dern er praumlg te (zur glei chen Zeit wie zwei deut sche Na tur for scher) das Wort Bi o lo gie Bei ihm wan del ten sich die Le be we sen da durch dass sich ihre koumlr per-li chen An stren gun gen auf ihr Erb gut aus wir ken Da bei nahm er al ler dings nicht an dass die Ar ten aus ei nan der her vor ge hen wie Dar win es spauml ter tat La ma rcks The o rie ist nauml her an je ner von Bon net Fuumlr ihn ver voll komm nen die ein zel nen Tier ar ten im Lau fe der Zeit ihre An la gen und ent wi ckeln sich da durch im-mer houml her Be son ders voll kom me ne Tie re wie der Mensch sind dem nach sehr alt denn sie ha ben ei nen wei ten Weg von ei nem pri mi ti ven Or ga nis mus bis hin zur heu ti gen Ge stalt hin ter sich ge las sen An de re wie der pri mi ti ve Suumlszlig was ser po lyp ha ben ihre Rei se durch die Zeit ge ra de erst an ge fan gen

La marck war kein Charis mati ker und die zo o lo gi sche All-macht sei nes Vor ge setz ten am Jar din des Plan tes in Pa ris des Ba rons George Cu vier (1769 ndash 1832) ver hin der te dass man sich all zu sehr mit sei nen The o ri en be schaumlf tig te Cu vier war ein be-deu ten der Mann An die Stel le ei ner nach bo ta ni schem Mus ter 7

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 399783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 39 10082021 10493410082021 104934

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ver fah ren den Zo o lo gie setz te er eine neue Wis sen schaft die sich we ni ger an aumlu szlige ren Merk ma len als am Or ga nis mus der Tie-re ori en tier te Doch was die Trans mu ta ti on an be lang te blieb der Ober auf se her der pro tes tan tisch-the o lo gi schen Fa kul tauml ten Frank reichs beim kon ser va ti ven Mo dell Er ver brei te te wei-ter hin eine Ket te von Na tur ka tast ro phen habe als mo di fi zier-te Sint fu ten gan zen Klas sen von Tie ren den Gar aus ge macht Die se The o rie ist weit ge hend rich tig al ler dings schlieszligt sie die Trans mu ta ti on nicht aus

Das wirk lich Re vo lu ti o nauml re an La marck war die Idee die Ge schich te der Na tur nicht vom Men schen aus bis hi nun ter zur Bak te rie zu schrei ben son dern um ge kehrt von der Bak te rie zum Men schen Aus ei nem Mo dell der raumlum li chen Hie rar chie wur de ein Mo dell der zeit li chen Ent wick lung La marck er kann te zu-dem dass das Be wusst sein ei nes Tie res an die Phy si o lo gie und Neu ro lo gie sei nes Koumlr pers ge bun den ist Dem nach ist je der Geist ers tens be grenzt und zwei tens ver aumln der lich

Die phi lo so phi sche Kon se quenz aus La ma rcks Den ken ist so ra di kal dass sie fast ein hun dert fuumlnf zig Jah re lang von nie man-dem ernst haft in Be tracht ge zo gen wur de Wie kann ein Geist der den Ge set zen der Evo lu ti on un ter wor fen ist sich ei gent lich an ma szligen die Na tur der Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Von die ser Schluss fol ge rung woll te die Bi o lo gie al ler dings bis weit ins 20 Jahr hun dert hi nein nicht viel wis sen

Auch Dar wins The o rie von der na tuumlr li chen Se lek ti on der Le be we sen im Rin gen um ihr Le ben und mit der Um welt ent-wi ckel te sich wei ter Ge witz ten Zeit ge nos sen wie Karl Marx (1818 ndash 1883) war auf ge fal len wie stark Dar wins Den ken dem Zeit geist des Vik to ri a ni schen Zeit al ters ver haf tet war raquoEs ist merk wuumlr dig wie Dar win un ter Bes ti en und Pfan zen sei ne eng li-sche Ge sell schaft mit ih rer Tei lung der Ar beit Kon kur renz Auf-schluss neu er Maumlrk te rsaquoEr fin dun genlsaquo und Malt hus schem rsaquoKampf ums Da seinlsaquo wie der er kenntlaquo8 Die Be to nung des Malt hus rsquoschen 8

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Kamp fes von je dem ge gen je den und auch der Fort schritts glau-be in Dar wins Den ken zei gen ihn stark sei ner Zeit ver haf tet

Eine an de re Kri tik kam aus der Bi o lo gie selbst Dar win hat-te noch nichts von Ge nen ge wusst So konn te er nicht er klauml ren was sich bi o che misch er eig ne te wenn Ar ten sich ver aumln der ten Der raquoDar wi nis muslaquo der Jahr hun dert wen de gab schlieszlig lich die Hoff nung auf die Evo lu ti on lie szlige sich al lein durch die na tuumlr li-che Se lek ti on der Ar ten nach Maszlig ga be ih rer An pas sungs fauml hig-keit an die Um welt be gruumln den Man ent deck te die Rol le der Ge-ne tik und zum neu en Er klauml rungs prin zip wur de das Mo dell der zwei Kons t ruk teu re Das Spiel des Le bens er hielt ei nen Wuumlr fel zu faumll li ge Ver aumln de run gen im Gen ma te ri al also so ge nann te Mu tashyti o nen Im Tri alshyandshyEr ror-Ver fah ren ent ste hen im Erb gut ge le-gent lich Ab wei chun gen die dann er folg reich sind wenn sie sich in der Um welt be waumlh ren Da mit war die Idee vom Tisch dass sich neu er wor be ne Ei gen schaf ten oder raquodie ana to mi schen Aus-wir kun gen koumlr per li cher An stren gun genlaquo wie La marck mein te ver er ben koumlnn ten Noch Dar win hat te dies fuumlr denk bar ge hal ten So ver trau te er Er zaumlh lun gen wo nach bei je nen Volks grup pen zu de ren Ri ten die re gel mauml szligi ge Be schnei dung der Pe nis vor haut ge houmlrt sich die Vor haut all maumlh lich ver kuumlrz te Das haumlt te zwar die Be schnei dung uumlber fuumls sig ge macht aber Dar win hat te ge ra-de an de res Ge wich ti ges zu be den ken als da ruuml ber nach zu sin nen

Die Ver kuumlr zung der Vor haut blieb im Wis sens schatz der Dar wi nis ten bis Au gust Weis mann (1834 ndash 1914) im spauml ten 19 Jahr hun dert nach wies dass ein sol cher In for ma ti ons fuss vom aumlu szlige ren Er schei nungs bild zum Erb ma te ri al nicht moumlg lich sei Uumlber fuumlnf Ge ne ra ti o nen kuumlrz te Weis mann ei nem Stamm von Maumlu sen ihre Schwaumln ze ohne dass eine Nach richt uumlber die sen Ein griff die Keim bah nen der Maumlu se er reich te Denn sie he da Auch die Schwaumln ze der nach fol gen den Maumlu se ge ne ra ti o nen blie-ben gleich lang Da be durf te es schon der Spitz fin dig keit des iri schen Dich ters George Bern ard Shaw (1856 ndash 1950) der Weis-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 419783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 41 10082021 10493410082021 104934

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manns schnei den de Wi der le gung der La marckrsquo schen The o rie leicht fer tig vom Se zier tisch wisch te Die Maumlu se be merk te der Dich ter haumlt ten gar kei ne An stren gun gen un ter nom men ihre Schwaumln ze zu ver lie ren waumlh rend sich die Tie re bei La marck ja da rum be muumlht haumlt ten sich zu ver aumln dern

Im Nach hi n ein also war es der pauml da go gi sche Op ti mis mus der La marck in die Irre ge fuumlhrt ha ben soll te So mach te die Hoff-nung auf ei nen ethisch an spre chen den E vo lu ti ons ver lauf ndash die Er war tung die Mensch heit ent wick le sich qua An pas sung an das so zi a le Mi li eu durch Selbst er zie hung zum Bes se ren ndash nur noch eine et was ab sei ti ge Kar ri e re im staats so zi a lis ti schen Bi o lo gie-un ter richt der Sow jet u ni on Wie kalt da ge gen der uumlber le ge ne raquoKampf ums Da seinlaquo der ja ein Kampf um die Fleisch toumlp fe ist ohne Hoff nung der Mensch wer de den kuumlh nen Geist statt sei-nes ma te ri a lis ti schen Gier hal ses nach Houml he rem stre cken Und ein zig die Kir che be wahr te un ver dros sen ei nen la marc kis ti schen Ge dan ken ndash al ler dings ei nen pes si mis ti schen und kei nen op ti-mis ti schen In bes ter Schuumlt zen hil fe fuumlr den fran zouml si schen Che-va li er ver tei digt sie bis heu te ihr mo le ku lar ge ne tisch be denk li-ches Dog ma Adams Un ge hor sam im Gar ten Eden habe zu ei ner raquoErb suumln delaquo ge fuumlhrt die da rauf hin auf alle zu kuumlnf ti gen Ge ne ra-ti o nen uumlber ge gan gen sei

Im mer hin sind in den bei den letz ten Jahr zehn ten ei ni ge Bi o-lo gen wie der et was of fe ner da fuumlr ge wor den der Ver er bung er-wor be ner Ei gen schaf ten ei nen Platz in der Ge ne tik zu las sen Zwar ver er ben sich psy chi sche und phy si sche Le bens er fah run-gen nicht durch ver aumln der te Gene Aber es koumlnn te doch sein dass jene Schal ter die da ruuml ber be stim men wel che ge ne ti sche In for-ma ti on wei ter ge ge ben wird und wel che nicht durch Um welt-ein fuumls se ver aumln dert wer den Uumlber le gun gen wie die se be schaumlf ti-gen so ge nann te Epi gen eti ker seit ei ni ger Zeit sie ha ben ei nen wach sen den Ein fuss auf un se re Vor stel lung von der Evo lu ti on

Die heu ti ge Leit dis zip lin die uns die Ver wandt schaft des Le-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 429783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 42 10082021 10493410082021 104934

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bens ent schluumls seln soll ist die Ge ne tik Wir un ter su chen die Sum-me al ler ge ne ti schen In for ma ti o nen und re gist rie ren da bei Uumlber-ein stim mun gen und Ab wei chun gen mit an de ren Ar ten Doch der Pro zess die Na tur un se rer Na tur zu er ken nen ist noch lan ge nicht ab ge schlos sen und wird wohl auch nie ab ge schlos sen sein Wir wen den Ord nungs sche ma ta auf The o ri en und The o ri en auf Be ob ach tun gen an Nur so kom men wir zu Kau sa li tauml ten und Ge-set zen Doch ihre Be deu tung ver aumln dert sich in dem Maszlige wie wir den Blick punkt un se rer Auf merk sam keit wie der ver la gern Die ser Vor gang des Ent dec kens und des Ver de ckens durch neue Denk sche ma ta ist prin zi pi ell nicht ab schlieszlig bar denn selbst ge-gen waumlr ti ge Evo lu ti ons the o ri en un ter lie gen wei ter hin der Evo-lu ti on

Er staun li cher wei se hat die mo der ne Evo lu ti ons the o rie nur zu ei ner ge ring fuuml gi gen Kor rek tur al ter Denk sche ma ta ge fuumlhrt Wie fruuml her in der Na tur ge schich te er ken nen wir heu te in der Bi o lo gie uumlber all Re gel haf tigk eit Not wen dig keit und Vor tei-le Doch bei nauml he rer Sicht er weist sich die Evo lu ti on ge ra de zu als Herr schafts ge biet der Aus nah men uumlber die Re geln Sie ist eine raquoZweck mauml szligig keit ohne Zwecklaquo wenn auch al lein fuumlr die 01 Pro zent der heu te noch ndash oder ge ra de ndash exis tie ren den Spe-zi es nicht aber fuumlr die 999 Pro zent die in den Ur fu ten dem Ord ovizium dem Perm der Krei de oder dem Ter ti aumlr das Welt-li che seg ne ten E vo lu ti ons bi o lo gen su chen in der Ge schich te der Na tur uumlber all nach Vor tei len die das Uumlber le ben von Ar ten er-klauml ren sol len Da bei ver men gen sie oft zwei ver schie de ne Vor-teils be grif fe Ein mal geht es um Mu ta ti o nen die si tu a tiv vor teil-haf te Ei gen schaf ten fuumlr eine Tier art her vor ge bracht ha ben sol len Eine grouml szlige re Sta tur ein pom pouml se res Ge weih ein staumlr ke res Ge biss sol len Weib chen be ein dru cken und die Nach kom men schaft er-houml hen Da die se Ei gen schaf ten aber oft nichts nuumlt zen wenn der Zu fall die Spiel re geln der Um welt aumln dert gibt es ei nen zwei ten Vor teils be griff Da nach ist das vor teil haft in der Evo lu ti on was

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 439783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 43 10082021 10493410082021 104934

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vom Ende her be trach tet dazu ge fuumlhrt hat dass eine Art uumlber-lebt Nach die ser Sicht wei se kann der mick rigs te Pa vi an auf dem Fel sen sei ne Gene wei ter ge ben wenn die staumlr ke ren Kon kur ren-ten bei ei nem Erd be ben ums Le ben ge kom men sind

An ge sichts zwei er so un ter schied li cher Be deu tun gen von raquoVor teillaquo fragt es sich ob der Be griff in der Evo lu ti ons the o rie uumlber haupt sinn voll ver wen det wer den kann Tat saumlch lich ist er ein Erbe der The o lo gie des 17 und 18 Jahr hun derts die uumlber-all in der Na tur nach der klu gen Ver nunft Got tes such te Dar win kann te die se Tra di ti on gut Als Stu dent ver ehr te er den The o lo-gen Will iam Pa ley (1743 ndash 1805) der na tur kund lich be schla gen die goumltt li che Vo raus sicht auf den neu es ten Stand ge bracht hat te Als Dar win sich von Gott ver ab schie de te und die na tuumlr li che Se-lek ti on er kann te er setz te er uumlber all wo Pa ley raquoGod doeslaquo ge-schrie ben hat te den Satz durch raquoNat ure doeslaquo An Pa leys Vor-stel lung dass die Na tur zweck mauml szligig ein ge rich tet sei und Vor tei le be loh ne hielt Dar win eben so fest wie vie le spauml te re E vo lu ti ons-the o re ti ker

Die Fra ge ist des halb wich tig weil sie zeigt wie eng un se re Vor stel lung von der Na tur bis hi nein in die mo der ne Evo lu ti-ons the o rie von sehr mensch li chen Vor stel lun gen durch setzt ist Statt Vor tei le zu be nen nen wuumlr de es naumlm lich auch aus rei chen zu sa gen dass al les in der Na tur uumlber le ben kann das fuumlr eine Art kei nen toumld li chen Nach teil hat te Ver mut lich uumlber lebt in der Evo lu ti on nicht nur Zweck mauml szligi ges son dern jede Ver aumln de rung die zu min dest nicht zum Aus ster ben fuumlhr t und moumlg li cher wei se liegt ge ra de hie rin der Grund fuumlr eine gro szlige Ar ten viel falt

Die tra di ti o nell ver eng te Sicht wei se gilt ins be son de re bei der Be trach tung des Men schen E vo lu ti ons bi o lo gen koumln nen zahl-rei che Vor tei le be nen nen die er klauml ren wa rum die mensch li che Art so er folg reich ist Men schen sind aumlu szligerst an pas sungs fauml hig und be sie deln fast alle Le bens raumlu me sie sind Al les fres ser mit ei ner gro szligen Nah rungs band brei te sie ha ben eine fe xib le So zi-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 449783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 44 10082021 10493410082021 104934

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al struk tur und ver fuuml gen uumlber ein Selbst be wusst sein das es ih-nen er moumlg licht ihr Ver hal ten zu kor ri gie ren So ge se hen ist der Mensch gleich sam das op ti mal ste al ler Tie re Doch alldem zum Trotz exis tie ren Men schen der Gat tung Homo sap iens erst seit rund 100 000 Jah ren und ihre lang fris ti gen Zu kunfts chan cen ste hen schlecht Denn mit all den vor teil haf ten Ei gen schaf ten ha-ben Men schen in Re kord zeit ihre Um welt zer stoumlrt und das lang-fris ti ge Uumlber le ben der Spe zi es dra ma tisch in fra ge ge stellt Die mit we ni ger spek ta ku lauml ren Vor tei len aus ge stat te ten Di no sau ri-er exis tier ten auf un se rem Pla ne ten hun dert fuumlnf zig Mil li o nen Jah re ganz zu schwei gen von den seit uumlber vier hun dert Mil li o-nen Jah ren na he zu un ver aumln der ten Nau til iden und Ur schne cken

Ge si chert in der Evo lu ti ons the o rie ist dass kei ne ih rer An nah-men ge si chert ist E vo lu ti ons bi o lo gen die ihre Sa che ernst neh-men muumls sen im mer auch die E vo lu ti ons be dingt heit ih res ei ge-nen Er kennt nis ap pa rats ref ek tie ren also mit hin die Evo lu ti on al ler mensch li chen Er kennt nis raquoLetzt lich istlaquo wie der Neuro bio-lo ge Ger hard Roth schreibt raquoje des Nach den ken uumlber die ob jek-ti ve Re a li taumlt sei es wis sen schaft lich oder nicht an die Be din gun-gen mensch li chen Den kens Spre chens und Han delns ge bun den und muss sich da rin be waumlh renlaquo9

Man muss ref ek tie ren dass die un ver meid li chen Ord nungs-mit tel des Geis tes das Den ken und die Spra che nicht die Wirk-lich keit raquoan sichlaquo auf raumlu men Sie sind Mo del le die die un ver-fuumlg ba re Wirk lich keit nach Maszlig ga be der ei ge nen Spiel re geln er klauml ren Nicht erst seit Er for schung der Evo lu ti on in den letz-ten zwei hun dert Jah ren muumlht sich der mensch li che Geist dem Lauf der Welt ei nen ndash nach mensch li chem Er mes sen ndash raquover nuumlnf-ti genlaquo Sinn zu ge ben Doch das Pa ra do xe der Ge schich te liegt da rin dass der mensch li che Geist selbst Pro dukt evo lu ti o nauml rer Pro zes se ist Er ist Maszlig stab und Ge mes se nes zu gleich

An eine tat saumlch lich ob jek ti ve Er kennt nis der Evo lu ti on waumlre nur halb wegs sinn voll zu den ken wenn die Evo lu ti on des Men-9

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 459783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 45 10082021 10493410082021 104934

schen ab ge schlos sen ist und da mit die Stu fe der groumlszligt moumlg li chen Voll kom men heit er reicht hat In den Zei ten vor La marck und Dar win ha ben das nicht nur The o lo gen son dern auch die Na tur-for scher fast al le samt ge glaubt Das mensch li che Be wusst sein sei die un uuml ber trof fe ne Spit zen leis tung des Schoumlp fer got tes ge schaf-fen die Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Sei nen schoumlns-ten Aus druck fand die se Sicht in ei nem Aus spruch des jun gen Phi lo so phen Fried rich Wil helm Jo seph Schel ling (1775 ndash 1854) Er mein te dass der Mensch je nes We sen sei raquoin dem die Na tur das Auge auf schlaumlgtlaquo und sich da mit ih rer selbst be wusst wird Ein huumlb scher Satz aber doch viel zu pa the tisch for mu liert Von der vol len Er kennt nis der Na tur und un se rer selbst sind wir noch im mer weit ent fernt Aber wir koumln nen da ruuml ber stau nen dass die Evo lu ti on mit uns ein Le be we sen her vor ge bracht hat in dem die Na tur sich fuumlr sich selbst fa szi nier bar ge macht hat Wie hat te es dazu kom men koumln nen

bull Der Pri mat Was ist ein Mensch

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 469783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 46 10082021 10493410082021 104934

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ver waist sein Die Mensch heit wird er wacht sein und die Welt je-nes Ge sicht er hal ten ha ben das uns ge gen waumlr tig er scheint Doch wie sah das aus als die Na tur das ers te Mal in ei nem af fen aumlhn-li chen We sen die Au gen auf schlug War es auf ei ner Wald wie-se in ei nem Hain an ei nem Berg hang oder auf ei ner Lich tung War das er leuch te te We sen ein Maumlnn chen oder ein Weib chen Ging es den gan zen Tag auf recht oder saszlig es noch ger ne in der Ho cke eng ge kau ert an sei ne Bruuml der und Schwes tern Und war es eine Ein ge bung ein Blitz schlag als das Selbst be wusst sein das ers te Mal die Fes seln des Pri ma ten ge hirns spreng te

Wir wis sen nicht wo ran Schel ling dach te als er mein te die Na tur habe im Men schen ihr Auge auf ge schla gen Si cher dach te er nicht an ei nen ein zi gen Mo ment dem Mil li o nen an de re folg-ten Er dach te an den raquoMen schen an sichlaquo Und er wuss te nichts vom ost af ri ka ni schen Great Rift Val ley und von haa ri gen Vor-men schen die dort einst haus ten Er leb te in Jena und in Muumln-chen und ei nen Men schen af fen hat te Schel ling nie ge se hen Der ein zig ar ti ge Mo ment in dem die Na tur sich ih rer selbst be wusst wird bleibt eine Me ta pher

Doch wie wur de der Mensch nun tat saumlch lich zum Men-schen Die For mu lie rung ist dop pel deu tig Denn wie der Mensch zum Men schen wur de ndash das ist nicht ein evo lu ti o nauml rer Pro-zess auf der lee ren Welt buumlh ne son dern ein Spiel von Be ob ach-ter und Be ob ach te tem Schau spie ler und Zu schau er Ge schich-te auch Ent wick lungs ge schich te ist nichts Vor ge fun de nes Der Mensch schrieb der fran zouml si sche Phi lo soph JeanshyPaul Sart re (1905 ndash 1980) macht sich selbst wie der Ro man schrift stel ler sei ne Fi gu ren Er ist ge fer tigt aus bi o lo gi schen (ana to mi schen neu ro lo gi schen und phy si o lo gi schen) Be stand tei len zu al ler meist je doch durch jene we nig bi o lo gi schen Weis hei ten mit de nen sich die se Subs tan zen selbst zum raquoMen schenlaquo er ko ren

Das Glei che gilt fuumlr die mensch li che Stam mes ge schich te Auch sie ist zu naumlchst ein mal eine Ge schich te Ihre Ur spruumln ge lie gen im

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al ten Grie chen land als Aris to te les den Men schen und den Af-fen ver wandt schaft lich na he ruumlckt raquoMan che Tie re ste hen zwi-schen Mensch und Vier fuumlszlig ler in ih rem We sen wie Af fen Meer-kat zen und Pa vi a ne hellip Ihr Ge sicht hat vie le Aumlhn lich kei ten mit dem des Men schen Nase und Oh ren glei chen den sei nen und Zaumlh ne hat er auch wie ein Mensch die Vor der zaumlh ne wie die Ba cken zaumlhnelaquo10 Auch Aris to te lesrsquo Schuuml ler The oph rast (ca 370 v Chr ndash ca 288 v Chr) be steht auf der Aumlhn lich keit zwi schen Men schen und Tie ren Er lehnt es so gar ab Fleisch zu es sen oder Tie re zu op fern da man sei ne Ver wand ten nicht ver spei se

Aris to te les und The oph rast stell ten den Men schen zwar ne-ben den Af fen ndash Men schen af fen kann te man noch nicht ndash aber die al ten Grie chen hat ten ihn nur sehr un ge faumlhr zu ei nem Tier un ter Tie ren er klaumlrt Den naumlchs ten Schritt mach te mehr als zwei-tau send Jah re spauml ter Carl von Linneacute An der Zu ge houml rig keit des Men schen zu den Saumlu ge tie ren be stand fuumlr den Schwe den kein Zwei fel die Be haa rung und das Stil len der Jun gen be lehr ten un-miss ver staumlnd lich da ruuml ber Auch die Ver wandt schaft mit Af fen und Men schen af fen stand au szliger Fra ge Hier wa ren es die fa chen Fin ger- und Fuszlig nauml gel statt der Klau en der ab ge spreiz te Dau-men die Greif haumln de die zwei Zit zen der Weib chen und der frei he run ter haumln gen de statt am Un ter leib an lie gen de Pe nis ndash Merk-ma le die groumlszlig ten teils auch schon Aris to te les auf ge fal len wa ren

Doch Linneacute zouml ger te vor der Kon se quenz Haumln de rin gend such-te der got tes fuumlrch ti ge Ana tom nach ei nem Un ter schied zwi schen dem Men schen und den uumlb ri gen von ihm so ge nann ten raquoPri ma-tenlaquo raquoIch ver lan gelaquo schrieb er 1747 sei nem deut schen Freund Jo hann Ge org Gme lin raquovon Ih nen und von der gan zen Welt dass Sie mir ein Gat tungs merk mal zei gen hellip auf grund des sen man zwi schen Mensch und Affe un ter schei den kann Ich weiszlig selbst mit aumlu szligers ter Ge wiss heit von kei nemlaquo11

Nach sei nen Kri te ri en haumlt te Linneacute den Men schen zu min dest mit dem Schim pan sen ge mein sam in die sel be Gat tung ein ord-10

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9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 499783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 49 10082021 10493510082021 104935

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nen muumls sen Der Ge dan ke schweb te zeit gleich auch dem Phi lo so-phen JeanshyJacques Rous seau (1712 ndash 1778) vor als er Schim pan-sen Orang-Ut ans und Men schen so gar als Ver tre ter der Spe zi es Mensch an sah Rous seau hat te nie ei nen Men schen af fen ge se-hen Aber die Be rich te die er von Ex pe di ti o nen nach Af ri ka und Suumld ost a si en las lie szligen in ihm kei nen Zwei fel dass die da rin be schrie be nen Men schen af fen raquowe der Tie re noch Goumlt ter son-dern Men schenlaquo sei en12 Fuumlr den Auf klauml rer wa ren Men schen af-fen edle Wil de die von kei ner Zi vi li sa ti on in ih rem fried fer ti gen We sen zer stoumlrt sei en an ders als die Men schen in Eu ro pa Eben-so dach te we nig spauml ter der schot ti sche Sprach for scher James Bur nett Lord Mon boddo (1714 ndash 1799) Auch er be trach te te den Orang-Utan als ei nen Men schen naumlm lich als ei nen raquosprach-losen Wil denlaquo

In ter pre ta ti o nen wie Rous seau sie in Pa ris und Bur nett bald da rauf in Kin card ines hire wag ten wa ren Linneacute im schwe di schen Upp sa la fremd Den Men schen ins Tier reich ein zu ord nen war in den Au gen der stren gen pro tes tan ti schen Kir che Suumln de ge nug und Linneacute zouml ger te den letz ten Schritt zu tun In sei ner Not sor-tier te er 1758 ach sel zu ckend Mensch und Schim pan se in un ter-schied li che Gat tun gen zu sam men ge fasst in der Ord nung der Pri ma ten in der sie auch heu te noch mehr schlecht als recht huumlbsch ge trennt ne ben ei nan der ho cken Homo sap iens der raquoin-tel ligi ble Menschlaquo und Pan trog lody tes der raquohoumlh len be woh nen-de Faunlaquo

So weit so schoumln Der Mensch wur de der obers te Pri mat das houmlchs te raquoHer ren tierlaquo Linneacute be kam kei nen Aumlr ger mit der Kir-che und die Na tur wis sen schaft den gro szligen Wurf des Linneacute rsquoschen Sys tems Wenn nur die se Nach barn nicht wauml ren Seit Be kannt-wer den der Men schen af fen be muumlh ten sich Wis sen schaft ler und The o lo gen im mer wie der um den Ver such den klei nen Gra ben mit gro szligen Was sern zu fuumll len der Homo sap iens und Pan troshyglody tes bei ih rer ord nungs ge mauml szligen Ver ge sell schaf tung auf der 12

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 509783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 50 10082021 10493510082021 104935

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Af fen in sel trennt Sie eva ku ier ten den Men schen vom Pri ma ten-fel sen und schu fen ihm eine ei ge ne Ord nung

In die ser Vor stel lungs welt wuchs auch der The o lo gie stu dent Charles Dar win auf Das fruuml he 19 Jahr hun dert war eine got-tes fuumlrch ti ge bie der mei er li che Zeit Doch je mehr er sich mit der Ver aumln de rung der Ar ten be schaumlf tig te umso deut li cher wur de Dar win dass es mit der of fi zi ell be kun de ten Son der stel lung des Men schen im Uni ver sum nicht weit her sein konn te So no tier te er schon er staun lich fruumlh in sein Ta ge buch raquoDer Mensch haumllt sich in sei ner Ar ro ganz fuumlr ein groszlig ar ti ges Werk des be son de ren Ein grei fens ei ner Gott heit wuumlr dig Es duumlrf te be schei de ner und wie ich glau be auch rich tig sein ihn als aus den Tie ren ent stan-den an zu se henlaquo13

Dar win hat te den noch zwoumllf Jah re ge zouml gert bis er sich schlieszlig lich ge trau te nach der all ge mei nen Dar stel lung ei ner Evo-lu ti ons the o rie im Jahr 1859 sei ne Schluss fol ge run gen in Be zug auf den Men schen in Druck zu ge ben Die Ab stam mung des Men schen aus dem Jahr 1871 ist ein ge maumlch li ches Buch in ver-soumlhn li chem Ton fall Der Na tur for scher er zaumlhlt da rin wie ein gu-ter al ter Groszlig va ter wo her die Pfan zen die Tie re und die Eng-laumln der kom men Die raquoAb wer tunglaquo des Men schen geht da bei ein her mit ei ner kon ti nu ier li chen raquoAuf wer tunglaquo der Tie re raquoWir ha ben ge se henlaquo schreibt Dar win raquodass die Emp fin dun gen und Ein druuml cke die ver schie de nen Er re gun gen und Fauml hig kei ten wie Lie be Ge daumlcht nis Auf merk sam keit Neu gier de Nach ah mung Ver stand usw de ren sich der Mensch ruumlhmt in ei nem be gin nen-den oder zu wei len selbst in ei nem gut ent wi ckel ten Zu stand bei den nie de ren Tie ren ge fun den wer denlaquo14

La marck und Dar win wa ren die Ers ten die mit Mit teln der mo der nen Na tur wis sen schaft be haup te ten was vie le Kul tu ren und Zei ten schon zu vor re li gi oumls ge ahnt hat ten raquoNa tuumlr lichlaquo ist es ab surd eine Tei lung des Tier reichs in zwei Ka te go ri en vor zu-neh men ndash in eine mensch li che und eine nicht mensch li che Ka-13

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9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 519783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 51 10082021 10493510082021 104935

Page 31: Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen · Leseprobe Professor Dr. Richard David Precht Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen »Fazit:

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konn te star ken Zwei fel da ran he gen dass die Welt ord nung aus-ge kluuml gelt und har mo nisch sei

Die wei test rei chen den Schluss fol ge run gen zog der eng li-sche Pfar rer und Na ti o nal oumlko nom Tho mas Ro bert Malt hus (1766 ndash 1834) Nicht nur die ge o lo gi sche Na tur und ihr Ge-fah ren ri si ko son dern auch die Ver meh rung der Be voumll ke rung wur de nun als Uumlbel er kannt Im Jahr 1798 pub li zier te Malt-hus sei nen Es say on the Princi ple of Po pu la ti on (Das Be voumllshyke rungs ge setz) die ers te Mahn schrift vor den Ge fah ren ei ner Be voumll ke rungs ex plo si on Bei ei ner Ver dop pe lungs ra te der Welt-be voumll ke rung in ner halb von fuumlnf und zwan zig Jah ren er rech ne-te Malt hus wer de ihr exponent iel les An wach sen auf grund der von der Um welt ge setz ten Gren zen not wen dig zu Ar mut Ka-tast ro phen und Tod fuumlh ren Der bib li sche Auf trag raquoSeid frucht-bar und meh ret euchlaquo er schien mit ei nem Mal als ein Fluch Ein gna den lo ser raquoKampf ums Da seinlaquo (strugg le for life) war ent fes selt Das Ein zi ge was blieb war die Hoff nung die ka-tast ro pha len Fol gen der goumltt li chen An wei sung so weit wie moumlg lich ein daumlm men zu koumln nen

In ei ner Zeit als die Ge sell schafts the o rie noch der Bi o lo-gie den Leuch ter vo ran und nicht wie heu te die Schlep pe hin-terh er traumlgt be geis tert sich vor al lem ein eng li scher Dorf pfar rer Charles Dar win (1809 ndash 1882) fuumlr die Malt hus rsquoschen Ge set ze Denn wenn es rich tig ist dass sich ein Tier mit ei ner so ge rin-gen Ver meh rungs ra te wie der Mensch ge gen uumlber sei nen Art ge-nos sen durch setz te so gab es sicht lich an de re Kri te ri en fuumlr die Uumlber le bens fauml hig keit ei ner Po pu la ti on als die Zahl ih rer Ge bur-ten Der Maszlig stab fuumlr den Er folg ei ner Spe zi es war ihr Durch set-zungs ver mouml gen oder wie Dar win es spauml ter in den Prin zi pi en der Bio logie des jun gen Phi lo so phen Her bert Spen cer (1820 ndash 1903) le sen konn te raquothe sur vi val of the fit testlaquo

Dar wins na tur kund li che Stu di en wa ren ur spruumlng lich von dem Ge dan ken be seelt die nicht a ni ma li sche Iden ti taumlt des Men schen

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zu be wei sen Erst der Sieg des Ent de cker stol zes uumlber das Ent-set zen ver lieh ihm schlieszlig lich den Mut den be ruumlhm ten Satz zu schrei ben raquoUnd ich bin bei na he uumlber zeugt (der Mei nung mit der ich an die Fra ge he ran ge tre ten bin voumll lig ent ge gen ge setzt) dass die Spe zi es (mir ist es als ge staumln de ich ei nen Mord ein) nicht un ver aumln der lich sindlaquo7

Dar wins kuumlh ne Ver mu tung war nicht ganz neu Be reits ein hal bes Jahr hun dert zu vor hat ten der fran zouml si sche Na tur for scher GeorgesshyLou is Lec lerc Comte de Buf fon (1707 ndash 1788) und der Phi lo soph De nis Dide rot (1713 ndash 1784) uumlber eine Ver aumln de-rung der Ar ten spe ku liert Be son ders JeanshyBap tiste de La marck (1744 ndash 1829) be haup te te die all maumlh li che Ent wick lung der Ar-ten aus pri mi ti ve ren Vor for men die so ge nann te Trans mu ta ti on La marck war nicht nur ein Pi o nier der mit Jahr mil li o nen han-tier te als alle Welt die Erde noch ei ni ge tau send bis hun dert tau-send Jah re jung waumlhn te son dern er praumlg te (zur glei chen Zeit wie zwei deut sche Na tur for scher) das Wort Bi o lo gie Bei ihm wan del ten sich die Le be we sen da durch dass sich ihre koumlr per-li chen An stren gun gen auf ihr Erb gut aus wir ken Da bei nahm er al ler dings nicht an dass die Ar ten aus ei nan der her vor ge hen wie Dar win es spauml ter tat La ma rcks The o rie ist nauml her an je ner von Bon net Fuumlr ihn ver voll komm nen die ein zel nen Tier ar ten im Lau fe der Zeit ihre An la gen und ent wi ckeln sich da durch im-mer houml her Be son ders voll kom me ne Tie re wie der Mensch sind dem nach sehr alt denn sie ha ben ei nen wei ten Weg von ei nem pri mi ti ven Or ga nis mus bis hin zur heu ti gen Ge stalt hin ter sich ge las sen An de re wie der pri mi ti ve Suumlszlig was ser po lyp ha ben ihre Rei se durch die Zeit ge ra de erst an ge fan gen

La marck war kein Charis mati ker und die zo o lo gi sche All-macht sei nes Vor ge setz ten am Jar din des Plan tes in Pa ris des Ba rons George Cu vier (1769 ndash 1832) ver hin der te dass man sich all zu sehr mit sei nen The o ri en be schaumlf tig te Cu vier war ein be-deu ten der Mann An die Stel le ei ner nach bo ta ni schem Mus ter 7

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 399783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 39 10082021 10493410082021 104934

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ver fah ren den Zo o lo gie setz te er eine neue Wis sen schaft die sich we ni ger an aumlu szlige ren Merk ma len als am Or ga nis mus der Tie-re ori en tier te Doch was die Trans mu ta ti on an be lang te blieb der Ober auf se her der pro tes tan tisch-the o lo gi schen Fa kul tauml ten Frank reichs beim kon ser va ti ven Mo dell Er ver brei te te wei-ter hin eine Ket te von Na tur ka tast ro phen habe als mo di fi zier-te Sint fu ten gan zen Klas sen von Tie ren den Gar aus ge macht Die se The o rie ist weit ge hend rich tig al ler dings schlieszligt sie die Trans mu ta ti on nicht aus

Das wirk lich Re vo lu ti o nauml re an La marck war die Idee die Ge schich te der Na tur nicht vom Men schen aus bis hi nun ter zur Bak te rie zu schrei ben son dern um ge kehrt von der Bak te rie zum Men schen Aus ei nem Mo dell der raumlum li chen Hie rar chie wur de ein Mo dell der zeit li chen Ent wick lung La marck er kann te zu-dem dass das Be wusst sein ei nes Tie res an die Phy si o lo gie und Neu ro lo gie sei nes Koumlr pers ge bun den ist Dem nach ist je der Geist ers tens be grenzt und zwei tens ver aumln der lich

Die phi lo so phi sche Kon se quenz aus La ma rcks Den ken ist so ra di kal dass sie fast ein hun dert fuumlnf zig Jah re lang von nie man-dem ernst haft in Be tracht ge zo gen wur de Wie kann ein Geist der den Ge set zen der Evo lu ti on un ter wor fen ist sich ei gent lich an ma szligen die Na tur der Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Von die ser Schluss fol ge rung woll te die Bi o lo gie al ler dings bis weit ins 20 Jahr hun dert hi nein nicht viel wis sen

Auch Dar wins The o rie von der na tuumlr li chen Se lek ti on der Le be we sen im Rin gen um ihr Le ben und mit der Um welt ent-wi ckel te sich wei ter Ge witz ten Zeit ge nos sen wie Karl Marx (1818 ndash 1883) war auf ge fal len wie stark Dar wins Den ken dem Zeit geist des Vik to ri a ni schen Zeit al ters ver haf tet war raquoEs ist merk wuumlr dig wie Dar win un ter Bes ti en und Pfan zen sei ne eng li-sche Ge sell schaft mit ih rer Tei lung der Ar beit Kon kur renz Auf-schluss neu er Maumlrk te rsaquoEr fin dun genlsaquo und Malt hus schem rsaquoKampf ums Da seinlsaquo wie der er kenntlaquo8 Die Be to nung des Malt hus rsquoschen 8

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 409783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 40 10082021 10493410082021 104934

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Kamp fes von je dem ge gen je den und auch der Fort schritts glau-be in Dar wins Den ken zei gen ihn stark sei ner Zeit ver haf tet

Eine an de re Kri tik kam aus der Bi o lo gie selbst Dar win hat-te noch nichts von Ge nen ge wusst So konn te er nicht er klauml ren was sich bi o che misch er eig ne te wenn Ar ten sich ver aumln der ten Der raquoDar wi nis muslaquo der Jahr hun dert wen de gab schlieszlig lich die Hoff nung auf die Evo lu ti on lie szlige sich al lein durch die na tuumlr li-che Se lek ti on der Ar ten nach Maszlig ga be ih rer An pas sungs fauml hig-keit an die Um welt be gruumln den Man ent deck te die Rol le der Ge-ne tik und zum neu en Er klauml rungs prin zip wur de das Mo dell der zwei Kons t ruk teu re Das Spiel des Le bens er hielt ei nen Wuumlr fel zu faumll li ge Ver aumln de run gen im Gen ma te ri al also so ge nann te Mu tashyti o nen Im Tri alshyandshyEr ror-Ver fah ren ent ste hen im Erb gut ge le-gent lich Ab wei chun gen die dann er folg reich sind wenn sie sich in der Um welt be waumlh ren Da mit war die Idee vom Tisch dass sich neu er wor be ne Ei gen schaf ten oder raquodie ana to mi schen Aus-wir kun gen koumlr per li cher An stren gun genlaquo wie La marck mein te ver er ben koumlnn ten Noch Dar win hat te dies fuumlr denk bar ge hal ten So ver trau te er Er zaumlh lun gen wo nach bei je nen Volks grup pen zu de ren Ri ten die re gel mauml szligi ge Be schnei dung der Pe nis vor haut ge houmlrt sich die Vor haut all maumlh lich ver kuumlrz te Das haumlt te zwar die Be schnei dung uumlber fuumls sig ge macht aber Dar win hat te ge ra-de an de res Ge wich ti ges zu be den ken als da ruuml ber nach zu sin nen

Die Ver kuumlr zung der Vor haut blieb im Wis sens schatz der Dar wi nis ten bis Au gust Weis mann (1834 ndash 1914) im spauml ten 19 Jahr hun dert nach wies dass ein sol cher In for ma ti ons fuss vom aumlu szlige ren Er schei nungs bild zum Erb ma te ri al nicht moumlg lich sei Uumlber fuumlnf Ge ne ra ti o nen kuumlrz te Weis mann ei nem Stamm von Maumlu sen ihre Schwaumln ze ohne dass eine Nach richt uumlber die sen Ein griff die Keim bah nen der Maumlu se er reich te Denn sie he da Auch die Schwaumln ze der nach fol gen den Maumlu se ge ne ra ti o nen blie-ben gleich lang Da be durf te es schon der Spitz fin dig keit des iri schen Dich ters George Bern ard Shaw (1856 ndash 1950) der Weis-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 419783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 41 10082021 10493410082021 104934

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manns schnei den de Wi der le gung der La marckrsquo schen The o rie leicht fer tig vom Se zier tisch wisch te Die Maumlu se be merk te der Dich ter haumlt ten gar kei ne An stren gun gen un ter nom men ihre Schwaumln ze zu ver lie ren waumlh rend sich die Tie re bei La marck ja da rum be muumlht haumlt ten sich zu ver aumln dern

Im Nach hi n ein also war es der pauml da go gi sche Op ti mis mus der La marck in die Irre ge fuumlhrt ha ben soll te So mach te die Hoff-nung auf ei nen ethisch an spre chen den E vo lu ti ons ver lauf ndash die Er war tung die Mensch heit ent wick le sich qua An pas sung an das so zi a le Mi li eu durch Selbst er zie hung zum Bes se ren ndash nur noch eine et was ab sei ti ge Kar ri e re im staats so zi a lis ti schen Bi o lo gie-un ter richt der Sow jet u ni on Wie kalt da ge gen der uumlber le ge ne raquoKampf ums Da seinlaquo der ja ein Kampf um die Fleisch toumlp fe ist ohne Hoff nung der Mensch wer de den kuumlh nen Geist statt sei-nes ma te ri a lis ti schen Gier hal ses nach Houml he rem stre cken Und ein zig die Kir che be wahr te un ver dros sen ei nen la marc kis ti schen Ge dan ken ndash al ler dings ei nen pes si mis ti schen und kei nen op ti-mis ti schen In bes ter Schuumlt zen hil fe fuumlr den fran zouml si schen Che-va li er ver tei digt sie bis heu te ihr mo le ku lar ge ne tisch be denk li-ches Dog ma Adams Un ge hor sam im Gar ten Eden habe zu ei ner raquoErb suumln delaquo ge fuumlhrt die da rauf hin auf alle zu kuumlnf ti gen Ge ne ra-ti o nen uumlber ge gan gen sei

Im mer hin sind in den bei den letz ten Jahr zehn ten ei ni ge Bi o-lo gen wie der et was of fe ner da fuumlr ge wor den der Ver er bung er-wor be ner Ei gen schaf ten ei nen Platz in der Ge ne tik zu las sen Zwar ver er ben sich psy chi sche und phy si sche Le bens er fah run-gen nicht durch ver aumln der te Gene Aber es koumlnn te doch sein dass jene Schal ter die da ruuml ber be stim men wel che ge ne ti sche In for-ma ti on wei ter ge ge ben wird und wel che nicht durch Um welt-ein fuumls se ver aumln dert wer den Uumlber le gun gen wie die se be schaumlf ti-gen so ge nann te Epi gen eti ker seit ei ni ger Zeit sie ha ben ei nen wach sen den Ein fuss auf un se re Vor stel lung von der Evo lu ti on

Die heu ti ge Leit dis zip lin die uns die Ver wandt schaft des Le-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 429783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 42 10082021 10493410082021 104934

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bens ent schluumls seln soll ist die Ge ne tik Wir un ter su chen die Sum-me al ler ge ne ti schen In for ma ti o nen und re gist rie ren da bei Uumlber-ein stim mun gen und Ab wei chun gen mit an de ren Ar ten Doch der Pro zess die Na tur un se rer Na tur zu er ken nen ist noch lan ge nicht ab ge schlos sen und wird wohl auch nie ab ge schlos sen sein Wir wen den Ord nungs sche ma ta auf The o ri en und The o ri en auf Be ob ach tun gen an Nur so kom men wir zu Kau sa li tauml ten und Ge-set zen Doch ihre Be deu tung ver aumln dert sich in dem Maszlige wie wir den Blick punkt un se rer Auf merk sam keit wie der ver la gern Die ser Vor gang des Ent dec kens und des Ver de ckens durch neue Denk sche ma ta ist prin zi pi ell nicht ab schlieszlig bar denn selbst ge-gen waumlr ti ge Evo lu ti ons the o ri en un ter lie gen wei ter hin der Evo-lu ti on

Er staun li cher wei se hat die mo der ne Evo lu ti ons the o rie nur zu ei ner ge ring fuuml gi gen Kor rek tur al ter Denk sche ma ta ge fuumlhrt Wie fruuml her in der Na tur ge schich te er ken nen wir heu te in der Bi o lo gie uumlber all Re gel haf tigk eit Not wen dig keit und Vor tei-le Doch bei nauml he rer Sicht er weist sich die Evo lu ti on ge ra de zu als Herr schafts ge biet der Aus nah men uumlber die Re geln Sie ist eine raquoZweck mauml szligig keit ohne Zwecklaquo wenn auch al lein fuumlr die 01 Pro zent der heu te noch ndash oder ge ra de ndash exis tie ren den Spe-zi es nicht aber fuumlr die 999 Pro zent die in den Ur fu ten dem Ord ovizium dem Perm der Krei de oder dem Ter ti aumlr das Welt-li che seg ne ten E vo lu ti ons bi o lo gen su chen in der Ge schich te der Na tur uumlber all nach Vor tei len die das Uumlber le ben von Ar ten er-klauml ren sol len Da bei ver men gen sie oft zwei ver schie de ne Vor-teils be grif fe Ein mal geht es um Mu ta ti o nen die si tu a tiv vor teil-haf te Ei gen schaf ten fuumlr eine Tier art her vor ge bracht ha ben sol len Eine grouml szlige re Sta tur ein pom pouml se res Ge weih ein staumlr ke res Ge biss sol len Weib chen be ein dru cken und die Nach kom men schaft er-houml hen Da die se Ei gen schaf ten aber oft nichts nuumlt zen wenn der Zu fall die Spiel re geln der Um welt aumln dert gibt es ei nen zwei ten Vor teils be griff Da nach ist das vor teil haft in der Evo lu ti on was

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 439783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 43 10082021 10493410082021 104934

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vom Ende her be trach tet dazu ge fuumlhrt hat dass eine Art uumlber-lebt Nach die ser Sicht wei se kann der mick rigs te Pa vi an auf dem Fel sen sei ne Gene wei ter ge ben wenn die staumlr ke ren Kon kur ren-ten bei ei nem Erd be ben ums Le ben ge kom men sind

An ge sichts zwei er so un ter schied li cher Be deu tun gen von raquoVor teillaquo fragt es sich ob der Be griff in der Evo lu ti ons the o rie uumlber haupt sinn voll ver wen det wer den kann Tat saumlch lich ist er ein Erbe der The o lo gie des 17 und 18 Jahr hun derts die uumlber-all in der Na tur nach der klu gen Ver nunft Got tes such te Dar win kann te die se Tra di ti on gut Als Stu dent ver ehr te er den The o lo-gen Will iam Pa ley (1743 ndash 1805) der na tur kund lich be schla gen die goumltt li che Vo raus sicht auf den neu es ten Stand ge bracht hat te Als Dar win sich von Gott ver ab schie de te und die na tuumlr li che Se-lek ti on er kann te er setz te er uumlber all wo Pa ley raquoGod doeslaquo ge-schrie ben hat te den Satz durch raquoNat ure doeslaquo An Pa leys Vor-stel lung dass die Na tur zweck mauml szligig ein ge rich tet sei und Vor tei le be loh ne hielt Dar win eben so fest wie vie le spauml te re E vo lu ti ons-the o re ti ker

Die Fra ge ist des halb wich tig weil sie zeigt wie eng un se re Vor stel lung von der Na tur bis hi nein in die mo der ne Evo lu ti-ons the o rie von sehr mensch li chen Vor stel lun gen durch setzt ist Statt Vor tei le zu be nen nen wuumlr de es naumlm lich auch aus rei chen zu sa gen dass al les in der Na tur uumlber le ben kann das fuumlr eine Art kei nen toumld li chen Nach teil hat te Ver mut lich uumlber lebt in der Evo lu ti on nicht nur Zweck mauml szligi ges son dern jede Ver aumln de rung die zu min dest nicht zum Aus ster ben fuumlhr t und moumlg li cher wei se liegt ge ra de hie rin der Grund fuumlr eine gro szlige Ar ten viel falt

Die tra di ti o nell ver eng te Sicht wei se gilt ins be son de re bei der Be trach tung des Men schen E vo lu ti ons bi o lo gen koumln nen zahl-rei che Vor tei le be nen nen die er klauml ren wa rum die mensch li che Art so er folg reich ist Men schen sind aumlu szligerst an pas sungs fauml hig und be sie deln fast alle Le bens raumlu me sie sind Al les fres ser mit ei ner gro szligen Nah rungs band brei te sie ha ben eine fe xib le So zi-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 449783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 44 10082021 10493410082021 104934

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al struk tur und ver fuuml gen uumlber ein Selbst be wusst sein das es ih-nen er moumlg licht ihr Ver hal ten zu kor ri gie ren So ge se hen ist der Mensch gleich sam das op ti mal ste al ler Tie re Doch alldem zum Trotz exis tie ren Men schen der Gat tung Homo sap iens erst seit rund 100 000 Jah ren und ihre lang fris ti gen Zu kunfts chan cen ste hen schlecht Denn mit all den vor teil haf ten Ei gen schaf ten ha-ben Men schen in Re kord zeit ihre Um welt zer stoumlrt und das lang-fris ti ge Uumlber le ben der Spe zi es dra ma tisch in fra ge ge stellt Die mit we ni ger spek ta ku lauml ren Vor tei len aus ge stat te ten Di no sau ri-er exis tier ten auf un se rem Pla ne ten hun dert fuumlnf zig Mil li o nen Jah re ganz zu schwei gen von den seit uumlber vier hun dert Mil li o-nen Jah ren na he zu un ver aumln der ten Nau til iden und Ur schne cken

Ge si chert in der Evo lu ti ons the o rie ist dass kei ne ih rer An nah-men ge si chert ist E vo lu ti ons bi o lo gen die ihre Sa che ernst neh-men muumls sen im mer auch die E vo lu ti ons be dingt heit ih res ei ge-nen Er kennt nis ap pa rats ref ek tie ren also mit hin die Evo lu ti on al ler mensch li chen Er kennt nis raquoLetzt lich istlaquo wie der Neuro bio-lo ge Ger hard Roth schreibt raquoje des Nach den ken uumlber die ob jek-ti ve Re a li taumlt sei es wis sen schaft lich oder nicht an die Be din gun-gen mensch li chen Den kens Spre chens und Han delns ge bun den und muss sich da rin be waumlh renlaquo9

Man muss ref ek tie ren dass die un ver meid li chen Ord nungs-mit tel des Geis tes das Den ken und die Spra che nicht die Wirk-lich keit raquoan sichlaquo auf raumlu men Sie sind Mo del le die die un ver-fuumlg ba re Wirk lich keit nach Maszlig ga be der ei ge nen Spiel re geln er klauml ren Nicht erst seit Er for schung der Evo lu ti on in den letz-ten zwei hun dert Jah ren muumlht sich der mensch li che Geist dem Lauf der Welt ei nen ndash nach mensch li chem Er mes sen ndash raquover nuumlnf-ti genlaquo Sinn zu ge ben Doch das Pa ra do xe der Ge schich te liegt da rin dass der mensch li che Geist selbst Pro dukt evo lu ti o nauml rer Pro zes se ist Er ist Maszlig stab und Ge mes se nes zu gleich

An eine tat saumlch lich ob jek ti ve Er kennt nis der Evo lu ti on waumlre nur halb wegs sinn voll zu den ken wenn die Evo lu ti on des Men-9

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schen ab ge schlos sen ist und da mit die Stu fe der groumlszligt moumlg li chen Voll kom men heit er reicht hat In den Zei ten vor La marck und Dar win ha ben das nicht nur The o lo gen son dern auch die Na tur-for scher fast al le samt ge glaubt Das mensch li che Be wusst sein sei die un uuml ber trof fe ne Spit zen leis tung des Schoumlp fer got tes ge schaf-fen die Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Sei nen schoumlns-ten Aus druck fand die se Sicht in ei nem Aus spruch des jun gen Phi lo so phen Fried rich Wil helm Jo seph Schel ling (1775 ndash 1854) Er mein te dass der Mensch je nes We sen sei raquoin dem die Na tur das Auge auf schlaumlgtlaquo und sich da mit ih rer selbst be wusst wird Ein huumlb scher Satz aber doch viel zu pa the tisch for mu liert Von der vol len Er kennt nis der Na tur und un se rer selbst sind wir noch im mer weit ent fernt Aber wir koumln nen da ruuml ber stau nen dass die Evo lu ti on mit uns ein Le be we sen her vor ge bracht hat in dem die Na tur sich fuumlr sich selbst fa szi nier bar ge macht hat Wie hat te es dazu kom men koumln nen

bull Der Pri mat Was ist ein Mensch

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ver waist sein Die Mensch heit wird er wacht sein und die Welt je-nes Ge sicht er hal ten ha ben das uns ge gen waumlr tig er scheint Doch wie sah das aus als die Na tur das ers te Mal in ei nem af fen aumlhn-li chen We sen die Au gen auf schlug War es auf ei ner Wald wie-se in ei nem Hain an ei nem Berg hang oder auf ei ner Lich tung War das er leuch te te We sen ein Maumlnn chen oder ein Weib chen Ging es den gan zen Tag auf recht oder saszlig es noch ger ne in der Ho cke eng ge kau ert an sei ne Bruuml der und Schwes tern Und war es eine Ein ge bung ein Blitz schlag als das Selbst be wusst sein das ers te Mal die Fes seln des Pri ma ten ge hirns spreng te

Wir wis sen nicht wo ran Schel ling dach te als er mein te die Na tur habe im Men schen ihr Auge auf ge schla gen Si cher dach te er nicht an ei nen ein zi gen Mo ment dem Mil li o nen an de re folg-ten Er dach te an den raquoMen schen an sichlaquo Und er wuss te nichts vom ost af ri ka ni schen Great Rift Val ley und von haa ri gen Vor-men schen die dort einst haus ten Er leb te in Jena und in Muumln-chen und ei nen Men schen af fen hat te Schel ling nie ge se hen Der ein zig ar ti ge Mo ment in dem die Na tur sich ih rer selbst be wusst wird bleibt eine Me ta pher

Doch wie wur de der Mensch nun tat saumlch lich zum Men-schen Die For mu lie rung ist dop pel deu tig Denn wie der Mensch zum Men schen wur de ndash das ist nicht ein evo lu ti o nauml rer Pro-zess auf der lee ren Welt buumlh ne son dern ein Spiel von Be ob ach-ter und Be ob ach te tem Schau spie ler und Zu schau er Ge schich-te auch Ent wick lungs ge schich te ist nichts Vor ge fun de nes Der Mensch schrieb der fran zouml si sche Phi lo soph JeanshyPaul Sart re (1905 ndash 1980) macht sich selbst wie der Ro man schrift stel ler sei ne Fi gu ren Er ist ge fer tigt aus bi o lo gi schen (ana to mi schen neu ro lo gi schen und phy si o lo gi schen) Be stand tei len zu al ler meist je doch durch jene we nig bi o lo gi schen Weis hei ten mit de nen sich die se Subs tan zen selbst zum raquoMen schenlaquo er ko ren

Das Glei che gilt fuumlr die mensch li che Stam mes ge schich te Auch sie ist zu naumlchst ein mal eine Ge schich te Ihre Ur spruumln ge lie gen im

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al ten Grie chen land als Aris to te les den Men schen und den Af-fen ver wandt schaft lich na he ruumlckt raquoMan che Tie re ste hen zwi-schen Mensch und Vier fuumlszlig ler in ih rem We sen wie Af fen Meer-kat zen und Pa vi a ne hellip Ihr Ge sicht hat vie le Aumlhn lich kei ten mit dem des Men schen Nase und Oh ren glei chen den sei nen und Zaumlh ne hat er auch wie ein Mensch die Vor der zaumlh ne wie die Ba cken zaumlhnelaquo10 Auch Aris to te lesrsquo Schuuml ler The oph rast (ca 370 v Chr ndash ca 288 v Chr) be steht auf der Aumlhn lich keit zwi schen Men schen und Tie ren Er lehnt es so gar ab Fleisch zu es sen oder Tie re zu op fern da man sei ne Ver wand ten nicht ver spei se

Aris to te les und The oph rast stell ten den Men schen zwar ne-ben den Af fen ndash Men schen af fen kann te man noch nicht ndash aber die al ten Grie chen hat ten ihn nur sehr un ge faumlhr zu ei nem Tier un ter Tie ren er klaumlrt Den naumlchs ten Schritt mach te mehr als zwei-tau send Jah re spauml ter Carl von Linneacute An der Zu ge houml rig keit des Men schen zu den Saumlu ge tie ren be stand fuumlr den Schwe den kein Zwei fel die Be haa rung und das Stil len der Jun gen be lehr ten un-miss ver staumlnd lich da ruuml ber Auch die Ver wandt schaft mit Af fen und Men schen af fen stand au szliger Fra ge Hier wa ren es die fa chen Fin ger- und Fuszlig nauml gel statt der Klau en der ab ge spreiz te Dau-men die Greif haumln de die zwei Zit zen der Weib chen und der frei he run ter haumln gen de statt am Un ter leib an lie gen de Pe nis ndash Merk-ma le die groumlszlig ten teils auch schon Aris to te les auf ge fal len wa ren

Doch Linneacute zouml ger te vor der Kon se quenz Haumln de rin gend such-te der got tes fuumlrch ti ge Ana tom nach ei nem Un ter schied zwi schen dem Men schen und den uumlb ri gen von ihm so ge nann ten raquoPri ma-tenlaquo raquoIch ver lan gelaquo schrieb er 1747 sei nem deut schen Freund Jo hann Ge org Gme lin raquovon Ih nen und von der gan zen Welt dass Sie mir ein Gat tungs merk mal zei gen hellip auf grund des sen man zwi schen Mensch und Affe un ter schei den kann Ich weiszlig selbst mit aumlu szligers ter Ge wiss heit von kei nemlaquo11

Nach sei nen Kri te ri en haumlt te Linneacute den Men schen zu min dest mit dem Schim pan sen ge mein sam in die sel be Gat tung ein ord-10

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nen muumls sen Der Ge dan ke schweb te zeit gleich auch dem Phi lo so-phen JeanshyJacques Rous seau (1712 ndash 1778) vor als er Schim pan-sen Orang-Ut ans und Men schen so gar als Ver tre ter der Spe zi es Mensch an sah Rous seau hat te nie ei nen Men schen af fen ge se-hen Aber die Be rich te die er von Ex pe di ti o nen nach Af ri ka und Suumld ost a si en las lie szligen in ihm kei nen Zwei fel dass die da rin be schrie be nen Men schen af fen raquowe der Tie re noch Goumlt ter son-dern Men schenlaquo sei en12 Fuumlr den Auf klauml rer wa ren Men schen af-fen edle Wil de die von kei ner Zi vi li sa ti on in ih rem fried fer ti gen We sen zer stoumlrt sei en an ders als die Men schen in Eu ro pa Eben-so dach te we nig spauml ter der schot ti sche Sprach for scher James Bur nett Lord Mon boddo (1714 ndash 1799) Auch er be trach te te den Orang-Utan als ei nen Men schen naumlm lich als ei nen raquosprach-losen Wil denlaquo

In ter pre ta ti o nen wie Rous seau sie in Pa ris und Bur nett bald da rauf in Kin card ines hire wag ten wa ren Linneacute im schwe di schen Upp sa la fremd Den Men schen ins Tier reich ein zu ord nen war in den Au gen der stren gen pro tes tan ti schen Kir che Suumln de ge nug und Linneacute zouml ger te den letz ten Schritt zu tun In sei ner Not sor-tier te er 1758 ach sel zu ckend Mensch und Schim pan se in un ter-schied li che Gat tun gen zu sam men ge fasst in der Ord nung der Pri ma ten in der sie auch heu te noch mehr schlecht als recht huumlbsch ge trennt ne ben ei nan der ho cken Homo sap iens der raquoin-tel ligi ble Menschlaquo und Pan trog lody tes der raquohoumlh len be woh nen-de Faunlaquo

So weit so schoumln Der Mensch wur de der obers te Pri mat das houmlchs te raquoHer ren tierlaquo Linneacute be kam kei nen Aumlr ger mit der Kir-che und die Na tur wis sen schaft den gro szligen Wurf des Linneacute rsquoschen Sys tems Wenn nur die se Nach barn nicht wauml ren Seit Be kannt-wer den der Men schen af fen be muumlh ten sich Wis sen schaft ler und The o lo gen im mer wie der um den Ver such den klei nen Gra ben mit gro szligen Was sern zu fuumll len der Homo sap iens und Pan troshyglody tes bei ih rer ord nungs ge mauml szligen Ver ge sell schaf tung auf der 12

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 509783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 50 10082021 10493510082021 104935

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Af fen in sel trennt Sie eva ku ier ten den Men schen vom Pri ma ten-fel sen und schu fen ihm eine ei ge ne Ord nung

In die ser Vor stel lungs welt wuchs auch der The o lo gie stu dent Charles Dar win auf Das fruuml he 19 Jahr hun dert war eine got-tes fuumlrch ti ge bie der mei er li che Zeit Doch je mehr er sich mit der Ver aumln de rung der Ar ten be schaumlf tig te umso deut li cher wur de Dar win dass es mit der of fi zi ell be kun de ten Son der stel lung des Men schen im Uni ver sum nicht weit her sein konn te So no tier te er schon er staun lich fruumlh in sein Ta ge buch raquoDer Mensch haumllt sich in sei ner Ar ro ganz fuumlr ein groszlig ar ti ges Werk des be son de ren Ein grei fens ei ner Gott heit wuumlr dig Es duumlrf te be schei de ner und wie ich glau be auch rich tig sein ihn als aus den Tie ren ent stan-den an zu se henlaquo13

Dar win hat te den noch zwoumllf Jah re ge zouml gert bis er sich schlieszlig lich ge trau te nach der all ge mei nen Dar stel lung ei ner Evo-lu ti ons the o rie im Jahr 1859 sei ne Schluss fol ge run gen in Be zug auf den Men schen in Druck zu ge ben Die Ab stam mung des Men schen aus dem Jahr 1871 ist ein ge maumlch li ches Buch in ver-soumlhn li chem Ton fall Der Na tur for scher er zaumlhlt da rin wie ein gu-ter al ter Groszlig va ter wo her die Pfan zen die Tie re und die Eng-laumln der kom men Die raquoAb wer tunglaquo des Men schen geht da bei ein her mit ei ner kon ti nu ier li chen raquoAuf wer tunglaquo der Tie re raquoWir ha ben ge se henlaquo schreibt Dar win raquodass die Emp fin dun gen und Ein druuml cke die ver schie de nen Er re gun gen und Fauml hig kei ten wie Lie be Ge daumlcht nis Auf merk sam keit Neu gier de Nach ah mung Ver stand usw de ren sich der Mensch ruumlhmt in ei nem be gin nen-den oder zu wei len selbst in ei nem gut ent wi ckel ten Zu stand bei den nie de ren Tie ren ge fun den wer denlaquo14

La marck und Dar win wa ren die Ers ten die mit Mit teln der mo der nen Na tur wis sen schaft be haup te ten was vie le Kul tu ren und Zei ten schon zu vor re li gi oumls ge ahnt hat ten raquoNa tuumlr lichlaquo ist es ab surd eine Tei lung des Tier reichs in zwei Ka te go ri en vor zu-neh men ndash in eine mensch li che und eine nicht mensch li che Ka-13

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Page 32: Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen · Leseprobe Professor Dr. Richard David Precht Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen »Fazit:

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zu be wei sen Erst der Sieg des Ent de cker stol zes uumlber das Ent-set zen ver lieh ihm schlieszlig lich den Mut den be ruumlhm ten Satz zu schrei ben raquoUnd ich bin bei na he uumlber zeugt (der Mei nung mit der ich an die Fra ge he ran ge tre ten bin voumll lig ent ge gen ge setzt) dass die Spe zi es (mir ist es als ge staumln de ich ei nen Mord ein) nicht un ver aumln der lich sindlaquo7

Dar wins kuumlh ne Ver mu tung war nicht ganz neu Be reits ein hal bes Jahr hun dert zu vor hat ten der fran zouml si sche Na tur for scher GeorgesshyLou is Lec lerc Comte de Buf fon (1707 ndash 1788) und der Phi lo soph De nis Dide rot (1713 ndash 1784) uumlber eine Ver aumln de-rung der Ar ten spe ku liert Be son ders JeanshyBap tiste de La marck (1744 ndash 1829) be haup te te die all maumlh li che Ent wick lung der Ar-ten aus pri mi ti ve ren Vor for men die so ge nann te Trans mu ta ti on La marck war nicht nur ein Pi o nier der mit Jahr mil li o nen han-tier te als alle Welt die Erde noch ei ni ge tau send bis hun dert tau-send Jah re jung waumlhn te son dern er praumlg te (zur glei chen Zeit wie zwei deut sche Na tur for scher) das Wort Bi o lo gie Bei ihm wan del ten sich die Le be we sen da durch dass sich ihre koumlr per-li chen An stren gun gen auf ihr Erb gut aus wir ken Da bei nahm er al ler dings nicht an dass die Ar ten aus ei nan der her vor ge hen wie Dar win es spauml ter tat La ma rcks The o rie ist nauml her an je ner von Bon net Fuumlr ihn ver voll komm nen die ein zel nen Tier ar ten im Lau fe der Zeit ihre An la gen und ent wi ckeln sich da durch im-mer houml her Be son ders voll kom me ne Tie re wie der Mensch sind dem nach sehr alt denn sie ha ben ei nen wei ten Weg von ei nem pri mi ti ven Or ga nis mus bis hin zur heu ti gen Ge stalt hin ter sich ge las sen An de re wie der pri mi ti ve Suumlszlig was ser po lyp ha ben ihre Rei se durch die Zeit ge ra de erst an ge fan gen

La marck war kein Charis mati ker und die zo o lo gi sche All-macht sei nes Vor ge setz ten am Jar din des Plan tes in Pa ris des Ba rons George Cu vier (1769 ndash 1832) ver hin der te dass man sich all zu sehr mit sei nen The o ri en be schaumlf tig te Cu vier war ein be-deu ten der Mann An die Stel le ei ner nach bo ta ni schem Mus ter 7

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 399783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 39 10082021 10493410082021 104934

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ver fah ren den Zo o lo gie setz te er eine neue Wis sen schaft die sich we ni ger an aumlu szlige ren Merk ma len als am Or ga nis mus der Tie-re ori en tier te Doch was die Trans mu ta ti on an be lang te blieb der Ober auf se her der pro tes tan tisch-the o lo gi schen Fa kul tauml ten Frank reichs beim kon ser va ti ven Mo dell Er ver brei te te wei-ter hin eine Ket te von Na tur ka tast ro phen habe als mo di fi zier-te Sint fu ten gan zen Klas sen von Tie ren den Gar aus ge macht Die se The o rie ist weit ge hend rich tig al ler dings schlieszligt sie die Trans mu ta ti on nicht aus

Das wirk lich Re vo lu ti o nauml re an La marck war die Idee die Ge schich te der Na tur nicht vom Men schen aus bis hi nun ter zur Bak te rie zu schrei ben son dern um ge kehrt von der Bak te rie zum Men schen Aus ei nem Mo dell der raumlum li chen Hie rar chie wur de ein Mo dell der zeit li chen Ent wick lung La marck er kann te zu-dem dass das Be wusst sein ei nes Tie res an die Phy si o lo gie und Neu ro lo gie sei nes Koumlr pers ge bun den ist Dem nach ist je der Geist ers tens be grenzt und zwei tens ver aumln der lich

Die phi lo so phi sche Kon se quenz aus La ma rcks Den ken ist so ra di kal dass sie fast ein hun dert fuumlnf zig Jah re lang von nie man-dem ernst haft in Be tracht ge zo gen wur de Wie kann ein Geist der den Ge set zen der Evo lu ti on un ter wor fen ist sich ei gent lich an ma szligen die Na tur der Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Von die ser Schluss fol ge rung woll te die Bi o lo gie al ler dings bis weit ins 20 Jahr hun dert hi nein nicht viel wis sen

Auch Dar wins The o rie von der na tuumlr li chen Se lek ti on der Le be we sen im Rin gen um ihr Le ben und mit der Um welt ent-wi ckel te sich wei ter Ge witz ten Zeit ge nos sen wie Karl Marx (1818 ndash 1883) war auf ge fal len wie stark Dar wins Den ken dem Zeit geist des Vik to ri a ni schen Zeit al ters ver haf tet war raquoEs ist merk wuumlr dig wie Dar win un ter Bes ti en und Pfan zen sei ne eng li-sche Ge sell schaft mit ih rer Tei lung der Ar beit Kon kur renz Auf-schluss neu er Maumlrk te rsaquoEr fin dun genlsaquo und Malt hus schem rsaquoKampf ums Da seinlsaquo wie der er kenntlaquo8 Die Be to nung des Malt hus rsquoschen 8

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 409783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 40 10082021 10493410082021 104934

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Kamp fes von je dem ge gen je den und auch der Fort schritts glau-be in Dar wins Den ken zei gen ihn stark sei ner Zeit ver haf tet

Eine an de re Kri tik kam aus der Bi o lo gie selbst Dar win hat-te noch nichts von Ge nen ge wusst So konn te er nicht er klauml ren was sich bi o che misch er eig ne te wenn Ar ten sich ver aumln der ten Der raquoDar wi nis muslaquo der Jahr hun dert wen de gab schlieszlig lich die Hoff nung auf die Evo lu ti on lie szlige sich al lein durch die na tuumlr li-che Se lek ti on der Ar ten nach Maszlig ga be ih rer An pas sungs fauml hig-keit an die Um welt be gruumln den Man ent deck te die Rol le der Ge-ne tik und zum neu en Er klauml rungs prin zip wur de das Mo dell der zwei Kons t ruk teu re Das Spiel des Le bens er hielt ei nen Wuumlr fel zu faumll li ge Ver aumln de run gen im Gen ma te ri al also so ge nann te Mu tashyti o nen Im Tri alshyandshyEr ror-Ver fah ren ent ste hen im Erb gut ge le-gent lich Ab wei chun gen die dann er folg reich sind wenn sie sich in der Um welt be waumlh ren Da mit war die Idee vom Tisch dass sich neu er wor be ne Ei gen schaf ten oder raquodie ana to mi schen Aus-wir kun gen koumlr per li cher An stren gun genlaquo wie La marck mein te ver er ben koumlnn ten Noch Dar win hat te dies fuumlr denk bar ge hal ten So ver trau te er Er zaumlh lun gen wo nach bei je nen Volks grup pen zu de ren Ri ten die re gel mauml szligi ge Be schnei dung der Pe nis vor haut ge houmlrt sich die Vor haut all maumlh lich ver kuumlrz te Das haumlt te zwar die Be schnei dung uumlber fuumls sig ge macht aber Dar win hat te ge ra-de an de res Ge wich ti ges zu be den ken als da ruuml ber nach zu sin nen

Die Ver kuumlr zung der Vor haut blieb im Wis sens schatz der Dar wi nis ten bis Au gust Weis mann (1834 ndash 1914) im spauml ten 19 Jahr hun dert nach wies dass ein sol cher In for ma ti ons fuss vom aumlu szlige ren Er schei nungs bild zum Erb ma te ri al nicht moumlg lich sei Uumlber fuumlnf Ge ne ra ti o nen kuumlrz te Weis mann ei nem Stamm von Maumlu sen ihre Schwaumln ze ohne dass eine Nach richt uumlber die sen Ein griff die Keim bah nen der Maumlu se er reich te Denn sie he da Auch die Schwaumln ze der nach fol gen den Maumlu se ge ne ra ti o nen blie-ben gleich lang Da be durf te es schon der Spitz fin dig keit des iri schen Dich ters George Bern ard Shaw (1856 ndash 1950) der Weis-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 419783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 41 10082021 10493410082021 104934

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manns schnei den de Wi der le gung der La marckrsquo schen The o rie leicht fer tig vom Se zier tisch wisch te Die Maumlu se be merk te der Dich ter haumlt ten gar kei ne An stren gun gen un ter nom men ihre Schwaumln ze zu ver lie ren waumlh rend sich die Tie re bei La marck ja da rum be muumlht haumlt ten sich zu ver aumln dern

Im Nach hi n ein also war es der pauml da go gi sche Op ti mis mus der La marck in die Irre ge fuumlhrt ha ben soll te So mach te die Hoff-nung auf ei nen ethisch an spre chen den E vo lu ti ons ver lauf ndash die Er war tung die Mensch heit ent wick le sich qua An pas sung an das so zi a le Mi li eu durch Selbst er zie hung zum Bes se ren ndash nur noch eine et was ab sei ti ge Kar ri e re im staats so zi a lis ti schen Bi o lo gie-un ter richt der Sow jet u ni on Wie kalt da ge gen der uumlber le ge ne raquoKampf ums Da seinlaquo der ja ein Kampf um die Fleisch toumlp fe ist ohne Hoff nung der Mensch wer de den kuumlh nen Geist statt sei-nes ma te ri a lis ti schen Gier hal ses nach Houml he rem stre cken Und ein zig die Kir che be wahr te un ver dros sen ei nen la marc kis ti schen Ge dan ken ndash al ler dings ei nen pes si mis ti schen und kei nen op ti-mis ti schen In bes ter Schuumlt zen hil fe fuumlr den fran zouml si schen Che-va li er ver tei digt sie bis heu te ihr mo le ku lar ge ne tisch be denk li-ches Dog ma Adams Un ge hor sam im Gar ten Eden habe zu ei ner raquoErb suumln delaquo ge fuumlhrt die da rauf hin auf alle zu kuumlnf ti gen Ge ne ra-ti o nen uumlber ge gan gen sei

Im mer hin sind in den bei den letz ten Jahr zehn ten ei ni ge Bi o-lo gen wie der et was of fe ner da fuumlr ge wor den der Ver er bung er-wor be ner Ei gen schaf ten ei nen Platz in der Ge ne tik zu las sen Zwar ver er ben sich psy chi sche und phy si sche Le bens er fah run-gen nicht durch ver aumln der te Gene Aber es koumlnn te doch sein dass jene Schal ter die da ruuml ber be stim men wel che ge ne ti sche In for-ma ti on wei ter ge ge ben wird und wel che nicht durch Um welt-ein fuumls se ver aumln dert wer den Uumlber le gun gen wie die se be schaumlf ti-gen so ge nann te Epi gen eti ker seit ei ni ger Zeit sie ha ben ei nen wach sen den Ein fuss auf un se re Vor stel lung von der Evo lu ti on

Die heu ti ge Leit dis zip lin die uns die Ver wandt schaft des Le-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 429783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 42 10082021 10493410082021 104934

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bens ent schluumls seln soll ist die Ge ne tik Wir un ter su chen die Sum-me al ler ge ne ti schen In for ma ti o nen und re gist rie ren da bei Uumlber-ein stim mun gen und Ab wei chun gen mit an de ren Ar ten Doch der Pro zess die Na tur un se rer Na tur zu er ken nen ist noch lan ge nicht ab ge schlos sen und wird wohl auch nie ab ge schlos sen sein Wir wen den Ord nungs sche ma ta auf The o ri en und The o ri en auf Be ob ach tun gen an Nur so kom men wir zu Kau sa li tauml ten und Ge-set zen Doch ihre Be deu tung ver aumln dert sich in dem Maszlige wie wir den Blick punkt un se rer Auf merk sam keit wie der ver la gern Die ser Vor gang des Ent dec kens und des Ver de ckens durch neue Denk sche ma ta ist prin zi pi ell nicht ab schlieszlig bar denn selbst ge-gen waumlr ti ge Evo lu ti ons the o ri en un ter lie gen wei ter hin der Evo-lu ti on

Er staun li cher wei se hat die mo der ne Evo lu ti ons the o rie nur zu ei ner ge ring fuuml gi gen Kor rek tur al ter Denk sche ma ta ge fuumlhrt Wie fruuml her in der Na tur ge schich te er ken nen wir heu te in der Bi o lo gie uumlber all Re gel haf tigk eit Not wen dig keit und Vor tei-le Doch bei nauml he rer Sicht er weist sich die Evo lu ti on ge ra de zu als Herr schafts ge biet der Aus nah men uumlber die Re geln Sie ist eine raquoZweck mauml szligig keit ohne Zwecklaquo wenn auch al lein fuumlr die 01 Pro zent der heu te noch ndash oder ge ra de ndash exis tie ren den Spe-zi es nicht aber fuumlr die 999 Pro zent die in den Ur fu ten dem Ord ovizium dem Perm der Krei de oder dem Ter ti aumlr das Welt-li che seg ne ten E vo lu ti ons bi o lo gen su chen in der Ge schich te der Na tur uumlber all nach Vor tei len die das Uumlber le ben von Ar ten er-klauml ren sol len Da bei ver men gen sie oft zwei ver schie de ne Vor-teils be grif fe Ein mal geht es um Mu ta ti o nen die si tu a tiv vor teil-haf te Ei gen schaf ten fuumlr eine Tier art her vor ge bracht ha ben sol len Eine grouml szlige re Sta tur ein pom pouml se res Ge weih ein staumlr ke res Ge biss sol len Weib chen be ein dru cken und die Nach kom men schaft er-houml hen Da die se Ei gen schaf ten aber oft nichts nuumlt zen wenn der Zu fall die Spiel re geln der Um welt aumln dert gibt es ei nen zwei ten Vor teils be griff Da nach ist das vor teil haft in der Evo lu ti on was

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 439783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 43 10082021 10493410082021 104934

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vom Ende her be trach tet dazu ge fuumlhrt hat dass eine Art uumlber-lebt Nach die ser Sicht wei se kann der mick rigs te Pa vi an auf dem Fel sen sei ne Gene wei ter ge ben wenn die staumlr ke ren Kon kur ren-ten bei ei nem Erd be ben ums Le ben ge kom men sind

An ge sichts zwei er so un ter schied li cher Be deu tun gen von raquoVor teillaquo fragt es sich ob der Be griff in der Evo lu ti ons the o rie uumlber haupt sinn voll ver wen det wer den kann Tat saumlch lich ist er ein Erbe der The o lo gie des 17 und 18 Jahr hun derts die uumlber-all in der Na tur nach der klu gen Ver nunft Got tes such te Dar win kann te die se Tra di ti on gut Als Stu dent ver ehr te er den The o lo-gen Will iam Pa ley (1743 ndash 1805) der na tur kund lich be schla gen die goumltt li che Vo raus sicht auf den neu es ten Stand ge bracht hat te Als Dar win sich von Gott ver ab schie de te und die na tuumlr li che Se-lek ti on er kann te er setz te er uumlber all wo Pa ley raquoGod doeslaquo ge-schrie ben hat te den Satz durch raquoNat ure doeslaquo An Pa leys Vor-stel lung dass die Na tur zweck mauml szligig ein ge rich tet sei und Vor tei le be loh ne hielt Dar win eben so fest wie vie le spauml te re E vo lu ti ons-the o re ti ker

Die Fra ge ist des halb wich tig weil sie zeigt wie eng un se re Vor stel lung von der Na tur bis hi nein in die mo der ne Evo lu ti-ons the o rie von sehr mensch li chen Vor stel lun gen durch setzt ist Statt Vor tei le zu be nen nen wuumlr de es naumlm lich auch aus rei chen zu sa gen dass al les in der Na tur uumlber le ben kann das fuumlr eine Art kei nen toumld li chen Nach teil hat te Ver mut lich uumlber lebt in der Evo lu ti on nicht nur Zweck mauml szligi ges son dern jede Ver aumln de rung die zu min dest nicht zum Aus ster ben fuumlhr t und moumlg li cher wei se liegt ge ra de hie rin der Grund fuumlr eine gro szlige Ar ten viel falt

Die tra di ti o nell ver eng te Sicht wei se gilt ins be son de re bei der Be trach tung des Men schen E vo lu ti ons bi o lo gen koumln nen zahl-rei che Vor tei le be nen nen die er klauml ren wa rum die mensch li che Art so er folg reich ist Men schen sind aumlu szligerst an pas sungs fauml hig und be sie deln fast alle Le bens raumlu me sie sind Al les fres ser mit ei ner gro szligen Nah rungs band brei te sie ha ben eine fe xib le So zi-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 449783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 44 10082021 10493410082021 104934

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al struk tur und ver fuuml gen uumlber ein Selbst be wusst sein das es ih-nen er moumlg licht ihr Ver hal ten zu kor ri gie ren So ge se hen ist der Mensch gleich sam das op ti mal ste al ler Tie re Doch alldem zum Trotz exis tie ren Men schen der Gat tung Homo sap iens erst seit rund 100 000 Jah ren und ihre lang fris ti gen Zu kunfts chan cen ste hen schlecht Denn mit all den vor teil haf ten Ei gen schaf ten ha-ben Men schen in Re kord zeit ihre Um welt zer stoumlrt und das lang-fris ti ge Uumlber le ben der Spe zi es dra ma tisch in fra ge ge stellt Die mit we ni ger spek ta ku lauml ren Vor tei len aus ge stat te ten Di no sau ri-er exis tier ten auf un se rem Pla ne ten hun dert fuumlnf zig Mil li o nen Jah re ganz zu schwei gen von den seit uumlber vier hun dert Mil li o-nen Jah ren na he zu un ver aumln der ten Nau til iden und Ur schne cken

Ge si chert in der Evo lu ti ons the o rie ist dass kei ne ih rer An nah-men ge si chert ist E vo lu ti ons bi o lo gen die ihre Sa che ernst neh-men muumls sen im mer auch die E vo lu ti ons be dingt heit ih res ei ge-nen Er kennt nis ap pa rats ref ek tie ren also mit hin die Evo lu ti on al ler mensch li chen Er kennt nis raquoLetzt lich istlaquo wie der Neuro bio-lo ge Ger hard Roth schreibt raquoje des Nach den ken uumlber die ob jek-ti ve Re a li taumlt sei es wis sen schaft lich oder nicht an die Be din gun-gen mensch li chen Den kens Spre chens und Han delns ge bun den und muss sich da rin be waumlh renlaquo9

Man muss ref ek tie ren dass die un ver meid li chen Ord nungs-mit tel des Geis tes das Den ken und die Spra che nicht die Wirk-lich keit raquoan sichlaquo auf raumlu men Sie sind Mo del le die die un ver-fuumlg ba re Wirk lich keit nach Maszlig ga be der ei ge nen Spiel re geln er klauml ren Nicht erst seit Er for schung der Evo lu ti on in den letz-ten zwei hun dert Jah ren muumlht sich der mensch li che Geist dem Lauf der Welt ei nen ndash nach mensch li chem Er mes sen ndash raquover nuumlnf-ti genlaquo Sinn zu ge ben Doch das Pa ra do xe der Ge schich te liegt da rin dass der mensch li che Geist selbst Pro dukt evo lu ti o nauml rer Pro zes se ist Er ist Maszlig stab und Ge mes se nes zu gleich

An eine tat saumlch lich ob jek ti ve Er kennt nis der Evo lu ti on waumlre nur halb wegs sinn voll zu den ken wenn die Evo lu ti on des Men-9

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schen ab ge schlos sen ist und da mit die Stu fe der groumlszligt moumlg li chen Voll kom men heit er reicht hat In den Zei ten vor La marck und Dar win ha ben das nicht nur The o lo gen son dern auch die Na tur-for scher fast al le samt ge glaubt Das mensch li che Be wusst sein sei die un uuml ber trof fe ne Spit zen leis tung des Schoumlp fer got tes ge schaf-fen die Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Sei nen schoumlns-ten Aus druck fand die se Sicht in ei nem Aus spruch des jun gen Phi lo so phen Fried rich Wil helm Jo seph Schel ling (1775 ndash 1854) Er mein te dass der Mensch je nes We sen sei raquoin dem die Na tur das Auge auf schlaumlgtlaquo und sich da mit ih rer selbst be wusst wird Ein huumlb scher Satz aber doch viel zu pa the tisch for mu liert Von der vol len Er kennt nis der Na tur und un se rer selbst sind wir noch im mer weit ent fernt Aber wir koumln nen da ruuml ber stau nen dass die Evo lu ti on mit uns ein Le be we sen her vor ge bracht hat in dem die Na tur sich fuumlr sich selbst fa szi nier bar ge macht hat Wie hat te es dazu kom men koumln nen

bull Der Pri mat Was ist ein Mensch

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 469783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 46 10082021 10493410082021 104934

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ver waist sein Die Mensch heit wird er wacht sein und die Welt je-nes Ge sicht er hal ten ha ben das uns ge gen waumlr tig er scheint Doch wie sah das aus als die Na tur das ers te Mal in ei nem af fen aumlhn-li chen We sen die Au gen auf schlug War es auf ei ner Wald wie-se in ei nem Hain an ei nem Berg hang oder auf ei ner Lich tung War das er leuch te te We sen ein Maumlnn chen oder ein Weib chen Ging es den gan zen Tag auf recht oder saszlig es noch ger ne in der Ho cke eng ge kau ert an sei ne Bruuml der und Schwes tern Und war es eine Ein ge bung ein Blitz schlag als das Selbst be wusst sein das ers te Mal die Fes seln des Pri ma ten ge hirns spreng te

Wir wis sen nicht wo ran Schel ling dach te als er mein te die Na tur habe im Men schen ihr Auge auf ge schla gen Si cher dach te er nicht an ei nen ein zi gen Mo ment dem Mil li o nen an de re folg-ten Er dach te an den raquoMen schen an sichlaquo Und er wuss te nichts vom ost af ri ka ni schen Great Rift Val ley und von haa ri gen Vor-men schen die dort einst haus ten Er leb te in Jena und in Muumln-chen und ei nen Men schen af fen hat te Schel ling nie ge se hen Der ein zig ar ti ge Mo ment in dem die Na tur sich ih rer selbst be wusst wird bleibt eine Me ta pher

Doch wie wur de der Mensch nun tat saumlch lich zum Men-schen Die For mu lie rung ist dop pel deu tig Denn wie der Mensch zum Men schen wur de ndash das ist nicht ein evo lu ti o nauml rer Pro-zess auf der lee ren Welt buumlh ne son dern ein Spiel von Be ob ach-ter und Be ob ach te tem Schau spie ler und Zu schau er Ge schich-te auch Ent wick lungs ge schich te ist nichts Vor ge fun de nes Der Mensch schrieb der fran zouml si sche Phi lo soph JeanshyPaul Sart re (1905 ndash 1980) macht sich selbst wie der Ro man schrift stel ler sei ne Fi gu ren Er ist ge fer tigt aus bi o lo gi schen (ana to mi schen neu ro lo gi schen und phy si o lo gi schen) Be stand tei len zu al ler meist je doch durch jene we nig bi o lo gi schen Weis hei ten mit de nen sich die se Subs tan zen selbst zum raquoMen schenlaquo er ko ren

Das Glei che gilt fuumlr die mensch li che Stam mes ge schich te Auch sie ist zu naumlchst ein mal eine Ge schich te Ihre Ur spruumln ge lie gen im

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 489783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 48 10082021 10493510082021 104935

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al ten Grie chen land als Aris to te les den Men schen und den Af-fen ver wandt schaft lich na he ruumlckt raquoMan che Tie re ste hen zwi-schen Mensch und Vier fuumlszlig ler in ih rem We sen wie Af fen Meer-kat zen und Pa vi a ne hellip Ihr Ge sicht hat vie le Aumlhn lich kei ten mit dem des Men schen Nase und Oh ren glei chen den sei nen und Zaumlh ne hat er auch wie ein Mensch die Vor der zaumlh ne wie die Ba cken zaumlhnelaquo10 Auch Aris to te lesrsquo Schuuml ler The oph rast (ca 370 v Chr ndash ca 288 v Chr) be steht auf der Aumlhn lich keit zwi schen Men schen und Tie ren Er lehnt es so gar ab Fleisch zu es sen oder Tie re zu op fern da man sei ne Ver wand ten nicht ver spei se

Aris to te les und The oph rast stell ten den Men schen zwar ne-ben den Af fen ndash Men schen af fen kann te man noch nicht ndash aber die al ten Grie chen hat ten ihn nur sehr un ge faumlhr zu ei nem Tier un ter Tie ren er klaumlrt Den naumlchs ten Schritt mach te mehr als zwei-tau send Jah re spauml ter Carl von Linneacute An der Zu ge houml rig keit des Men schen zu den Saumlu ge tie ren be stand fuumlr den Schwe den kein Zwei fel die Be haa rung und das Stil len der Jun gen be lehr ten un-miss ver staumlnd lich da ruuml ber Auch die Ver wandt schaft mit Af fen und Men schen af fen stand au szliger Fra ge Hier wa ren es die fa chen Fin ger- und Fuszlig nauml gel statt der Klau en der ab ge spreiz te Dau-men die Greif haumln de die zwei Zit zen der Weib chen und der frei he run ter haumln gen de statt am Un ter leib an lie gen de Pe nis ndash Merk-ma le die groumlszlig ten teils auch schon Aris to te les auf ge fal len wa ren

Doch Linneacute zouml ger te vor der Kon se quenz Haumln de rin gend such-te der got tes fuumlrch ti ge Ana tom nach ei nem Un ter schied zwi schen dem Men schen und den uumlb ri gen von ihm so ge nann ten raquoPri ma-tenlaquo raquoIch ver lan gelaquo schrieb er 1747 sei nem deut schen Freund Jo hann Ge org Gme lin raquovon Ih nen und von der gan zen Welt dass Sie mir ein Gat tungs merk mal zei gen hellip auf grund des sen man zwi schen Mensch und Affe un ter schei den kann Ich weiszlig selbst mit aumlu szligers ter Ge wiss heit von kei nemlaquo11

Nach sei nen Kri te ri en haumlt te Linneacute den Men schen zu min dest mit dem Schim pan sen ge mein sam in die sel be Gat tung ein ord-10

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nen muumls sen Der Ge dan ke schweb te zeit gleich auch dem Phi lo so-phen JeanshyJacques Rous seau (1712 ndash 1778) vor als er Schim pan-sen Orang-Ut ans und Men schen so gar als Ver tre ter der Spe zi es Mensch an sah Rous seau hat te nie ei nen Men schen af fen ge se-hen Aber die Be rich te die er von Ex pe di ti o nen nach Af ri ka und Suumld ost a si en las lie szligen in ihm kei nen Zwei fel dass die da rin be schrie be nen Men schen af fen raquowe der Tie re noch Goumlt ter son-dern Men schenlaquo sei en12 Fuumlr den Auf klauml rer wa ren Men schen af-fen edle Wil de die von kei ner Zi vi li sa ti on in ih rem fried fer ti gen We sen zer stoumlrt sei en an ders als die Men schen in Eu ro pa Eben-so dach te we nig spauml ter der schot ti sche Sprach for scher James Bur nett Lord Mon boddo (1714 ndash 1799) Auch er be trach te te den Orang-Utan als ei nen Men schen naumlm lich als ei nen raquosprach-losen Wil denlaquo

In ter pre ta ti o nen wie Rous seau sie in Pa ris und Bur nett bald da rauf in Kin card ines hire wag ten wa ren Linneacute im schwe di schen Upp sa la fremd Den Men schen ins Tier reich ein zu ord nen war in den Au gen der stren gen pro tes tan ti schen Kir che Suumln de ge nug und Linneacute zouml ger te den letz ten Schritt zu tun In sei ner Not sor-tier te er 1758 ach sel zu ckend Mensch und Schim pan se in un ter-schied li che Gat tun gen zu sam men ge fasst in der Ord nung der Pri ma ten in der sie auch heu te noch mehr schlecht als recht huumlbsch ge trennt ne ben ei nan der ho cken Homo sap iens der raquoin-tel ligi ble Menschlaquo und Pan trog lody tes der raquohoumlh len be woh nen-de Faunlaquo

So weit so schoumln Der Mensch wur de der obers te Pri mat das houmlchs te raquoHer ren tierlaquo Linneacute be kam kei nen Aumlr ger mit der Kir-che und die Na tur wis sen schaft den gro szligen Wurf des Linneacute rsquoschen Sys tems Wenn nur die se Nach barn nicht wauml ren Seit Be kannt-wer den der Men schen af fen be muumlh ten sich Wis sen schaft ler und The o lo gen im mer wie der um den Ver such den klei nen Gra ben mit gro szligen Was sern zu fuumll len der Homo sap iens und Pan troshyglody tes bei ih rer ord nungs ge mauml szligen Ver ge sell schaf tung auf der 12

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 509783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 50 10082021 10493510082021 104935

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Af fen in sel trennt Sie eva ku ier ten den Men schen vom Pri ma ten-fel sen und schu fen ihm eine ei ge ne Ord nung

In die ser Vor stel lungs welt wuchs auch der The o lo gie stu dent Charles Dar win auf Das fruuml he 19 Jahr hun dert war eine got-tes fuumlrch ti ge bie der mei er li che Zeit Doch je mehr er sich mit der Ver aumln de rung der Ar ten be schaumlf tig te umso deut li cher wur de Dar win dass es mit der of fi zi ell be kun de ten Son der stel lung des Men schen im Uni ver sum nicht weit her sein konn te So no tier te er schon er staun lich fruumlh in sein Ta ge buch raquoDer Mensch haumllt sich in sei ner Ar ro ganz fuumlr ein groszlig ar ti ges Werk des be son de ren Ein grei fens ei ner Gott heit wuumlr dig Es duumlrf te be schei de ner und wie ich glau be auch rich tig sein ihn als aus den Tie ren ent stan-den an zu se henlaquo13

Dar win hat te den noch zwoumllf Jah re ge zouml gert bis er sich schlieszlig lich ge trau te nach der all ge mei nen Dar stel lung ei ner Evo-lu ti ons the o rie im Jahr 1859 sei ne Schluss fol ge run gen in Be zug auf den Men schen in Druck zu ge ben Die Ab stam mung des Men schen aus dem Jahr 1871 ist ein ge maumlch li ches Buch in ver-soumlhn li chem Ton fall Der Na tur for scher er zaumlhlt da rin wie ein gu-ter al ter Groszlig va ter wo her die Pfan zen die Tie re und die Eng-laumln der kom men Die raquoAb wer tunglaquo des Men schen geht da bei ein her mit ei ner kon ti nu ier li chen raquoAuf wer tunglaquo der Tie re raquoWir ha ben ge se henlaquo schreibt Dar win raquodass die Emp fin dun gen und Ein druuml cke die ver schie de nen Er re gun gen und Fauml hig kei ten wie Lie be Ge daumlcht nis Auf merk sam keit Neu gier de Nach ah mung Ver stand usw de ren sich der Mensch ruumlhmt in ei nem be gin nen-den oder zu wei len selbst in ei nem gut ent wi ckel ten Zu stand bei den nie de ren Tie ren ge fun den wer denlaquo14

La marck und Dar win wa ren die Ers ten die mit Mit teln der mo der nen Na tur wis sen schaft be haup te ten was vie le Kul tu ren und Zei ten schon zu vor re li gi oumls ge ahnt hat ten raquoNa tuumlr lichlaquo ist es ab surd eine Tei lung des Tier reichs in zwei Ka te go ri en vor zu-neh men ndash in eine mensch li che und eine nicht mensch li che Ka-13

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Page 33: Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen · Leseprobe Professor Dr. Richard David Precht Tiere denken Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen »Fazit:

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ver fah ren den Zo o lo gie setz te er eine neue Wis sen schaft die sich we ni ger an aumlu szlige ren Merk ma len als am Or ga nis mus der Tie-re ori en tier te Doch was die Trans mu ta ti on an be lang te blieb der Ober auf se her der pro tes tan tisch-the o lo gi schen Fa kul tauml ten Frank reichs beim kon ser va ti ven Mo dell Er ver brei te te wei-ter hin eine Ket te von Na tur ka tast ro phen habe als mo di fi zier-te Sint fu ten gan zen Klas sen von Tie ren den Gar aus ge macht Die se The o rie ist weit ge hend rich tig al ler dings schlieszligt sie die Trans mu ta ti on nicht aus

Das wirk lich Re vo lu ti o nauml re an La marck war die Idee die Ge schich te der Na tur nicht vom Men schen aus bis hi nun ter zur Bak te rie zu schrei ben son dern um ge kehrt von der Bak te rie zum Men schen Aus ei nem Mo dell der raumlum li chen Hie rar chie wur de ein Mo dell der zeit li chen Ent wick lung La marck er kann te zu-dem dass das Be wusst sein ei nes Tie res an die Phy si o lo gie und Neu ro lo gie sei nes Koumlr pers ge bun den ist Dem nach ist je der Geist ers tens be grenzt und zwei tens ver aumln der lich

Die phi lo so phi sche Kon se quenz aus La ma rcks Den ken ist so ra di kal dass sie fast ein hun dert fuumlnf zig Jah re lang von nie man-dem ernst haft in Be tracht ge zo gen wur de Wie kann ein Geist der den Ge set zen der Evo lu ti on un ter wor fen ist sich ei gent lich an ma szligen die Na tur der Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Von die ser Schluss fol ge rung woll te die Bi o lo gie al ler dings bis weit ins 20 Jahr hun dert hi nein nicht viel wis sen

Auch Dar wins The o rie von der na tuumlr li chen Se lek ti on der Le be we sen im Rin gen um ihr Le ben und mit der Um welt ent-wi ckel te sich wei ter Ge witz ten Zeit ge nos sen wie Karl Marx (1818 ndash 1883) war auf ge fal len wie stark Dar wins Den ken dem Zeit geist des Vik to ri a ni schen Zeit al ters ver haf tet war raquoEs ist merk wuumlr dig wie Dar win un ter Bes ti en und Pfan zen sei ne eng li-sche Ge sell schaft mit ih rer Tei lung der Ar beit Kon kur renz Auf-schluss neu er Maumlrk te rsaquoEr fin dun genlsaquo und Malt hus schem rsaquoKampf ums Da seinlsaquo wie der er kenntlaquo8 Die Be to nung des Malt hus rsquoschen 8

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 409783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 40 10082021 10493410082021 104934

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Kamp fes von je dem ge gen je den und auch der Fort schritts glau-be in Dar wins Den ken zei gen ihn stark sei ner Zeit ver haf tet

Eine an de re Kri tik kam aus der Bi o lo gie selbst Dar win hat-te noch nichts von Ge nen ge wusst So konn te er nicht er klauml ren was sich bi o che misch er eig ne te wenn Ar ten sich ver aumln der ten Der raquoDar wi nis muslaquo der Jahr hun dert wen de gab schlieszlig lich die Hoff nung auf die Evo lu ti on lie szlige sich al lein durch die na tuumlr li-che Se lek ti on der Ar ten nach Maszlig ga be ih rer An pas sungs fauml hig-keit an die Um welt be gruumln den Man ent deck te die Rol le der Ge-ne tik und zum neu en Er klauml rungs prin zip wur de das Mo dell der zwei Kons t ruk teu re Das Spiel des Le bens er hielt ei nen Wuumlr fel zu faumll li ge Ver aumln de run gen im Gen ma te ri al also so ge nann te Mu tashyti o nen Im Tri alshyandshyEr ror-Ver fah ren ent ste hen im Erb gut ge le-gent lich Ab wei chun gen die dann er folg reich sind wenn sie sich in der Um welt be waumlh ren Da mit war die Idee vom Tisch dass sich neu er wor be ne Ei gen schaf ten oder raquodie ana to mi schen Aus-wir kun gen koumlr per li cher An stren gun genlaquo wie La marck mein te ver er ben koumlnn ten Noch Dar win hat te dies fuumlr denk bar ge hal ten So ver trau te er Er zaumlh lun gen wo nach bei je nen Volks grup pen zu de ren Ri ten die re gel mauml szligi ge Be schnei dung der Pe nis vor haut ge houmlrt sich die Vor haut all maumlh lich ver kuumlrz te Das haumlt te zwar die Be schnei dung uumlber fuumls sig ge macht aber Dar win hat te ge ra-de an de res Ge wich ti ges zu be den ken als da ruuml ber nach zu sin nen

Die Ver kuumlr zung der Vor haut blieb im Wis sens schatz der Dar wi nis ten bis Au gust Weis mann (1834 ndash 1914) im spauml ten 19 Jahr hun dert nach wies dass ein sol cher In for ma ti ons fuss vom aumlu szlige ren Er schei nungs bild zum Erb ma te ri al nicht moumlg lich sei Uumlber fuumlnf Ge ne ra ti o nen kuumlrz te Weis mann ei nem Stamm von Maumlu sen ihre Schwaumln ze ohne dass eine Nach richt uumlber die sen Ein griff die Keim bah nen der Maumlu se er reich te Denn sie he da Auch die Schwaumln ze der nach fol gen den Maumlu se ge ne ra ti o nen blie-ben gleich lang Da be durf te es schon der Spitz fin dig keit des iri schen Dich ters George Bern ard Shaw (1856 ndash 1950) der Weis-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 419783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 41 10082021 10493410082021 104934

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manns schnei den de Wi der le gung der La marckrsquo schen The o rie leicht fer tig vom Se zier tisch wisch te Die Maumlu se be merk te der Dich ter haumlt ten gar kei ne An stren gun gen un ter nom men ihre Schwaumln ze zu ver lie ren waumlh rend sich die Tie re bei La marck ja da rum be muumlht haumlt ten sich zu ver aumln dern

Im Nach hi n ein also war es der pauml da go gi sche Op ti mis mus der La marck in die Irre ge fuumlhrt ha ben soll te So mach te die Hoff-nung auf ei nen ethisch an spre chen den E vo lu ti ons ver lauf ndash die Er war tung die Mensch heit ent wick le sich qua An pas sung an das so zi a le Mi li eu durch Selbst er zie hung zum Bes se ren ndash nur noch eine et was ab sei ti ge Kar ri e re im staats so zi a lis ti schen Bi o lo gie-un ter richt der Sow jet u ni on Wie kalt da ge gen der uumlber le ge ne raquoKampf ums Da seinlaquo der ja ein Kampf um die Fleisch toumlp fe ist ohne Hoff nung der Mensch wer de den kuumlh nen Geist statt sei-nes ma te ri a lis ti schen Gier hal ses nach Houml he rem stre cken Und ein zig die Kir che be wahr te un ver dros sen ei nen la marc kis ti schen Ge dan ken ndash al ler dings ei nen pes si mis ti schen und kei nen op ti-mis ti schen In bes ter Schuumlt zen hil fe fuumlr den fran zouml si schen Che-va li er ver tei digt sie bis heu te ihr mo le ku lar ge ne tisch be denk li-ches Dog ma Adams Un ge hor sam im Gar ten Eden habe zu ei ner raquoErb suumln delaquo ge fuumlhrt die da rauf hin auf alle zu kuumlnf ti gen Ge ne ra-ti o nen uumlber ge gan gen sei

Im mer hin sind in den bei den letz ten Jahr zehn ten ei ni ge Bi o-lo gen wie der et was of fe ner da fuumlr ge wor den der Ver er bung er-wor be ner Ei gen schaf ten ei nen Platz in der Ge ne tik zu las sen Zwar ver er ben sich psy chi sche und phy si sche Le bens er fah run-gen nicht durch ver aumln der te Gene Aber es koumlnn te doch sein dass jene Schal ter die da ruuml ber be stim men wel che ge ne ti sche In for-ma ti on wei ter ge ge ben wird und wel che nicht durch Um welt-ein fuumls se ver aumln dert wer den Uumlber le gun gen wie die se be schaumlf ti-gen so ge nann te Epi gen eti ker seit ei ni ger Zeit sie ha ben ei nen wach sen den Ein fuss auf un se re Vor stel lung von der Evo lu ti on

Die heu ti ge Leit dis zip lin die uns die Ver wandt schaft des Le-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 429783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 42 10082021 10493410082021 104934

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bens ent schluumls seln soll ist die Ge ne tik Wir un ter su chen die Sum-me al ler ge ne ti schen In for ma ti o nen und re gist rie ren da bei Uumlber-ein stim mun gen und Ab wei chun gen mit an de ren Ar ten Doch der Pro zess die Na tur un se rer Na tur zu er ken nen ist noch lan ge nicht ab ge schlos sen und wird wohl auch nie ab ge schlos sen sein Wir wen den Ord nungs sche ma ta auf The o ri en und The o ri en auf Be ob ach tun gen an Nur so kom men wir zu Kau sa li tauml ten und Ge-set zen Doch ihre Be deu tung ver aumln dert sich in dem Maszlige wie wir den Blick punkt un se rer Auf merk sam keit wie der ver la gern Die ser Vor gang des Ent dec kens und des Ver de ckens durch neue Denk sche ma ta ist prin zi pi ell nicht ab schlieszlig bar denn selbst ge-gen waumlr ti ge Evo lu ti ons the o ri en un ter lie gen wei ter hin der Evo-lu ti on

Er staun li cher wei se hat die mo der ne Evo lu ti ons the o rie nur zu ei ner ge ring fuuml gi gen Kor rek tur al ter Denk sche ma ta ge fuumlhrt Wie fruuml her in der Na tur ge schich te er ken nen wir heu te in der Bi o lo gie uumlber all Re gel haf tigk eit Not wen dig keit und Vor tei-le Doch bei nauml he rer Sicht er weist sich die Evo lu ti on ge ra de zu als Herr schafts ge biet der Aus nah men uumlber die Re geln Sie ist eine raquoZweck mauml szligig keit ohne Zwecklaquo wenn auch al lein fuumlr die 01 Pro zent der heu te noch ndash oder ge ra de ndash exis tie ren den Spe-zi es nicht aber fuumlr die 999 Pro zent die in den Ur fu ten dem Ord ovizium dem Perm der Krei de oder dem Ter ti aumlr das Welt-li che seg ne ten E vo lu ti ons bi o lo gen su chen in der Ge schich te der Na tur uumlber all nach Vor tei len die das Uumlber le ben von Ar ten er-klauml ren sol len Da bei ver men gen sie oft zwei ver schie de ne Vor-teils be grif fe Ein mal geht es um Mu ta ti o nen die si tu a tiv vor teil-haf te Ei gen schaf ten fuumlr eine Tier art her vor ge bracht ha ben sol len Eine grouml szlige re Sta tur ein pom pouml se res Ge weih ein staumlr ke res Ge biss sol len Weib chen be ein dru cken und die Nach kom men schaft er-houml hen Da die se Ei gen schaf ten aber oft nichts nuumlt zen wenn der Zu fall die Spiel re geln der Um welt aumln dert gibt es ei nen zwei ten Vor teils be griff Da nach ist das vor teil haft in der Evo lu ti on was

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 439783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 43 10082021 10493410082021 104934

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vom Ende her be trach tet dazu ge fuumlhrt hat dass eine Art uumlber-lebt Nach die ser Sicht wei se kann der mick rigs te Pa vi an auf dem Fel sen sei ne Gene wei ter ge ben wenn die staumlr ke ren Kon kur ren-ten bei ei nem Erd be ben ums Le ben ge kom men sind

An ge sichts zwei er so un ter schied li cher Be deu tun gen von raquoVor teillaquo fragt es sich ob der Be griff in der Evo lu ti ons the o rie uumlber haupt sinn voll ver wen det wer den kann Tat saumlch lich ist er ein Erbe der The o lo gie des 17 und 18 Jahr hun derts die uumlber-all in der Na tur nach der klu gen Ver nunft Got tes such te Dar win kann te die se Tra di ti on gut Als Stu dent ver ehr te er den The o lo-gen Will iam Pa ley (1743 ndash 1805) der na tur kund lich be schla gen die goumltt li che Vo raus sicht auf den neu es ten Stand ge bracht hat te Als Dar win sich von Gott ver ab schie de te und die na tuumlr li che Se-lek ti on er kann te er setz te er uumlber all wo Pa ley raquoGod doeslaquo ge-schrie ben hat te den Satz durch raquoNat ure doeslaquo An Pa leys Vor-stel lung dass die Na tur zweck mauml szligig ein ge rich tet sei und Vor tei le be loh ne hielt Dar win eben so fest wie vie le spauml te re E vo lu ti ons-the o re ti ker

Die Fra ge ist des halb wich tig weil sie zeigt wie eng un se re Vor stel lung von der Na tur bis hi nein in die mo der ne Evo lu ti-ons the o rie von sehr mensch li chen Vor stel lun gen durch setzt ist Statt Vor tei le zu be nen nen wuumlr de es naumlm lich auch aus rei chen zu sa gen dass al les in der Na tur uumlber le ben kann das fuumlr eine Art kei nen toumld li chen Nach teil hat te Ver mut lich uumlber lebt in der Evo lu ti on nicht nur Zweck mauml szligi ges son dern jede Ver aumln de rung die zu min dest nicht zum Aus ster ben fuumlhr t und moumlg li cher wei se liegt ge ra de hie rin der Grund fuumlr eine gro szlige Ar ten viel falt

Die tra di ti o nell ver eng te Sicht wei se gilt ins be son de re bei der Be trach tung des Men schen E vo lu ti ons bi o lo gen koumln nen zahl-rei che Vor tei le be nen nen die er klauml ren wa rum die mensch li che Art so er folg reich ist Men schen sind aumlu szligerst an pas sungs fauml hig und be sie deln fast alle Le bens raumlu me sie sind Al les fres ser mit ei ner gro szligen Nah rungs band brei te sie ha ben eine fe xib le So zi-

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 449783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 44 10082021 10493410082021 104934

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al struk tur und ver fuuml gen uumlber ein Selbst be wusst sein das es ih-nen er moumlg licht ihr Ver hal ten zu kor ri gie ren So ge se hen ist der Mensch gleich sam das op ti mal ste al ler Tie re Doch alldem zum Trotz exis tie ren Men schen der Gat tung Homo sap iens erst seit rund 100 000 Jah ren und ihre lang fris ti gen Zu kunfts chan cen ste hen schlecht Denn mit all den vor teil haf ten Ei gen schaf ten ha-ben Men schen in Re kord zeit ihre Um welt zer stoumlrt und das lang-fris ti ge Uumlber le ben der Spe zi es dra ma tisch in fra ge ge stellt Die mit we ni ger spek ta ku lauml ren Vor tei len aus ge stat te ten Di no sau ri-er exis tier ten auf un se rem Pla ne ten hun dert fuumlnf zig Mil li o nen Jah re ganz zu schwei gen von den seit uumlber vier hun dert Mil li o-nen Jah ren na he zu un ver aumln der ten Nau til iden und Ur schne cken

Ge si chert in der Evo lu ti ons the o rie ist dass kei ne ih rer An nah-men ge si chert ist E vo lu ti ons bi o lo gen die ihre Sa che ernst neh-men muumls sen im mer auch die E vo lu ti ons be dingt heit ih res ei ge-nen Er kennt nis ap pa rats ref ek tie ren also mit hin die Evo lu ti on al ler mensch li chen Er kennt nis raquoLetzt lich istlaquo wie der Neuro bio-lo ge Ger hard Roth schreibt raquoje des Nach den ken uumlber die ob jek-ti ve Re a li taumlt sei es wis sen schaft lich oder nicht an die Be din gun-gen mensch li chen Den kens Spre chens und Han delns ge bun den und muss sich da rin be waumlh renlaquo9

Man muss ref ek tie ren dass die un ver meid li chen Ord nungs-mit tel des Geis tes das Den ken und die Spra che nicht die Wirk-lich keit raquoan sichlaquo auf raumlu men Sie sind Mo del le die die un ver-fuumlg ba re Wirk lich keit nach Maszlig ga be der ei ge nen Spiel re geln er klauml ren Nicht erst seit Er for schung der Evo lu ti on in den letz-ten zwei hun dert Jah ren muumlht sich der mensch li che Geist dem Lauf der Welt ei nen ndash nach mensch li chem Er mes sen ndash raquover nuumlnf-ti genlaquo Sinn zu ge ben Doch das Pa ra do xe der Ge schich te liegt da rin dass der mensch li che Geist selbst Pro dukt evo lu ti o nauml rer Pro zes se ist Er ist Maszlig stab und Ge mes se nes zu gleich

An eine tat saumlch lich ob jek ti ve Er kennt nis der Evo lu ti on waumlre nur halb wegs sinn voll zu den ken wenn die Evo lu ti on des Men-9

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 459783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 45 10082021 10493410082021 104934

schen ab ge schlos sen ist und da mit die Stu fe der groumlszligt moumlg li chen Voll kom men heit er reicht hat In den Zei ten vor La marck und Dar win ha ben das nicht nur The o lo gen son dern auch die Na tur-for scher fast al le samt ge glaubt Das mensch li che Be wusst sein sei die un uuml ber trof fe ne Spit zen leis tung des Schoumlp fer got tes ge schaf-fen die Welt so zu er ken nen wie sie raquoan sichlaquo ist Sei nen schoumlns-ten Aus druck fand die se Sicht in ei nem Aus spruch des jun gen Phi lo so phen Fried rich Wil helm Jo seph Schel ling (1775 ndash 1854) Er mein te dass der Mensch je nes We sen sei raquoin dem die Na tur das Auge auf schlaumlgtlaquo und sich da mit ih rer selbst be wusst wird Ein huumlb scher Satz aber doch viel zu pa the tisch for mu liert Von der vol len Er kennt nis der Na tur und un se rer selbst sind wir noch im mer weit ent fernt Aber wir koumln nen da ruuml ber stau nen dass die Evo lu ti on mit uns ein Le be we sen her vor ge bracht hat in dem die Na tur sich fuumlr sich selbst fa szi nier bar ge macht hat Wie hat te es dazu kom men koumln nen

bull Der Pri mat Was ist ein Mensch

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 469783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 46 10082021 10493410082021 104934

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ver waist sein Die Mensch heit wird er wacht sein und die Welt je-nes Ge sicht er hal ten ha ben das uns ge gen waumlr tig er scheint Doch wie sah das aus als die Na tur das ers te Mal in ei nem af fen aumlhn-li chen We sen die Au gen auf schlug War es auf ei ner Wald wie-se in ei nem Hain an ei nem Berg hang oder auf ei ner Lich tung War das er leuch te te We sen ein Maumlnn chen oder ein Weib chen Ging es den gan zen Tag auf recht oder saszlig es noch ger ne in der Ho cke eng ge kau ert an sei ne Bruuml der und Schwes tern Und war es eine Ein ge bung ein Blitz schlag als das Selbst be wusst sein das ers te Mal die Fes seln des Pri ma ten ge hirns spreng te

Wir wis sen nicht wo ran Schel ling dach te als er mein te die Na tur habe im Men schen ihr Auge auf ge schla gen Si cher dach te er nicht an ei nen ein zi gen Mo ment dem Mil li o nen an de re folg-ten Er dach te an den raquoMen schen an sichlaquo Und er wuss te nichts vom ost af ri ka ni schen Great Rift Val ley und von haa ri gen Vor-men schen die dort einst haus ten Er leb te in Jena und in Muumln-chen und ei nen Men schen af fen hat te Schel ling nie ge se hen Der ein zig ar ti ge Mo ment in dem die Na tur sich ih rer selbst be wusst wird bleibt eine Me ta pher

Doch wie wur de der Mensch nun tat saumlch lich zum Men-schen Die For mu lie rung ist dop pel deu tig Denn wie der Mensch zum Men schen wur de ndash das ist nicht ein evo lu ti o nauml rer Pro-zess auf der lee ren Welt buumlh ne son dern ein Spiel von Be ob ach-ter und Be ob ach te tem Schau spie ler und Zu schau er Ge schich-te auch Ent wick lungs ge schich te ist nichts Vor ge fun de nes Der Mensch schrieb der fran zouml si sche Phi lo soph JeanshyPaul Sart re (1905 ndash 1980) macht sich selbst wie der Ro man schrift stel ler sei ne Fi gu ren Er ist ge fer tigt aus bi o lo gi schen (ana to mi schen neu ro lo gi schen und phy si o lo gi schen) Be stand tei len zu al ler meist je doch durch jene we nig bi o lo gi schen Weis hei ten mit de nen sich die se Subs tan zen selbst zum raquoMen schenlaquo er ko ren

Das Glei che gilt fuumlr die mensch li che Stam mes ge schich te Auch sie ist zu naumlchst ein mal eine Ge schich te Ihre Ur spruumln ge lie gen im

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 489783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 48 10082021 10493510082021 104935

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al ten Grie chen land als Aris to te les den Men schen und den Af-fen ver wandt schaft lich na he ruumlckt raquoMan che Tie re ste hen zwi-schen Mensch und Vier fuumlszlig ler in ih rem We sen wie Af fen Meer-kat zen und Pa vi a ne hellip Ihr Ge sicht hat vie le Aumlhn lich kei ten mit dem des Men schen Nase und Oh ren glei chen den sei nen und Zaumlh ne hat er auch wie ein Mensch die Vor der zaumlh ne wie die Ba cken zaumlhnelaquo10 Auch Aris to te lesrsquo Schuuml ler The oph rast (ca 370 v Chr ndash ca 288 v Chr) be steht auf der Aumlhn lich keit zwi schen Men schen und Tie ren Er lehnt es so gar ab Fleisch zu es sen oder Tie re zu op fern da man sei ne Ver wand ten nicht ver spei se

Aris to te les und The oph rast stell ten den Men schen zwar ne-ben den Af fen ndash Men schen af fen kann te man noch nicht ndash aber die al ten Grie chen hat ten ihn nur sehr un ge faumlhr zu ei nem Tier un ter Tie ren er klaumlrt Den naumlchs ten Schritt mach te mehr als zwei-tau send Jah re spauml ter Carl von Linneacute An der Zu ge houml rig keit des Men schen zu den Saumlu ge tie ren be stand fuumlr den Schwe den kein Zwei fel die Be haa rung und das Stil len der Jun gen be lehr ten un-miss ver staumlnd lich da ruuml ber Auch die Ver wandt schaft mit Af fen und Men schen af fen stand au szliger Fra ge Hier wa ren es die fa chen Fin ger- und Fuszlig nauml gel statt der Klau en der ab ge spreiz te Dau-men die Greif haumln de die zwei Zit zen der Weib chen und der frei he run ter haumln gen de statt am Un ter leib an lie gen de Pe nis ndash Merk-ma le die groumlszlig ten teils auch schon Aris to te les auf ge fal len wa ren

Doch Linneacute zouml ger te vor der Kon se quenz Haumln de rin gend such-te der got tes fuumlrch ti ge Ana tom nach ei nem Un ter schied zwi schen dem Men schen und den uumlb ri gen von ihm so ge nann ten raquoPri ma-tenlaquo raquoIch ver lan gelaquo schrieb er 1747 sei nem deut schen Freund Jo hann Ge org Gme lin raquovon Ih nen und von der gan zen Welt dass Sie mir ein Gat tungs merk mal zei gen hellip auf grund des sen man zwi schen Mensch und Affe un ter schei den kann Ich weiszlig selbst mit aumlu szligers ter Ge wiss heit von kei nemlaquo11

Nach sei nen Kri te ri en haumlt te Linneacute den Men schen zu min dest mit dem Schim pan sen ge mein sam in die sel be Gat tung ein ord-10

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nen muumls sen Der Ge dan ke schweb te zeit gleich auch dem Phi lo so-phen JeanshyJacques Rous seau (1712 ndash 1778) vor als er Schim pan-sen Orang-Ut ans und Men schen so gar als Ver tre ter der Spe zi es Mensch an sah Rous seau hat te nie ei nen Men schen af fen ge se-hen Aber die Be rich te die er von Ex pe di ti o nen nach Af ri ka und Suumld ost a si en las lie szligen in ihm kei nen Zwei fel dass die da rin be schrie be nen Men schen af fen raquowe der Tie re noch Goumlt ter son-dern Men schenlaquo sei en12 Fuumlr den Auf klauml rer wa ren Men schen af-fen edle Wil de die von kei ner Zi vi li sa ti on in ih rem fried fer ti gen We sen zer stoumlrt sei en an ders als die Men schen in Eu ro pa Eben-so dach te we nig spauml ter der schot ti sche Sprach for scher James Bur nett Lord Mon boddo (1714 ndash 1799) Auch er be trach te te den Orang-Utan als ei nen Men schen naumlm lich als ei nen raquosprach-losen Wil denlaquo

In ter pre ta ti o nen wie Rous seau sie in Pa ris und Bur nett bald da rauf in Kin card ines hire wag ten wa ren Linneacute im schwe di schen Upp sa la fremd Den Men schen ins Tier reich ein zu ord nen war in den Au gen der stren gen pro tes tan ti schen Kir che Suumln de ge nug und Linneacute zouml ger te den letz ten Schritt zu tun In sei ner Not sor-tier te er 1758 ach sel zu ckend Mensch und Schim pan se in un ter-schied li che Gat tun gen zu sam men ge fasst in der Ord nung der Pri ma ten in der sie auch heu te noch mehr schlecht als recht huumlbsch ge trennt ne ben ei nan der ho cken Homo sap iens der raquoin-tel ligi ble Menschlaquo und Pan trog lody tes der raquohoumlh len be woh nen-de Faunlaquo

So weit so schoumln Der Mensch wur de der obers te Pri mat das houmlchs te raquoHer ren tierlaquo Linneacute be kam kei nen Aumlr ger mit der Kir-che und die Na tur wis sen schaft den gro szligen Wurf des Linneacute rsquoschen Sys tems Wenn nur die se Nach barn nicht wauml ren Seit Be kannt-wer den der Men schen af fen be muumlh ten sich Wis sen schaft ler und The o lo gen im mer wie der um den Ver such den klei nen Gra ben mit gro szligen Was sern zu fuumll len der Homo sap iens und Pan troshyglody tes bei ih rer ord nungs ge mauml szligen Ver ge sell schaf tung auf der 12

9783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 509783442314416_40_INH_Precht_Tiere_CC21indd 50 10082021 10493510082021 104935

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Af fen in sel trennt Sie eva ku ier ten den Men schen vom Pri ma ten-fel sen und schu fen ihm eine ei ge ne Ord nung

In die ser Vor stel lungs welt wuchs auch der The o lo gie stu dent Charles Dar win auf Das fruuml he 19 Jahr hun dert war eine got-tes fuumlrch ti ge bie der mei er li che Zeit Doch je mehr er sich mit der Ver aumln de rung der Ar ten be schaumlf tig te umso deut li cher wur de Dar win dass es mit der of fi zi ell be kun de ten Son der stel lung des Men schen im Uni ver sum nicht weit her sein konn te So no tier te er schon er staun lich fruumlh in sein Ta ge buch raquoDer Mensch haumllt sich in sei ner Ar ro ganz fuumlr ein groszlig ar ti ges Werk des be son de ren Ein grei fens ei ner Gott heit wuumlr dig Es duumlrf te be schei de ner und wie ich glau be auch rich tig sein ihn als aus den Tie ren ent stan-den an zu se henlaquo13

Dar win hat te den noch zwoumllf Jah re ge zouml gert bis er sich schlieszlig lich ge trau te nach der all ge mei nen Dar stel lung ei ner Evo-lu ti ons the o rie im Jahr 1859 sei ne Schluss fol ge run gen in Be zug auf den Men schen in Druck zu ge ben Die Ab stam mung des Men schen aus dem Jahr 1871 ist ein ge maumlch li ches Buch in ver-soumlhn li chem Ton fall Der Na tur for scher er zaumlhlt da rin wie ein gu-ter al ter Groszlig va ter wo her die Pfan zen die Tie re und die Eng-laumln der kom men Die raquoAb wer tunglaquo des Men schen geht da bei ein her mit ei ner kon ti nu ier li chen raquoAuf wer tunglaquo der Tie re raquoWir ha ben ge se henlaquo schreibt Dar win raquodass die Emp fin dun gen und Ein druuml cke die ver schie de nen Er re gun gen und Fauml hig kei ten wie Lie be Ge daumlcht nis Auf merk sam keit Neu gier de Nach ah mung Ver stand usw de ren sich der Mensch ruumlhmt in ei nem be gin nen-den oder zu wei len selbst in ei nem gut ent wi ckel ten Zu stand bei den nie de ren Tie ren ge fun den wer denlaquo14

La marck und Dar win wa ren die Ers ten die mit Mit teln der mo der nen Na tur wis sen schaft be haup te ten was vie le Kul tu ren und Zei ten schon zu vor re li gi oumls ge ahnt hat ten raquoNa tuumlr lichlaquo ist es ab surd eine Tei lung des Tier reichs in zwei Ka te go ri en vor zu-neh men ndash in eine mensch li che und eine nicht mensch li che Ka-13

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