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Timm Beichelt Einführung in die Kulturwissenschaft Vorlesung, Wintersemester 2010/11 Sitzung: 16.11.2011 – Anthropologische Prämissen und handlungstheoretische Ansätze

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Timm Beichelt

Einführung in die Kulturwissenschaft Vorlesung, Wintersemester 2010/11

Sitzung: 16.11.2011 – Anthropologische Prämissen und handlungstheoretische Ansätze

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19.10. Einführungssitzung 14.12. Symbol und symbolische Formen (Ernst Cassirer)

26.10. Was ist Wissenschaft: das Prinzip der problemorientierten Wissensvermehrung

21.12. Sinnhorizonte und soziale Wirklichkeit(en) (Alfred Schütz)

2.11. Was ist Kultur: Struktur vs. Substanz vs. Interpretation

4.1. Kultur als Bedeutungsgewebe (Clifford Geertz)

9.11. Was ist Kulturwissenschaft: Standbeine, Standpunkte, Standorte

11.1. Politische Kultur als Aggregat von Werten und Einstellungen (Gabriel Almond / Sidney Verba)

16.11. Die anthropologischen Prämissen sozialen Handelns: homo oeconomicus, homo socialis, homo culturalis

18.1. Kulturwissenschaft als Sozialwissenschaft + Kulturgeschichte

23.11. Grundpositionen I: (neo)strukturalistische Kulturtheorien

25.1. Kulturwissenschaft als Linguistik + Literaturwissenschaft

30.11. Grundpositionen II: interpretative Kulturtheorien

01.02. Übung II: Anwendungsbeispiele

7.12. Übung I: Anwendungsbeispiele 08.02 Kulturwissenschaft als Beruf?

Veranstaltungsplan

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Heutige Vorlesung

I. Soziales Handeln als sozial- und kulturwissenschaftliche Kategorie

II. Drei Paradigmen sozialen Handelns a. homo oeconomicus b. homo socialis / homo sociologicus c. homo culturalis / RREEMM-Modell

III. Ausblick

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Ausgangspunkt

Lebende Organismen müssen mit ihrer natürlichen Umwelt im Austausch bleiben. Dabei unterliegt menschliches Handeln „gewissen Vorgaben“ (219):

1. Natürliche und soziale Restriktionen 2. Im Rahmen dieser Restriktionen: Maximierung als

allgemeine Selektionsregel für Handeln 3. (unvermeidbares) Reibungsverhältnis zwischen

kurzfristiger Orientierung von Anpassungsreaktionen und langfristigen Folgen bzw. externen Effekten

Esser, Hartmut, 31999: Soziologie. Allgemeine Grundlagen. Frankfurt: Campus, Kap. 13

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Drei Beispiele • Welche Triebkräfte gibt es für

a. Migration nach Deutschland? b. Emigration aus Deutschland?

• Wie erklären Sie den Aufstieg der Piratenpartei a. aus der Perspektive der parteilichen Akteure b. aus der Perspektive der Wähler

• Frankfurt/Oder: warum ist die Stadt nach 20 Uhr so unbelebt?

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Drei Leitmotive

Was steht im Zentrum einer Handlungsent-scheidung?

Zugeordnete Wissen-schaftsdisziplinen

Einschlägiges Modell der Handlungserklärung

Zweck Soziologie Wirtschaftswissenschaft Politikwissenschaft

homo oeconomicus

Soziale Norm Soziologie Politikwissenschaft Anthropologie

(„homo sociologicus“) homo socialis

Kulturelle Norm Soziologie Anthropologie Kulturwissenschaft

(„kulturtheoretisch“) homo culturalis

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Drei Leitmotive

Was steht im Zentrum einer Handlungsent-scheidung?

Zugeordnete Wissen-schaftsdisziplinen

Einschlägiges Modell der Handlungserklärung

Zweck Soziologie Wirtschaftswissenschaft Politikwissenschaft

homo oeconomicus

Soziale Norm Soziologie Politikwissenschaft Anthropologie

(„homo sociologicus“) homo socialis

Kulturelle Norm Soziologie Anthropologie Kulturwissenschaft

(„kulturtheoretisch“) homo culturalis

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Drei Leitmotive

Was steht im Zentrum einer Handlungsent-scheidung?

Zugeordnete Wissen-schaftsdisziplinen

Einschlägiges Modell der Handlungserklärung

Zweck Soziologie Wirtschaftswissenschaft Politikwissenschaft

homo oeconomicus

Soziale Norm Soziologie Politikwissenschaft Anthropologie

(„homo sociologicus“) homo socialis

Kulturelle Norm Soziologie Anthropologie Kulturwissenschaft

(„kulturtheoretisch“) homo culturalis

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Definitionen • Homo oeconomicus: der wirtschaftlich-

rational denkende und handelnde Mensch, der systematisch zwischen Kosten und Nutzen von Entscheidungsalternativen abwägt.

• Homo sociologicus: Akteur, dessen Handeln in Gesellschaft und Politik hauptsächlich auf den Vorgaben gesellschaftlicher Normen, Regeln und Rollen beruht.

Schmidt, Manfred G., 32010: Wörterbuch zur Politik. Stuttgart: Kröner, pp. 343-344

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Definitionen • „kulturtheoretische Handlungserklärung“: „Um nachvoll-

ziehen zu können, warum die Akteure so handeln, wie sie handeln, ist es (…) notwendig herauszuarbeiten, über welche Sinnsysteme die Akteure verfügen bzw. welche Bedeutungen sie den Gegenständen regelmäßig zuschrei-ben. (…) Das Modell (…) setzt voraus, dass es diese Sinnzuschreibungen und ihre Sinnmuster sind, die den Hintergrund einzelner Handlungen wie kollektiver Hand-lungsmuster bilden und plausibel zu machen vermögen, warum Akteure sich so und nicht anders verhalten“.

Reckwitz, Andreas, 2006: Die Transformation der Kulturtheorien. Weilerswist: Velbrück, S. 130.

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Drei Beispiele • Welche Triebkräfte gibt es für

a. Migration nach Deutschland? b. Emigration aus Deutschland?

• Wie erklären Sie den Aufstieg der Piratenpartei a. aus der Perspektive der parteilichen Akteure b. aus der Perspektive der Wähler

• Frankfurt/Oder: warum ist die Stadt nach 20 Uhr so unbelebt?

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Die drei Typen der Handlungserklärung

Quelle: Reckwitz (2006: 143).

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Heutige Vorlesung

I. Soziales Handeln als sozial- und kulturwissenschaftliche Kategorie

II. Drei Paradigmen sozialen Handelns a. homo oeconomicus b. homo socialis / homo sociologicus c. homo culturalis / RREEMM-Modell

III. Ausblick

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a. homo oeconomicus • Definition: der wirtschaftlich-rational denkende und

handelnde Mensch, der systematisch zwischen Kosten und Nutzen von Entscheidungsalternativen abwägt.

• Annahme: Selektion des Handelns durch Maximierung individuellen Nutzens. Normen werden nur im Rahmen der Nutzenmaximierung relevant

• Eigenschaften: - Restriktionsorientierung - Perfekte Information - Stabile und geordnete Präferenzen

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Grundregel der Selektion: Maximierung

• gilt im Rahmen der Restriktionen als allgemeine Selektionsregel für Handeln

• In jeder Situation existiert „eine Vielzahl von unterschiedlich vorteilhaften bzw. unterschiedlich reproduktiv erfolgreichen Alternativen oder Opportunitäten“ (222)

• Vier Varianten der Maximierungsregel: 1. Imitiere die Erfolgreichen! 2. Verhalte Dich anders als die Erfolglosen! 3. Lass Dich von jenen belehren, die Interesse an Deinem Erfolg haben! 4. Sei skeptisch gegenüber Belehrungen von jenen, die im

Interessenkonflikt mit Dir stehen! Maximieren kann auch sein: Altruismus, soziale Kooperation

Esser, Hartmut, 31999: Soziologie. Allgemeine Grundlagen. Frankfurt: Campus, Kap. 13

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Standard der Maximierung • Beachtung der externen – von der Umwelt vorgegebenen –

Bedingungen; dies geschieht über angeborene oder erlernte Erwartungen (subjektive Kausalhypothesen)

„bounded rationality“ (Herbert Simon) anstelle steter Nutzenmaximierung

• Interne Funktionsbedingungen des Organismus; dies geschieht über emotionale Bewertungen von Konsequenzen, die wiederum über Präferenzen, Bedürfnisse und Werte gesteuert werden

Handeln erfolgt nach einer „optimierenden Kombination von Erwartungen (p) und Bewertungen (U)“ (226)

H(N) = p • U

Esser, Hartmut, 31999: Soziologie. Allgemeine Grundlagen. Frankfurt: Campus

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b. homo sociologicus Annahme: Selektion des Handelns folgt vor allem den Vorgaben der gesellschaftlichen Institutionen – Normen, sozialen Regeln, Rollen.

Drei Varianten: - SRSM: socialized, role-playing, sanctioned man

(Normenkonformität) - OSAM: opinionated, sensitive, acting man

(Handlungssteuerung durch kontextsensible Einstellungen) - SSSM: symbols interpreting, situations defining, strategic

acting man (interpretatives Paradigma)

Esser, Hartmut, 31999: Soziologie. Allgemeine Grundlagen. Frankfurt: Campus, Kap. 14

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c. Kulturtheorie I

„Kulturtheorien gewinnen ihre Unterscheidbarkeit als eine spezifische Form der Sozialtheorie (…) dadurch, dass sie einen Typus sinnorientierter Handlungs-beschreibung und –erklärung formulieren, der sowohl vom teleologisch-zweckorientierten als auch von normorientierten Modell differiert, und damit auch eine neue Antwort auf die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit sozialer Ordnung bzw. sozialer Reproduktion geben.

Reckwitz, Andreas, 2006: Die Transformation der Kulturtheorien. Weilerswist: Velbrück, S. 129.

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c. Kulturtheorie II

„Subjektive Interessen und soziale Normen können ihre Wirkung aus kulturtheoretischer Perspektive nur vor dem Hintergrund [von] Wissensordnungen entfalten, mit denen sich die Akteure ihre spezifische ‚Wirklichkeit‘ konstituieren und sie handhabbar machen: die kognitiv-symbolischen Strukturen ermöglichen bestimmte Verhaltensformen und schließen andere als ‚undenkbar‘ aus“

Reckwitz, Andreas, 2006: Die Transformation der Kulturtheorien. Weilerswist: Velbrück, S. 130.

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c. Kulturtheorie III „Aus Sicht der Kulturtheorien muss die Handlungserklärung jenen Hintergrund handlungsanleitender kultureller Schemata herausarbeiten, die die Akteure zwar fortlaufend einsetzen, auf die diese in ihren alltagsweltlichen, eigenen ‚Handlungserklärungen‘ jedoch in der Regel keinen Bezug nehmen, da ihnen ihre Wissensordnungen normalerweise implizit bleiben“ „Wenn man Handeln erklären will, muss man nachvollziehen können, warum einzelne Akteure ebenso wie ganze Kollektive ihrem Handeln eine über zeitliche und räumliche Grenzen hinweg beibehaltene ‚Form‘ geben, wie es mithin dazu kommt, dass die Akteure relativ gleichförmig strukturierte Handlungsmuster repetitiv und routinisiert hervorbringen“

Reckwitz, Andreas, 2006: Die Transformation der Kulturtheorien. Weilerswist: Velbrück, S. 131, 134.

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c. homo culturalis

• Sinnorientiertes Handeln, das sich über zeitliche und räumliche Grenzen hinweg erstreckt

• Gleichförmig strukturierte Handlungsmuster in repetitiver und routinisierter Form

• Wissensordnungen im Hintergrund • Erschließung durch kognitiv-symbolische

Strukturen

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c. RREEMM-Modell Resourceful, restricted, evaluating, expecting, maximizing man (Esser)

Homo sociologicus

Homo oeconomicus

RREEMM-Modell

Resourceful X

Restricted X X

Evaluating X X

Expecting X X

Maximizing X X

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Heutige Vorlesung

I. Soziales Handeln als sozial- und kulturwissenschaftliche Kategorie

II. Drei Paradigmen sozialen Handelns a. homo oeconomicus b. homo socialis / homo sociologicus c. homo culturalis / RREEMM-Modell

III. Ausblick

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Nächste Sitzung

• (neo)strukturalistische Kulturtheorien • Interpretative Kulturtheorien

Reckwitz, Andreas, 2006: Die Transformation der Kulturtheorien. Weilerswist: Velbrück, Kap. 4-7.

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Vielen Dank für Ihre

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