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Page 1: Tischleuchte MT 8 - · PDF fileMichigan die Ford Motor Company 1914 Das Attentat auf das Thronfolgerpaar ... 1912 Die Titanic versinkt 1913 George Bernard Shaw:Pygmalion 1914–1918

Das wohl bekannteste Produkt des Bauhauses steht für die Evolution einer neuen Formensprache und verkörpert dieModerne schlechthin. Obwohl heutzutage weltberühmt – oder vielleicht gerade deswegen – war die Urheberschaft derBauhaus-Leuchte lange Zeit umstritten und konnte erst in jüngster Zeit geklärt werden.

Wilhelm Wagenfeld

Tischleuchte MT 8

Zur VorgeschichteStatt »Kunst und Handwerk« sollte mit der 1923erfolgten Neuorientierung des Bauhauses eine Sym-biose von »Kunst und Technik« entstehen. Mit demungarischen Künstler László Moholy-Nagy, der seitFrühjahr 1923 die Metallwerkstatt leitete, beganndiese Neuorientierung vehement Gestalt anzuneh-men. Er forderte und förderte die Entwicklung einerneuen Formensprache, unter anderem durch dieVerwendung und ungewohnte Kombination preis-werter Materialien. Auf seine Anregung hin entwarfdie Metallwerkstatt Beleuchtungskörper, um damitdas geplante Musterhaus am Horn einzurichten. Fürdieses Haus entwickelte der Schweizer Silber-schmied Carl Jacob Jucker verschiedene Leuchtenmit Glasfuß und Glasschaft, die er – formal wenigüberzeugend – mit verspiegelten Glühlampen oderhalbkugelförmigen Reflektoren versah. Juckersgestalterische Leistung bestand in der Verwendungeines Glasschaftes und in der Offenlegung der Funk-tion durch die sichtbare Kabelführung im Inneren.Ein anderer Bauhausschüler, Gyula Pap, behauptetespäter, er hätte damals Jucker ein Glasrohr für denBau einer Leuchte auf den Tisch gelegt. Doch dieUnterlagen belegen, dass Jucker zu diesem Zeitpunktbereits seine Leuchten vollendet hatte.

Wilhelm WagenfeldIm April 1924 legte Wilhelm Wagenfeld seine Gesel-lenprüfung als Silberschmied ab. Wieder war esMoholy-Nagy, der die Anregung zur Entwicklungeiner Metall-Leuchte gab. Wagenfeld, der dasJucker´sche Experiment, das sich nicht für eineindustrielle Verwertung eignete, kannte, schuf mitseiner ausgewogenen Konzeption eine sofort über-zeugende Lösung. Das Problem des Reflektors lösteer mit einer Milchglaskuppel, die auf verlötetenMetallstreben und einem umlaufenden Metallbandruht. Damit gelang Wagenfeld ein Entwurf, der dieästhetischen Kriterien des Bauhauses erfüllte. Fuß,Schaft und Kuppel bilden nun eine formale Einheit,

ihre Proportionen sind stimmig, die Lichtwirkungangenehm. Die Leuchte blendet nicht, da der Schirmdas Leuchtmittel umschließt, aber auch selbstleuchtet.Damit aber nicht genug. Als nächsten Schritt veran-lasste Moholy-Nagy, dass Wagenfeld seine Leuchteals Materialvariante mit den auch von Carl Juckerverwendeten Glasteilen für Fuß und Schaft ausführte,wobei Wagenfeld das bei Jucker sichtbare Kabel inein Metallrohr verlegte (MT 9 und ME1). Doch trotzzahlreicher Modifizierungen blieb der bei Architektensehr beliebten Bauhaus-Leuchte der breite Erfolgdamals versagt. Zu teuer war die Herstellung, dietrotz industrieller Ästhetik nicht industriell, sondernüberwiegend handwerklich erfolgte, und zu unge-wohnt war das Erscheinungsbild.

Wechselnde HerstellerAb 1928 fertigten wechselnde Lizenznehmer dieLeuchte mit geringfügigen, ästhetisch aber häufiggewichtigen Veränderungen; 1930 schuf Wagenfeldselbst eine Formvariante der beiden Leuchten. Dieseit 1980 von der Bremer Firma Tecnolumen gemein-sam mit Wagenfeld überarbeitete Version von 1924entspricht bis auf minimale Änderungen – wie demDurchmesser der Fußplatte – dem ursprünglichen Ent-wurf. Gerade durch den Designboom der 1980er-Jahreentwickelte sich die Bauhaus-Leuchte zu einem dermodernen Klassiker, der paradigmatisch für die ge-samte Bauhaus-Ästhetik steht.

1900 am 15. April in Bremen geboren1914–18 Lehre im Zeichenbüro der

Bremer Silberwarenfabrik Koch &Bergfeld

1916–19 Besuch der Bremer Kunstge-werbeschule

1919–22 an der Zeichenakademie inHanau

1923 Beginn des Studiums am Bau-haus; Vorkurs bei Moholy-Nagy

1924 Gesellenprüfung als Silber-schmied in Weimar

1925–30 an der Bauhochschule in Wei-mar

1931–35 Professor an der StaatlichenKunsthochschule Grunewaldstra-ße in Berlin

1935 künstlerischer Leiter der Vereinig-ten Lausitzer Glaswerke

1942–45 Militärdienst1947–49 Professor für Industrielle

Formgestaltung an der Hochschu-le der Bildenden Künste Berlin

1949/50 Referent für IndustrielleFormgebung im Württembergi-schen Landesgewerbeamt

1950 Beginn der Zusammenabeit mitder WMF

1954–78 Werkstatt Wagenfeld1990 am 28. Mai in Stuttgart gestorben

1890 1895 1900 1905 1910 1915 1920 1920 1925 1930 1935 1940 1945 1950

Tischleuchte, 1924, Messing, vernickelt; Glas, Höhe 36,5 cm, Durch-messer 18 cm, Wilhelm Wagenfeld Stiftung, Bremen

1867–1959 Frank Lloyd Wright, amerikanischer Architekt

1887–1968 Marcel Duchamp, französischer Künstler1898–1967 René Magritte, belgischer Maler

76| 77

Wilhelm Wagenfeld, 1920er-Jahre

1900 Boxeraufstand in China

1900 in Paris wird die erste Métrolinie eröffnet

1903 Henry Ford gründet in Detroit,Michigan die Ford Motor Company 1914 Das Attentat auf das Thronfolgerpaar

Österreich-Ungarns wird zum Auslöserdes Ersten Weltkriegs

1922 Hermann Hesse veröffentlicht Siddharta1929 Am schwarzen Freitag fallen die Kurse

an der New Yorker Börse

1933 Adolf Hitler wird Führer und Reichskanzler

1944 Invasion der Alliierten in der Normandie (D-Day)

1947 Gründung der Gruppe 471918 Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson verkündet sein

14-Punkte-Programm zur Beendigung des Ersten Weltkrieges

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»ihre ausgeführten arbeiten und entwürfe können zu den besten bauhausarbeiten gerechnet werden; die meisten von derindustrie zur serienmässigen herstellung übernommenen modelle stammen von ihr.« – so großartig sich die Beurteilungvon Walter Gropius und László Moholy-Nagy liest, so schwer waren Marianne Brandts Anfänge am Bauhaus.

Marianne Brandt

Tee-Extraktkännchen

Als sie nach dem Vorkurs in die Metallwerkstätteeintrat, war sie zwar nicht der erste weibliche Lehr-ling dort, doch mit Freude wurde sie nicht geradeempfangen. Eine Frau gehöre nicht in die Metall-werkstatt, so hieß es. Man trug ihr überwiegendlangweilige und mühselige Arbeiten auf.Doch ihre ersten eigenen Entwürfe setzten allenVorurteilen ein abruptes Ende. Ganz im Sinne derPrinzipien des Bauhauses schlug sie bei denGebrauchsgeräten völlig neue Wege ein. Das Tee-Extraktkännchen ist ein Paradebeispieldafür. Wie bei einer Reihe gleichzeitiger Entwürfeleiten anstelle des herkömmlichen Standrings zweikreuzförmig angebrachte Stege von der Kugelwöl-bung zur Standfläche über. Ohne den Umriss derHalbkugel zu unterbrechen, betonen sie die Haupt-achse der Kanne und verleihen ihr zusätzlich einegewisse Schwerelosigkeit. Marianne Brandt halbier-te den Kugelkörper exakt in der Mitte, schloss dieOberseite in einer Ebene flach ab und versetzte dieflache zylindrische Einfüllöffnung mit dem flachenDeckel azentrisch zum halbmondförmigen Griff.In der Metallwerkstatt des Bauhauses entstandenmehrere Stücke dieses Modells, teils mit leichtenVariationen, teils in unterschiedlichen Materialien.Eine industrielle Serienproduktion wurde jedoch nieaufgenommen.

Monumentalität im KleinenSo klein dieses Kännchen von den Dimensionen herist, so monumental verkörpert es die Gestaltungs-grundsätze der Metallwerkstatt: Bei keinem anderenStück sind die Einzelformen so einfach gewählt, soklar gegeneinander abgesetzt, der Kontrast der ver-schiedenen Materialien so geschickt gewählt wie beidiesem Kännchen. Und was nahezu unglaublich ist:Marianne Brandt entwarf dieses großartige Tee-Extraktkännchen in ihrem ersten Lehrjahr. ImGegensatz zu manch anderen Studierenden, die, wieWilhelm Wagenfeld etwa, bereits eine abgeschlosse-ne Ausbildung als Silber- oder Goldschmied hintersich hatten, konnte Marianne Brandt diesbezüglich›nur‹ auf ein Studium der Malerei und Bildhauereizurückblicken.

1893 am 6. Oktober in Chemnitz gebo-ren

1911–1917 Studium der Malerei undPlastik an der GroßherzoglichSächsischen Hochschule für Bil-dende Kunst in Weimar

1917–23 eigenes Atelier in Weimar;freischaffende Künstlerin

1919 Heirat mit dem norwegischenMaler Erik Brandt

1923/24 im Wintersemester Beginndes Studiums am Bauhaus Wei-mar; Vorkurs bei Josef Albers undLászló Moholy-Nagy

1928 stellvertretende Leiterin derMetallwerkstatt

1928/29 Organisation der Zusammen-arbeit mit den Firmen Körting &Mathiesen AG (Kandem) undSchwintzer & Gräff

1929 am 10. September Bauhausdiplom1930–1932/33 Mitarbeit in der Metall-

warenfabrik Ruppelwerk GmbH inGotha

1933–1949 freie künstlerische Tätig-keit

1949 Dozentin an der StaatlichenHochschule für Werkkunst inDresden

1951–1954 an der Hochschule fürangewandte Kunst Berlin-Wei-ßensee

1983 am 18. Juni in Kirchberg/Sachsengestorben

1914 Beginn des Ersten Weltkriegs

1917 Oktoberrevolution inRussland

1890 1895 1900 1905 1910 1915 1920 1920 1925 1930 1935 1940 1945 1950

Tee-Extraktkännchen MT 49, 1924, Silber,Ebenholz, Höhe 7,3 cm, Bauhaus-Archiv,Berlin

1886–1966 Hans Arp, deutscher Künstler

1882–1963 George Braque, französischer Maler, Grafiker und Bildhauer

1887–1964 Alexander Archipenko, amerikanischer Bildhauer ukrainischer Herkunft

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Marianne Brandt, 1926

1901 Thomas Mann veröffentlichtBuddenbrooks

1903 Henry Ford gründet in Detroit,Michigan die Ford Motor Company

1909 Filippo Tommaso Marinetti publiziert seinFuturistisches Manifest

1912 Woodrow Wilson wird neuer Präsident der USA

1919 Der Friedensvertrag von Versailles beendigtoffiziell den Ersten Weltkrieg

1927 Charles Lindberg überquert den Atlantik in einem Nonstop-Flug

1931 Fertigstellung des höchsten Gebäudes der Erde, des Empire State Buildings

Tee-Extraktkännchen, Foto aus: Neue Arbeiten der Bauhauswerk-stätten (Bauhausbücher, Bd. 7), München 1925, Die Neue Sammlung,München

1945 Ende des Zweiten Weltkriegs

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Das kubisch-plastische Äußere der Meisterhäuser gehört zu den besten Leistungen von Walter Gropius im privatenWohnungsbau. Das Zusammenspiel von weißen Mauerscheiben und Wandöffnungen, gesteigert durch die dünnen Stahl-profile der Fenster, entwickelte Gropius ganz architektonisch aus dem Kubus und nicht aus der Fläche.

Walter Gropius

Meisterhäuser Dessau

1925 beschloss die Stadt Dessau, nicht nur den Neu-bau des Bauhauses zu finanzieren, sondern auch dieErrichtung eines Einzelhauses für den Direktor sowiedreier Doppelhäuser mit Atelierwohnungen für dieBauhausmeister. Innerhalb eines Jahres waren dieBauten fertig gestellt. Im August 1926 zogen WalterGropius, László Moholy-Nagy, Lyonel Feininger,Georg Muche, Oskar Schlemmer, Wassily Kandinskyund Paul Klee mit ihren Familien in die Häuser. Dieso genannten Jungmeister wie Marcel Breuer, JosefAlbers oder Hinnerk Scheper wurden bei der Verga-be dieser Häuser nicht berücksichtigt, was zu erheb-lichen Unstimmigkeiten und Streitereien innerhalbdes Bauhauses führte.

Der moderne Wohn- und LebensstilDie ausgesprochen großzügig konzipierten Meister-häuser sollten als Demonstrationsobjekte einesmodernen Lebens- und Wohnstils dienen. DieGrundrisse waren funktional gut durchdacht. Ein-bauschränke boten nicht nur genug Stauraum für dieDinge des täglichen – und nicht täglichen – Lebens,sondern bewirkten den Eindruck von offenen, jedochsehr nüchternen, kargen Räumen. Möbel, Einbautenund Leuchten kamen von den Bauhauswerkstätten,die Kunst von den Meistern selbst. Die reiche Farb-gebung wie auch die großen Atelier- und Treppen-fenster zählen zu den bemerkenswerten Details derMeisterhäuser.Gropius verschränkte drei Baukörper so miteinander,dass sich zwischen ihnen auf der Eingangsseite einVorplatz, auf der gegenüberliegenden, von der Straßeabgewandten Seite zwei geschützte Terrassen erga-ben. Die Höhe der einzelnen Gebäude ist rhythmischgestaffelt. Ein großes Fenster dominiert die Ein-gangsfassade. Es belichtet die beiden Ateliers desMitteltraktes. Die Grundrisse der Haushälften wer-den durch Drehung und Spiegelung um 90 Gradgebildet.Die Bauhausmeister bewohnten diese Häuser nurbis 1932. In der Zeit des Dritten Reiches wurden die

Architekturen zum Teil durch Umbauten und Ver-mauerungen erheblich entstellt. Zudem zerstörteeine Bombe das Einzelhaus und eine Hälfte desangrenzenden Doppelhauses. Inzwischen sind dieHäuser komplett saniert und gehören seit 1996 zumWeltkulturerbe der UNESCO.

1883 am 18. Mai in Berlin geboren1903–07 Studium an den Technischen

Hochschulen in München undBerlin

1908–10 Assistent bei Peter Behrens inBerlin

1910 Gründung eines eigenen Büros inBerlin

1911–13 Bau des Fagus-Werkes inAlfeld

1911–25 Zusammenarbeit mit AdolfMeyer

1916 Heirat mit Alma Schindler Mahler1919 Berufung an die Hochschule für

bildende Kunst in Weimar, Umbe-nennung der Schule in »Bauhaus«

1928 Rücktritt von der Leitung desBauhauses; eigenes Büro in Berlin

1934–37 Exil in England; Zusammenar-beit mit Maxwell Fry

1937 Berufung an die Universität Har-vard

1938 Organisation der AusstellungBauhaus 1919–1928 in New York

1938–41 Gemeinsames Büro mit Marcel Breuer

1946 Gründung des Büros The ArchitectsCollaborative

1965 Bau der Porzellanfabrik Rosenthalin Selb

1969 am 5. Juli in Boston gestorben

1890 1895 1900 1905 1910 1915 1920 1920 1925 1930 1935 1940 1945 1950

Haus Klee/Kandinsky, Dessau, 1925/26

1895–1983 Richard Buckminster, amerikanischer Architekt

1864–1946 Alfred Stieglitz, amerikanischer Fotograf

*1929 Frank Gehry, kanadisch-amerikanischer Architekt und Designer

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Walter Gropius, 1922

1901 Thomas Mann veröffentlicht Buddenbrooks

1903 Henry Ford gründet in Detroit, Michigan die Ford Motor Company

1905 3. Salon d’Automne in Paris: Es kommt zum Skandalum die Gemälde der als Fauves bezeichneten Künstler

1912 Die Titanic versinkt

1913 George Bernard Shaw: Pygmalion

1914–1918 Erster Weltkrieg

1918–1933 Weimarer Republik1919 Gründung der KPD

1928 Bertold Brecht: Dreigroschenoper

1933 Adolf Hitler wird Führer und Reichskanzler

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linke Seite:Haus Klee/Kandinsky, Dessau,Treppenhaus, 1925/26

unten:Haus Feininger, Dessau, 1926

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Während Lucia Moholy am Bauhaus eine der neuen Gestaltung gemäße Sachfotografie einführte, betrachtete LászlóMoholy-Nagy Fotografie eigentlich nie als formales Kunst-Mittel der Gestaltung, sondern primär als ein pädagogischesMittel des Ausdrucks und des Erlebens, auch des Erlebens von Architektur.

László Moholy-Nagy

Bauhausbalkone in Dessau

Die Berufung László Moholy-Nagys als Nachfolgervon Johannes Itten fand unter den übrigen Bauhaus-Meistern nicht uneingeschränkte Zustimmung. Fürmanchen wirkten die Vorstellungen des ungarischenKonstruktivisten sogar bedrohlich. So empfand eszumindest Lyonel Feininger: »Nur Optik. Mechanik,Außerbetriebstellen der alten statischen Malerei.«Es schien, als würde über Nacht die materiell-hand-werkliche Malerei durch immaterielle optische undtechnische Bildverfahren abgelöst werden.Durch Moholys Anregung entwickelte sich am Bau-haus die Fotografie in eine ganz spezifische Richtung.Dabei ging es in erster Linie um das aktive Verhält-nis des Menschen zum architektonischen Raum,zum gebauten und umbauten Raum. Dieses neueVerhältnis war auch der Grund dafür, immer wiederungesehene Perspektiven und Konstruktionen zusuchen. Was eignete sich besser dafür als dieDessauer Bauhaus-Architekturen? FaszinierendereMotive ließen sich kaum finden.

Dynamisches RaumkonzeptMit der Fotografie des Prellerhauses inszenierteMoholy-Nagy sein »dynamisches Raumkonzept« inAufsehen erregender Weise. Ein junges Mädchen,die Bauhausstudentin Lou Scheper, klettert bzw.balanciert waghalsig auf einem der Balkongeländer.Damit eröffnet Moholy-Nagy hier bildlich einen völligneuen Erlebniszusammenhang. Das mit den Archi-tekturen von Gropius einhergehende Konzept deraktiven Beherrschung des Raumes wird in subjektiv-dynamische Perspektiven übersetzt. Der ungewöhn-liche Ausschnitt, die steile Sicht an der Fassade desGebäudes hinauf, führt zu einer Auflösung der Archi-tektur in ein beinahe abstraktes Gebilde aus paralle-len Linien und Flächen. Moholy-Nagy stellt die Fotografie ganz in denDienst des »Neuen Sehens«. Im Entstehungsjahrdieses Fotos schreibt er: »... daß nicht die Absichtbesteht, aus der Photographie wieder im alten SinneKunst zu machen. Wir müssen unbedingt wieder auf

die tiefere Verantwortung des Fotografen hinarbei-ten, der mit den gegebenen fotographischen Mittelneine Arbeit leistet, die mit anderen in gleicher Weisenicht geschaffen werden kann. So besteht dasWesen der Photographie heute weniger darin, demindividuellen künstlerischen Ausdruck zu dienen alsvielmehr in ihrer pädagogischen Funktion.«

1895 am 20. Juli in Bácsborsód(Ungarn) geboren

1913 Jurastudium in Budapest1914–17 Militärdienst1919 Emigration nach Wien1920 Übersiedelung nach Berlin1922 Teilnahme am Konstruktivisten-

und Dadaistenkongress in Berlin1923 Berufung an das Bauhaus; Leiter

des Vorkurses und Formmeisterder Metallwerkstatt bis 1928.Beschäftigung mit Malerei, Typo-grafie, Fotografie und Film;Herausgeber der Bauhausbücher

1928–34 eigenes Atelier für Typografieund Ausstellungsgestaltung inBerlin

1934 Emigration nach Amsterdam1935/36 Arbeit als Grafikdesigner in

London; Dokumentarfilme undFotobücher

1937 Übersiedelung in die USA, Leiterdes New Bauhaus in Chicago

1946 am 24. November in Chicagogestorben

1890 1895 1900 1905 1910 1915 1920 1920 1925 1930 1935 1940 1945 1950

1921–1986 Joseph Beuys, deutscher Künstler

1892–1970 Richard Neutra, österreichisch-amerikanischer Architekt*1939 Richard Serra, amerikanischer Bildhauer

122| 123

linke Seite:Bauhausbalkone in Dessau, 1926, Fotografie, Vintage Print, Gelantine-silberabzug, kartonstark, glänzend, 38,3 x 29 cm, Bauhaus-Archiv

1900 in Paris wird die erste Métrolinie eröffnet

1900 Sigmund Freud veröffentlicht Die Traumdeutung

1905 Russische Revolution

1907 Pablo Picasso malt Les Demoiselles d’Avignon

1912 Woodrow Wilson wird neuer Präsident der USA

1919 Spartakusauf-stand in Berlin

1919 Der Friedensvertrag von Versaillesbeendigt offiziell den Ersten Weltkrieg

1920 Gründung der NSDAP1929 Erich Maria Remarque publiziert Im Westen nichts Neues

1939–1945 Zweiter Weltkrieg

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Zunächst für den Eigenbedarf entwickelt – das neu erbaute Bauhaus-Gebäude in Dessau musste mit Leuchten ausgestat-tet werden –, fand dieser Entwurf auch Anklang bei der Industrie. Somit erfüllte diese funktional überzeugende undästhetisch ansprechende Leuchte zugleich alle Forderungen des Bauhauses.

Marianne Brandt und Hans Przyrembel

Deckenleuchte

Mit dem Umzug des Bauhauses von Weimar nachDessau veränderten sich auch die Arbeitsmöglich-keiten der Metallwerkstatt grundsätzlich. Die tech-nische Ausrüstung, die in Weimar nur für eine Gold-und Silberschmiede geeignet war, wurde den neuenErfordernissen einer modernen Werkstätte fürMetallbearbeitung angepasst. Nun standen auch diedafür notwendigen Maschinen wie Drückbank, Dreh-bank oder Bohrmaschine zur Verfügung.Wurden in Weimar nur vereinzelt Beleuchtungskör-per hergestellt – etwa die berühmte Bauhauslampe –,so bildeten Entwurf und Produktion von Leuchten inDessau einen neuen Schwerpunkt der Metallwerk-statt. Der Grund dafür lag zunächst im Eigenbedarf.Das neue Werkstättengebäude von Gropius bedurfteder Beleuchtung. Alle Räume mussten mit neuenLeuchten ausgestattet werden, mit Leuchten, dieden unterschiedlichen Anforderungen für Kantine,Aula, Vestibül und den einzelnen Werkstätten ent-sprechen sollten.

Neue Leuchten für die WerkstättenFür die Werkstätten entstanden eine Reihe vonPendel- und Zugleuchten. Eines der aufwändigsten,aber auch bekanntesten Modelle ist diese Hänge-leuchte mit Zugvorrichtung von Marianne Brandtund Hans Przyrembel. Sie besteht aus einem annä-hernd halbkugelförmigen Reflektor mit nahtlosanschließendem Zylinder für die Fassung und einemintegrierten Drehschalter, dem zylindrischen Balda-chin und einem ebenfalls zylindrischen Gewicht, indem der Zugmechanismus untergebracht ist. Ein amReflektor montierter Bügel dient der Auf- bzw.Abwärtsbewegung der Lampe. 1979 schrieb Marianne Brandt dazu: »Diese Leuchte,die ich zusammen mit Hans Przyrembel gemachthabe, gab es auch mit breiterem Schirm, da ist sieansehnlicher, außerdem streut sie das Licht breiter.Zum Teil war auch eine kleine Schale unter derLichtquelle, damit es keine Blendung geben konnte.Den Leuten war damals Aluminium etwas Fatales,

wir haben die Schirme deshalb manchmal auch farb-gespritzt. Sie war für alles gedacht, für die Wohnstu-be, für Gaststätten, für die Werkstatt. Entstandenist sie später als die Opalglas-Kugelleuchte, da hat-ten wir schon Drehbank und Drückbank und Leute,die sie bedienen konnten.«Diese Leuchte gehörte zu den seriell produziertenProdukten des Bauhauses. 1926 stellte die Metall-werkstatt etliche Exemplare her, 1927 übernahm dieStuttgarter Firma Paul Stotz kurzfristig die Produkti-on, 1927/28 Schwintzer und Gräff in Berlin.

Hans Przyrembel1900 am 3. Oktober in Halle geboren1915 Schlosserlehre in Leipzig1918 Militärdienst1924 Beginn des Studiums am Bau-

haus; Vorkurs bei Moholy-Nagy1924–1927 in der Metallwerkstatt

tätig1926/27 Zusammenarbeit mit Marian-

ne Brandt bei der Gestaltung vonBeleuchtungskörpern

1928 Gesellenprüfung als Silber-schmied

1929 eigene Werkstatt in Leipzig1932 Meisterprüfung als Gold- und

Silberschmied1939–45 Militärdienst1945 gestorben in Gefangenschaft

Marianne Brandt (geb. Liebe)Biografie siehe S. 93

1890 1895 1900 1905 1910 1915 1920 1920 1925 1930 1935 1940 1945 1950

Deckenleuchte mit Zugvorrichtung, 1926,Messingblech, vernickelt, DurchmesserReflektor 29 cm

1879–1940 Paul Klee, deutscher Maler

*1949 Philippe Starck, französischer Designer

1898–1976 Alexander Calder, amerikanischer Bildhauer

124| 125

Deckenleuchte mit Zugvorrichtung, Messingblech, vernickelt, Durchmesser Reflektor 29 cm, Neuauflage von Tecnolumen

1902 Einweihung des Assuan-Staudamms

1906 Mit U1 läuft das erste deutsche U-Boot vom Stapel

1908 In Detroit läuft das erste Ford Modell T vom Band

1911 Eine Expedition um Roald Amundsen erreichtzum ersten Mal den geografischen Südpol

1914–1918 Erster Weltkrieg

1922 Albert Einstein erhält den Nobelpreis für Physik

1925 F. Scott Fitzgerald veröffentlicht Der große Gatsby

1929 Weltwirtschaftskrise

1939 Deutschland annektiert Österreich

1945 Ende des Zweiten Weltkriegs