Titel - DER SPIEGEL

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der spiegel 53/2004 65 Titel Putins Ground Zero Der Überfall islamistischer Terroristen auf eine Schule in Beslan war der brutalste Anschlag des Jahres – ein Akt der Barbarei allerdings, der im Westen schnell aus den Schlagzeilen verschwand. Bis heute leiden Tausende Osseten unter den Folgen der Geiselnahme, bis heute haben russische Stellen wenig zur Aufklärung beigetragen. Ein Team von SPIEGEL-Reportern recherchierte in Nordossetien, Inguschien und Tschetschenien die Hintergründe der Tat und der Täter. Geiselbergung nach der Erstürmung der Schule ANATOLY ZHDANOV / DPA

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Geiselbergung nach der Erstürmung der Schule

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Putins Ground ZeroDer Überfall islamistischer Terroristen auf eine Schule in Beslan war der brutalste

Anschlag des Jahres – ein Akt der Barbarei allerdings, der im Westen schnellaus den Schlagzeilen verschwand. Bis heute leiden Tausende Osseten unter den Folgen

der Geiselnahme, bis heute haben russische Stellen wenig zur Aufklärung beigetragen. Ein Team von SPIEGEL-Reportern recherchierte in Nordossetien,

Inguschien und Tschetschenien die Hintergründe der Tat und der Täter.

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Szene aus einem Video der Terroristen, aufgenommen in der Schulturnhalle von Beslan

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Am frühen Morgen des 1. Sep-tember machen sich in einemWaldstück auf den Sunschens-ker Höhen in Inguschien 31

Männer und 2 Frauen auf den Weg, denblutigsten Anschlag seit dem 11. September2001 zu begehen. Sie haben GranatwerferAGS-17 „Flamme“ bei sich, Stetschkin-Pis-tolen, Flammenwerfer vom Typ „Hum-mel“, Scharfschützengewehre, Maschinen-pistolen. Sie werden mit diesem Waffen-arsenal eine Schule überfallen. Die SchuleNummer eins von Beslan im benachbartenNordossetien.

Das Massaker, das sie dort anrichten,lässt sich annähernd in Zahlen bilanzieren,aber bis heute nur schwer fassen: Von den1251 Geiseln, die die Terroristen über Tagehinweg quälten, verloren nach bisherigenAngaben der Untersuchungskommission330 ihr Leben, darunter 176 Kinder, Erst-klässler, Säuglinge. Noch einmal 600 Men-schen, wiederum viele Kinder darunter,wurden verletzt. Und Beslan, ein ehedemidyllisches Städtchen unter der Silhouettedes Kaukasus-Hauptkamms, ist zu einemelenden Ort geworden, verurteilt, von nunan mit einem Trauma zu leben.

Wäre ein vergleichbares Verbrechen ineiner deutschen Kleinstadt, in einem fran-zösischen Dorf, in der amerikanischen Pro-vinz verübt worden, die Tat hätte monate-lang die Schlagzeilen der Welt beherrscht.Und die Behörden hätten unter dem Druckder Öffentlichkeit keine Wahl gehabt, alsminutiös zu ermitteln und schnellstmög-lich Ergebnisse zu präsentieren.

Nicht so in Russland. Nicht so im Kau-kasus. Schweigen und Verschweigen sindhier über die Jahrhunderte zum festen Be-stand der Kultur geworden, zu einemSchutzschirm vor den Zumutungen derFremdherrscher.

In der Region hängt alles mit allem zu-sammen, alle scheinen verbunden durchlange Freund- oder tiefe Feindschaften,und alle Wege sind kurz: Beslan im christ-lichen Nordossetien liegt nur 100 Kilometerentfernt von Grosny im muslimischen Tsche-tschenien, und zwischen beide schiebt sichnoch die kleine, gleichfalls islamische Re-publik Inguschien. Es sind dies Länder inMiniatur, die sich aufreihen, 1300 Kilome-ter südöstlich von Moskau. Hier, am Nord-rand der Berge, ist das alte Sowjetreich inScherben zerfallen, und das neue Russlandhat nicht die nötige Bindekraft entfaltet.

Im Gegenteil: Der Tschetschenien-Kriegdestabilisiert die Region und stärkt vieler-orts separatistische Bewegungen. In denWäldern und Bergen Tschetscheniens undInguschiens trainieren islamische Gottes-krieger. So ist der Terrorangriff auf Beslanauch ein Versuch, Nordossetien, christlichund seit Jahrhunderten moskautreu, in denKrieg am Kaukasus zu zwingen.

Russlands staatliche Stellen mauern, wasHintergründe und Interpretationen betrifft,die alte sowjetische Kunst der Desinfor-

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Russische Spezialeinheit bei der Erstürmung der Schule

Befreite Kinder

Leiche eines Schulkindes

Medizinische Versorgung

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einer befreiten Geisel

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mation blüht. Was aus Staatsanwaltschaft,Geheimdienst, Militär und Polizei an dieÖffentlichkeit drang, verrät vor allem dasBemühen, eigenes Versagen zu bemänteln.

Die Versäumnisse sind eklatant. Das rui-nierte Gebäude der Schule Nummer einsist zu keinem Zeitpunkt nach den Regelnpolizeilicher Ermittlung als Tatort unter-sucht worden. Noch nicht einmal der Her-gang der Geiselnahme ist von offiziellerSeite bislang ausreichend geklärt, ganz zuschweigen vom katastrophalen Ende, zudem die russischen Staatsorgane mangelsprofessioneller Arbeit das Ihre beitrugen.

Außerdem, so haben es die Recherchendes SPIEGEL ergeben, hätte die Tat vonBeslan möglicherweise verhindert werdenkönnen. Viele Geiselnehmer, voran die An-führer, waren zum Teil seit Jahren gesuch-te Verbrecher, blieben aber von der Polizeiunbehelligt, obwohl sie in ihren Heimat-dörfern ein- und ausgingen.

Andere Täter waren vor Beslan zwarverhaftet, aber aus dunklen Gründen wie-der freigelassen worden. Auch in den Wo-chen unmittelbar vor dem Überfall, als sichdie Attentäter in einem Waldstück in In-guschien vorbereiteten, hätte die Polizeivielfach aktiv werden können – aber nichtsgeschah. Und wie will man das Versagen je-ner Grenzposten benennen, die die Mör-derbande am ersten Schultag ohne Kon-trolle nach Nordossetien ließen?

Der SPIEGEL hat die Tragödie von Bes-lan mitsamt ihrer Vorgeschichte zu rekon-struieren versucht. Dem Protokoll zugrun-de liegen Gespräche mit geretteten Gei-seln, Beslaner Bürgern, Verwandten derTerroristen, Mitarbeitern der Sicherheits-kräfte, Mitgliedern des Krisenstabs und po-litisch Verantwortlichen.

Entstanden ist eine Chronologie derBluttat von Beslan. Sie erzählt, was in je-nen ersten September-Tagen am Nordranddes Kaukasus geschah, in einer Region, diezu den akuten Krisengebieten der Weltgezählt werden muss.

TAG EINS, 1. SEPTEMBER

Churikau, nahe der Grenze zu Inguschien, 6 Uhr

Sultan Guraschew dient seit 23 Jahren undsieben Monaten als Polizeiinspektor in sei-nem Geburtsort Churikau. Der untersetz-te Major mit Schnurrbart ist Vater von achtKindern und posiert auf Familienfotos stolzmit Pelzmütze wie ein kaukasischer Patri-arch des 19. Jahrhunderts. Er gilt als Re-spektsperson im Dorf.

Churikau ist ein unwirtlicher Außenpos-ten der russischen Staatsmacht. 1300 Ein-wohner, kein Wasser, kein Gas, keine tele-fonische Verbindung zur Welt. Das mehr-heitlich muslimische Dorf steckt „wie derDorn im Auge“, so sagen sie hier, im christ-lichen Nordossetien, an dessen schmalster

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Trauernde in der zerstörten Schulturnhalle

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Stelle. Im Osten, hinter dem Wald, liegtInguschien, im Nordosten Tschetschenien.

Ins 30 Kilometer entfernte Beslan führtseit 1992 keine Straße mehr, die diesen Na-men verdienen würde. 1992 war das Jahrdes Sechs-Wochen-Krieges zwischen Osse-ten und Inguschen, der fast 500 Tote for-derte. Seither stehen die Inguschen vonChurikau bei ihren ossetischen Mitbürgernunter Generalverdacht. Major Guraschewmuss auf der Hut sein. Er ist der einzige Polizist im Dorf.

Wie jeden Morgen steht er auch am 1. September 2004 um kurz vor sechs Uhrauf, versorgt Haus und Tiere und machtsich dann gegen sieben auf den Weg. In ei-nem weißen Lada-2107 fährt der Polizistlos. Sein erstes Ziel ist, wie immer, der Hü-gel am Rand von Churikau. Nur hier hatdas Mobiltelefon Empfang. Nur von hieraus kann der Major seine Vorgesetzten inder Kreisstadt Mosdok erreichen, mit dertäglichen Meldung zum Dienst.

Gegen 7.10 Uhr sieht Guraschew vonseinem Aussichtspunkt einen schwerbela-denen Lastwagen Marke GAS-66 heran-fahren. Er trägt die Aufschrift „Staatsan-waltschaft Russland“. Guraschew kennt imUmkreis seines Heimatdorfs jedes Fahr-zeug. Diesen Laster kennt er nicht.

Beslan, Komintern-Straße, 7.15 Uhr

Trüb und warm geht der September aufüber dem Nordkaukasus, Tag des Schul-anfangs, „Tag des Wissens“ in Russland,der Ernst des Lebens holt die Kinder ein,sagt man, auch in Beslan machen sie dar-aus von jeher ein Fest. Die sieben Schulender kleinen Stadt stehen aufgeputzt, dieHausmeister schließen an Toren undTüren. Es ist still auf den Fluren, still inKlassenzimmern, Werkräumen, Turnhal-len. Noch eine gute Stunde lang wird tie-fer Frieden sein.

Auch Beslans Schule Nummer eins liegtstill an der Komintern-Straße, ein wuchti-ger Gebäuderiegel, der sich wie ein großes,stumpfes E in den Stadtplan schreibt. In al-len Ecken der Stadt beginnt um dieseStunde eine Sternwanderung hierher: DieNummer eins ist eine große Schule, 890Kinder, 59 Lehrer, sie ist die beste Schuleweit und breit, sogar Familien aus derHauptstadt Wladikawkas schicken ihreKinder her.

Mit guten, strengen Lehrern, wie Saur-bek Gutijew einer war, mehr als 30 Jahrelang, Geschichte und Staatsbürgerkunde,auch er macht sich fein für den erstenSchultag, für seinen Auftritt als Ehrengast.Auf unsicheren Beinen geht er durch seinniedriges Ziegelhaus, das vom Schulgelän-de nur 20 Schritte, drei Häuser entferntsteht. Er hat es nicht weit, er hat noch vielZeit, er brummt vergnügt, er bestückt sei-nen guten Anzug.

Aus einem karierten, weichen Tuchwickelt er Orden und Medaillen. Er steckt

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KaspischesMeer

100 kmR U S S L A N D

AdygienKaratschai-Tscherkessien

KalmükienRegionKrasnodar

Tscherkessk

Abchasien

Südossetien

SchwarzesMeer

Nordossetien TÜRKEI

IRAN

Kabardino-Balkarien

GEORGIEN

ASERBAIDSCHAN

Dagestan

Inguschien

ARME-NIEN

Region Stawropol

Baku

Grosny

Tiflis

Eriwan

Machatschkala

Berg-Karabach(armenische Enklave)

Tschetschenien

WladikawkasWladikawkas

NasranNaltschik

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die Nadeln in den Stoff. Zwei rote Sowjet-sterne. Zwei Orden für die Teilnahme amGroßen Vaterländischen Krieg. Abzeichenfür die Befreiung Warschaus. Abzeichenfür den Schuss ins rechte Bein in Stalin-grad. Abzeichen für den Schuss ins linkeBein bei Torgau an der Elbe. 4 Orden und18 Abzeichen steckt Saurbek Charitono-witsch Gutijew, 84 Jahre alt, in den dun-kelblauen Stoff des aufgebügelten Jacketts.Er kennt die Schrecken des Krieges.

160 Tage und 160 Nächte hat er in Sta-lingrad ausgehalten. Keine 30 Meter stander entfernt, als der deutsche Generalfeld-marschall Friedrich Paulus und seine Stabs-offiziere von der Roten Armee abgeführtwurden. Er hat, in Stalingrad, um einenHügel gekämpft, immer wieder um den-selben Hügel, den sie achtmal erobertenund achtmal verloren, ehe sie ihn zumneunten Mal gewannen und endlich haltenkonnten. Und er war dabei im April 1945,als sich Amerikaner und Russen an derElbe trafen.

Saurbek Gutijew kennt die Schreckendes Krieges. Er glaubt, dass kein Abgrundtiefer sein kann als Stalingrad, keine Zeit-spanne länger als jene 160 Tage und 160Nächte, die er dort erlebte, überlebte.

Churikau, 7.20 Uhr

Major Sultan Guraschew, der Dorfpolizist,bedeutet dem fremden GAS-66-Laster an-zuhalten. Der Polizist hebt den linken Arm.Aber der GAS weicht aus. Guraschewnimmt die Verfolgung auf. Er fährt mit sei-nem weißen Lada hinterher und gibt mitder Lichthupe Zeichen. Einmal, zweimal.Der Laster wird langsamer. Endlich hält eran. Als beide Wagen stehen, springen Männer in Camouflage-Uniformen undschwarzen Masken aus dem Laster.

Sie überwältigen den völlig überraschtenGuraschew. Sie rufen auf Russisch „Legdich hin“. Seine Arme werden auf denRücken gedreht, im Genick hat er einenGewehrlauf. Sie nehmen ihm seine Dienst-waffe, eine PMM-12, ab. Dann findet ersich auf dem Rücksitz seines Lada wieder,eingeklemmt zwischen zwei Bewaffneten.Sie drücken ihm den Kopf nach unten undfahren los. Guraschew versucht, die Rich-tung zu bestimmen. Er denkt, dass es nachSüden geht, Richtung Wladikawkas, derHauptstadt von Nordossetien.

Nach einer Weile schert der Konvoischarf nach rechts aus und nähert sich übereine Schotterstraße dem ossetischen Ko-sakendorf Stary Batakojurt. Vier Polizei-posten gibt es rund um das Dorf, der zen-trale liegt am Ortsausgang, mit Schlagbaumund Kontrollturm im nackten Hügelland.Der Blick reicht in die ossetische Ebenehinein. Die Sichtweite an diesem Tag be-trägt 20 Kilometer. Unkontrolliert kommthier kaum einer durch, unbemerkt keiner.

Normalerweise genügt eine Hand vollRubel, um die Kontrollen an der Kante

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zwischen dem ossetischen Hügel- und demFlachland zu überwinden.

Beslan liegt dann plötzlich vor derdicken Schnauze des GAS-66-Lasters, of-fen und schutzlos wie ein Zielobjekt imFadenkreuz.

Psedach, Inguschien, ein Waldstück nahe der Grenze

Die Terroristen haben nicht viel zurück-gelassen, im Wald südöstlich des Grenz-dorfs Psedach, wo sie sich zusammenge-funden haben vor der Abfahrt. Psedach istein Dorf im toten Winkel Inguschiens. Be-scheidene Ziegelhäuser hinter hohen Mau-ern und Zäunen, bucklige Staubpfade rundum die Moschee. Im verfallenden Kultur-palast aus sowjetischer Zeit leben Flücht-linge aus Tschetschenien.

Die Gegend hier oben, im Bezirk Malgo-bek, ist als Schmugglerschneise und Durch-zugsgebiet der Bojewiki bekannt, der tsche-tschenischen Krieger. Sogar die örtlichePolizei rät, diese Region mit Waffen zu be-reisen. In Psedach versieht ein einziger In-spektor regelmäßig Dienst. Wenn die Nachthereinbricht, verlässt auch er den Ort.

Im Wald südöstlich des Dorfs hatten sichseit dem 20. August die Männer und Frau-en gesammelt, die später in Beslan einfie-len. Die Terroristen waren spartanisch aus-gerüstet und mit dem Leben in Wäldernvertraut. Dünne schwarze Schlafsäcke undPlanen aus Polyäthylen gehörten zur Aus-rüstung. Mit Stangen und Zweigen errich-teten sie Gerüste für ihre Nachtlager.

Einige von ihnen sind Inguschen undlebten mehrere Monate im Untergrund ihrer Heimatrepublik. Andere sind Tsche-tschenen, die in Inguschien, bei den eth-nisch verwandten wainachischen Brüdern,Unterschlupf gefunden hatten.

Ein Teil der Terroristen ist direkt ausTschetschenien eingesickert, das im BezirkMalgobek an Inguschien grenzt.

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Die Geiselnehmer haben sich rekrutiertaus der Märtyrerbrigade „Rijad al-Salihin“,das heißt: Garten der Frommen. Die Bri-gade ist erstmals während der Geiselnah-me im Moskauer Musical-Theater „Nord-Ost“ in Erscheinung getreten, wo im Oktober 2002 nach einem Sturm durch russische Spezialeinheiten 130 Geiseln star-ben. Zum Emir der Märtyrerbrigade hatsich der fußamputierte tschetschenischeFeldkommandeur Schamil Bassajew aus-gerufen.

Zwölf Tschetschenen und zwei Tsche-tscheninnen habe er für Beslan persönlichausgewählt, wird Bassajew später sagen,dazu neun Inguschen, drei Russen, zweiAraber, zwei Osseten und je einen Tataren,Kabardiner und Guraner. Manche Betei-ligten stießen erst in letzter Minute zumTrupp, viele kannten sich von früherenEinsätzen. Ein beträchtlicher Teil der Täterstammt aus dem Noschai-Jurt-Distrikt imOsten Tschetscheniens, dem StammlandBassajews.

Bassajew, Russlands Staatsfeind Num-mer eins, Veteran des „Gasawat“, destschetschenischen Heiligen Krieges, undoberster Gastgeber der nach Tsche-tschenien einsickernden Wahhabiten, istder Letzte aus der Garde von Feldkom-mandeuren der ersten Stunde. Um sichsammelt er jene, die aus Wut und Ver-zweiflung über das, was sie als russischeGewaltherrschaft verstehen, beschlossenhaben, ihr Leben zu opfern: Männer imFeld der Ehre, Frauen mit dem Spreng-stoffgürtel.

Die Anwerbung Freiwilliger in abgele-genen Waldgebieten und in Bergdörfernhat schon im Dezember 2003 begonnen.Der Kopf der Aktion, Kampfname Hassan,hat über ein Netzwerk von Lockvögeln inInguschien Geld an Terroristen in spe ver-teilt. Er sagte, er sei Schamil Bassajew un-terstellt. Die Lager, in denen Anwerbungendurchgeführt wurden, waren zumeist

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Tschetschenischer Feldkommandeur BassajewVon Terroristen benutzter Weg aus Inguschien nach Beslan

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Flüchtlingscamps wie die stillgelegte Milch-fabrik bei Karabulak nahe dem inguschi-schen Nasran. Eines der insgesamt dreiCamps soll sogar zur Ausbildung vonSelbstmordattentätern dienen.

Auch arabische Ausbilder werden dortbezeugt. Grenzposten am Zentralen Kon-trollpunkt in Inguschien in RichtungTschetschenien geben zu Protokoll, dasssich Bürger nahöstlicher Herkunft, sobaldsie angehalten würden, umgehend perHandy bei Beamten des Innenministeri-ums in Inguschien beschwerten. Von dortkomme dann Anweisung, die Fremden pas-sieren zu lassen. Ohne die Helfershelfer imStaatsdienst, von höchsten Rängen abwärtsbis zum Straßenpolizisten, hätten die Gei-selnehmer von Beslan nicht einmal dasSchulgebäude erreicht.

31 Männer, 2 Frauen. Mit dabei sind Be-rufsterroristen, im Guerillakampf gestählt,aber auch Anfänger, Hilfsarbeiter des Ter-rors, schmächtige junge Burschen, frischrekrutiert. Sie haben drei Fahrzeuge vor-bereitet für die Aktion in Beslan: einenJeep der Marke UAS, einen weißen, fünf-sitzigen Lada-2110 und den GAS-66, einenArmeelaster, grün, geländegängig, bullig.Er trägt die alten sowjetischen Nummern-schilder A8130SE.

Der Laster gehört Mussa Zetschojew, ei-nem der Männer, die für den Anschlag aus-gewählt sind. Zetschojew, 1998 vorüberge-hend in Haft wegen Menschenraubs, 2004schon als Terrorist gesucht, hat sich nocham 23. Juli eine Schießerei mit Polizistenvor seinem Haus geliefert und ist entkom-men. Wenig später stieß er dann zu denWartenden im Wald, unter denen sich seinVerwandter Bei-Ala Zetschojew befand,auch er aus dem Dorf Sagopschi.

Seit sechs Uhr morgens sind sie unter-wegs an diesem 1. September. An Bord desLastwagens, gestapelt, Granatwerfer, Pis-tolen, Flammenwerfer, Scharfschützenge-wehre, Maschinenpistolen. Der Himmel ist

zu diesem Zeitpunkt bewölkt, die Luft 17Grad Celsius warm, die Piste trocken.

Beslan, Plijew-Straße, 8.40 Uhr

Fatima Alikowa betritt die Redaktion derBeslaner Lokalzeitung „Das Leben amrechten Ufer“. Ihre Mutter, Elsa Baskaje-wa, ist die Chefredakteurin des Blattes, dasdreimal pro Woche unter dem Dach derStadtverwaltung erscheint, die Optik kargund spätsowjetisch, die Fotos zeigen Be-zirksfürsten, Mähdrescher und verdienteWerktätige.

Fatima arbeitet als Fotografin für die Zei-tung und soll an diesem Morgen ein Bildvom ersten Schultag an der Nummer einsmachen. Es ist ein Pflichttermin.

Ihre Mutter sitzt um diese Zeit schonhinter ihrem Schreibtisch im Kunstleder-sessel und fliegt über die Druckfahnen derAusgabe vom 2. September. Der Redak-tionsschluss der Zeitung liegt früh, dasmacht Aktualität schwer.

Auf den ersten Schultag aber ist man gutvorbereitet. Auf der Titelseite der aktuel-len Ausgabe wird ein Aufsatz den erstenSchultag würdigen. Aslan, ein Elftklässlervon der Schule Nummer eins, hat ihn ge-schrieben, unter der Überschrift „Im Mär-chenland des Wissens“.

„Bald kommt der 1. September – derTag des Wissens!“, beginnt der Text. „Diekleinen Schulanfänger haben mit großerUngeduld auf diesen wichtigen Tag ihresLebens gewartet. Sie wollen erfahren, wiedie Schule in Wirklichkeit ist und ob siesich von einem Kindergarten unterschei-det. Ist die Schule wirklich das Märchen-land des Wissens? Und helfen die Lehrerihnen, sich in diesem Märchenland zu-rechtzufinden? Der Tag, an dem sie daraufdie Antworten bekommen, ist nah.“

Der Chefredakteurin hat besonders dasEnde des Aufsatzes gefallen: „Die ersteKlingel ertönt. Und von diesem Moment an

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sind sie nicht mehr die Kleinen, die sie gestern noch waren.“ Diese Zeilen werdenin einer Auflage von 8336 Exemplaren er-scheinen. Das ist der Plan. Routine. Bas-kajewa gibt die Seiten frei.

Fatima nimmt ihre Kamera aus demSchrank, eine Yashica mit einem neuenBlitzgerät der Marke Metz, und verlässtwortlos das Büro. Die Schule liegt nur 200 Meter Luftlinie von der Redaktion ent-fernt. Um neun Uhr soll der Appell begin-nen, und Pünktlichkeit ist eine der Tugen-den, auf die an der Schule Nummer einsWert gelegt wird. Fatima soll den Momentfotografieren, in dem der älteste Schülerdie jüngste Schülerin auf seine Schulternsetzt und diese mit einem goldenenGlöckchen das neue Schuljahr einläutet.Es ist eine Tradition, die an den SchulenNordossetiens mit großem Pathos zele-briert wird.

Fatima trägt an diesem Morgen einschwarzes Kleid mit kurzen Ärmeln, zweigrauen Streifen, die diagonal über die Brustlaufen, und einem Schlitz auf der rechtenSeite. Es ist kein außergewöhnliches Kleid,aber es hat ihr bei Prüfungen in ihrem Le-ben oft Glück gebracht. Zuletzt trug sie esbeim Staatsexamen, als sie ihre Abschluss-arbeit über den ossetischen SchriftstellerKosta Farnion vor der Prüfungskommis-sion verteidigen musste. An Fatimas Halshängt ein rotes Handy, ein Geburtstags-geschenk ihrer Mutter. Sie hat erst am 13. September Geburtstag, aber Fatimawünschte sich das Handy so sehr, dass dieMutter ihr das Geschenk vorzeitig gab.

Fatima hat in diesem Sommer ein Buchüber den Philosophen Seneca gelesen, undseitdem wirkt sie verändert, so sehr, dasssich die Mutter Sorgen macht. SenecasThema war der Tod, und auch Fatima be-schäftigt sich jetzt mit den existentiellenFragen des Lebens. Sie wirkt melancho-lisch und fern, sie hat kaum Appetit undisst nur dunkles Brot.

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Ex-Geisel Major Guraschew

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Ex-Geisel Gutijew

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Als Fotografin für die Zeitung arbeitetsie seit fünf Jahren. Sie hat die Zeremoniean der Schule Nummer eins auch im ver-gangenen Jahr fotografiert. Die Wiederho-lungen im Leben einer Lokalfotografin be-ginnen sie zu ermüden. Sie mag die Schu-le nicht, sie spürt dort eine Strenge, eineEnge des Geistes, die ihr widerstrebt.

Beslan, Komintern-Straße, 8.50 Uhr

Saurbek Gutijew, der pensionierte Lehrerund Stalingrad-Held, tritt mit allen Ordenan der Jacke vor sein Haus, er hat es vor57 Jahren mit eigenen Händen erbaut, einkleines Anwesen um zwei schöne Innen-höfe, in denen Blumenkübel stehen untereinem Dach aus Weinlaub, vor der Tür liegtdie Komintern-Straße wie ein breiter Feld-weg, unbefestigt, staubig. Gutijew wendetsich nach rechts, zur Schule hin, die Häu-ser entlang läuft ein breiter Streifen Grün,bestanden mit Nussbäumen und Kas-tanien, Gänse gehen spazieren, Hühnerpicken. Links von Gutijew, der sich aufwackeligen Beinen in Bewegung setzt wieeine Marionette, zieht sich der großeDamm der Moskauer Bahnstrecke parallelzur Straße hin, er zerschneidet die Stadt ineinen östlichen und einen westlichen Teil.

Der Fernzug Moskau–Wladikawkas, da-zu zwei-, dreimal am Tag ein Güterzug,viel mehr Schienenverkehr ist nicht zu ver-melden aus Beslan, 35000 Einwohner, dieStadt ist ein kaukasisches Idyll. Auf derKomintern-Straße fahren und gehen ge-putzte Familien im Sonntagsstaat RichtungSchule Nummer eins, Luftballons in Hän-den, Schleifen im Haar, Lachen im Gesicht.

Ein Glück, dass ich es nicht so weit habe,denkt Saurbek Gutijew, nach 20 Schrittenbeginnt zu seiner Rechten das Schulgelän-de. Das Gebäude zeigt der Komintern-Straße seine längste Front, eine einstöcki-ge Fassade von 70 Meter Länge, dahinterauf jedem Stock neun Klassenzimmer undan der südöstlichen Ecke unten der Spei-sesaal, oben die Aula. Die Turnhalle istvon hier nicht zu sehen.

Blassblaue Gitter hegen die Schule ein,Saurbek Gutijew geht an ihnen entlangund trifft alte Bekannte, alte Kollegen, ehe-malige Schüler, viele kennen ihn, eigentlichalle, er wird gerufen: „Saurbek Charito-nowitsch! Wie schön! Wie geht’s? Was ma-chen die Beine?“ Der Alte winkt zurück,singt ein paar Floskeln mit hoher, dünnerStimme, er trifft, zum letzten Mal, denWerkkundelehrer Alexander Michailow, ergrüßt, zum letzten Mal, die HausmeisterinBalikojewa, er winkt, zum letzten Mal, demalten Schuldirektor Tarkan Sabanow, 89Jahre. Er begegnet Bekannten, vielen,ohne es zu wissen, zum allerletzten Mal.

Beslan, Spannbrücke, 8.55 Uhr

Der kleine Konvoi mit dem GAS-66-Lastererreicht den Ortseingang von Beslan, die

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Spannbrücke, die den EisenbahnstrangBeslan–Nasran überwölbt. Wenig späterbiegt der Konvoi rechts ab. So merkt es sich Major Sultan Guraschew,die erste Geisel dieses Tages, er sitzt imFond zwischen zwei Terroristen. Er hebtvorsichtig den Kopf. Er sieht ein typischkaukasisches Ziegelhaus rechts und Bahn-schienen links. Beslan. Die Komintern-Straße. Er sieht Autos und Kinder. VieleKinder.

Schule Nummer eins, Hof, 9.08 Uhr

Fatima, die Fotografin der Lokalzeitung,hat ihre Kamera angesetzt. Die Erstklässlerstehen vor ihr entlang einer weißen Liniezum Appell. Sie stehen in zwei Reihen,Jungen und Mädchen halten sich an denHänden. Der älteste Schüler hat die jüngs-te Schülerin auf seine Schultern gehoben,Fatima hat das Paar mit der Sonne imRücken, weiches Licht, sie schaut in denSucher. Aber darin bewegt sich jetzt etwasFremdes. Tarnuniformen. Schüsse. Fatimasetzt die Kamera ab. Sie versteht, dass et-was geschieht, aber nicht, was es bedeutet.

Sie duckt sich und rennt zum Portal. Siestolpert die vier Stufen hoch, biegt links insTreppenhaus, läuft hinauf, 25 Stufen, dannins Lehrerzimmer, vorbei an der Tafel ne-ben der Tür mit dem Ehrenkodex derSchule: „Nichts ist so schwer zu erwerbenund so leicht zu verlieren wie Würde, unddenke immer an die Worte Puschkins: DieSelbständigkeit des Menschen ist das Un-terpfand seiner Größe.“

Im Lehrerzimmer hört Fatima jeman-den schreien: „Ruft die Polizei!“, es kommtihr lächerlich vor, sie läuft in die linke hin-tere Ecke des Zimmers, wo eine Tür zu ei-ner Abstellkammer führt. Die Kammermisst zwei mal zwei Meter, keine Fenster.Fatima hockt sich links hinter der Tür aufden Boden, sie legt ihre Kamera und ihrenNotizblock vorsichtig in die Ecke. Nebenihr weint eine Frau, die in der Panik ihrenEnkel verloren hat. Sie schließen die Türund verharren in der Dunkelheit.

Schule Nummer eins, Hof, 9.15 Uhr

Larissa Mamitowa hat 17 Stunden Nacht-schicht als Notärztin auf dem Krankenwa-gen hinter sich, es war eine ruhige Nacht,sie hat keinen Patienten verloren, aber nunsteht sie mit ihrem 13-jährigen Sohn Ta-merlan mitten im Feuer. Sie sieht Männerin Tarnuniformen durch das Tor an derKomintern-Straße auf den Schulhof stür-men, zehn etwa. Die meisten sind mitschwarzen Wollmützen maskiert, die Un-maskierten haben Bärte.

Sie schießen mit Maschinenpistolen indie Luft, sie drängen die Menschen zu-sammen, in die auf dem Schulhof versam-melte Festgesellschaft ist panisches Tempogefahren, die Familien, die Kinder, die Leh-rer, alles rennt, will sich retten, flüchtet,

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und über den langen Schulflur, durch Tü-ren und Tore geht es hinein in die Schule,zur Turnhalle hin, gestoßen, angeschrienvon diesen Angreifern aus dem Nichts.

Mamitowa nimmt ihren Sohn an dieHand und läuft mit ihm in Richtung Turn-halle. Auf dem langen Korridor des Haupt-gebäudes hat sich eine Reihe von Geisel-nehmern postiert und den Weg zum hin-teren Teil des Gebäudes abgeschnitten. Sieschießen immerzu in die Decke, dann rich-ten sie die Gewehre auf Geiseln und herr-schen sie an, in die Turnhalle zu gehen.

Mamitowa und ihr Sohn stolpern durchden Korridor in die Halle. Dort stehen Ter-roristen in einer Reihe vor der Fenster-front, auch sie schießen immer wieder mitMaschinenpistolen in die Decke. Sie schrei-en die Geiseln an, sich auf den Boden zusetzen und still zu sein. Einige der Terroris-ten beginnen sofort, in der Halle Spreng-ladungen zu installieren. Sie spannen Dräh-te zwischen den Basketballkörben und be-festigen Sprengstoffpakete daran, die mitbraunem Klebeband umwickelt sind. Siezwingen ältere Schüler, ihnen zu helfen.Auf dem Boden müssen die Geiseln einenKorridor freihalten. Auch dort legen dieTerroristen verkabelte Bomben aus.

Schule Nummer eins, Lehrerzimmer, 9.45 Uhr

In der Dunkelheit der Abstellkammerleuchtet Fatimas Handy. Sie klappt es aufund hört die Stimme ihrer Mutter. Sie hat,in der nahen Redaktion, die Schüssegehört.

„Was ist los?“, fragt die Mutter.„Sie schießen auf dem Schulhof!“,

schreit Fatima.„Du musst fortlaufen!“„Unmöglich!“„Wo bist du?“„Im Obergeschoss.“„Versteck dich und bleib vom Fenster

weg!“Die Verbindung wird unterbrochen.

Mutter und Tochter versuchen verzweifelt,sich gegenseitig anzurufen, doch sie be-kommen keine Verbindung. Dann stößt einGeiselnehmer die Tür zur Abstellkammerauf, und Fatima lässt ihr Handy fallen. DerTerrorist ist maskiert, er richtet das Ge-wehr auf Fatima und sagt, sie solle hinun-ter in die Turnhalle gehen.

Sie läuft die Treppe hinunter, 25 Stufen,dann über den Korridor des Hauptgebäu-des. Kurz vor dem Verbindungsgang zurTurnhalle muss sie stoppen.

Auf dem Korridor drängeln sich so viele Menschen, dass sie an die Wand ge-presst wird. Die Geiselnehmer schießen indie Decke, immer wieder, und der Putz reg-net auf die Geiseln. Neben Fatima weint ein Erstklässler, der seine Eltern verlorenhat. Sie nimmt ihn an die Hand und zieht ihn in die Turnhalle, dort verliert sie ihnwieder.

Schule Nummer eins, Turnhalle, 9.55 Uhr

Saurbek Gutijew, der Stalingrad-Kämpfer,ist im vorderen Teil der Halle zum Sitzengekommen. Er hockt in der größeren derbeiden Gruppen, zwischen ihnen eine Gas-se, in der sie seit einer halben StundeSprengfallen montieren, Bomben verka-beln, mit Isolierband hantieren. Es gehtdabei nüchtern zu, als wären lange anste-hende Handwerksarbeiten zu erledigen.

Alle Kabel laufen an einer Stelle amEnde der Halle zusammen, zu einem Tritt-schalter wie bei einer Nähmaschine. Andiesem Schalter ist ununterbrochen einGeiselnehmer postiert. Er sieht aus, alskönnte er das gesamte Sprengarsenal inder Halle zünden.

Gutijew glaubt, dass diese Leute ihn er-schießen werden, wenn sie seine Ordenund Abzeichen sehen. Also hat er das lin-ke Revers seiner Anzugjacke über demHerzen zurückgeschlagen, so dass Span-gen und Medaillen nicht mehr zu sehensind. Er sitzt da mit seiner eigentümlichverdrehten Jacke. Er versteckt sein Leben.Er kommt sich sehr schäbig vor.

Er denkt an Möglichkeiten der Rettung.Eigentlich erwartet er jeden Moment eineAktion der Polizei, einen Sturm durch dasMilitär, ein schnelles, gutes Ende, noch ehealles richtig beginnt. Denn jetzt, in diesenMinuten, in den ersten zwei Stunden, dadie Terroristen damit beschäftigt sind, ihrRegime zu etablieren, da sie noch nicht aufPosten sind, da alles noch offen scheint,jetzt, denkt Saurbek Gutijew, gibt es eineChance, der Sache schnell ein Ende zu ma-chen. Aber es erfolgt kein Sturm.

Es folgen Befehle der Geiselnehmer.„Tretet nicht auf die Drähte! Werft eureTaschen und Telefone weg! Wer noch einFunktelefon hat, wird erschossen!“ Guti-jew zählt nicht die Sprengsätze im Raum.Aber fünf der Bomben fallen ihm auf, weilsie besonders groß sind, ungefähr wie Reisekoffer. Mit klirrenden Schlägen zer-brechen die Geiselnehmer das Glas derFenster oder schießen hinein.

Um Gutijew herum lagern Mütter undGroßmütter, Kinder, niemand dabei, den erbesonders gut kennt, bekannte Gesichter,aber keine Namen dazu, die Bilder depri-mieren ihn; die Mütter mit den weinendenKindern; die alten Frauen mit ihren En-keln im Schoß; die Erstklässler, verängstigt,scheu, ratlos. Er ist selbst vierfacher Vater,vier Söhne hat er großgezogen, neun En-kel haben sie ihm geschenkt. Nun sitzt erda, Saurbek Gutijew, 84 Jahre alt, allein,und er kann seine Lage nicht fassen.

Beslan, Stadtverwaltung, Krisenstab, 9.59 Uhr

Im grauen Gebäude der Stadtverwaltung,200 Meter Luftlinie von der Schule, bildetsich ein Krisenstab, das heißt, es laufen

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Leute zusammen und reden darüber, wasdraußen vorgeht. Es gibt schon Berichteüber erste Pannen. Im Polizeirevier warder Diensthabende mit dem Schlüssel fürden Waffenschrank 40 Minuten lang nichtaufzufinden.

Um 10.17 Uhr setzen sich vier Mot-schützen-Kompanien aus der Republik-Hauptstadt Wladikawkas in BewegungRichtung Beslan. Auch Alexander Dsas-sochow ist sofort alarmiert worden undtrifft nun am Tatort ein. Dsassochow ist 70 Jahre alt und seit 1998 Präsident Nord-ossetiens. Früher einmal war er Komso-mol-Sekretär in Wladikawkas und stieg inden letzten Tagen der Sowjetunion sogarnoch zum Mitglied des Politbüros in derMoskauer Parteizentrale auf.

Die Jahre im Dienst von Partei und Staathaben ihn gezeichnet. Er wirkt müde undausgebrannt. Er steht unter Druck, weil erahnt, dass die Angehörigen zuallererst vonihm Rechenschaft darüber fordern werden,warum die Terroristen ungestört bis vordas Beslaner Schultor fahren konnten.

Denn die Geiselnahme kommt nicht ausheiterem Himmel. Das russische Innenmi-nisterium hat am 18. August ein Telegramman alle Gebietskommandeure der Polizeiverschickt. Darin steht, es gebe Erkennt-nisse, dass tschetschenische Rebellen inNordossetien eine Operation planten. Siesolle jener gleichen, die Schamil Bassajeweinst im Krankenhaus der Stadt Budjon-nowsk startete, im Sommer 1995.

Und in einer E-Mail Bassajews vom 27.August, verschickt also genau fünf Tagezuvor, heißt es: „Im Namen Allahs des All-mächtigen und Gnädigen erkläre ich, Ab-dallah Schamil Abu-Idris, Emir der Islami-schen Märtyrerbrigade ‚Rijad al-Salihin‘,das dritte Jahrtausend der Erfüllung derProphezeiung des Propheten Mohammed… Wir werden eure Häuser, Schiffe, Flug-zeuge sprengen, wir werden euch direkt inden Straßen eurer gottlosen Städte töten,weil der Tod von wollüstigen und widerli-chen Ungläubigen die Zustimmung Allahsfindet. Der Weg des Heiligen Krieges ist derWeg der wahren Muslime. Allahu akbar!“

Nicht, dass die Behörden angesichts sol-cher Drohbotschaften gar nichts getan hät-ten. In Beslan wie im Rest Nordossetiensgilt an diesem Morgen des 1. SeptemberUrlaubs- und Ausgangssperre für die Poli-zei. Verwaltungsgebäude, Polizeistationenund Bahnhöfe werden verstärkt bewacht,vor allem aber Krankenhäuser und Haupt-verkehrsstraßen. Vor den Schulen sind jezwei bis drei Mann postiert. In der Rück-schau wirkt das sehr hilflos.

In der Rückschau wirkt der ganze Som-mer im Nordkaukasus wie eine Ouvertürezu Beslan, voll unguter Zeichen und unge-heurer Aktionen, gegen die Militär, Polizeiund Justiz wie machtlos wirkten. Es gärtein der Region über Monate hinweg, undschon am 17. Juni hatte Bassajews Mär-tyrerbrigade „Rijad al-Salihin“ die War-

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nung ins Internet gestellt: Es seien Terror-anschläge in Vorbereitung, die für das Putin-Regime „unerwartete und äußerstwirkungsvolle“ Folgen haben würden.

Vier Tage später, in der Nacht vom 21.auf den 22. Juni, zwischen 22.30 Uhr und3 Uhr morgens, errichteten 200 Kämpfer iminguschischen Nasran ein Schreckensre-gime auf Zeit. Sie überfielen das Gebäudedes Innenministeriums und das der 137.Grenztruppen-Einheit, sie plünderten Waf-fendepots, errichteten Straßensperren underschossen allein 51 Polizisten, außerdemStaatsanwälte, den Innenminister, 98 Men-schen insgesamt.

Einige Täter von Nasran finden sich auchin der Turnhalle von Beslan wieder. Inihrem Gepäck werden in Nasran geplün-derte Waffen auftauchen. 22 Kilometer nursind es von Nasran nach Beslan. Nasran istdas Präludium zum offenkundig lange ge-planten Anschlag auf die Schule Nummereins. Und es gab weitere Warnsignale, im-mer wieder, und immer wieder war es dieGegend um Malgobek im Norden Ingu-schiens, wo sie laut wurden.

Am 1. Juli 2004 starben bei einerSchießerei mit mutmaßlichen Terroristender stellvertretende Polizeichef von Malgo-bek und der Vize der Malgobeker Kripoam Rand der Kreisstadt.

Am 12. Juli 2004 stellten Beamte des In-nenministeriums im Wald bei Sagopschisüdwestlich von Malgobek ein gewaltigesWaffenlager sicher, mit Maschinengeweh-ren, -pistolen, Granatwerfern und Muni-tion aus der Beute von Nasran.

Am 20. Juli wurde gleichfalls in Sagop-schi ein 31 Jahre alter Mann aus der tsche-tschenischen Hauptstadt Grosny nach hef-tiger Gegenwehr erschossen.

Am 23. Juli schließlich entkam in Sa-gopschi der spätere Beslan-Terrorist Mus-sa Zetschojew bei einer Schießerei.

Keiner der Vorfälle ereignete sich mehrals zehn Kilometer von jenem Zeltlager imWald entfernt, von dem aus die Geisel-nehmer am frühen Morgen des 1. Septem-ber 2004 aufgebrochen sind. Keiner derVorfälle kam aus heiterem Himmel.

Hätte der Polizeichef Muchoschir Jew-lojew in Malgobek, ein mit dem Tapfer-keitsorden dekorierter Mann von schnei-diger Erscheinung und fliehendem Blick,nur ein wenig genauer wissen wollen, wasin den Wäldern seiner Gegend und hinterden hohen Mauern der Häuser geschieht –Beslan wäre bis heute irgendein Ortsna-me, den kaum einer kennt.

Schule Nummer eins, Turnhalle, 10 Uhr

Larissa Mamitowa, die Ärztin, sitzt mitihrem Sohn Tamerlan in der Mitte der Hal-le. Sie haben sich schön gemacht für denfeierlichen Tag. Der 13-Jährige trägt einendunklen Anzug mit Weste, ein weißes Sei-denhemd und blankpolierte Schuhe. Die

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Ärztin hat sich das Gesicht geschminkt,was sie nur zu besonderen Anlässen tut.Sie ist eine kleine Frau mit kurzen Haaren,dunkelrot gefärbt, sie bewegt sich beschei-den, uneitel, unauffällig. Mamitowa, 54Jahre alt, hat im Krankenhausdienst ge-lernt, dass widrige Umstände kein Argu-ment sind für Tatenlosigkeit.

Auf Befehl der Terroristen werfen dieGeiseln jetzt Telefone und Taschen durchdie Halle zu ihnen hin. Auch Mamitowawirft ihres. Die Geiselnehmer treten dieTelefone mit ihren Stiefeln kaputt und ru-fen Warnungen in den Sportsaal: „Für je-des Handy, das wir jetzt noch finden, wer-den wir 20 Geiseln erschießen! Habt ihrverstanden? 20 Geiseln!“

Die Ärztin beobachtet, wie einige Gei-seln ihre Handys verstecken. Sie bittet sie,kein Risiko einzugehen, sie drängt sie, dieTelefone abzugeben. Dann sieht sie, wiezwei Terroristen einen Mann durch dieHalle schleifen, er ist dick, etwa 40 Jahre altund tot. Mamitowa weiß nicht, dass derMann Soslan Betrosow heißt, sie weißnicht, dass er eben vor den Augen seinerbeiden Söhne erschossen wurde. Sie siehtnur die breite Blutspur auf dem Boden,die eine Schülerin aufwischen muss. DasMädchen wischt dem Toten mit einemweißen Hemd hinterher. Mamitowa schreitdie Geiseln in ihrer Umgebung an, endlichihre verdammten Telefone abzugeben.Wieder fliegen Handys durch den Saal.

Die Terroristen fragen in die Mengehinein nach einem Arzt. Mamitowa mel-det sich. Sie wird auf den Hauptkorridorgeführt. Zwei Terroristen sitzen dort aufdem Boden, sie lehnen mit dem Rücken ander Wand und bluten stark. Den einenschätzt Mamitowa auf 25, den anderen auf35 Jahre. Der Jüngere hat einen Bauch-schuss, der Ältere einen Durchschuss des rechten Unterarms. Ein Geiselnehmerbringt Mamitowa einen Rucksack mit Jod und Mull.

Sie verbindet zunächst den Älteren. DasProjektil ist quer durch seinen Unterarmgefahren und hat eine lange Wunde geris-sen. Mamitowa bekommt das Gefühl, dassder Mann eine Führungsrolle unter denGeiselnehmern hat. Er ist besonders ag-gressiv und erteilt anderen Befehle. Er trägteinen Bart, und er fällt vielen Geiseln auf,weil er sie besonders brutal behandelt undvon nun an ständig den Arm hochhält, umdie Blutung zu stoppen.

Die russischen Ermittler identifizierenihn später als Wladimir Chodow.

Mamitowa fragt ihn, was das Ziel derGeiselnahme sei. „Wir haben nur ein Ziel“,sagt Chodow. „Die russische Armee sollaus Tschetschenien verschwinden.“ Ma-mitowa schlägt ihm vor, einen Zettel mit ei-ner Nachricht nach draußen zu geben.

„Das kann nur der Oberst entscheiden“,sagt Chodow.

„Dann lassen Sie mich mit dem Oberstreden“, bittet Mamitowa.

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Chodow fragt sie nach ihrem Namen,ihrem Alter und wo sie arbeitet.

„Sind Sie allein hier?“„Mein Sohn ist in der Turnhalle.“„Sonst niemand?“„Nur ich und mein Sohn.“Als Mamitowa die Verletzten verbunden

hat, bringt ein Terrorist ihr zum Dank zweiPralinen. Chodow verbietet ihr, sie an-zurühren. Er sagt, sie werde die Süßigkei-ten doch nur ihrem Sohn geben.

Auf dem Korridor sieht sie ein gutesDutzend Geiseln mit im Nacken ver-schränkten Armen vor den Fenstern ste-hen. Andere Männer bauen Barrikaden.Die Terroristen schlagen Löcher in dieFensterscheiben, offenbar aus Angst voreinem Giftgasangriff. Sie schießen auf alles,was sich vor den Fenstern der Schule be-wegt, mit schweren Waffen, Maschinenge-wehren auf Dreifüßen, Granatwerfern.

Über den Korridor geht eine Schahidka,eine schwarze Witwe. Sie führt eine Grup-pe Kinder zu den Toiletten. Sie ist in einschwarzes Gewand gehüllt, sie hält einePistole in der rechten Hand und trägt einenSprengstoffgürtel um die Hüfte. Mamitowasieht nur ihre dunklen Augen.

Der am Arm verletzte Chodow, direktvor ihr, steht auf und geht. Er befiehlt Ma-mitowa zu warten. Sie weiß nicht, wen sievor sich hat. Sie ahnt nicht, wer dieser Cho-dow ist: ein Ossete wie sie.

Elchotowo, Vormittag

Elchotowo, die Hochburg der Muslime imvorwiegend christlichen Nordossetien undHeimat von Wladimir Chodow, liegt hartan der Grenze zur Kabardei. Eine Stadtvon 11000 Einwohnern, in der adrette Zie-gelhäuser von bürgerlichem Wohlstandkünden und kreuzendes Kleinvieh in Sei-tenstraßen Schritttempo erzwingt.

Chodows Zuhause liegt in der Sortow-Straße 17, hinterer Eingang, Parterre rechts,in einem einstöckigen staatlichen Miets-haus. Die Mutter hatte den kleinen „Wo-lodja“ mit drei Jahren hierher gebracht ausder Ukraine, wo er geboren wurde. Kin-dergarten-Bilder zeigen ihn als Dickschädelim weißen Strickpullover mit ernsten, dunk-len Augen.

Der Adoptivvater Chodows diente alsIngenieur in der Sowjetarmee, die Mutterals Krankenschwester am Ort, zusammensind sie ein respektiertes Paar mit zweiSöhnen. Wladimir begeisterte sich an derHauptschule drei für russische Sprache undLiteratur. Er galt als scheu und kränklich,ein Einzelgänger, der einmal so arg ver-prügelt wurde, dass sein linkes Auge dau-erhaft beschädigt blieb.

In der Bibliothek, im ersten Stock desHauses der Kultur, fiel Wladimir auf, weilihn nur eines interessierte: das Regal mitder Enzyklopädie. Irgendwann wurde ihmElchotowo dann zu eng. War der Punkterreicht, an dem aus dem Jungen, der in

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Geiselnehmer Chodow Wohnung Chodows in Elchotowo

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seiner Heimatstadt als harmloser Sonder-ling galt, der Mann wurde, den die Geiselnals besonders rücksichtslos erleben?

Chodow ist ein spätberufener Muslim.Erst Bruder Boris, der mit 16 wegen Mor-des zu acht Jahren Haft verurteilt wurdeund in der Zelle zum Islam übertrat, brach-te ihn mit der fremden Religion in Kontakt.Als Boris freikam, Anfang 2003, nahm dieVerwandlung der Brüder Fahrt auf.

Schon am 11. Juni 2003 wurde Boris mitWaffen und Drogen erwischt. Boris Cho-dow wurde verhaftet, aber nach drei Tagenwieder freigelassen. Zweieinhalb Wochenspäter, am 1. Juli 2003, entführte er einMädchen aus der Nachbarschaft, das ihmgefiel und das er heiraten wollte. Am 19.Juli starb er durch vier Kugeln, die derBruder des Mädchens auf ihn abfeuerte.

Zur Beerdigung am 22. Juli 2003erschien auch Wladimir Chodow, der zu-vor untergetaucht war. Gegen ihn lag seit1998 ein Haftbefehl vor wegen des Ver-dachts einer Vergewaltigung. Trotzdemging er in seiner Heimatstadt unbehelligtein und aus. In letzter Sekunde, bevor dieLeiche des Bruders zum Friedhof gebrachtund nach ossetischem Brauch bestattetwerden konnte, verlangte Wladimir vorversammelter Nachbarschaft ein Begräbnisnach streng muslimischem Ritus.

Der Leichnam musste noch einmal ausdem Sarg genommen und gewaschen wer-den. Das besorgte Hadschi Ali, ein Mekka-Pilger und ehemaliger Imam von Elchoto-wo. Der große, massige Mann mit Häkel-kappe gilt bei den Einwohnern Elchotowosals zwielichtiger Händler mit guten Ver-bindungen nach Inguschien, wenige Mona-te vor der Geiselnahme in Beslan ist seinKeller nach Waffen durchsucht worden.

Hadschi Ali, bürgerlich Alik Gabissow,residiert in einem prächtigen Haus, nur 100Meter von Chodows Wohnung entfernt. Erist es, der in der Moschee am Stadtrand,von deutschen Fliegerbomben im Zweiten

Weltkrieg zu einer Ruine gebombt, Cho-dow feierlich in die muslimische Gemein-de aufgenommen hat und ihm den NamenAbdullah gab – Anfang 2003, keine zweiJahre vor der Geiselnahme.

Im Keller Hadschi Alis verbrachte Cho-dow, der wegen Vergewaltigung russland-weit Gesuchte, Tage und Wochen nach derBeerdigung seines Bruders. Die Polizei,sechste Abteilung des nordossetischen In-nenministeriums, vernimmt ihn und lässtihn postwendend wieder frei. Vielleichtwar ja der Computer in Elchotowo kaputt,in dem der Haftbefehl gegen Chodow ge-speichert gewesen sein sollte. Oder der Be-amte vergaß nachzusehen. Oder der spä-tere Geiselnehmer hatte schon zu diesemZeitpunkt genügend Geld, um sich freizu-kaufen.

Anfang August 2003 wird Chodow nocheinmal gesehen, in Inguschien, gemeinsammit Hadschi Ali. Die beiden trafen im DorfInarki den Händler Mussa Jandijew underbaten von ihm 150000 Rubel, rund 5500Euro. Inarki grenzt direkt an jenen Wald,in dem ein Jahr später das Kommando Bes-lan sein letztes Hauptquartier aufschlagenwird. Sollte der Händler für die gemeinsa-me Sache gewonnen werden? SammelteChodow schon jetzt Geld, Fahrzeuge, Kon-takte, Informationen?

Chodows Spur verliert sich in der Folge.Er sei an einer Koranschule in Dagestan ge-wesen, sagt Hadschi Ali. Er habe sich naheGalaschki in Inguschien in einem Ausbil-dungscamp für Terroristen aufgehalten,heißt es beim russischen Geheimdienst.Dort soll er angehende Beslan-Teilnehmerkennen gelernt haben. Sicher ist: Am 3.Februar 2004 tauchte Chodow in Wla-dikawkas wieder auf. Er verübte einenSprengstoffanschlag in der Gorkistraße, of-fenkundig auf die Nordkaukasische Mi-litärjuristische Fakultät. Zwei Menschenstarben, zehn wurden verletzt, ein weitererHaftbefehl gegen ihn wurde ausgestellt.

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In einer Regionalzeitung erschien seinBild auf Seite eins, das Foto zeigt einenernsten jungen Mann von 28 Jahren imschwarzen Jackett. Obwohl zu diesem Zeit-punkt bereits mit doppeltem Haftbefehlgesucht, spazierte Chodow im Frühjahrund Sommer 2004 immer noch durch dieStraßen seiner Heimatstadt Elchotowo.Der dortige Polizeichef aber, Oberstleut-nant Walerij Dschibilow, ließ den Mann,der an seinem Büro vorbeilief, nicht ver-haften. Ob aus Schlamperei, Gleichmutoder Leichtsinn, ist nicht bekannt. Cho-dows Probelauf für Beslan jedenfalls fandunter den Augen der Staatsmacht statt.

Wladikawkas, Polizeihauptquartier, Vormittag

Major Guraschew, der Dorfpolizist vonChurikau, die erste Geisel dieses Tages,sitzt unweit der Schule Nummer eins,Komintern-Straße 89. Der Polizist aus Chu-rikau hat sich in dieses Haus geflüchtet,kaum dass die Terroristen ausgestiegen wa-ren. Die Terroristen hatten ihn einfach sit-zen lassen hinten in seinem Lada, und erhatte sich mit Beginn der Schießerei, als ersah, dass hier für einen Mann nichts aus-zurichten war, unters Auto gerollt.

Nun alarmiert er seine Vorgesetzten.Und die schalten die zuständigen Ermittlerein. Kurz darauf ist Guraschew zum zwei-ten Mal an diesem Tag das Opfer: Die Kol-legen in Wladikawkas glauben ihm, demMuslim, kein Wort. Sie halten ihn, der seitfast einem Vierteljahrhundert tadelsfreiDienst tut in seinem Heimatdorf, für ei-nen potentiellen Lügner. Sie bezichtigenihn, der aus freien Stücken zum Rapportgekommen ist, ein Komplize zu sein.

Major Guraschew lernt die Organe rus-sischer Rechtspflege von jener Seite ken-nen, die Uniformierten wie ihm ansonstenvorenthalten bleibt. Er gerät an eine Trup-pe, die dem Spezialermittler Igor Tka-

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tschew untersteht und im Auftrag des Ge-neralstaatsanwalts von Wladikawkas han-delt. Als sie ihn nach acht Tagen freilassen,hat der Major, der sich den Geiselnehmernentgegenstellte, als es noch nicht zu spätwar, eine acht Zentimeter lange Platzwun-de über der Stirn. Sein linkes Auge istschwarz unterlaufen, auch Brustkorb undlinker Oberschenkel sind von Blutergüs-sen gezeichnet. Sie haben ihm auch dieHoden zertreten.

Schule Nummer eins, Hauptkorridor, 11 Uhr

Kasbek Dsarassow, ein 35 Jahre alter Os-sete, ein langer, dünner Mann, ist mit sei-ner Mutter und seinem Sohn zur Geiselgeworden, und er ist von der ersten Minu-te an in höchster Lebensgefahr. Die An-greifer haben ein Auge auf die erwachse-nen, kräftigen Männer, noch am Vormittagsortieren sie gut 20 von ihnen aus undführen sie auf den großen Korridor, dar-unter auch Kasbek Dsarassow, groß, kno-chig, gute Augen im Gesicht.

Auf dem Flur herrscht reger Betrieb. DieTerroristen laufen herum „wie bei sich zuHause“, denkt Dsarassow, geschäftig ge-hen sie hin und her, kaum einer der An-greifer hier trägt eine Maske.

Gut 50 Meter lang ist der Hauptflur derSchule Nummer eins, knapp 4 Meter breit,zweimal sieben Fenster gehen auf Innen-höfe hinaus. Vor diesen Fenstern, mit demRücken zu ihnen, die Arme hinter demKopf verschränkt, müssen sich Dsarassowund die anderen aufstellen. Sie sindmenschliche Schutzschilde.

Andere Geiseln, auch ältere Schüler dar-unter, müssen die Fenster verbauen. Sieholen Bücher heran, Möbel, ausgehängteTüren. Immer wieder stürzen halbfertigeBarrikaden ein. Büchertürme fallen um.Sichtblenden aus Plakaten, aus gerahmtenBildern stehen nicht stabil, sie verrutschenund geben die Fenster wieder frei. Die Wa-chen gehen auf und ab. Sie verteilenFußtritte. Sie puffen die Geiseln in die Nie-ren mit ihren Gewehrkolben. Sie sagen,immerzu: „Seid ruhig! Bleibt ruhig!“

Dsarassow hat Krämpfe in den Beinen,er fühlt kein Blut mehr in den Armen, ersteht vor diesem Fenster und hält seineArme hoch, die Gliederschmerzen sind un-erträglich. Aber wenn er sich bewegt, wenner nur von einem Bein aufs andere tritt,schlagen sie ihn. Auf die Beine. In die Sei-ten. So steht er stundenlang.

Beslan, Komintern-, Ecke Lermontow-Straße, 11.30 Uhr

Seit 11.30 Uhr haben Einheiten der 58. Ar-mee die Schule abgeriegelt. Auch RomanAlijew, ein junger Streifenpolizist, seit ei-nem Jahr im Dienst, ist in Stellung gegan-gen an der Komintern-Straße. Er hattedazu keinen ausdrücklichen Befehl. Er und

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die anderen Polizisten haben sich eher „aufZuruf“ entschieden, die Ecken dieserKreuzung, etwa 150 Meter von der Schuleentfernt, zu besetzen. Von einem Einsatz-plan weiß Alijew nichts.

Es gibt knapp 500 Polizisten in Beslan.Sie stellen sich nun alle in Dienst. Sie pos-tieren sich in einem weiten Ring um dieSchule. Befehle hören sie kaum. Die Funk-geräte schweigen die meiste Zeit. Der neuePolizeichef ist erst seit einem Monat imAmt und lässt sich nicht blicken.

Stattdessen drängen im Lauf des Tagesimmer mehr Leute heran, Angehörige, dieihre Kinder, Schwestern, Väter in der Schu-le wissen. Die Polizisten an der Absper-rung werden mit Fragen überschüttet. Abersie wissen ja selbst nichts. Sie hören, wiealle anderen, nur Gerüchte. Sie schickendie Leute zur Stadtverwaltung. Zum Kul-turpalast. Dort würden alle Informationengegeben, die zur Verfügung stünden.

Roman Alijew hört, hier an der Sperre,dass Diana, seine Freundin, einen Ner-venzusammenbruch erlitten hat. Sie ist imKrankenhaus. Ihr kleiner Bruder und ihrekleine Schwester sind Schüler der SchuleNummer eins. Beide sind in den ersten Mi-nuten der Tragödie entkommen, davon-gelaufen. Einige Dutzend schaffen das ganzzu Beginn. Und selbst im Verlauf diesesersten Tages werden aus der Schule nochein paar davonkommen. Zwei Mädchengelingt die Flucht aus dem von den Terro-risten schon besetzten Gebäude.

Schule Nummer eins, Hauptkorridor

Die Ärztin Larissa Mamitowa, die Muttervon Tamerlan, wird zu dem Mann geführt,den die Terroristen „Oberst“ nennen. Ersitzt in der Bibliothek im Erdgeschoss aneinem Tisch und bittet Mamitowa, sich zuihm zu setzen. Der Boden ist übersät mitBüchern, die meisten stammen aus denZeiten der Sowjetunion: Jurij Bondarews„Weißer Schnee“ über die Schlacht vonStalingrad; Nikolai Ostrowskis „Wie derStahl gehärtet wurde“; auch ein Nachdruckvon Lenins erster Zeitung „Iskra“ (DerFunke) ist dabei. An der Wand hängt eineTafel mit einem Satz Tschechows: „Gleich-gültigkeit lähmt unsere Seelen und führtzum frühzeitigen Tod.“

Der Oberst hat ein langes Gesicht undeinen spitzen Bart. Sein Kopf ist kahl ge-schoren und bedeckt von einer muslimi-schen Häkelkappe. Er trägt eine Tarnhose,ein schwarzes T-Shirt und einen Gürtel mitHandgranaten, einem Messer und einemBajonett. Seine schwarzen Handschuhesind an den Fingerspitzen abgeschnitten. Erhat das Gewehr eines Scharfschützen, miteinem großen Zielfernrohr. Der Oberstgeht ans Fenster und nimmt ein Haus insVisier, in dem er einen Scharfschützen ver-mutet. Er beobachtet das Fenster einigeMinuten lang durch sein Zielfernrohr.Dann schießt er dreimal.

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Der Oberst wirkt überlegt und sicher, sosicher, dass Mamitowa das Gefühl hat, ersei mit Geiselnahmen vertraut. Die ande-ren Terroristen kommen ihr dagegen unreifvor. Sie schießen zum Spaß auf Autos vorder Schule, auf Hühner und Gänse, undwenn sie treffen, freuen sie sich wie Kinder.Sie haben Angst vor dem Oberst, das spürtdie Ärztin, und sie tun, was er befiehlt.

Der Oberst setzt sich wieder zu Mami-towa an den Tisch. Er gibt ihr ein Blatt Pa-pier und einen Kugelschreiber und diktiertihr eine Telefonnummer, unter der soll ihndie russische Regierung anrufen. Dannkramt er in seinen Hosentaschen. Er ziehteinen Plan der Schule hervor, betrachtetihn kurz und steckt ihn zurück in die Ta-sche. Dann zückt er ein beschriebenes BlattPapier und diktiert Mamitowa seine For-derungen: Die Präsidenten Nordossetiensund Inguschiens sollen zu Verhandlungenin die Schule kommen, außerdem PutinsKaukasus-Berater Aslambek Aslachanowund Leonid Roschal, Kinderarzt in Mos-kau, Vertrauter Putins. Für jeden verwun-deten Geiselnehmer würden 20 Geiseln er-schossen, für jeden toten 50. Bei einemSturmangriff werde er die Schule spren-gen. Außerdem fordert der Oberst die Lie-ferung von Wasser aus Nasran, inguschi-sches Wasser, reines Wasser.

Der Oberst warnt Mamitowa. Sie sollenur die Botschaft überbringen und nichtssagen. Wenn sie versuchen sollte zu flie-hen, werde ihr Sohn erschossen. Dann lässter einen Scharfschützen hereinbringen. Erzeigt auf ihn und sagt zu Mamitowa, derwerde sie im Auge behalten.

Mamitowa reißt einen weißen Vorhangvom linken Fenster der Bibliothek und ver-lässt die Schule durch das Portal. Sie winktmit dem Vorhang und geht zum Schultoran der Komintern-Straße. Sie ruft, dass sieeine Botschaft der Geiselnehmer über-bringe, und von der anderen Seite nähertsich ein junger Mann mit einem Gewehr. Erlegt das Gewehr ins Gras, kommt näherund nimmt den Zettel. Mamitowa fragt ihn,ob er Ossete sei. Er nickt, und sie sagt ihmauf Ossetisch, dass etwa 1300 Geiseln inder Schule seien, dass die Turnhalle ver-mint sei und dass die Schule auf keinenFall gestürmt werden dürfe.

Vor dem Tor liegt eine Frau auf demSchulhof, sie blutet aus einer Schusswun-de am Bein und kann sich nicht bewegen.Mamitowa entschuldigt sich dafür, dass sieihr nicht helfen kann. Sie geht zurück in dieSchule und bittet die Terroristen, die Fraubehandeln zu dürfen, sie werde sonst viel-leicht verbluten. Die Terroristen sagenNein. Der Oberst sagt Nein.

Galaschki, Inguschien

Der „Oberst“, der in der Schule die Fädenzieht, heißt Ruslan Chutschbarow. Das sagtder Geheimdienst. Eines der wenigen Fo-tos, die es aus Chutschbarows früherem

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Terroristen-Vater Chutschbarow mitZeitungsfoto seines Sohnes

Familie des vom Geheimdienstversehentlich erschossenen Arapchanow

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Leben gibt, zeigt einen durchtrainierten,glatzköpfigen jungen Mann in Sportklei-dung, der hochmütig und lauernd der Ka-mera trotzt. Er sieht aus wie ein Pitbull aufHinterbeinen.

Von Galaschki in Inguschien, woChutschbarow am 12. November 1972 ge-boren wurde, nach Nordossetien ist es genau einen Hügel weit. Das Straßen-dorf am reißenden Assa-Fluss, mit sei-ner nagelneuen Moschee, liegt hinter ei-ner Straßensperre mit Schlagbaum undDenkmal.

Der Stein unter einer Fahne in der lind-grünen Farbe des Islam erinnert an die hierim Mai 2000 getöteten Soldaten, erschossenvon den Hügeln herunter mit Granatwer-fern und automatischen Waffen durch Bo-jewiki. Einer der Täter war, so steht es inden Akten des Inlandsgeheimdienstes, derortskundige Ruslan Chutschbarow. Insge-samt starben damals 18 Offiziere und Sol-daten der russischen Bundestruppen.

Zu diesem Zeitpunkt war Chutschbarowschon ein landesweit gesuchter Mörder.Gegen ihn lag ein Haftbefehl vor, seit er imMai 1998 in der zentralrussischen Stadt Or-jol vor dem dort gelegenen Café Nektarzwei Armenier erschossen hatte. Es gingum ein Mädchen.

In Snamenka bei Orjol, wo er mit derrothaarigen Lena Zorikaschwili als Ergeb-nis einer eher unverbindlichen Liaison dieTochter Lilija zeugte, fiel er vor allem alsFrauenheld auf, der im Wohnheim desKäse- und Butterwerks ungeniert Lieb-schaften pflegte. Zu Hause ging er mit bär-tigen Besuchern zum Rauchen auf dieStraße. Ein Gigolo mit Kinderstube. Vongeregelter Arbeit ist nichts bekannt.

Nach dem Mord an den Armenierntauchte Chutschbarow ab. In Tsche-tschenien, wo Chutschbarow im Unter-grund Zuflucht vor seinen Verfolgernsucht, landete er an der Seite von Feld-kommandeur Schamil Bassajew.

Chutschbarow hat ein klassisches Re-bellenleben geführt. Den Sicherheitsorga-nen entwischte er regelmäßig: einmal beimVersuch, im kabardinischen Naltschik sei-ne Freundin zu treffen; dann wieder, imJahr 2002, als er der Polizei bei einerSchießerei an der Bushaltestelle in der in-guschischen Siedlung Slepzowskaja ent-kam; ein weiteres Mal, als er zu Besuchbei seinem Vater in Galaschki war und voranrückenden Ordnungskräften ins angren-zende Maisfeld flüchtete.

Hier, in der Partisanen-Straße 11 vonGalaschki, wo Ruslan geboren ist, in ei-nem der ältesten, ärmlichsten Häuser desDorfs, klingt es, als sei der Junge so gut wienie da gewesen. Der Vater Tagir Chutsch-barow, ein Traktorist im Ruhestand,schwarze Baskenmütze, schwarzes Hemd,sagt, er habe seinen Sohn zum letzten Malvor fünf Jahren gesehen.

20 Quadratmeter hat das einzige großeZimmer des Hauses, in dem Ruslan gebo-

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ren ist. Teppiche an den Wänden, ein ge-mustertes Sofa, eine Fassung ohne Glüh-birne. Das Geschirr steht in Ermangelungeines Schranks auf dem Tisch. Durch dasFenster geht der Blick auf den Garten mitPlumpsklo und Maisstauden. Unterm Wal-nussbaum steht, der ganze Stolz, ein grü-ner Lada mit dem Kennzeichen A-4763.

Worüber haben Vater und Sohn gespro-chen beim letzten Besuch? Über RuslansLeben, seine Ziele, den Mord an den Ar-meniern? „Hätte ich sie nicht erschossen,wäre ich selbst dran gewesen“, habe derSohn ihm auf Fragen geantwortet, sagt Ta-gir Chutschbarow. Er glaubte ihm das:„Ruslan war ein ruhiger Kerl.“

Vater und Sohn haben sich nicht oft ge-sehen, nach früher Trennung der Elternlebte Ruslan bei der Mutter. Erst als er achtoder neun war, kam er wieder nach Ga-laschki, ging zur Schule und ist als som-mersprossiger, „absolut durchschnittlicher“Schüler bei Klassenkameraden in Erinne-rung geblieben. Und nicht als einer, dersich vorgedrängt hätte.

Erst viel später, in Orjol, hat Chutsch-barow begonnen, Muskeln zu machen undsich „Oberst“ nennen zu lassen. In Tsche-tschenien wurde er vom gewöhnlichen Kri-minellen zum Terroristen. Ob durch Ka-derschulung, Verrohung im Feld, religiöseVerblendung, niemand kann das sagen.

Wenn Chutschbarows Vater behauptet,er habe seinen Sohn seit 1999 nicht mehrgesehen, dann erwartet er selbst nicht, dassman ihm glaubt. Er sagt: „Seit zehn Jahrenkommen die Geheimdienstler jede Wochezu mir. Entweder nachts um elf oder mor-gens um vier. Ich ziehe zum Schlafen nichteinmal mehr die Hose aus.“ Der Alte weiß,was die nächtlichen Besucher von ihm wol-len, und die Besucher wissen, dass erschweigen wird wie ein Grab. Es ist ein Ri-tual im Umgang der Zentralmacht mit denMenschen im Nordkaukasus. Ein Spiel zwi-schen Katze und Maus. „Sie fragen nachmeinen Söhnen. Beziehungsweise nurnoch nach Ruslan, seit sie meinen jüngerenSohn Baschir vor zwei Jahren im Wald er-schossen haben. Ich sage dann immer: Ihrwisst doch, wo ihr ihn findet.“

Auch bei Ruslan Chutschbarow fehlt esnicht an Indizien dafür, dass sich seine Spu-ren vor dem Geiseldrama von Beslan imGrenzgebiet zu Nordossetien vervielfa-chen. Folgenlos.

Nach seiner Schießerei mit den Ar-meniern und dem Attentat auf die Solda-tenkolonne in Galaschki soll der „Oberst“sogar noch den Sprengstoff selbst gekaufthaben für den Anschlag auf das Gebäudedes inguschischen Geheimdienstes am 15.September 2003 in der Nähe Nasrans, beidem drei Menschen sterben. Und dass erdanach, aktiv oder logistisch, auch beimgeneralstabsmäßig vorbereiteten Überfallauf Nasran vom 21. Juni 2004 mitgewirkthat, scheint für die Ermittler festzustehen.Am 20. Juli 2004 rückte deshalb ein Kom-

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Titel

mando unter Leitung des GeheimdienstesFSB, vertreten durch Leutnant Kostenkoaus Schelesnowodsk, mit sieben bis achtMaskierten in der Partisanen-Straße vonGalaschki an, Kalaschnikows und Infrarot-strahler im Gepäck. Es war kurz nach vierUhr morgens.

Der Trupp stoppte vor einem Steinhaussamt hölzerner Pergola. Der Hausherr wur-de herausgerufen, mit Handschellen gefes-selt, verprügelt, das Haus durchsucht, dieweinenden Kinder wurden weggesperrt.Im Schlafzimmer fand sich eine Kalasch-nikow. Die Ehefrau wurde mit den Worten„Hau ab, Hündin“ verscheucht. Dann fie-len Schüsse im Garten. Der Hausherr wartot, niedergestreckt durch drei Kugeln indie Brust und eine in den Kopf.

Doch es traf nicht Ruslan Chutschba-row, auf dessen Namen der Hausdurchsu-chungsbefehl ausgestellt war, mit dem dieEinheit 38/0 aus Schelesnowodsk an-gerückt ist. Es traf Beslan Arapchanow,wohnhaft Partisanen-Straße 1, einen ar-men Kolchosnik und Vater von sieben Kin-dern. Die Geheimdienstler hatten sich umein paar Häuser geirrt.

Die Witwe musste noch am Tatort einProtokoll über den Waffenfund unter-zeichnen. In der Strafsache 04600044, diesie auf Anraten von Verwandten ange-strengt hat, hat sie nach Auskunft desStaatsanwalts „Chance null“.

Nur weil der Onkel des Erschossenen,Mussa Arapchanow, bisweilen ein Gläs-chen trinkt mit dem alten Chutschbarow,ist durchgesickert, dass die Geheimdienst-ler nicht zufällig im Dorf gesucht haben.Mussa sagt, noch in diesem Jahr sei der„Oberst“ in Galaschki gewesen, zur Ge-denkfeier für die verstorbene Mutter. „Erwar ein sehr frommer Mensch. Keinerkann sich vorstellen, dass er so etwas tut“,sagt Mussa. So etwas, das heißt: Beslan.

Ruslan Chutschbarow ist zum Zeitpunktder Geiselnahme frisch verheiratet inTschetschenien und hat einen Sohn ge-zeugt. Am 1. September 2004 ist sein eige-nes Kind, in Tschetschenien zurückgelas-sen, sieben Monate alt. Ungefähr so alt wiedie jüngsten seiner Geiseln in Beslan.

Moskau, Institut für Kinderheilkunde, Mittagszeit

Leonid Roschal ist Kinderarzt, ein bulligerMann mit lauter Stimme. Er ist erst seitwenigen Minuten im Büro, er kommt di-rekt aus einer Moskauer Schule. In derAula hielt er eine Rede zum Beginn desneuen Schuljahres, und sein Tagesplan sahTermine vor bis in den Abend. Roschal ist71 Jahre alt, eine bekannte Größe in Russ-land, man nennt ihn einen Vertrauten vonPräsident Putin, wobei niemand genauweiß, wie vertraut die beiden wirklich sind.

Roschals Telefon klingelt. Am anderenEnde der Leitung spricht ein Journalist derrussischen Agentur Interfax:

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„Wissen Sie, dass die Terroristen Siesprechen wollen?“

„Welche Terroristen?“, fragt Roschal.Statt einer Antwort auf seine Frage hört

er den Satz: „Wissen Sie denn nichts?“„Nein, ich weiß nichts“, sagt Roschal ge-

reizt. Er ist kein sehr geduldiger Mensch.„In Beslan, in Nordossetien“, sagt der

Journalist, „ist eine Schule von Terroristenbesetzt worden. Die verlangen, dass Pu-tins Berater für den Nordkaukasus, derPräsident von Nordossetien, der Präsidentvon Inguschien und Sie nach Beslan kom-men – und zwar sofort.“

Der Journalist macht eine kurze Pause,dann fragt er:

„Sind Sie bereit, dorthin zu fliegen?“„Ich bin bereit.“„Sofort?“„Sofort.“Der Journalist legt auf.Roschal sitzt da, den Hörer in der Hand.Terroristen in einer Schule voller Kinder.Vor knapp zwei Jahren besetzte ein

tschetschenischer Terrortrupp das Musical-Theater „Nord-Ost“ in Moskau, nahm dieZuschauer als Geiseln, platzierte Bombenim Saal und forderte den Abzug der russi-schen Truppen aus Tschetschenien inner-halb von sieben Tagen. Putin ließ das Thea-ter von Sondereinheiten stürmen. Währenddes Angriffs wurden alle Terroristen er-schossen, 130 Geiseln starben, die meistenan der Wirkung des Narkosemittels, daseingesetzt wurde, um die Tschetschenenkampfunfähig zu machen.

Roschal hatte vor dem Sturm mit denGeiselnehmern verhandelt. Er war der ers-te Arzt, der den Zuschauerraum betretendurfte. In mühseligen Gesprächen rang erden Bewaffneten das Zugeständnis ab,Wasser und Medikamente in den Zu-schauersaal hineinbringen zu dürfen undeinige Kinder hinaus. Er ist berühmt seit-dem, in Russland, aber auch im Ausland.Roschal ist darauf stolz. Er wählt jetzt eineNummer im Kreml.

Er sagt: „Mein Name ist Leonid Roschal.Ich brauche ein Flugzeug der Regierung,das mich nach Beslan bringt.“

Beslan, Krisenstab, 14 Uhr

Sie sind jetzt an die 20 Leute im Krisenstab.Der regionale Geheimdienstchef WalerijAndrejew ist da, der nordossetische Präsi-dent Dsassochow, Parlamentssprecher Tai-muras Mamsurow, die Duma-Abgeordne-ten Rogosin und Markelow, der stellver-tretende Generalstaatsanwalt Fridinski.Wer wirklich das Sagen hat, weiß niemandso richtig. Auch weiß niemand, was kon-kret zu tun sei.

Von den durch die Terroristen bestelltenUnterhändlern ist bislang nur PräsidentDsassochow eingetroffen. Vom PräsidentenInguschiens, Murat Sjasikow, und von Pu-tins Berater Aslachanow liegt noch keineMeldung vor. Es wird gerätselt, warum die-

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se drei Männer des Systems, dazu nochRoschal, der Arzt, auf der Liste stehen.Keiner von ihnen kann aus Sicht der Ter-roristen wirklich als Vertrauensmann gel-ten. Das nährt den Verdacht, dass die Un-terhändler womöglich in eine tödliche Fal-le gelockt werden sollen.

Sjasikow, der inguschische Präsident undGeheimdienstgeneral a. D., bleibt vielleichtdeshalb unauffindbar. Er, der seinen Mutansonsten gern mit Anekdoten bebildert,in denen er einen wildgewordenen Bärenim Zirkus von Astrachan mit der Dienst-pistole niederstreckt, ist abgetaucht. SeinHandy ist tot. Vom Drama in Beslan, wirder später dem SPIEGEL sagen, erfährt er„aus den Medien“. Die Medien wiederumschreiben, dass er die ganze Zeit des Gei-seldramas über im Moskauer Hotel „Prä-sident“ sitzt, von Putin, seinem Gönner,persönlich aus dem Verkehr gezogen.

Statt Sjasikow werden nun eilends zweiwirklich Mächtige inguschischer Herkunftaus Moskau herbeizitiert: Michail Guzeri-jew, ehemals Vize-Vorsitzender der Staats-duma und jetzt Direktor des ÖlkonzernsRussneft, und sein Bruder Chamsat, Ex-Innenminister und Präsidentschaftskandi-dat Inguschiens. Sie sind Autoritäten imNordkaukasus. Und sie kennen die Spra-che der Geiselnehmer.

Wladikawkas, Flughafen, 14.27 Uhr

Nikolai Patruschew, Chef des Inlandsge-heimdienstes FSB, landet auf dem Flugha-fen von Wladikawkas. In den Krisenstabfährt er nicht. Zwei Tage lang wird ihn dortniemand sehen. Womit sich Putins mäch-tiger Mann für nationale Sicherheitwährend der Krise beschäftigt, bleibt einRätsel.

Bei einer geheimen Sitzung des Födera-tionsrats in Moskau wird Patruschew spä-ter zum Entsetzen der Senatoren sagen, eshabe während der Geiselnahme keineKoordination zwischen Innenministerium,FSB und der Führung der Armee gegeben.

Genau so wirkt die Arbeit im Krisen-stab auf die Beteiligten. Er tagt in zwei La-gern im ersten Stock der Stadtverwaltung.Völlig getrennt vom zivilen Teil des Stabs,im gegenüberliegenden Flügel des Verwal-tungsgebäudes, kampieren die Vertreterder bewaffneten Organe, die Silowiki, un-ter Leitung des FSB-Vizes Pronitschew unddes Kommandierenden der 58. Armee.FSB-Abhörspezialisten haben sich mit ih-rer Horchtechnik hier eingerichtet.

Nordossetiens Parlamentssprecher Mam-surow, der selbst zwei Kinder als Geiseln inder Schule hat, pendelt zwischen den – beinahe feindlichen – Lagern im Krisen-stab hin und her. Immer wieder geht er auch nach unten auf die Straße, um die wartenden Verwandten zu beruhigen.Die Straße vor der Stadtverwaltung ist vollvon Menschen. Auch um den benachbartenKulturpalast versammeln sich die Familien.

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Nordossetischer Krisenmanager Dsassochow Videoszene mit Geiseln in der Turnhalle

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Schule Nummer eins, Hauptkorridor,Nachmittag

Die Barrikaden sind gebaut, Kasbek Dsa-rassow, der lange Dünne, und die anderenMänner werden als Schutzschilde nichtmehr gebraucht, sie werden zur Mitte desFlurs getrieben. Dort wird der Korridor,am Übergang zur Turnhalle, auf etwa zehnMetern zu einer schmalen, fensterlosenGasse. Dsarassows Gruppe muss sich mitdem Gesicht zur Wand hinknien, das isteine Wohltat nach dem langen Stehen, aberdie Arme müssen sie hinter dem Kopf ver-schränkt halten, diese Qual bleibt.

So knien sie. Dsarassow fängt an, Dingezu zählen, Menschen zu beobachten, Er-innerungen zu sammeln. Er vertreibt sich,inmitten des Terrors, die Zeit. Er denkt,„wer weiß, was später alles wichtig seinwird? Besser, ich merke mir alles ganz ge-nau“.

Er merkt sich, dass er als sechster Mannrechts der Tür zu einem Zimmer für die un-teren Klassen kniet. Dass im Türrahmenjetzt eine der Frauen des Kommandossteht, ganz in Schwarz. Dass sie mit einemMann drinnen streitet, das hört er. Er ver-steht nicht die Worte, weil die beiden we-der Ossetisch noch Russisch sprechen, aberihre Stimmen sind laut, besonders die derFrau ist laut, aufgebracht.

Das Nächste, was Dsarassow hört, isteine starke Explosion. Ein platzendes, kur-zes Donnergeräusch, gefolgt von Schreienund Schüssen, sein eines Ohr ist wiebetäubt, zu seiner Linken ist die Welt inTrümmer gefallen. Zwei der Männer, diemit ihm knien mussten, liegen tot, sechskrümmen sich mit tiefen Wunden. Ge-genüber der Tür liegt ein Terrorist mitblutendem Bauch, auch einen anderenscheint es erwischt zu haben. Die Frau imTürrahmen ist verschwunden. Sie ist ex-plodiert, wie und warum, das weiß Dsa-rassow nicht.

Einige der Terroristen auf dem Flur glau-ben, die Schule werde gestürmt. Sie schrei-en und schießen wahllos durch den Korri-dor. Eine Kugel streift die Notärztin Ma-mitowa am rechten Schienbein. Als dieTerroristen das Feuer einstellen, wird sie zuden Opfern geholt. Einer der Terroristen istam Kopf verletzt, er ist bewusstlos und blu-tet aus dem Ohr, sein Brustkorb hebt undsenkt sich hastig.

Die Terroristen fordern Mamitowa auf,dem Schwerverwundeten zu helfen. „Es istzu spät“, sagt sie. Der Sterbende hat dunkleHaut. Mamitowa glaubt, dass er Araber ist.Er ist unrasiert, hat aber keinen Bart.

Die Geiselnehmer fordern von Mamito-wa, sie solle wenigstens seine Schmerzenlindern. Sie bringen einen Rucksack mitstarken Medikamenten, wie sie normaler-weise nur Militärärzte haben: Vitamin Kund Etamsylat gegen starke Blutungen,Promidol und Moridol gegen starkeSchmerzen. Mamitowa spritzt dem Ster-benden Moridol. Den verletzten Geiselndarf sie nicht helfen.

Mamitowa schaut zum Türrahmen undversteht, was geschehen ist. Die schwarzeWitwe ist im Türrahmen explodiert. Ele-mente ihres Körpers sind im Klassenzim-mer und auf dem Korridor zu sehen wiehingesprüht. Blut benetzt eine Tafel überder Tür mit den Buchstaben des kyrilli-schen Alphabets. An der Decke sind Haar-büschel zu sehen, Partikel.

Das tschetschenische Volk hat eine Mär-tyrerin mehr.

Schule Nummer eins, 1. Stock,Literaturzimmer, 16.30 Uhr

Kasbek Dsarassow, der lange, dünne Mannmit den guten Augen im Gesicht, kniet imFlur, ein Radio in der Nähe ist zu hören. Eslaufen die 16-Uhr-Nachrichten. Die Terro-risten wählen sieben der Männer aus undführen sie weg, ins Treppenhaus, in den

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ersten Stock. Eine halbe Stunde später ho-len sie zwei weitere Männer, einer davonist Aslan Kudsajew, er hat sich zum Festtagganz in Weiß gekleidet, trägt einen weißenAnzug, ein weißes Hemd, weiße Schuhe.

Kudsajew wird ins Literaturzimmer imersten Stock geführt. Der Raum ist in Hell-und Dunkelblau gehalten, unter der Deckehängen die Porträts großer russischerSchriftsteller, unter ihren Augen liegen jetztsieben Leichen. Kudsajew, ganz in Weiß,erkennt, dass es die Männer sind, die einehalbe Stunde zuvor weggeführt wurden.Sie liegen verrenkt übereinander. „Damitdie Regierung weiß, dass wir keine Witzemachen“, sagt einer der Terroristen undverlässt den Raum. Der andere Terroristgibt den beiden Männern den Auftrag, dieLeichen aus dem Fenster zu werfen.

Die Wand, vor der die Toten liegen, istübersät mit Einschusslöchern. TurgenjewsBild zeigt einen Blutspritzer in Höhe derStirn, Tolstois Brustbild hat ein Einschuss-loch über dem Herzen. Kudsajew nähertsich den Leichen, und er erkennt, dass sievon vorn erschossen wurden. Sie habenSchusswunden in den Beinen, im Unter-leib, in der Brust und in der Stirn. IhreKleider sind durchtränkt von Blut.

Gemeinsam mit der anderen Geiselschleift er die erste Leiche zum rechtenFenster. Sie öffnen das zweiflügelige Fens-ter und hieven den Toten auf die Fenster-bank, Blut tropft auf die Heizungsrohre.Dann stoßen sie den Toten hinaus. Er lan-det zwischen zwei Kastanienbäumen.

Kudsajew ist überzeugt, dass er und derandere Mann die nächsten Leichen seinwerden, und er denkt an Flucht. Er sieht,wie breit die Brüstung ist, knapp 70 Zenti-meter. Er könnte springen, es könnte funk-tionieren. Es wäre schwer für einen Schüt-zen, sich weit genug über die Brüstung zulehnen und auf jemanden zu schießen, derunten an der Wand steht. Und außerdem,denkt Kudsajew, weiß der Terrorist, dass er

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Garagen

Die Bluttat von BeslanDas Schulgebäude währendder Geiselnahme vom1. bis 4. September 2004

Innenhof

Aula

Mensa

Kraft-sportsaal

Waschraum

Windfang

Heizungs-schuppen

Umkleideraum

ERDGESCHOSS

OBERGESCHOSS

1 Terroristen stürmen durch dasSchultor an der Komintern-Straße

2 Versteck der Fotografin FatimaAlikowa in der Abstellkammer

3 Sprengstoffpaketean den Basketballkörben

4 Explosion der „schwarzen Witwe“durch eine Bombe

5 Hinrichtungen im Literaturzimmer

6 Tote und Schwerverletzteim Klassenzimmer Nr. 16

7 Ruslan Chutschbarow, der „Oberst“,im Zimmer der Schuldirektorin

8 Schlafraum der Terroristen

9 Zehn Explosionenim hinteren Flügel

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Hauptkorridor

Hauptkorridor

In der Turnhallehalten die Terroristenrund tausend Menschengefangen – vor allemFrauen, Kinder und Alte

In der Turnhallehalten die Terroristenrund tausend Menschengefangen – vor allemFrauen, Kinder und Alte

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Portal

Schulhof

50 Meter

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am Fenster selbst ins Visier von Scharf-schützen gerät.

Sie werfen die zweite Leiche aus demFenster, und Kudsajew flüstert der anderenGeisel auf Ossetisch zu, dass sie springensollten. Der Mann schüttelt den Kopf. DochKudsajew will lieber so sterben als mit demRücken an der Wand. Er wird springen. Er weiß, dass es das Todesurteil für den an-deren ist. Aber er sagt sich, dass der esselbst unterschrieben hat.

Der Terrorist steht im Eingang des Klas-senzimmers, dass er Angst vor Scharf-schützen hat, ist zu sehen. Der Terroristhält eine Kalaschnikow AK-74, Kudsajewkennt das Modell, er hat das gleiche zuHause stehen. Er weiß, dass genau 30 Ku-geln im Magazin sind.

Als sie die vierte Leiche aus dem Fensterwerfen, bemerkt Kudsajew, dass der Ter-rorist das Magazin seines Gewehrs wech-selt. Kudsajew steigt auf die Brüstung undspringt. Ein großer Sprung, fast fünf Meter.

Der Mann in Weiß landet auf den Lei-chen, sein rechter Fuß knickt um. Er spürteinen stechenden Schmerz. Er humpelt ge-duckt an der Hauswand entlang, dann klet-tert er über einen Zaun und läuft zu denGleisen. Hinter ihm Schüsse. Er sieht Pro-jektile in der Erde einschlagen, doch sietreffen ihn nicht. Kudsajew wirft sich hin,kriecht etwa hundert Meter nach rechts. Erspürt den Schmerz wieder, doch er denktnur daran, dass er leben will. Dann schlei-fen ihn zwei Soldaten aus dem Schussfeldund tragen ihn in einen Krankenwagen.

Schule Nummer eins, Turnhalle,später Nachmittag

Fatima, die Fotografin, schaut sich die Ter-roristen an. Sie denkt, „ich bin Journalistin,ich muss sie zählen“. Sie sieht zehn. Dar-unter eine Frau, sie hält den rechten Armerhoben mit einer Pistole, den linken stütztsie auf die Sprengstoffgürtel in ihren Hüften.„Setzt euch hin, ihr Hammel!“, rufen dieTerroristen. Sie sprechen Russisch mit ei-nem Akzent, den Fatima nicht zuordnenkann.

Einmal, als es den Terroristen zu lautwird, ziehen sie eine Frau aus der Mengeund drücken ihr den Lauf eines Gewehrsan den Kopf. Dann ist Ruhe. Kurze Zeitspäter ziehen sie am anderen Ende derHalle eine weitere Frau aus der Menge undmachen mit ihr dasselbe. Wenn Geiselnohne Erlaubnis aufstehen, schießen dieTerroristen über ihre Köpfe hinweg.

Einer der Terroristen fällt Fatima auf,weil er mit den Kindern behutsam umgeht.Er ist klein, trägt keine Maske und ist etwa30 Jahre alt. Manchmal lächelt er. Überseinen Hals zieht sich eine Narbe von ei-nem Ohr zum anderen, als hätte jemandversucht, ihm den Kopf abzuschneiden. Fa-tima nennt ihn „den Lächelnden“.

Einmal beobachtet Fatima, wie derLächelnde mit einer Frau spricht, die einen

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Säugling in ihren Armen hält. Sie hat lan-ge schwarze Haare und ein schönes, trau-riges Gesicht. Sie wiegt den Säugling hinund her, streichelt den Kopf, doch er hörtnicht auf zu weinen. Der Lächelnde nimmtihre Babyflasche und bringt ihr Wasser.

Fatima hört die Melodie ihres Handys.Sie sieht einen Terroristen, wie er ihr Te-lefon auf- und wieder zuklappt. Sie sitztzwei Meter entfernt von einem Spreng-stoffpaket und macht sich Sorgen um denTamagochi-Hund in ihrem Handy. Er wirdverhungern, wenn sie ihn nicht füttert. Fa-tima verspürt keinen Hunger. Sie ist durs-tig, aber sie trinkt nicht, weil sie den Kin-dern kein Wasser wegnehmen will.

In der Turnhalle legt Fatima ihren Kopfauf die Beine des Sportlehrers Alik Zago-low und weint. Zagolow ist 54, ein unter-setzter, fast kahler Mann, er war UdSSR-Meister im Gewichtheben. Zagolow be-ruhigt die Leute, seine Autorität wirkt besänftigend, die Terroristen akzeptierenihn als Vermittler. Fatima fragt ihn, ob siealle sterben werden. Zagolow beruhigt sieund sagt, um sie aufzuheitern: „Wenn dashier vorbei ist, werde ich allen erzählen,dass du mir zu Füßen gelegen hast.“

Schule Nummer eins, Hauptkorridor,früher Abend

Kasbek Dsarassow, lang, dünn, kniet mitdem Gesicht zur Wand, bald darf er sitzen,dann sogar liegen, in seine Hände schießtdas Blut. Es fühlt sich an wie tausend Na-deln. Auf dem Flur haben sie Schwer- undLeichtverletzte geteilt. Die stark Verwun-deten liegen jetzt links von der Tür, dieLeicht- und Unversehrten rechts.

Er muss arbeiten. Wenn vor den FensternBarrikaden umfallen, scheuchen sie ihnhoch, neue Bücherstapel zu holen, Stühle,Schautafeln für den Chemieunterricht, Poster mit sowjetischen Kriegshelden „Ausden Flammen Afghanistans“. Im Leerlaufdes Terrors, wenn einmal Pausen entste-hen, redet er die Geiselnehmer an. „Warumlasst ihr die Kinder nicht frei?“, fragt er.„Sie verstehen doch nichts.“ – „Sie müssenauch nichts verstehen“, antwortet einer,„es reicht, dass sie sterben.“

Am Abend des ersten Tages entschei-den sich die Terroristen, den Flur von To-ten und Schwerverletzten zu räumen. Dsa-rassow und ein zweiter Mann müssen diebeiden Leichen auf eine ausgehängte Türlegen, die als Bahre verwendet wird. Siebringen die Toten ins Klassenzimmer Num-mer 16, Dsarassow merkt sich die Zahl.

Er sieht auf dem Weg, dass kleine Grup-pen von Terroristen in die Schulkantinegehen, offenkundig, um zu Abend zu es-sen. Dsarassow denkt etwas Verrücktes, erdenkt: „Sie sehen aus, als hätten sie Dienst-schluss in einer Fabrik.“ Zwei Frauen ausder Schulküche bekochen die Geiselneh-mer. Dsarassow verlädt derweil die Lei-chen in das dunkle Klassenzimmer.

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Titel

Ex-Geisel Dsarassow

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Ex-Geisel Kudsajew

Dann wollen sie auch die Schwerver-letzten nicht mehr auf dem Flur haben.Wieder zwingen sie Dsarassow und denzweiten Mann, den er nicht kennt, die Kör-per zu transportieren. Sie müssen die Ver-letzten in das Zimmer mit den Leichenbringen. Sie legen sie dort in der Dunkel-heit ab. Die Männer, sechs insgesamt, sindschwer. Und sie stöhnen unter Schmerzen,sie schreien, wenn Dsarassow sie auf dieTür hebt zum Transport.

Bis in die Nacht muss er weiterarbeiten,immer weiter, Bücher holen, Baumaterial.Er wird in ein Klassenzimmer RichtungHaupteingang geführt. Er ist mit einemGeiselnehmer allein. Er hört ihn sagen, inseinem Rücken: „Du bist für uns nichts. Duwirst sterben.“ Kasbek Dsarassow denktfür eine Schrecksekunde, dass es schonjetzt so weit sein könnte. Dass er jetzt, indieser Nacht, von diesem Mann erschossenwird. Auf dem Boden liegen Patronenhül-sen, überall. Der Terrorist sagt: „Wir sindKinder Allahs, wir sind seine Söhne. Betedu zu deinem Gott, dass er dir gnädig ist.“Er spielt mit seiner Waffe herum, aber ererschießt Dsarassow nicht.

Er führt ihn wieder auf den Korridorhinaus, wo immer wieder Schüsse zu hörensind, sehr nah, sehr fern. Einmal scheint esDsarassow, als könne er genau sagen, wo-her die Schüsse kommen: aus Richtung desKlassenzimmers 16, wo die Toten liegenund die Verletzten, die er dorthin gebrachthat. Dsarassow lehnt mit dem Rücken zurWand. Er hat nach all der Arbeit brennen-den Durst, eine pelzige, mehlige Zunge.Über den Flur laufen Geiselnehmer, wieaufgeputscht, darunter auch der eine, denDsarassow bei sich „den Krüppel“ nennt.Der Unterarm des Mannes ist amputiert.

Tschetschenien, Bezirk Noschai-Jurt

Der Krüppel heißt mit Namen Chan-PaschiKulajew. Sein Bruder Nur-Paschi ist eben-falls unter den Geiselnehmern. In derTurnhalle werden sie der „Einarmige“ undder „Lächelnde“ genannt. Sie kommen ausStary Engenoi im Bezirk Noschai-Jurt in

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Tschetschenien, sie sind dort geboren. Dasist Bassajew-Land, Rebellen-Humus, es istdie Heimat von mindestens vier der Gei-selnehmer in Beslan. An die 200 Höfe sindnoch bewohnt in Stary Engenoi, fast zehnJahre nach Ausbruch des ersten Tsche-tschenien-Kriegs. Mindestens 20 Männeraus dem Dorf sind im Kampf gegen dieRussen gefallen.

Wenn eine „Säuberung“ ansteht, wennföderale Truppen Haus für Haus durch-kämmen nach Waffen und Verdächtigen,dann finden sie noch immer, was sie su-chen. Zum Beispiel, im Herbst 2004, in ei-nem einzigen Gehöft: sechs Kalaschni-kows, zwei Makarow-Pistolen, 200 GrammSprengstoff, 8000 Patronen, zwei Nacht-sichtgeräte, vier Funkgeräte.

Die Kulajews bewohnen zwei beschei-dene Häuser auf einem Wiesengrundstückam Ortsausgang von Stary Engenoi. 2500Quadratmeter Grund, im Garten zu Gar-ben gebündelte Maisstauden, Weißkohl,Honigmelonen und ein paar Hühner. DieZimmer der Terroristen von Beslan sindvon mönchischer Schlichtheit. Das desschmächtigen Nur-Paschi, der hier letzt-mals im Februar 2004 schlief, misst zwölfQuadratmeter samt Holzofen, Teppichenan den Wänden und Gurkengläsern amFenster. Das des älteren Bruders Chan-Paschi, des Einarmigen, ist gleich groß, miteinem Bett aus Nussbaum und einer hell-blauen Kommode.

Die Eltern schlafen in der Nähe, in einemVerschlag aus Lehmwänden mit einemStück Wellblech, unter dem Bild der Istan-buler Hagia Sofia. Vater Oburg-Hadsch,69, war bis zur Rente Sowchos-Arbeiter.Mutter Ajmani, 70, arbeitete in der Tabak-plantage. 1956 kehrten sie aus der kasachi-schen Verbannung zurück und wurden El-tern von elf Kindern.

Chan-Paschi, der ältere der beiden Brü-der, besuchte im Dorf die achtklassigeSchule und fiel durch sein Interesse an Ge-schichte auf, vor allem an der Geschichtedes Islam. Der Ziegelbau der Schule vonStary Engenoi, in dem er sich sein Grund-wissen aneignet, gleicht jenem der Schule

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Nummer eins von Beslan bis in Details.Ab 1991 diente Chan-Paschi in der sowje-tischen Armee. Nur-Paschi, der Jüngere,folgte ihm später in der Uniform der russi-schen Truppen, ein schneidiger Sergeantmit Fellmütze über dunklem Haar. Von1994 an, dem Jahr des Kriegsausbruchs inTschetschenien, kämpfte Chan-Paschi ge-gen die russischen Truppen. Er war damals21 Jahre alt, hat nie geregelte Arbeit ge-funden und sich für ein Leben im Unter-grund entschieden.

Er wurde in der Folge als Kommandeurunter Schamil Bassajew gehandelt, er warsogar dabei, als Bassajew, der „Sklave Al-lahs“, auf eine Mine trat und sein Fuß am-putiert wurde.

Verbürgt ist, dass Chan-Paschi Kulajewim August 2001 bei einer Schießerei mitrussischen Truppen so schwer verwundetwurde, dass ihm später der rechte Unter-arm amputiert werden musste. Am 29. Au-gust 2001 ging er in der RebellenhochburgAlleroi, nahe seinem Geburtsort, zusam-men mit zwei Mitkämpfern den Verfolgernins Netz. Er wurde verhaftet unter demVerdacht, Mitglied einer illegalen bewaff-neten Vereinigung zu sein.

Den Zugriff im Stammland Bassajewswerteten Geheimdienstler als bedeutendenSchlag. Chan-Paschi Kulajew wurde zuneun Jahren Gefängnis verurteilt. Am 16.Dezember 2001 aber wurde er schon wie-der aus dem Gefängnis entlassen, angeblichweil sich durch die Amputation seinesArms für die Generalstaatsanwaltschaft„die Umstände“ geändert hätten. Vielleichtwar es so. Vielleicht war Bestechung imSpiel. In Beslan wird er später einer dergrausamsten Täter sein.

Chan-Paschi Kulajew setzte sich nachseiner Freilassung in Richtung Inguschienab. Er fühlte sich minderwertig. DieSchwiegereltern im tschetschenischen Gu-dermes spotteten über ihn. Im Guerilla-krieg war er keine Hilfe mehr, im zivilenLeben entlarvte ihn die Verstümmelungvor den Augen der Sicherheitskräfte alsehemaligen Bojewik. Mit seinem siebenJahre jüngeren Bruder Nur-Paschi, der als

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Tschetschenische Terroristenhochburg Stary Engenoi

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Videoaufnahme von einer Geiselnehmerin

NTV /

AFP

Wasserträger und Hilfskraft in den Bergenbei den Rebellen Verdienste sammelte, ließChan-Paschi sich im Herbst 2003 im ingu-schischen Dorf Sagopschi nieder, lediglichfünf Kilometer entfernt von dem Ort, andem sie ein Jahr später das Zeltlager vorder Abfahrt nach Beslan errichten werden.Und: nur wenige hundert Meter von denHäusern entfernt, in denen die angehen-den Geiselnehmer Mussa und Bei-Ala Zetschojew lebten.

Kennen sich die als Schläfer getarntenspäteren Co-Terroristen zu diesem Zeit-punkt schon? Gibt es einen Plan, nach demim Bezirk Malgobek, der zu Tschetsche-nien gehörte, bevor er an die Inguschenverschenkt wurde, die Fäden für den Ter-roranschlag in Beslan zusammenlaufen sol-len? Vieles spricht dafür.

Das Haus, das die Kulajew-Brüder mie-teten, liegt in der Askanow-Straße 17 vonSagopschi. Es gehört, wie die drei angren-zenden, dem aus Tschetschenien geflüch-teten Merschojew-Clan. Jener Familie, dievorübergehend auch den GAS-66 genutzthat, der am 1. September waffenstarrendnach Beslan schaukeln wird.

Sagopschi, 10 700 Einwohner, 400 Be-rufstätige, hat einen aufgebockten Welt-krieg-II-Panzer hinter dem Ortsschild zubieten – und ansonsten Staubpisten, Gän-seherden, Maisstauden und neben demKriegerdenkmal mit dem roten Stern einegroße neue Moschee aus Ziegeln. Dem da-zugehörigen Mufti haben radikale Wahha-biten im Dorf vor vier Jahren das Haus indie Luft gesprengt. Trotzdem sagt der spin-deldürre Kriminalkommissar Saurbek Far-gijew, von Terroristen im Dorf sei ihmnichts bekannt.

Die Kulajew-Brüder haben dementspre-chend ungestört in der Askanow-Straßefür umgerechnet 45 Euro Miete im Monateine Drei-Zimmer-Wohnung mit ihrenFrauen und Kindern bewohnt. Man trafsich mit den Vermietern, schaute gemein-

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sam Filme und Boxkämpfe im Fernsehen.Die Brüder lebten unauffällig, halfen beider Kartoffelernte, nahmen an Beerdigun-gen teil und an Dankgebeten. Am 15. Juni,sechs Tage vor dem Überfall auf Nasranund 77 Tage vor der Geiselnahme von Bes-lan, verließen die Brüder schlagartig dasDorf. Nur-Paschi mit Frau und zwei Kin-dern, das jüngste wenige Wochen alt,Chan-Paschi mit Frau und einem Kind.

Sie fanden für die letzten Wochen Un-terschlupf im benachbarten RebellennestPsedach, in der Engenoi-Straße 2, hinterdem Friedhof am Ende einer ungeteertenSackgasse gelegen. In dieser Straße hattenam 4. März 2003 russische Spezialeinheitenin einem mit Waffen bis unters Dach voll-gestopften Haus fünf tschetschenische Ter-roristen getötet. Und als die Beamten amfolgenden Tag im wenige Kilometer hügel-aufwärts liegenden Stary Malgobek, in derStraße des Westens 102, wieder ein Hausumstellten und fünf junge Tschetschenenerschossen, die nach Inguschien einge-drungen waren, entkam nur der Mann, derden Kämpfern Quartier gegeben hatte, IssaTorschchojew, 26 Jahre alt, vorbestraft we-gen Raubüberfalls.

Am Morgen des 1. September tauchtdieser Torschchojew wieder auf – in derTurnhalle von Beslan. Wie die Kulajew-Brüder, die Zetschojews und all die ande-ren, die im Bezirk Malgobek seit langemdem Staat den Krieg erklärt hatten.

Beslan, Krisenstab, nach 20 Uhr

Später als geplant landet der Jet der Re-gierung mit Leonid Roschal, dem Kinder-arzt aus Moskau, der vermitteln soll, inBeslan. Der Arzt und Unterhändler vonPräsident Putin hatte einen ungemütlichenFlug. Gewitter haben den Piloten zu ei-nem Umweg gezwungen. Vor dem Ter-minal des Flughafens von Wladikawkas,der näher an Beslan liegt als an der

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Hauptstadt, wartet ein Wagen der nord-ossetischen Regierung. Er bringt Roschal indie Stadt, ins Gebäude des Krisenstabs.Dort verkündet der ParlamentspräsidentMamsurow gerade aus dem FSB-Lager diefrohe Nachricht: „Einen Sturm auf dieSchule wird es nicht geben.“

Schule Nummer eins, Turnhalle, Abend

Die Ärztin Larissa Mamitowa ist in derTurnhalle zurück. Sie hat den Auftrag, Kin-der zur Toilette zu begleiten. Das Regimeder Geiselnehmer bedroht wahllos Män-ner, Frauen, Kinder. Sie drücken ihnen dieGewehrläufe in Stirn und Hals, nur weilsich einige umdrehen oder weil Säuglingeweinen. Aber Mamitowa geben sie jetzteine Tüte mit Snickers-Riegeln, Rosinenund Pulver für Babynahrung. Die Kinder,nicht die Männer, dürfen am ersten Tagauch Wasser trinken an den Waschbeckenin den Umkleideräumen zu beiden Seitender Turnhalle.

Dennoch schreien die Säuglinge. Als dieTerroristen das Weinen nicht länger ertra-gen können, schicken sie die Mütter mitden Säuglingen aus der Halle hinaus in dieUmkleidekabine. Mamitowa bittet die Müt-ter, ihre Kinder zu stillen. Sie versuchen es.Doch sie können nicht. Sie legen die Säug-linge auf die Bänke und versuchen, sie inden Schlaf zu singen. Viele Kinder schrei-en gleichwohl die ganze Nacht.

Larissa Mamitowa verbringt die Nachtneben dem Terroristen am Bombenzün-der. Er sitzt in einer Ecke der Turnhalle aufeinem Stuhl, den Fuß auf dem Detonator.Wenn die Terroristen sich abwechseln, hältimmer ein Dritter die Hand auf den Deto-nator, um die Bomben zünden zu können.Mamitowa sagt ihnen, sie sollen vorsichtigsein. Die ganze Nacht lang beobachtet sieden Terroristen und ermahnt ihn, nicht ein-zuschlafen.

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Blitz und Donner stehen über der Schu-le. Regen prasselt gegen die Scheiben derTurnhalle. Durch die zerschlagenen Fens-ter zieht kühle Luft herein. Sie lindert dieschwüle Hitze in der Halle, die Geiselnatmen, so tief sie können. Die Luft riechtnach Regen, er bringt den Geschmack vonWasser in den Mund.

Beslan, Krisenstab, nach Mitternacht

Leonid Roschal, der Vermittler, tippt dieNummer des Terrorkommandos in derSchule ein, drückt auf die Verbindungs-taste und wartet. Es klingelt. Dann: „Hal-lo.“ Die Stimme gehört einem Mann. Sieklingt ruhig und entspannt.

Roschal sagt, wer er ist, er fragt nichtnach dem Namen seines Verhandlungs-partners, und er erfährt ihn auch nie. DerMann am anderen Ende der Leitung nenntRoschal die Regeln für die Verhandlungen:

„Wenn das Handy abgeschaltet wird,werden wir Geiseln erschießen.“

„Wenn das Handy an ist und Sie unserenAnruf nicht annehmen, werden wir Geiselnerschießen.“

„Wenn wir sehen, dass sich draußen Sol-daten bewegen, werden wir Geiseln er-schießen.“

„Wenn bei uns das Licht ausfällt, werdenwir Geiseln erschießen.“

Roschal unterbricht.„Sie können keine Geiseln erschießen,

bloß weil das Licht ausfällt, Sie wissendoch, wie es ist, hier in Nordossetien. Hierfällt das Licht andauernd aus.“

Der Terrorist überlegt, sagt dann:„Wir geben Ihnen drei Minuten Zeit,

wenn das Licht ausfallen sollte. Ist es nachdieser Frist immer noch aus, werden wirGeiseln erschießen. Und: Wenn Sie sichder Schule allein nähern, werden wir auchSie erschießen. Kommen Sie nur zusam-men mit den Präsidenten von Nordossetienund Inguschien.“

Als Roschal weiterfeilschen will, brülltsein Gegenüber am anderen Ende der Lei-tung: „Du Judenfresse, scher dich zumPimmel, dich allein brauchen wir nicht.Gehst du allein 20 Schritte in RichtungSchule, machen wir dich platt.“

Roschal sagt daraufhin im Stab: „Dassind Bestien. Verglichen mit denen war Ba-rajew ein Küken.“ Mowsar Barajew kom-mandierte die Geiselnehmer im MoskauerMusicaltheater.

TAG ZWEI, 2. SEPTEMBER

Schule Nummer eins,Hauptkorridor, 9 Uhr

Kasbek Dsarassow, der lange Dünne, kau-ert auf dem Flur, durch die Ritzen der Bar-rikaden scheint Tageslicht, seine Gliederund Muskeln schmerzen von den Torturender vergangenen 24 Stunden, jetzt brau-

chen sie ihn wieder zum Arbeiten. Derzweite Tag der Geiselnahme ist angebro-chen, die Zeit kriecht wie eine Schnecke.

Dsarassow muss zurück ins Klassenzim-mer 16, wohin er in der Nacht Tote undVerletzte gebracht hat. Jetzt, am Morgen,sind auch die Verletzten tot. Aber sie sindnicht an ihren Verletzungen gestorben.Dsarassow sieht Schusswunden an Köpfenund Rümpfen. Er erinnert sich des Schuss-lärms aus Richtung des KlassenzimmersNummer 16. Er ist, innerlich, fassungslos.Aber nach außen trägt er eine Maske. Seinharmloses, gutmütiges Gesicht.

Der Terrorist drängt zur Eile. Der Auf-trag lautet, alle acht Leichen ins ersteStockwerk zu transportieren, ins Litera-turzimmer. Dsarassow kennt es gut. Erkennt die ganze Schule gut. Er hat selbstzehn Klassen an der Schule Nummer einsabsolviert, er weiß, wie die Wege hier ge-hen, die Treppenhäuser, welche Winkel esgibt, welche Ecken.

Eine nach der anderen tragen Dsaras-sow und eine zweite Geisel die Leichennach oben, das heißt aus dem Klassen-zimmer heraus, wo sie die als Bahre ge-nutzte Tür ankippen müssen. Zum Trep-penhaus geht es ein paar Schritte in denFlur Richtung Turnhalle, dann hoch, danndie paar Schritte zurück über den Flur. Dergesamte Weg ist eng, man eckt leicht an mitder quergelegten Tür, die toten Körper ver-rutschen. Im Literaturzimmer liegen be-reits Tote, einige in der linken Ecke zu denFenstern hin, ein Mann nahe der Tür.

Auch auf der ersten Etage herrscht Be-trieb. Auch hier gehen Terroristen den Flurentlang, sie wirken aufgekratzt, sie trans-portieren Gerät, Waffen, Munitionskästen.Es ist unklar, von wo nach wo sie gehen. Esist unklar, was genau sie in diesen leerenStunden eigentlich zu tun haben. Aber siebewegen sich viel. Sie laufen herum. Sietun beschäftigt.

Als er die letzte Leiche aus dem Klas-senzimmer 16 heraufbringt, denkt KasbekDsarassow wieder daran, dass jetzt er mitdem Sterben an der Reihe sein könnte. Ei-gentlich geht er in diesen Augenblickenfest davon aus. Die Drecksarbeit ist fastgetan, er und die andere Geisel sind lästi-ge Mitwisser, es ist für die Terroristen dasEinfachste, sie jetzt umzubringen.

Aber die Arbeit ist noch nicht ganz ge-tan. Dsarassow wird mit vorgehaltener Waf-fe gezwungen, die Toten aus dem Fensterzu werfen. Es ist ungefähr zehn Uhr. Ergibt sich keine Mühe, die Arbeit schnell zumachen. Er zerrt die Leiber auf das Fens-terbrett, er schaut sie sich möglichst nichtan, vermeidet den Blick in die Gesichter,dann schiebt er sie vor. Er schiebt, bis dieLeichen fallen. Fünfmal macht er das. FünfTote wirft er hinaus zur Komintern-Straße.Und dann, es kommt für ihn überraschend,sagt der Terrorist: „Komm mit nach unten.Ab in die Turnhalle. Du hast doch Familiedort? Bete zu deinem Gott.“

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Beslan, Krisenstab, 9.30 Uhr

FSB-Vizechef Pronitschew und der inzwi-schen eingetroffene General AlexanderTichonow, Befehlshaber der Anti-Terror-Eliteeinheiten Alfa und Wimpel, diskutie-ren die Möglichkeit eines Sturms.

Die nordossetischen Politiker wider-sprechen heftig. Sie beschwören die bewaff-neten Einheiten, nichts zu unternehmen.

Wenig später bieten sich die Ältesten-räte Tschetscheniens und Inguschiens, aberauch arabische Fernsehsender als Vermitt-ler an. Gutgemeinte, sinnlose Gesten. DieGeiselnehmer wollen nur die von ihnengenannten Persönlichkeiten sehen, nie-manden sonst.

Schule Nummer eins, Turnhalle, Vormittag

Der Terrorist am Bombenauslöser sitzt aufeinem Stuhl und hört Radio. Larissa Ma-mitowa, die Ärztin, erfährt, dass die Re-gierung die Nachricht auf dem Zettel er-halten habe, doch angeblich funktionieredie Telefonnummer nicht. Der Sender be-richtet auch, dass die Regierung von nur300 Geiseln spricht. Die Terroristen sindaußer sich, als sie das hören. Sie rufen denGeiseln zu, dass niemand mit ihnen ver-handeln wolle. Dass sie sich bis zur letztenKugel verteidigen würden. Und dass sie imNamen Allahs handelten.

Mamitowa bittet, den „Oberst“ sprechenzu dürfen. Sie wird ins Treppenhaus ge-führt, und der Oberst kommt aus dem ersten Stock zu ihr herunter. Sie sagt ihm,dass sein Telefon nicht funktioniere. DerOberst nimmt zwei Handys und ruft daseine mit dem anderen an. Und wirklich:Die Nummer funktioniert nicht. Hat derKrisenstab inzwischen die Nummer, dieam Abend vorher noch funktionierte, sper-ren lassen, um Zeit zu gewinnen? Oder umdie Geiselnehmer zu verunsichern? DerOberst diktiert Mamitowa eine neue Num-mer. Sie schreibt die Nummer auf einenZettel. Sie schreibt auch, dass die Terroris-ten die Geduld verlieren.

Das Unterhemd ihres Sohnes schwen-kend, geht Mamitowa gegen elf Uhr mitder neuen Nachricht hinaus auf den Schul-hof. Doch am Schultor an der Komintern-Straße steht niemand, um die Nachricht zu holen. Vom Schultor auf der anderenSeite ruft ein Mann, sie solle zu ihm kom-men. Der Mann nimmt die Nachricht ent-gegen und sagt, dass seine beiden Kinderals Geiseln in der Schule seien. Mami-towa sagt ihm, dass 1300 Geiseln in derSchule seien. Dass es unerträglich heiß sei.Und dass es den Kindern immer schlech-ter gehe.

Die Kinder dürfen sich an diesem Mor-gen waschen. Aber trinken dürfen sie nichtmehr. Die Terroristen sagen, das sei dieStrafe dafür, dass die Regierung nicht mit ih-nen verhandle. Besonders Chodow, mit sei-

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Inguschischer Dichter Kodsojew mit Schwiegertocher Luissa Geiselnehmer bei der Präparierung einer Bombe (Videoszene)

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nem verwundeten Arm, wird zunehmendaggressiv. Er stellt Wachen neben dieWaschbecken. Er schreit, dass jedes Kind,das Wasser trinke, erschossen werde. DieKinder verstehen nicht, warum sie nichttrinken dürfen. Mamitowa sagt ihnen, dasWasser sei vergiftet, um sie abzuhalten.

Am Nachmittag schlagen die Terroristenin einem der Klassenzimmer ein Loch inden Boden. Sie sagen, dass die Kinder jetztdort zur Toilette gehen sollen, weit wegvon allen Wasserhähnen.

In der Turnhalle haben sich inzwischenfast alle Kinder bis auf die Unterwäscheausgezogen. Die Terroristen werden wü-tend, wenn sie unbedeckte Mädchen se-hen. Sie weisen Mamitowa an, dafür zusorgen, dass die Mädchen sich nicht aus-ziehen. Sie versucht, es den Mädchen zuerklären, und beschwört sie, die Terroristennicht zu verärgern.

Beslan, Krisenstab, Vormittag

Fünf Kinder und eine Frau hat der ver-meintliche Terrorist Isnaur Kodsojew, erlebt getrennt von ihnen, aber der Krisen-stab meint, sie könnten trotzdem nützlichsein. Sie haben Luissa, die Frau, holen las-sen, am Vorabend kurz nach elf Uhr, ausihrer ärmlichen Behausung in Kantysche-wo mitsamt ihren Kindern. Die Geheim-dienstler, die sie begleiten, warnte sie vorfalschen Hoffnungen: „Wenn ihr mich zurSchule fahrt, kann es passieren, dass meinMann auch mich und die Kinder um-bringt.“

Ein Telefongespräch mit ihrem Mann inder Schule kommt nicht zustande, nichtam Abend, nicht an diesem Vormittag.Stattdessen wird ein Video gedreht. Darinspricht Luissa an die Adresse von IsnaurSätze, die später im Fernsehen gesendetwerden: „Wenn du dort bist, lass die Kin-der frei. Hilf den Kindern, du hast dochselbst fünf.“ Ihre ersten Sätze allerdings,sagt Luissa Kodsojewa, seien nicht gesen-det worden. Sie lauteten: „Isnaur, ich weiß,dass du nicht dort bist.“ Und: „Sie habenmich gezwungen.“

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Isnaur Kodsojew ist ein Abkömmling deringuschischen Oberschicht. Er ist verwandtmit dem Duma-Abgeordneten BaschirKodsojew und der Sohn von Issa Kodsojew,dem Nationaldichter Inguschiens und Be-gründer der Gerechtigkeitspartei.

Zu Hause sind die Kodsojews in Kanty-schewo, einem Ort, der mit 17 000 Ein-wohnern und zehn Moscheen auf einerKante über dem christlichen ossetischenFlachland thront wie eine Bastion des Pro-pheten. Den Flughafen von Wladikawkas,nahe Beslan, ja sogar die Stadt Beslanselbst mit ihren Wodkafabriken und mitder Schule Nummer eins hat man von hieraus zu Füßen liegen.

Der Kodsojew-Clan hat in Kantyschewodie Koranschule gestiftet, gleich neben derZentralmoschee, in der sich freitags bis zu6000 Gläubige aus der Stadt und dem Um-land einfinden.

Inguschien ist ganz anders als Nord-ossetien. Die Männer sehen in ihren dunk-len Anzügen und breitkrempigen Hüten,mit sonnengegerbten Gesichtern und ho-her Gestalt aus wie kaukasische Residen-ten der Cosa Nostra. Die inguschischenFrauen schütteln keine Hände, tragen kei-ne Miniröcke und trinken keinen Alkohol.

Die Inguschen leben gut vom Schmuggelmit Benzin aus Tschetschenien und vonder Förderung eigener Vorräte. Das Öl ausdieser Gegend ist hochwertig. Im Schattender „nickenden Esel“, die über die Re-publik verteilt sind und bis zu sieben Ton-nen täglich fördern, fallen kleine Reich-tümer ab.

Über dieses Land, über seine Geschich-te hat Kodsojew, der Nationaldichter, ge-arbeitet, sein Buch steht in den örtlichenBibliotheken, und es zählt zur Pflichtlek-türe bildungsbeflissener Inguschen. Dieprachtvollen Illustrationen der Original-ausgabe hat Isnaur Kodsojew angefertigt,der Sohn des Dichters, der Terrorist.

Die russischen Ermittler haben Kodso-jew junior seit längerem als Verbrecher ge-führt: 1998 gekidnappt und wieder befreit,im August 2003 im Terrortrainingslager Ali-Jurt aufgetaucht, im Juni 2004 beteiligt am

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Überfall auf Nasran und an der Ermordungeines Polizisten.

Beslan, Krisenstab, 12 Uhr

Putins Berater Aslachanow wird erwartet,hat es aber noch nicht von Moskau nachBeslan geschafft. Seit Beginn der Geisel-nahme sind 27 Stunden vergangen. DerFlug von Moskau nach Wladikawkas dau-ert gut zwei Stunden. Wo bleibt Aslacha-now?

Dafür trifft Ruslan Auschew jetzt ein,der Ex-Präsident Inguschiens, aus seinemGesicht spricht Draufgängertum, ein bu-schiger Schnauzbart sträubt sich unter derbreiten Nase. Auschew zählt, wie die ausblanker Verzweiflung alarmierten Guzeri-jew-Brüder, zu den Intimfeinden Putins.Wie sie wird auch er nicht ins Gebäudedes Krisenstabs gelassen, wo die Abge-sandten Putins tagen. Auschew telefoniertund organisiert ab jetzt vom Hof aus.

Auschew, ein Afghanistan-Veteran, istfür seine guten Kontakte zum tsche-tschenischen Untergrund bekannt. Unterseiner Regierung, von 1992 bis 2001, ent-wickelte sich Inguschien zu einer ArtSchlaf- und Ruheraum für die erschöpftetschetschenische Guerilla. Wer von ihnenhier verhaftet wurde, kam zumeist raschwieder frei. Auschew war Waffenkameradund Weggefährte Aslan Maschadows, lan-ge bevor der 1999 als Tschetschenen-Prä-sident in den Untergrund ging.

Russlands Präsident Wladimir Putinmissfiel die Allianz der beiden Regional-fürsten im Nordkaukasus von Amtsantrittan. Im April 2002 ließ er deshalb mit demGeheimdienstgeneral Murat Sjasikow ei-nen Mann seines Vertrauens in Inguschienan die Spitze bringen. Er erhoffte sich soeine stabile Westflanke im damals schonfast zweieinhalb Jahre andauernden zwei-ten Tschetschenien-Krieg. Aber Putin irrte.

Das Resultat seines Machtspiels ist le-diglich eine vorverlagerte Frontlinie imKrieg der Zentralmacht gegen die Rebellenim Nordkaukasus. Der Tschetschenien-Krieg frisst sich weiter westwärts. Das mas-

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sivere Durchgreifen der Bundesbehördenauf inguschischem Boden führt zu einerEskalation der Lage.

Hausdurchsuchungen, Razzien, Verhaf-tungen, das Arsenal der in Tschetschenienerprobten Mittel wird nun vom Inlandsge-heimdienst FSB und von mobilen Truppendes Innenministeriums auf Inguschien an-gewandt. Allein von Januar bis September2004 sind in der 470000-Einwohner-Repu-blik 47 Menschen spurlos verschwunden.Gleichzeitig wird aus allen Teilen der Re-publik Zulauf, vor allem junger Leute, zufinanzstarken, radikalen Wahhabiten-Zir-keln gemeldet.

Der Fanatismus wandert westwärts. Undmit ihm der Krieg im Kaukasus.

Schule Nummer eins, Turnhalle, Nachmittag

Saurbek Gutijew, der pensionierte Lehrerund Stalingrad-Kämpfer, sieht die Welt wiedurch einen Nebel. Der alte Mann hat seitüber 30 Stunden nichts getrunken und ge-gessen, er spürt seine kaputten Beine kaummehr. Es ist heiß im Saal, wie in einer Sau-na, die Luft kaum zu atmen, schwangervom Dunst der Exkremente. Die Kinderverlangen immer öfter, immer lauter nachWasser. Sie betteln Erwachsene an, in Fla-schen zu urinieren, damit sie zu trinkenhaben.

Gutijew hält noch immer seine Jackezurückgeschlagen aus Angst, die Terroris-ten könnten seine Orden sehen, noch im-mer hat er seinen Hut auf dem zierlichenKopf. Aber er schwitzt nicht. Innerlich istihm kalt. Er sitzt da wie ein Gestrandeter.Fast fehlt ihm die Kraft, sich zu wünschen,dass er überleben möge.

Er hört eine Mädchenstimme sagen:„Saurbek Charitonowitsch! Machen Sieden Mund auf!“ Er sieht das Mädchen erstnicht, es ist von rechts an ihn herangekro-chen. Er hört nur die Stimme. Er wendetsich ihm zu. Er kennt es nicht. Er denkt:„Sie hat etwas zu trinken gefunden! Siewird mir Wasser geben!“ Er öffnet denMund, darin alle Zähne aus purem Gold,alte Sowjetarbeit, vor 30 Jahren gemacht inKrasnodar, er legt den Kopf zurück, erschluckt.

Drei Schluck. Warm, säuerlich, bitter. Erschluckt Urin, von einem unbekanntenMädchen aus einem Tuch in seinen Mundgewrungen, er möchte weinen wie die Kin-der ringsum, aber er ist doch ein erwach-sener Mann, ein verdienter Soldat, 160Tage und 160 Nächte Stalingrad, er denkt:Das hier ist schlimmer. Die hier sind üblerals alle Faschisten zusammen.

Beslan, Krisenstab, Nachmittag

Ruslan Auschew, der Ex-Präsident Ingu-schiens, ruft mit dem Mobiltelefon seinenalten Weggefährten Achmed Sakajew inLondon an, den Auslandsvertreter des

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tschetschenischen UntergrundpräsidentenAslan Maschadow.

Sakajew, vom Moskauer Geheimdienstgejagt, hat sich in London politisches Asylund ein behagliches Unterkommen er-kämpft. Seit er die Unterstützung der bri-tischen Regierung genießt und sich alsDiplomat des über die Welt verstreutenTschetschenen-Sprengels sieht, trägt Saka-jew dunkle Anzüge und silberfarbene Kra-watten. Er residiert am Leicester Squareunweit des Parlaments- und Regierungs-viertels. Sein Büro wird inzwischen vonEngländern geführt.

Er hat an diesem Donnerstag, alsAuschew anruft, gerade sein Büro verlas-sen, um in den BBC-Studios ein Interviewzum Geiseldrama in Beslan zu geben. SeinHandy ist abgeschaltet. Erst beim zweitenVersuch kommt eine Verbindung zustande.Auschew gibt den Hörer an den Präsiden-ten Nordossetiens, Dsassochow, weiter, der1999, bei Ausbruch des zweiten Tsche-tschenien-Kriegs, Frau und Tochter vonMaschadow in seiner Republik unterge-bracht hat. Man kennt sich, man respek-tiert sich, man ist sich etwas schuldig.

Sakajew verspricht, Maschadow mit derBitte um Hilfe zu verständigen. Dsas-sochow telefoniert daraufhin wieder mitPutin. Der russische Präsident ist bereit,über die Freilassung von inhaftierten Ter-roristen zu verhandeln, wenn dafür eine„große Zahl“ Kinder aus der Turnhallefreikomme. Russlands Staatsoberhaupt bit-tet den Krisenstab, alles zu tun, um dieKinder nicht zu gefährden.

In Baku, Aserbaidschans Hauptstadt,wird zusätzlich der Kontaktmann „Ali“ ak-tiviert, um eine Verbindung zu Tsche-tscheniens Untergrundpräsidenten Ma-schadow herzustellen. Aber Maschadow,so viel wird schnell klar, will Sicherheits-garantien. Sein Vorgänger Dudajew ist er-mordet worden, nachdem die Russen überdas Satellitensignal seines Mobiltelefonsherausgefunden hatten, wo er sich aufhielt.Maschadow will dieses Risiko nicht einge-hen. Er meldet sich nur per Internet.

Im militärischen Flügel des Krisenstabswächst inzwischen die Gewissheit, dass dieTerroristen in der Schule keine Unbe-kannten sind. Es gilt ab sofort, den Scha-den für den Ruf der eigenen Truppen zubegrenzen. Der Kommandierende derFSB-Spezialtruppen fordert um 15.20 Uhrvon der 58. Armee Panzer und Schützen-panzer an.

Im zivilen Flügel des Stabs kommt Freu-de auf, weil die Terroristen einem Besuchvon Ruslan Auschew, dem Ex-PräsidentenInguschiens, zugestimmt haben. Ein direk-ter Kontakt. Das gibt Hoffnung.

Schule Nummer eins, Turnhalle, 15.30 Uhr

Ruslan Auschew, der Unterhändler, über-quert den Hof und steuert auf die große

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Flügeltür der Turnhalle zu, die sich für ihnöffnet. Er bleibt auf der Schwelle stehen. Erfragt die Geiselnehmer, ob sie ihn erken-nen. Das ist der Fall.

Die Terroristen haben sich für diesenAnlass alle maskiert. Sie filmen die An-kunft Auschews mit einer Videokamera.Sie übergeben Auschew eine neue Listemit Forderungen, adressiert an „Seine Ex-zellenz, den Präsidenten der RussischenFöderation, Putin“, vom „Sklaven Allahs,Schamil Bassajew“.

Der „Oberst“ teilt Auschew mit, dass dieRegierung alle Angehörigen der Geisel-nehmer auf dem Schulhof vorführen underschießen könnte – auch das würde nichtsändern an seiner Entschlossenheit und denForderungen. Von der Schuldirektorin hörtAuschew, dass etwa 1200 Geiseln in derSchule seien. Einer der Geiselnehmer kor-rigiert sie und sagt, es seien 1020.

Auschew, er hat die meiste Zeit beideHände an den Kopf gelegt wie vor Entset-zen, darf Geiseln mitnehmen. Er verlässtden Ort mit 12 Frauen und 15 Säuglingen.Eine Frau gibt ihren Säugling einer ande-ren Frau und kehrt um, weil sie noch zweiweitere Kinder in der Halle hat. EineGroßmutter, die gehen durfte mit einemEnkelkind, bleibt, weil noch ein zweiterEnkel unter den Geiseln ist. Das Foto, dasAuschew neben seinem Wagen zeigt, imFond einen nackten, geretteten Jungen,geht um die Welt.

Im Krisenstab analysieren sie die Listeder Terroristenforderungen. Der Text istgeschrieben auf die ausgerissene Seite ei-nes Mathematikhefts. Er wimmelt vonRechtschreibfehlern. Die Geiselnehmerfordern die Beendigung des Krieges undden Abzug der russischen Truppen ausTschetschenien, die Aufnahme Tsche-tscheniens als souveränen Staat in die Ge-meinschaft Unabhängiger Staaten (GUS)und den Einsatz von GUS-Friedenstruppenin Tschetschenien.

Es sind Forderungen, die kurzfristignicht zu erfüllen sind.

Beslan, Krankenhaus, Nachmittag

Die Direktion stellt einen Krisenstab auszehn Ärzten zusammen. Die Mediziner ge-hen davon aus, dass in der Schule mehr als1000 Menschen in Gefahr sind, die baldärztliche Hilfe brauchen könnten. Die of-fiziell verlautbarte Zahl von 354 Geiselnignorieren sie.

Es stehen in Beslan fünf Operationssäleund 15 Chirurgen zur Verfügung. 215 Bet-ten können frei gemacht werden, wennman alle Patienten entlässt, deren Zustandnicht bedrohlich ist. Wenn alle Ärzte desBezirks zusammengetrommelt werden, hatman an die 200 Mediziner zur Verfügung.23 Ärzte des Krankenhauses haben Kinderals Geiseln in der Schule, zehn Kranken-schwestern sind gefangen und eine Ärztin,Larissa Mamitowa.

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Soldat mit gerettetem Säugling

Unterhändler Auschew auf dem Weg zuden Geiselnehmern

In der Turnhalle deponierte Bombe

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In den drei Krankenhäusern von Wladi-kawkas werden ebenfalls Betten für Not-fälle vorbereitet, Operationssäle her-gerichtet, sind Dutzende Ärzte in Bereit-schaft. Insgesamt stehen in Beslan undWladikawkas am zweiten Tag der Geisel-nahme 1045 Betten in vier Krankenhäu-sern bereit. Die beteiligten Direktionen er-halten ihre Anweisungen direkt von denGesundheitsbehörden in Moskau. Dasheißt, dass dieselbe Regierung, die in offi-ziellen Stellungnahmen von 200 bis 400,später von 354 Geiseln spricht, in denKrankenhäusern gleichzeitig über 1000Betten für Opfer hat herrichten lassen.

Beslan, Krisenstab, Nachmittag

Es sieht nicht gut aus. Die Unterhändlerder Regierung kommen nicht weiter, ob-wohl fast ununterbrochen mit den Geisel-nehmern Telefonkontakt besteht. Es kur-sieren Gerüchte, dass die Geiselnehmermit Drogen vollgepumpt seien, dass sie Pil-len nähmen, um wach zu bleiben und umim entscheidenden Moment die Bomben inder Turnhalle zu zünden. Die General-staatsanwaltschaft wird später allen Ernstesverkünden: Die Geiselnehmer von Beslanseien eine Bande Drogensüchtiger gewe-sen, die am Ende Fehler machten aufgrundvon Entzugserscheinungen.

Aber der Mann, der in der Regel amTelefon antwortet, ist bei glasklarem Ver-stand. Wenn etwa der Kinderarzt Roschaleine Bitte äußert, wenn er eine Frage stellt,antwortet sein Gesprächspartner ruhig undohne zu zögern.

„Sie und Ihre Männer kommen doch ausden Bergen, Sie sind ehrbare Männer“,sagt Roschal einmal. „Halten ehrenvolleMänner Kleinkinder als Geiseln fest? Las-sen Sie die Kleinsten gehen, bitte.“

Die Antwort: „Nein.“„Lassen Sie die Frauen gehen. Sie haben

dann doch genug Männer als Geiseln.“„Nein.“„Lassen Sie uns Wasser und Essen zu

den Kindern bringen.“Der Terrorist verweigert auch das: „Die

Kinder sind im Hungerstreik. Sie brauchenkein Wasser, kein Essen.“

„Im Hungerstreik? Sie haben Kinder inIhrer Gewalt, die fast noch Säuglinge sind.Wie sollen die in einen Hungerstreiktreten? Lassen Sie mich zu den Kindern,bitte.“

„Nein.“

Schule Nummer eins, Turnhalle,20 Uhr

Am Abend um acht Uhr wird Saurbek Gutijew, der Stalingrad-Kämpfer, aufge-schreckt aus dem Dämmer der Erniedri-gung. Die Terroristen schreien Befehle, siehantieren mit ihren Gewehren, Kalaschni-kows, Pistolen. Der alte Mann findet sichwieder in einer Gruppe von 35, 40 Men-

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schen, lauter Erwachsene, ältere Frauen,Männer, sie werden aus der Turnhalle ab-geführt, werden durch die enge Tür zumKraftsportsaal getrieben, durch den kleinenWindfang dort, hinein in den niedrigen Ne-benraum der Halle, wo Seitpferde stehen,Recks, Barren.

Gutijew kennt den Raum als Saal, indem früher das Boxtraining stattfand, erweiß, dass da eine Umkleidekabine ist, mitDuschen und Waschbecken, mit Wasser.In der Tat geben die Terroristen die Türfrei, wirklich darf auch Saurbek Gutijewhinein, er stürzt zum Waschbecken, ertrinkt, so viel er trinken kann, schluckt,saugt, sein Körper genießt die Erfrischung.Dann stoßen sie ihn weg, zurück in denKraftraum, und das Licht geht aus.

Das Licht geht aus, und 35, 40 Menschenempfinden das schlagartig als furchtbaresSignal, als Todesdrohung. Das Licht gehtaus, und jetzt hören die 35, 40 Geiseln, wieGewehre durchgeladen werden, sie hö-ren Repetiergeräusche, ein Schleifen undKnacken wie vom Wechseln der Magazine,leise, schneidende Stimmen.

In diesen Sekunden spricht alles für eineMassenexekution, und Saurbek Gutijew,der fürchten muss, in der Dunkelheit die-ses Sportraums hingerichtet zu werden, dersich einnässt vor Angst, er muss lernen,mit 84 Jahren, dass die Schrecken des Krie-ges noch zu steigern sind. Dass der blindeSadismus dieses Terrors alles von ihm bis-lang Erlebte, auch die 160 Tage und 160Nächte Stalingrad, schlägt.

Sie schießen nicht. Sie spielen nur mitihrer Macht über Leben und Tod. Sie sagen:„Setzt euch hin! Betet zu eurem Gott!“Saurbek Gutijew betet nicht. Er hofft aufein Wunder in der einen Sekunde, in derandern glaubt er alles verloren. Die Nachtkommt. 35, 40 Menschen sitzen hellwach inder Finsternis des Kraftsportraums. Siewerden so sitzen bis sechs Uhr am nächstenMorgen, bis sie wieder verlegt werden indie große Turnhalle. Zehn Stunden lang.

Beslan, Krisenstab, Abend

Leonid Roschal, der Unterhändler der Re-gierung, legt das Telefon zur Seite. Geradehat er den Geiselnehmern in der Schule einneues Angebot unterbreitet.

„Wir möchten Ihnen eine Möglichkeitanbieten, die Schule zu verlassen. Es gehtum einen Fluchtkorridor von hier bis nachTschetschenien. Man wird Sie nicht an-greifen. Sie können Geiseln mitnehmen.“

In der Sekunde, in der Roschal den Satzbeendet, hört er die Antwort: „Nein.“

Sie sind weniger gesprächsbereit als derTrupp damals im Theater, denkt Roschal.Und: Sie haben dazugelernt. Sie wissen,dass sie in einer Situation sind, in der sienicht verlieren können. Gibt die Regierungihren Forderungen nach, haben sie ge-wonnen. Gibt sie ihnen nicht nach, dannstürmen Soldaten die Schule, Bomben wer-

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Unterhändler Roschal Geiseln in der Turnhalle

den gezündet, und ossetische Kinder wer-den sterben, durch inguschische undtschetschenische Selbstmordattentäter.Auch das wäre ein Sieg für die Terroristen,für die Sprache der Gewalt, für den Exportdes Tschetschenien-Kriegs in die angren-zenden Kaukasus-Republiken. So denktLeonid Roschal, der Arzt.

Schule Nummer eins, Turnhalle, nach 22 Uhr

Einige Kinder sind ohnmächtig. Ein Jungeaus der siebten Klasse fällt in eine Krampf-starre. In ihrer Verzweiflung reichen Eltern ihre Kinder nach vorn und flehendie Terroristen an, sie trinken zu lassen.Die Terroristen drohen, die Kinder zuerschießen, und feuern Gewehrsalven inRichtung Decke.

In der Halle ist es so heiß und so eng ge-worden, dass einige der Geiseln sich nebendie Sprengstoffpakete zum Schlafen legen,auch unter die großen Bomben an den Bas-ketballkörben. Die Ärztin Larissa Mami-towa findet an diesem Abend keinen Platzmehr zwischen den anderen Geiseln. Siefragt einen der Terroristen, ob sie sich aufden Stapel Taschen legen dürfe. Der Wäch-ter bejaht. Mamitowa erinnert sich, dasssie in ihrer Tasche Arzneimittel hat. Siebeginnt, die Taschen nach Medikamentenzu durchsuchen. Einer der Terroristen be-merkt es, doch er tut so, als hätte er nichtsgesehen.

Viele Kinder haben inzwischen Fieber.Mamitowa verteilt unter den Geiseln, wassie in den Taschen findet: Schmerzmittel,Herztabletten, Aspirin. In den hinterenReihen schreien die Geiseln, dass sie auchMedikamente wollen. Mamitowa fragt, wassie brauchen. Sie nehmen alles, es ist ihnenegal.

Mamitowas Sohn Tamerlan und derSohn eines Kollegen aus dem Krankenhauskommen in dieser Nacht zu ihr. Die Jungen

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reden von ihrem Durst. Sie sind 13 Jahrealt. Sie haben Angst zu sterben.

Beslan, Komintern-Straße /Ecke Lermontow-Straße, nachts

An der Polizeisperre ist der Tag zäh dahin-gegangen. Roman Alijew, der Streifenpoli-zist, und seine ungefähr 30 Kollegen müs-sen die Leute in Schach halten, die An-gehörigen, die sich zu Hunderten, wennnicht zu Tausenden hier drängen. Manch-mal droht Panik an der Sperre, die Leuteflehen die Polizisten an, nichts zu unter-nehmen.

Roman Alijew weiß nicht genau, wovondie Rede ist. Niemand plant einen Sturm,die Polizei schon gar nicht. Er hört vonden Leuten nur, was im Fernsehen gesagtwird. Dass die Terroristen zu allem ent-schlossen seien, dass sie für einen Toten ausihren Reihen im Gegenzug 50 Geiseln er-schießen wollen, solche Sachen, er ver-sucht, die Menschen im Gespräch zu beruhigen.

Die Nacht bricht an. Nachts ist es ruhi-ger, weniger Angehörige sind da, sie gehennach Hause, sie essen, sie versuchen zuschlafen, auch Roman Alijew und seineKollegen reißen Fladenbrot und brechensich Käsestücke ab, sie sitzen unter Nuss-bäumen und Kastanien und essen, dannwechseln sie sich mit Schlafen ab.

Alijew ist wach, als hoher Besuch auf-kreuzt an seinem Posten. Ein Oberst ausWladikawkas ist da, dazu der Polizeichef,Leute aus dem Krisenstab, Politiker. Siesagen: „Ihr müsst euch hier zurückziehen.Hebt die Sperre auf. Wir verhandeln, wahr-scheinlich bekommen sie einen Korridorfür den Abzug. Haltet sie nicht auf. Schießtnicht. Wir gehen davon aus, dass sie Gei-seln mitnehmen.“

Die Polizisten sammeln sich zum Ab-marsch, es ist ein Haufen, der von weitemaussieht wie die Truppe eines Warlords in

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irgendeinem Bürgerkrieg. Die eine Hälfteträgt Uniform, die andere nicht, die Uni-formierten tragen verschiedene Mützen,unterschiedliche Jacken, Gürtel, mal Stie-fel, mal Turnschuhe. Ein Teil der Leute hat offizielle Dienstwaffen in der Hand,Kalaschnikows, ein Teil hat Gewehre ausprivatem Besitz dabei. So ziehen sie ab.

Sie marschieren zur nahe gelegenen Ei-senbahnüberführung, um dort abzuwar-ten. Die Überführung liegt im Schussfeldder Schule. Tatsächlich wird in ihre Rich-tung geschossen, ein paar Mal. Die Polizis-ten gehen in Deckung und beobachten.

Sie sehen, wie drei Terroristen durch dasTor der Schule heraustreten, bewaffnet, aufder Hut, die Gewehre im Anschlag. Sie ge-hen ein paar Schritte. Sie wirken, als wür-den sie sich umsehen, die Lage prüfen.Dann hört Alijew, wie sie, alle drei, „Allahist groß“ rufen. Sie schießen in die Luftund ziehen sich wieder in die Schulezurück.

Roman Alijew wartet darauf, dass dieTerroristen nun abziehen, irgendwie. Dassgleich Fahrzeuge vorfahren werden zuihrer Verfügung. Aber nichts geschieht. 15Minuten lang geschieht nichts. Dann wirdseiner Polizeieinheit der Befehl zugetra-gen, wieder auf ihren Posten zurückzu-kehren. Sie gehen, von Schüssen beglei-tet, im Schutz der Nacht. Offenbar wird eskeinen Korridor geben.

Schule Nummer eins, Turnhalle, Mitternacht

Fatima, die Fotografin der Lokalzeitung,kriecht zwischen den anderen Geiseln hin-durch in die Nähe des Geräteraums, derneben dem Korridor zwischen Turnhalleund Hauptgebäude liegt. Sie beobachtet,wie sich die Terroristen in dem Geräte-raum abwechselnd schlafen legen. Ich binJournalistin, denkt sie, ich muss aufmerk-sam sein.

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Doch die Luft ist vor dem Geräteraumnoch schlechter, Fatima kann kaum atmen.Langsam kriecht sie hinüber zum Fensterund legt sich auf das Fensterbrett. Schla-fen kann sie nicht. Sie hatte gehofft, dassdie Geiselnehmer wenigstens die Kinderfreilassen würden. Nun glaubt sie nichtmehr daran, dass sie überleben wird. Siedenkt, dass es besser ist, sich dem Schick-sal zu fügen.

Sie liegt auf dem Fensterbrett und denktan Seneca. „Man muss über den Tod nach-denken, um keine Angst vor ihm zu ha-ben“, hat sie in einem seiner Bücher gele-sen, so erinnert sie sich. „Denn wir habenkeine Angst vor dem Tod, sondern vor demGedanken an ihn.“ Fatima hat keine Angstmehr vor dem Tod, auch nicht vor demGedanken an ihn. Aber sie hat Angst, dasser langsam und qualvoll kommen könnte.

Beslan, im Krisenzentrum,Mitternacht

Generalleutnant Wiktor Soboljew, der Kom-mandierende der 58. Armee, hat den Elite-truppen des Geheimdienstes inzwischensechs Schützen- und drei Spähpanzer über-lassen, und aus Wladikawkas sind Panzerangerollt. Gleichzeitig haben im zivilen Flü-gel des Krisenstabs Nordossetiens Parla-mentssprecher Mamsurow und der Duma-Abgeordnete Rogosin den Entwurf einesAbkommens mit den Terroristen fertig ge-stellt. Kern ihres Papiers sind Verhandlungender russischen Staatsführung mit Mascha-dow, ein Autonomieplan für Tschetschenienund ein schrittweiser Truppenabzug.

Nach getaner Arbeit stärken sich dieVerfasser, flankiert vom Chef der nordos-setischen Nationalbank und einer Mos-kauer Senatorin, mit Huhn und Piroggen.Mamsurow und Rogosin teilen sich dazueine Flasche Wodka. Aus der nahe gelege-nen Schule, nur 200 Meter Luftlinie ent-fernt, sind Schüsse zu hören. Wieder ein-mal. Die Terroristen ballern vom Dach indie Nacht hinein. Als wollten sie sich dieZeit vertreiben.

TAG DREI, 3. SEPTEMBER

Beslan, Krisenstab, 7.30 Uhr

Die Nacht war kurz, bis nach zwei Uhrmorgens gab es Kontakt mit den Geisel-nehmern, jetzt reden die Unterhändler wie-der, sie verhandeln, ob sie Medikamente,Wasser, Nahrung in die Halle bringen dür-fen. Es geht darum, das Leid der Geiseln zumindern. Irgendeine Normalität herzu-stellen inmitten dieses Wahnsinns.

Der Mann am anderen Ende, vermutlichjedes Mal „Oberst“ Chutschbarow, wie-derholt die immer gleiche Antwort: DieGeiseln wollten kein Wasser und kein Essen. Sie befänden sich im Hungerstreikgegen die Regierung.

Der Krisenstab ordnet an, die Sicher-heitszone um die Schule zu erweitern. DieFamilien der Geiseln, die Journalisten, dieaus aller Welt angereist sind, müssenzurückweichen, noch einmal ein, zwei Ge-bäudeblocks weiter weg vom Zentrum derGeschehnisse. Lew Dsugajew, Pressechefdes nordossetischen Präsidenten, diskutiertmit den Versammelten darüber, wie mitoffiziellen Angaben zur Zahl der Geiselnweiter zu verfahren sei. Man entschließtsich, weiter zu mauern. Erst fünf Stundenspäter wird Dsugajew verkünden, dass dieGeiselzahl „nach jüngsten Informationenhöher ist als 354“.

In Dauertelefonaten gelingt es dem in-guschischen Ölmanager Guzerijew, der sichzunehmend zum Chefunterhändler ent-wickelt, die Terroristen davon zu überzeu-gen, dass die Leichen auf dem Schulhofund auf dem Grünstreifen zur Straße hingeborgen werden müssen. Manche Leiberliegen seit 48 Stunden an der Luft.

Beslan, Wohnhaus von Murat Kazanow, 8 Uhr

Es ist still in der Wohnung von Murat Ka-zanow, das ist ein schmaler, dunkler Mann,45 Jahre alt, die schwarzen Haare graudurchsetzt, Schnauzer, die Augen bern-steinfarben; er schaut hinunter auf dieSchule. Er wohnt mit seiner Familie in derSoslan-Batagow-Straße 37, das ist der Ge-bäudeblock, dessen westliches Ende ansSchulgelände stößt; sie haben die Zwei-Zimmer-Wohnung im dritten Stock. DieWohnzimmerfenster, die Loggia davor, ha-ben Panoramablick auf den Schulhof, aufdie Turnhalle, auf alle Gebäudeflügel.

Eine seiner beiden Töchter sitzt da drun-ten als Geisel. Alana, die 15-Jährige, warmit der Mutter die paar Schritte hinüber-gegangen, um ihr neuntes Schuljahr zu beginnen, als die Banditen kamen. Kaza-nows Frau, getrennt von Alana, konnte sichretten im Wirrwarr der ersten Minuten.Die Tochter nicht.

Murat Kazanow zählt nicht zu denen,die leicht außer Fassung geraten. Er hatsich im Leben hart gemacht. Ende der sieb-ziger Jahre hat er bei den Fallschirmsprin-gern gedient, danach trainierte er sich alsRinger und Boxer. Seit er sein Geld als Ab-schleppunternehmer verdient, ist er mitUnfällen aller Art vertraut. Aber das hier,das übersteigt alles.

Seine Wohnung gilt eigentlich als eva-kuiert, aber die Familie ist geblieben. Siekann zwar nicht zur Vordertür hinaus, weildie im Schussfeld liegt. Aber man kannüber das Dach zu den hinteren Treppen-häusern gehen und dort hinuntersteigenauf die Straße. Die Polizei war schon zu Be-such, ein Dutzend Polizisten lungerten imWohnzimmer herum, auf dem breiten Sofamit dem Pfauenmuster, sie ließen sich Teebringen, telefonierten viel, zur Schuleschauten sie kaum hinüber. Sie spielten mit

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der Fernbedienung von Kazanows matt-schwarzem Golden-Eye-Fernseher undzappten sich durchs russische Nachmit-tagsprogramm. Dann gingen sie und ka-men nicht wieder.

Der Fernseher läuft auch jetzt. Zur vol-len Stunde, in den Nachrichten, reden siewieder von 200 bis 400 Geiseln. Jeder inBeslan weiß, dass diese Zahl falsch ist. Sieklingt Murat Kazanow in den Ohren wieHohn. „Allein die Erstklässler und ihre Angehörigen zählen weit über 300“, denkter. Will die Regierung schon jetzt die Zah-len kleinhalten, um später, nach einer Be-freiungsaktion, nicht so viele Opfer zuge-ben zu müssen?

Kazanow steigt hinauf aufs Dach desWohnblocks, halb so lang wie ein Fußball-feld, breit wie ein halber Tennisplatz. Män-ner hocken dort oben, Nachbarn, und rau-chen. Das Gebäude ragt höher auf als dieSchule. Ein normal großer Mann ist hieroben von der anderen Seite nicht zu sehen,geschweige denn mit Schüssen zu treffen.

Vom Dach bietet sich ein komplettesPanorama der Situation. Im Südwestenliegt das Schulgebäude, 35, 40 Meter Luft-linie entfernt die Turnhalle. Im Osten stehtder Riegel der Beslaner Polizeistation,grau, drei Etagen, jede Etage 12 Fensterbreit, 100 Meter Luftlinie entfernt. Im Wes-ten das Haus der Stadtverwaltung, dane-ben der Kulturpalast, beide liegen 200 Meter von der Schule entfernt.

Kurz sind alle Wege in Beslan, wo jederjeden kennt. Im Süden hebt sich derHauptkamm des Kaukasus, auch er wirktzum Greifen nah, ein gewaltiges Gebirge,in seinen Spitzen über 5000 Meter hoch,darin der Doppelbuckel des Kasbek, vonewigem Eis überzogen, wie matt glasiert.

Murat Kazanow steht und raucht.

Schule Nummer eins, Turnhalle, morgens

Die Terroristen verbieten den Kindern, zurToilette zu gehen. Die Ärztin Larissa Mamitowa fragt, ob sie wenigstens jeneKinder hinaustragen dürfe, die kaum nochatmen können. Die Terroristen sagen:Nein, sie sollen sterben.

Sie schicken Mamitowa, im Gebäudenach Plastikflaschen zu suchen. Die Kindersollen in die Flaschen urinieren. Mamito-wa findet einige Flaschen, und als sie damitin die Turnhalle zurückkehrt, denken dieGeiseln, sie bringe Wasser. Sie schreiennach Wasser. Als sie merken, dass die Fla-schen leer sind, schreien sie vor Verzweif-lung. Die Terroristen schießen über ihreKöpfe hinweg.

Mamitowa lässt sich zum „Oberst“führen, er sitzt im ersten Stock im Büro derDirektorin. Sie bittet ihn, eine Ärztin imKrankenhaus anrufen zu dürfen. Es hand-le sich dabei um eine vernünftige Frau, sagtMamitowa, die werde den Behörden sa-gen, wie schlecht es um die Kinder

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steht. Der Oberst willigt ein – unter der Be-dingung, dass sie nur Russisch spricht.

Im Lehrerzimmer nebenan darf Mami-towa telefonieren. Sie erreicht die Ärztinnicht, doch sie erzählt einer Kranken-schwester, wie dramatisch der Zustand derKinder sei und dass sie keine Medikamen-te mehr habe. Sie solle den Behörden berichten, dass es eine Katastrophe gebenwerde, wenn den Kindern nicht bald ge-holfen werde.

Mamitowa geht zurück in die Turnhalleund spricht mit der Direktorin der Schule.Wir müssen etwas tun, sagt sie. Mamitowaerinnert sich, dass zwei Kinder des nord-ossetischen Parlamentspräsidenten Mam-surow unter den Geiseln sind. Sie lässt sichvon der Direktorin zu den Kindern führen.Mamitowa nimmt die Kinder an die Handund geht mit ihnen zum Oberst. Sie fragtihn, ob sie deren Vater anrufen dürfe. DerOberst erlaubt es.

Mamitowa erreicht den Parlamentsprä-sidenten im Krisenstab, im Gebäude derStadtverwaltung von Beslan. Sie erzählt,wie schlecht der Zustand der Geiseln sei.Die Geiselnehmer würden immer aggres-siver, und es bleibe nicht mehr viel Zeit,um eine Katastrophe zu verhindern. Dannreicht sie den Hörer weiter an den Sohn.Der fleht seinen Vater an, alles zu tun, umdie Geiseln zu retten.

Beslan, Wohnhaus von Murat Kazanow, 10.30 Uhr

Murat Kazanow, der Abschleppunterneh-mer, kommt über das Dach vom Einkaufenzurück. Er hat eine Stange Zigaretten geholt,zwei Wassermelonen, in seiner Wohnung sit-zen sechs Nachbarn und Freunde, rauchenund halten Rat. Zusammen haben sie fastzwei Dutzend Angehörige in der Turnhalle.Aus dem Gebäudeblock Nummer 37 sindfast 60 Bewohner zu Geiseln geworden.

Der Fernseher läuft. Nachrichten. NichtsNeues, wie immer; nichts, was sie nichtselbst aus den Fenstern besser sehen könn-ten. Immer noch reden sie im Fernsehenvon 354 Geiseln.

Rings um die Schule sind Polizeieinhei-ten zu sehen, gewöhnliche Polizei, aberauch Truppen des Innenministeriums,Männer der Sonderpolizei Omon, Kata-strophenschützer, das bunte Durcheinan-der russischer Uniformen, dazu Schützen-panzer, Löschfahrzeuge, Ambulanzen.

Die Häuser sind zur Schule hin evaku-iert, aber nicht von Sicherheitskräften be-setzt. Strategisch entscheidende Punktewie das Hausdach über Kazanows Woh-nung, wie andere Dächer ringsum, sie blei-ben leer, die Scharfschützen sitzen an-derswo, schlecht positioniert, irgendwo inder Nachbarschaft, aber nicht dort, wo sienach dem Ermessen Kazanows und seinerFreunde eigentlich sitzen müssten.

Am Vormittag gehen Elitesoldaten we-nigstens in Kazanows Wohnung in Stel-

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lung. Sie sind zu viert. Vier Alfa-Leute,zwei von ihnen bauen ein Maschinenge-wehr am inneren Wohnzimmerfenster auf,ans äußere Fenster in die Loggia wagen sie sich nicht. Kazanow fragt, warum dieDächer nicht besetzt werden. Warum kei-ne Schützen postiert sind. Welche Plänees gibt. Die Alfa-Leute wissen nichts.

Schule Nummer eins, erster Stock, 12.40 Uhr

Ein Terrorist holt Larissa Mamitowa, dieÄrztin, in den ersten Stock. Er fragt sie, obsie Angst vor Blut und Leichen habe. Ichbin Ärztin, sagt Mamitowa, wie soll ichAngst vor Blut und dem Tod haben? DerTerrorist führt sie in das Literaturzimmer,sie sieht viel Blut an den Wänden und aufdem Boden. Es kämen bald Mitarbeiterdes Ministeriums für Katastrophenschutz,um Leichen zu holen, sagt der Terrorist.Wo sind die Leichen?, fragt Mamitowa.Der Terrorist führt sie ans Fenster. Darun-ter sieht Mamitowa etwa 20 Leichen auf-einander liegen, Fliegen sitzen auf ihnen.Sie erkennt Geiseln wieder, die auf demKorridor knieten. Warum ihr der Terroristdiese Szene zeigt, weiß sie nicht.

Mamitowa geht zurück in die Turn-halle. Sie sieht, wie die Kinder Urin aus denPlastikflaschen trinken. Andere urinierenauf Kleidungsstücke und wringen sie überihrem Mund aus. Die Luft in der Halle istso heiß und stickig, dass die Geiseln kaumnoch atmen können, es riecht nach Ex-krementen. Mamitowa sieht ihren Sohnauf der anderen Hallenseite vor einemFenster stehen. Sie ruft ihm zu, er sollesich hinlegen. Am Boden sei die Luft besser.

Beslan, Wohnhaus von Murat Kazanow, 13 Uhr

Wieder beginnt das Karussell der Nach-richtensendungen. Der Golden-Eye-Fern-seher des Abschleppunternehmers MuratKazanow versendet nichtssagende Live-Bilder aus schlecht postierten Kameras.Von der Komintern-Straße biegt ein Lasterauf das Schulgelände ein. Auf seiner Lade-pritsche stehen aufrecht zwei Helfer. DerWagen fährt langsamer als Schritttempo,er kriecht. Die Terroristen haben zuge-stimmt, dass Leichen vom Schulhof gebor-gen werden, die seit fast zwei Tagen dortliegen. Es ist 13.01 Uhr. Vielleicht 13.02Uhr. Vielleicht 13.03 Uhr. Von der Schulebrüllt eine Explosion, ein gewaltigerSchlag. Es ist der Anfang vom Ende.

Schule Nummer eins, hinterer Schulhof, 13.03 Uhr

Fatima, die Fotografin der Lokalzeitung,spürt die Hitze der Explosion auf ihremKörper, betäubt richtet sie sich auf, halbspringt sie, halb fliegt sie aus dem Fenster.

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Sie denkt an nichts, sie läuft. Sie spürt Glas unter ihren Füßen. Sie läuft entlangder Rückwand der Turnhalle. Sie hörtnichts, ihre Ohren sind taub. Sie sieht sich nicht um. Sie rennt wie durch einenTunnel.

Beslan, Krisenstab, 13.05 Uhr

Im Stab bricht Panik aus. NordossetiensPräsident Dsassochow schreit: „Das istmein Ende!“ Dem Unterhändler Guzerijewgelingt es, noch einmal eine Leitung in dieSchule herzustellen. „Was habt ihr getan?“,schreit er. Eine zweite große Explosion erschüttert die Luft. Dann Gewehrfeuer.Geräusche des Chaos, die bis hierher lautzu hören sind. „Ihr habt uns belogen“, lau-tet die Antwort.

„Aber es gibt keinen Sturm!“, ruft Gu-zerijew. Der Terrorist am anderen Endewürgt das Gespräch ab mit den Worten:„Wsjo. My wsrywajem.“

„Das war’s. Wir sprengen.“Chaos bricht los, aber es ist schwer zu

rekonstruieren, warum genau. Eindeutigist, dass die erste, alles auslösende Explo-sion im Inneren der Halle, wohl an einemder Basketballkörbe, mit der Ankunft einesLastwagens vom Katastrophenschutz zu-sammenfällt. Auf dessen Ladepritsche stan-den die zwei Männer, die die Leichen vomSchulhof bergen sollten.

Die These, die mit den Geiselnehmernverabredete Bergungsaktion sei vom Ge-heimdienst oder von anderen bewaffnetenSpezialkräften unterwandert worden, umdie Halle zu stürmen, lässt sich durch nichtserhärten. Auch dass die Terroristen etwavorgehabt hätten, der Aktion von sich ausein gewaltsames Ende zu setzen, ist nichtzu belegen. Vielmehr scheint es, als sei eineder zahlreichen Bomben in der Turnhallezufällig explodiert; weil die große Hitzedie Klebestreifen lockerte, mit denen dieBomben befestigt waren, weil sich eineHalterung löste, weil sich ein Kontakt zu-fällig schloss, weil ein Warnschuss der Gei-selnehmer fehlging.

Es sind jedenfalls aus der Halle drei star-ke Explosionen zu hören, die beiden erstensehr kurz hintereinander, die dritte etwa 20 Minuten später, danach folgen noch klei-nere, unspezifisch. Direkt nach den beidenersten Explosionen kommen Geiseln durchdie zerstörten Fenster ins Freie und fliehen,erst vereinzelt, dann laufen Dutzende aufdem Schulgelände um ihr Leben, zu be-nachbarten Häusern, auf die anliegendenStraßen, von hinten beschossen von denGeiselnehmern, in Gefahr aber auch vonvorn, durch das Kreuzfeuer von staatlichenund inoffiziellen Kräften.

Letztere werden sich in den Medien als„Heimwehrler“ und ähnlich bezeichnet fin-den, tatsächlich sind es in der Regel An-gehörige von Geiseln, die ihre Waffen ausdem Schrank geholt und sich bereitgehal-ten haben. Dass sie auch eigene Leute

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Polizist Alijew Ex-Geisel Alikowa

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treffen, darf als gewiss gelten. Dass sie diechaotische Situation verschlimmern, eben-so. Warum sie überhaupt so nah an dieSchule herangelassen werden, bleibt dasGeheimnis der Kommandierenden der Sicherheitskräfte.

Rund um das Schulgelände sind in die-sen Minuten Rettungskräfte postiert, Kran-kenwagen, Feuerwehrautos, Polizei, auchPrivatwagen, sie nehmen die Opfer schnellauf, und es beginnt ein großer Pendelver-kehr zum Beslaner Krankenhaus.

Gegen 13.30 Uhr aber wird das Dach derTurnhalle einstürzen, der ganze Flügelbrennt. Löscharbeiten werden anfangsdurch Dauerbeschuss unmöglich gemacht.Langsam nur arbeiten sich Sicherheits-kräfte auf den Schulhof und ins Gebäudevor, später wird ein Schützenpanzer alsDeckung auffahren. Das Bild dieses Pan-zers, vor den Fenstern der brennendenTurnhalle stehend, wird in Nachrichten-sendungen rund um die Welt zu sehen sein.

Schule Nummer eins, Turnhalle, 13.09 Uhr

Im Moment der ersten Explosion wird esLarissa Mamitowa, der Ärztin, schwarz vorAugen. Sie ist bewusstlos – auch noch, alswenig später die zweite Bombe explodiert.Als sie wieder zur Besinnung kommt, liegtsie auf der anderen Seite der Halle, dort,wo sie ihren Sohn vor einem Moment nochgesehen hat. Sie trägt nur noch ihren Gür-tel und ihre Unterwäsche am Leib, ihreHose und Bluse sind bis auf Fetzen ver-schwunden. Sie spürt einen schrecklichenSchmerz im Rücken. Sie hebt den Kopfund sieht, dass die Bomben nicht mehr anden Basketballkörben hängen.

Um sie herum kriechen Verletzte überden Boden. Ein Terrorist schießt in dieLuft. Ein Teil des Dachs ist eingestürzt.Der Rest brennt. Sie dreht sich um undsieht einen Terroristen, der jetzt ein weißes

T-Shirt trägt und sein Gewehr auf sie rich-tet. Sie lässt sich fallen und stellt sich tot.

Sie hat nur einen Gedanken: Tamerlan,mein Sohn. Sie muss ihn finden. Der Ge-danke daran lässt sie aufstehen. Draußenhört sie die Kinder schreien, so laut, dasssie denkt, sie werden der Reihe nach er-schossen. Sie sucht ihren Sohn dort, wosie ihn unmittelbar vor der Explosion sah.Doch sie findet nur tote Kinder.

Ihre Gesichter sind blass, ihre Augenund Münder stehen offen, sie sehen sichalle sehr ähnlich. Sie nimmt sie auf denArm, eines nach dem anderen, aber siekann nicht erkennen, ob einer von ihnenihr Sohn ist. Sie schaut nicht mehr in dieGesichter, sie untersucht die Kleidung. Siefindet einen toten Jungen, von dem sieglaubt, er könnte Tamerlan sein. Aber erträgt die falschen Socken. Sie nimmt einenanderen Jungen auf den Arm, aber siekennt seine Hose nicht. Sie sucht die Nar-be auf Tamerlans Stirn, drei Zentimeterlang, der Stein traf ihn damals zwischenden Brauen. Doch sie findet sie in keinemder blassen Gesichter.

Die Terroristen schießen wild um sichund schreien, die Geiseln sollen in den Kel-ler gehen. „In den Keller! Alle in den Kel-ler!“ Doch Mamitowa geht in den Kraft-sportraum hinter der Turnhalle, vielleichthat Tamerlan sich dort versteckt. Sie findetihn nicht. Sie bricht zusammen und weint.

Schule Nummer eins, hinterer Schulhof, 13.15 Uhr

Fatima erreicht die hintere Mauer desSchulgeländes, dicht bei den Garagen ander Soslan-Batagow-Straße. Sie steigt aufein Rohr und klettert hinüber. Dann überein Eisentor. Sie wirft sich zwischen zweiGaragen auf den Boden und bedeckt sichmit einem Brett. Sie hört Schreie und be-tet. Sie hört Schüsse. Sie hört, wie die Pro-jektile über sie hinwegfliegen und die Wän-

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de der Garagen durchfahren. Sie sieht eineAkazie, die ihre Blätter verliert.

Dann hört das Schießen für einen Mo-ment auf, und sie hört eine ossetische Stim-me. Das ist meine Chance, denkt sie, undruft um Hilfe. Jemand schlägt gegen eineWand zwischen den Garagen. Sie kletterthinüber und fällt in die Arme eines Man-nes. Er schleift sie zu einem Soldaten, derlegt sie auf eine Trage. Sie sieht den Him-mel in seinem Blau, und sie kann nichtglauben, dass sie lebt. Sie schieben sie inden Krankenwagen.

Schule Nummer eins, Turnhalle, 13.20 Uhr

Nach dem großen Schlag spürt SaurbekGutijew, der pensionierte Lehrer und Sta-lingrad-Kämpfer, von hinten eine Hitze,als würde sein Hemd brennen. Von derDecke stürzen glühende Teile herab, sietreffen seinen Hut, sie verhaken sich in sei-nem Jackett. Die Welt ringsum ist in Auf-lösung, ein Gemisch aus Verderben undRettung; er sieht, wie die Terroristen Kin-der erschießen, direkt vor seinen Augenerschießen sie einen kleinen Jungen undein Mädchen, aus nächster Nähe, er spürtFeuer von allen Seiten, Gutijew steht auf,er geht auf schwankenden Beinen, wie eineverdreckte Marionette.

Es treibt ihn zur Fensterfront, Richtungvorderer Schulhof, aber die Fensterbretterliegen hoch, seine Beine arbeiten nicht,wie sie sollen, sie geben ihm nicht denSchub, den er braucht. Er hört Schüsse. Erriecht Dinge, die er sich nicht vorstellenwill. Er fürchtet das Feuer. Es treibt ihnan. Er hebt sein rechtes Bein mit beidenArmen auf das Fensterbrett, nun liegt erhalb, dann ruckelt er sich mit den ArmenRichtung Außenkante, zieht irgendwie daszweite Bein nach, fällt nach draußen, einenguten Meter tief, weich, auf Körper, die da liegen. Drinnen treiben Terroristen Gei-

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Hinterbliebener Kazanow

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Ex-Geisel Zagolow

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seln aus der Halle. Sie jagen Kinder vorsich her auf den Hauptkorridor. Rechts undlinks stehen Terroristen an den Wändenund treiben sie vorwärts. Angeführt vonAlik Zagolow, dem Sportlehrer, flieht eineGruppe von 20 Kindern in den ersten Stock,in die Aula. Es ist dort für ein paar Mo-mente lang kein Geiselnehmer zu sehen.

Beslan, Wohnung von Murat Kazanow, 13.30 Uhr

Murat Kazanows Wohnung bebt unter demratternden Feuer des Maschinengewehrsder Alfa-Leute, in der Loggia spritzenHolzsplitter von Streifschüssen auf.

Drüben, an der Komintern-Straße, beiden Eisenbahngleisen, sieht es so aus, alssei dies ein geplanter Sturm. Zwei Panzersind aufgefahren, dazu Panzerfahrzeuge,es sind todbringende Granat- und Flam-menwerfer in Stellung gebracht. KaumGerät zur Rettung, viel Gerät für denKrieg. Kampfhubschrauber vom Typ Mi-24kreisen.

Über den Schulhof laufen und kriechenKinder und Alte in ungeordneter Bewe-gung, aus Richtung Turnhalle kommennackte Mädchen, Mütter. Die sieben Freun-de in Kazanows Wohnung haben sich erstauf den Boden geworfen, jetzt heben sieden Kopf, jetzt sehen sie, dass das Regimeder Terroristen zerbrochen ist, dass dieGeiseln sich befreien. Sie sehen, dass dasDach der Halle einstürzt, dass alles inTrümmer fällt. Sie sehen, dass nun Tatengefragt sind.

Die Männer machen sich auf nach unten,zwei der Alfa-Leute gehen mit. Sie nehmennoch einmal den weiten Weg über dasDach. Sie finden, drunten, Spezialkräftedes Militärs. Kazanow geht einen Offizierder Alfa-Truppen an. Er bietet seine Diens-te an. Er sagt: „Ich kann euch den Weg zei-gen. Wir müssen durch die Garagen. Durchdie Garagen geht es direkt in den Kraft-raum hinter der Turnhalle. Gebt uns Waf-fen. Ich zeige euch den Weg.“

Der Offizier schaut ihn nicht an. Ka-zanow wiederholt seine Rede. Er sagt:

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„Komm! Gib mir deine Leute. Ich zeigeeuch den Weg.“ Der Offizier sagt, spöt-tisch, er wendet sich einem Untergebe-nen zu: „Gebt dem Mann lieber eine Be-ruhigungsspritze.“

Kazanow lässt den Offizier stehen, weitvom Zentrum der Ereignisse, er geht losauf eigene Faust, aber die zwei Alfa-Leuteaus der Wohnung folgen ihm, zwei Nach-barn sind auch dabei. Sie laufen den Ge-bäudeblock entlang zum Schulgelände.

Geduckt rennen sie durch Gewehrfeuervom Dach der Schule, 20 Schritte lang imSchussfeld, dann erreichen sie den Schutzder Garagen, den geklinkerten Schuppenvon Elbrus Tochtijew. Kazanow weiß, dasses einen hinteren Ausgang gibt, einen Aus-gang, der direkt zu den Fenstern des Kraft-raums führt.

Drei Fenster. Sie sind vergittert. Kaza-nows kleiner Trupp geht in die Knie ge-duckt heran, Maschendrahtzaun reißt anihren Hemden, sie hocken jetzt unter demFenster ganz rechts. Sie hantieren mit Stan-gen. Sie hebeln am Gitter herum. Von drin-nen keine Reaktion. Bald stehen sie auf-recht, stemmen sich gegen die Wand,reißen endlich das Eisen aus der Veranke-rung, sie sind in der Schule, die Alfa-Sol-daten vorneweg. In einer Ecke, zusam-mengedrängt, 15 Geiseln, verschmiert,schockstarr, aber am Leben, unter ihnenLarissa Mamitowa.

Die Retter zerren eine Bank ans Fenster,um eine Treppe zu bauen. Kazanows Nach-barn führen die Leute hinaus, sie helfen ih-nen in die Freiheit, binnen Minuten rettensie die ersten 15 Leben. Larissa Mamitowawill stehen bleiben, umkehren, sie mussihren Sohn finden. Aber ihr Bruder Borisläuft ihr entgegen, er sagt: Tamerlan lebt!Er ist schon zu Hause! Die Mutter glaubtihm nicht. Doch, es ist wahr, sagt er, Ta-merlan lebt. Da spürt sie die Schmerzen inihrem Rücken wieder.

Sie legt sich bäuchlings auf eine Trageund wird ins Krankenhaus von Beslan ge-fahren. Sie bekommt Spritzen. Die Ver-brennungen auf ihrem Rücken und anihren Beinen sind so schwer, dass sie nach

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Wladikawkas verlegt werden muss. Siespürt einen Splitter im linken Ohr. Aber Tamerlan lebt. Und sie selbst lebt. LarissaMamitowa ist gerettet.

Schule Nummer eins, Schulhof, 13.35 Uhr

Die Schüsse. Das Feuer. Saurbek Gutijewliegt benommen vor dem Fenster der Turn-halle. Er muss endlich hoch. Er sagt zu sichselbst: Steh auf, alter Waschlappen! DieHitze in seinem Rücken hört nicht auf,brennt sein Hemd? Schmerzen breiten sichaus, Saurbek Gutijew schleppt sich weiter,geradeaus, im direkten Weg fort von derFolterstätte, fort von der Turnhalle, dieWege sind weit, 40, 50 Meter muss er schaf-fen, vielleicht 60, aber diese Schreckenkennt er, die Schrecken des Kriegs, er über-quert den Hof, er erreicht die kleinen Häu-ser jenseits des Schulgeländes, dort schüt-ten sie ihm Wasser aus Eimern über denRücken, dort nehmen sie ihn in Empfang,seine Retter, vier Leute, sie tragen ihn.Saurbek Gutijew ist gerettet. 160 Tage, 160Nächte Stalingrad. Drei Tage, zwei Näch-te Beslan.

Beslan, Gegend um die Schule Nummer eins, 13.40 Uhr

Ohne Koordination stürzen sich russischeElitekämpfer in das Feuer. Sie arbeitenohne begleitende Ablenkungs- oder Täu-schungsmanöver, sie beweisen Heldenmut,der an Irrsinn grenzt. Hinter den Elite-kämpfern, in ihrem Rücken, stehen örtlicheossetische Omon-Kräfte und Einheiten derrussischen Armee, dahinter Heimwehrleraus Beslan. Vor allem sie feuern aus allenverfügbaren Rohren.

Für den naheliegenden Versuch, dieSchule von verschiedenen Seiten gleich-zeitig zu stürmen, ist es längst zu spät.Hohe Verluste im Kampf Mann gegenMann sind die Folge. Oberstleutnant Dmi-trij Rasumowski und Leutnant Andrej Tur-kin, genannt der „Tscherkesse“, sind Ve-teranen der russischen Grenztruppen in

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Titel

Tadschikistan und des zweiten Tsche-tschenien-Feldzugs, hochdekorierte Solda-ten, sie sterben im Nahkampf.

Zehn Mann der Eliteeinheiten Alfa undWimpel lassen ihr Leben in Beslan. Das ist der höchste Verlust in der Geschichteder russischen Spezialeinheiten. Selbst derSturm auf den Palast des afghanischenPräsidenten in Kabul am 27. Dezember1979 hat nur sechs Mann das Lebengekostet.

Die Alfa- und Wimpel-Truppen werdenvom Ablauf der Ereignisse in Beslan über-rascht, viele sind bei Beginn der Explosio-nen auf dem weit entfernten Trainings-gelände Sputnik und erreichen den Tatortmit großer Verspätung. Dass ein durch dieHitze gelöster Klebestreifen zum Zündender ersten Bombe, zu allgemeiner Panikführen könnte oder dass am Ende die Ter-roristen selbst die Nerven verlieren könn-ten, derartiges war im Krisenstab nicht er-wogen worden.

„Es gab einen hervorragenden Plan zumSturm“, wird ein Alfa-Mann später sagen,„aber keiner wagte die Entscheidung.“

Schule Nummer eins, Kraftsportraum, gegen 13.45 Uhr

Der Kraftraum, den sie Boxsaal nennen, istvon der Turnhalle durch zwei Türen ge-trennt, die einen Windfang bilden, darinein Fenster auf den rückwärtigen Flügelder Schule. Die Türen sind geschlossen.Die Türen könnten Sprengfallen sein. Essind Drähte zu sehen, die irgendwohinführen. Murat Kazanow und die Alfa-Leu-te entscheiden sich, die Tür nicht zu öffnen.Das Risiko ist nicht kalkulierbar.

Sie entscheiden sich dafür, ein Loch indie Wand zur Turnhalle zu schlagen. Siezerlegen Sportgeräte und rammen Reck-stangen in die Ziegel, wieder und wieder,das dauert, 10 Minuten, 15, es ist einefurchtbare Arbeit gegen die Zeit. Sie wis-sen, dass sie durchgestoßen sind, als eineWolke aus Rauch und unsagbaren Ge-rüchen in den Kraftraum weht. Aus demLoch kommen Menschen. Kinder. Erwach-sene. Alte. Das Loch ist zu klein. Immernur ein Mensch zwängt sich durch.

Die Alfa-Leute schreien den Geiseln Fra-gen zu, ob an den Türen Bomben seien, obsie von Minen wüssten. Sie wägen neu ab.Sie finden das Risiko jetzt nicht mehr zugroß. Sie finden Draht und haken ihn in die Türaufhängungen ein. Sie ziehen sichzurück, so weit es geht, dann reißen sie,fünf Männer mit vereinten Kräften, die Türaus den Angeln. Keine Explosion. DerWindfang ist offen. Ein Alfa-Mann gehthinein, er öffnet die zweite Tür zur Turn-halle, aber er achtet nicht auf das Fenster,er stürzt, von einem Schuss ins Bein ge-troffen.

Menschen drängen heraus, aber es wer-den weniger. Nicht, weil die Halle sichwirklich leeren würde, sondern weil unter

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den Geiseln immer mehr Verwundete sind,die sich nicht mehr bewegen können.Murat Kazanow geht jetzt hinein. Natürlichhofft er, Alana zu finden, seine Tochter.Aber gezielt sucht er nicht nach ihr. Ergreift nach allem, was lebt.

Im Entengang, weil die Terroristen vomDach in die Halle hinunterschießen, arbei-tet er sich unter der Linie der Fensterbret-ter immer weiter vor. Er geht wie durch einen Alptraum. Vorbei an verstümmeltenKindern; vorbei an einzelnen menschlichenGliedern, an Rümpfen, vorbei an offenenLeibern, an Leichen.

Menschen, die noch leben, nimmt er aufbeide Arme, schwere Körper legt er sichüber die Schulter und trägt sie zum Wind-fang, zum Kraftraum. Er spürt bald seineBeine nicht mehr. Ihm fahren Krämpfe indie Waden. Seine Unterarme sind schwerwie Blei. Ein gutes Dutzend Männer machtes Kazanows Beispiel nach. Sie buckelnsich hinein in die Halle, sie zerren Leben-de heraus, wieder und wieder.

Kazanow geht 20-mal, 25-mal, 30-mal,schweißüberströmt trägt er Kinder und Er-wachsene auf den Knien hin und her, umihn die Schüsse, die Hilfeschreie, unter ihmso viele Leiber, dass er seine Füße vor-sichtig setzen muss, um nicht in Menschenzu treten. Die Terroristen schießen noch indie Toten hinein. Wahllos feuern sie in dieHalle, wahllos suchen sie Opfer zu produ-zieren, Opfer, Opfer.

In der Hallenmitte, aber zum Glückunter den Fenstern, sieht Kazanow einenJungen sitzen, fünf oder sechs Jahre alt,unverletzt. Er sitzt da, ernst, regungslos,wie unbeteiligt. Er ist schwer zu erreichen.Körper liegen um ihn, Trümmer.

Murat Kazanow ruft das Kind. Er machtBewegungen mit der Hand. „Komm!Komm hierher! Komm, Junge!“ Das Kindgeht auf allen vieren. Es kriecht vorwärts,ein Stück auf Kazanow zu, der an der Fens-terfront kauert, drei, vier Meter weg, unddie Hand ausstreckt. „Komm weiter! Wei-ter!“ Aber der Junge kann nicht weiter. Ererstarrt. Regungslos steckt er fest, wie ver-steinert. Die Leichen. Das Blut. Das Feu-er. Die Schüsse.

Kazanow bewegt sich auf ihn zu. Er gehtauf Zehenspitzen, um keinen Leib zu tre-ten. Er schiebt die Füße vorsichtig zumBoden durch. Er erreicht den Jungen. Erspricht mit fester Stimme zu ihm, er sagt:„Geh jetzt! Geh zur Tür! Krabbel hin!Mach schon!“ Es fallen noch immer bren-nende Teile vom Dach. Der Junge kannnicht. Kazanow brüllt ihn an. Er schlägtihm auf den Hintern. Er sagt: „Du kriegsteine Tracht Prügel von mir!“, aber es hilftnichts. Kazanow muss ihn doch nehmen,auf die Arme, auf die Knie, seine Mus-keln brennen, er kann den Schritt nichtkontrollieren, er tritt in Weiches und Fes-tes, es geht nicht anders, das Kind musshier raus. Zur Tür. Und dort kehrt Kaza-now wieder um.

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Wieder in die Halle. Dann zur Tür insHauptgebäude, wo auch schon Retter zusehen sind. So trägt Murat Kazanow 60Menschen, vielleicht mehr, vielleicht 80,in die Freiheit und ins Leben zurück. Sei-ne Tochter Alana ist nicht darunter.

Schule Nummer eins, Aula, 14 Uhr

Die Gruppe um den Sportlehrer Zagolowhält sich hinter dem Bühnenvorhang in derAula versteckt. Das könnte gutgehen, wennnicht der schwerverletzte Junge wäre, denein paar andere Kinder hergebracht ha-ben. Er liegt auf dem Boden, er ist viel-leicht 19 Jahre alt, er schreit und trommeltvor Schmerzen mit den Fersen und Händenauf den Boden. Blut pulst aus seinen Wun-den. Sie können ihn nicht zum Schweigenbringen. Er wird sie verraten.

Sie hören eine Stimme: „He, ihr da, hin-ter dem Vorhang, kommt raus, oder ichknalle euch ab. Kommt schon.“ Ein Terro-rist zeigt mit dem Gewehr die Richtung.Zur Kantine, ein Stockwerk tiefer. Um die50 Geiseln sind hier schon zusammenge-trieben. Die Geiselnehmer sind erregt, sieschreien Befehle. Die Kinder sollen dieweißen Vorhänge von den Wänden reißen,in die Fenster treten, die Vorhänge schwen-ken und rufen: Schießt nicht, schießt nicht.Die Kinder gehorchen, bis eine Stimmeruft, sie kommt anderswoher, sie klingt lau-ter: „Legt euch hin!“

Terroristen sind zu sehen, wie sie pa-nisch von den Fenstern weglaufen, dannfegt eine Explosion durch den Raum, dannsind die Geiselnehmer weg, bis auf einen– Nur-Paschi Kulajew, den „Lächelnden“.Er steht plötzlich da, vor dem SportlehrerZagolow, er trägt jetzt Zivil, einen Trai-ningsanzug. Er versteht Ossetisch, er sagt:„Ich habe niemanden hier ermordet. Siehaben mich gezwungen mitzumachen.“ Erbleibt bei der Gruppe, unbewaffnet. Er willin ihrer Gesellschaft fliehen.

Panzer stehen draußen. Sportlehrer Za-golow winkt, er und die Kinder rufen:„Schießt nicht! Hier sind Geiseln!“, aberdie Schießerei wird eher stärker. Es hat andieser Ecke des Hauses keinen Sinn. DieGruppe, mit dem Terroristen im Gefolge,verlässt die Kantine. Im Gefechtslärm ren-nen sie den Flur entlang bis in den hinters-ten Klassenraum.

Wie überall im Erdgeschoss sind auchhier die Fenster vergittert. Aber Zagolowist nicht nur Sportlehrer. Er war UdSSR-Meister im Gewichtheben. Er hat Bären-kräfte. Er stemmt das Eisen aus der Halte-rung. Er biegt die Stäbe zurück. Draußenhagelt es Kugeln aus Gewehren, Pistolen,es schießen alle durcheinander, Polizei, Mi-litär, Privatleute, Schüsse von allen Seiten,Kreuzfeuer von Seiten der Terroristen.Eine Frau wagt sich als Erste hinaus. Siewird erschossen. Dann springt ein Junge.Eine Kugel durchschlägt seinen Hinterkopf.Ein dritter Junge geht hinaus, er wird ins

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Gefangengenommener Terrorist Kulajew (Videoszene)

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Spezialeinheiten bei Erstürmung der Schule

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Herz getroffen und fällt. Niemand weißmehr, in diesem Chaos, wer wen erschießt.Alle scheinen auf alles zu schießen, wassich bewegt.

Beslan, südlich der Bahnlinie, 14.45 Uhr

Mitglieder des Terrorkommandos habensich unter die Fliehenden gemischt. Siehaben die Waffen weggeworfen, sie tragenjetzt T-Shirts und Jeans, aber auch dieseZivilkleidung verrät sie. Alle Geiseln ka-men im Sonntagsstaat zur Schule, nicht inJeans. Die Terroristen sind leicht zu er-kennen, sie sind so auffällig, als hätten sienoch ihre Tarnuniformen am Leib.

Dennoch gelingt einigen für kurze Zeitdie Flucht. Im Strom der fliehenden Gei-seln laufen sie zur Komintern-Straße hin-aus und überqueren die Bahngleise. DerOrtsrand auf dieser Seite ist nah, womög-lich gibt es Absprachen der Terroristen,Rettungspläne.

Jedenfalls gibt es Schießereien dort.Hubschrauber verfolgen fliehende Täter,Zeugen sehen, wie einzelne aus dem Hub-schrauber heraus erschossen werden. An-dere werden in Privathäusern umstellt,Speznas-Truppen ziehen dort auf, die Täter werden dort ebenfalls erschossen.Nichts wirkt, als sei es von Spezialisten ge-plant. Nichts wirkt, als sollten hier Fest-nahmen stattfinden. Die Sicherheitskräfteschießen, ehe sie Fragen stellen.

Schule Nummer eins, hinterer Gebäudeteil, 15.30 Uhr

Sportlehrer Zagolow hockt mit seinerGruppe und dem Geiselnehmer im Trai-ningsanzug noch immer unter dem Fens-terbrett in einem Klassenzimmer ganz hin-ten. Die Schießerei hat nachgelassen, aberniemand wagt es, den Kopf zu heben.Stimmen sind draußen zu hören. Es ist

nicht zu sagen, ob es eigene Leute sindoder Terroristen.

Der Sportlehrer herrscht den Geisel-nehmer Nur-Paschi Kulajew neben sich an:„Schau du nach, wer da ist, los!“ Der Mannhat Angst. Er sagt: „Aber die schießendoch noch!“ Zagolow sagt: „Wenn du hier-her gekommen bist und mitgemacht hast,dann hast du auch nichts Besseres verdient.Los, schau nach!“ Er tut es.

Draußen sind Speznas-Kämpfer. Sienehmen die Geiseln, Kinder, in Empfang,schwerverletzte, halbtote Menschen. Nur-Paschi Kulajew, der Terrorist, wird verhaf-tet. Als einziger von 33 Terroristen wird ernicht erschossen, sondern festgenommen.Er läuft wie auf den Planken eines schau-kelnden Schiffs. Die Explosionen habenbei ihm Gleichgewichtsstörungen verur-sacht. Als sie ihn überwältigen, ruft er nur:„Leben will ich, ich will leben.“

Beslan, Krisenstab, 16.35 Uhr

Die Nachrichten gehen wirr durcheinan-der. Das nordossetische Innenministeriumgibt bekannt, die Terroristen hätten sich indrei Gruppen geteilt. Fünf Banditen leiste-ten weiterhin Widerstand in der Schule,andere kämpften im Stadtgebiet von Bes-lan, vier Terroristen hätten versucht, alsGeiseln getarnt zu entkommen, darunterauch die Anführer.

Es heißt jetzt wechselweise, drei der An-greifer seien lebend gefangen oder zweioder nur einer. Es heißt, zwei weiblicheTerroristen seien als Krankenschwesternverkleidet geflohen. Ein aufgebrachter Mobhabe einen Tatverdächtigen gelyncht. DieSchule sei vollständig unter Kontrolle. Unddann wieder: Es werde dort noch immerwild geschossen. Es wird dort in der Tatnoch immer geschossen. Besonders im hin-teren Gebäudeteil leisten Terroristen hef-tigen Widerstand, aber auch im Oberge-schoss. Einige von ihnen haben sich im

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Werkraum verschanzt, einige scheinen inden Keller vorgedrungen zu sein, der nurdort hinten zugänglich ist. Sie schießenGranaten aus dem Gebäude.

Es gibt erste Gerüchte über die Zahl derToten. Es heißt, es gebe 200 Opfer. 300.Noch mehr. Allein die beiden BrüderTotijew, die elf Kinder großzogen, habensechs Söhne und Töchter verloren.

Es werden erste Theorien laut und Le-genden gesponnen über den Hergang derTat. Es heißt, das Terrorkommando habeschon Wochen zuvor, während Renovie-rungsarbeiten, mithilfe inguschischer Bau-arbeiter mindestens sechs Munitionskistenin der Schule deponiert.

Ein 13-jähriger Junge berichtet, dieGeiselnehmer hätten ihn zu Beginn desAnschlags gezwungen, den Boden in derSchulbibliothek aufzustemmen, wo die Kisten gelagert worden seien. Aber mehrals diese Zeugenaussage gibt es darübernicht. Der Junge widerspricht sich in zeit-lichen Details. Die Renovierungsarbeitensind nach allen verfügbaren Quellen bis indie Bibliothek nie vorgedrungen.

Andererseits: Im Boden des benanntenZimmers finden sich wirklich zwei großeLöcher, nirgendwo sonst im Haus habendie Terroristen solche geschlagen. Undwirklich, die Größe könnte zu Munitions-kisten passen. Warum ist der Boden dortaufgeschlagen? Warum nirgendwo sonst?Die Tat löst sich auf in Thesen.

Beslan, Krankenhaus, 16.40 Uhr

Das Schlimmste ist schon vorüber. DerStau vor dem Krankenhaus wird kürzer. Inden Büchern der Notaufnahme stehen 554Einlieferungen binnen weniger Stunden.500 Patienten haben sie gleich weiterge-schickt nach Wladikawkas.

Die gröbste Arbeit ist getan. Die Totenund Sterbenden sind von den Verwunde-ten getrennt. Die Schwerverwundeten von

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den Leichtverletzten geschieden. In den 5Operationssälen arbeiten 15 Chirurgen. 200Ärzte sind im Dienst. 57 Krankenwagenpendeln. Vor dem Haus ist ein Notlazarettunter Zeltplanen errichtet. Im Zentral-krankenhaus von Wladikawkas werden 219Verletzte durch die Notaufnahme ge-schleust. Viele haben furchtbare Wundenvom Feuer und von Schüssen. Im Laufedes Tages sterben 5 Patienten.

Im Kinderkrankenhaus werden 309 Ver-letzte behandelt, 30 müssen reanimiertwerden. Am häufigsten sind Splitterschä-den, Bauchwunden, Knochenbrüche, Au-gen- und Ohrenverletzungen. Die Kinderweinen nicht. Sie sind still. Regungslos neh-men sie es hin, wenn Ärzte ihnen Spritzengeben. Der Ablauf ist geschäftsmäßig, ru-hig, keine Panik mehr.

Schule Nummer eins, 17 Uhr

Das große Gefecht verebbt. Die Turnhalle,der Hauptkorridor, Aula, Kantine, dieKlassenzimmer im vorderen Gebäudeteilsind in der Hand der Sicherheitskräfte. Tei-le der Schule brennen immer noch. DieSchule sieht aus wie nach einem Bombar-dement aus der Luft.

Ärzte, Feuerwehrleute, Katastrophen-schützer arbeiten im Gebäude. Die totenGeiseln werden zum Leichenschauhaus ge-bracht. Die toten Terroristen werden zehnMeter vom Haupteingang der Schule, aneiner Mauer, in eine Reihe gelegt. 32 Lei-chen werden es Stunden später sein, daswiderspricht der offiziellen Darstellung von31 toten Terroristen. Es sind 32. Ein ganzerZug Feuerwehrleute sieht sie liegen und be-schwört die Zahl. Auf den Leichensäckenliegen Nummern, 1 bis 32.

Das sind die Toten. Aber gibt es womög-lich auch solche, die am Leben blieben?Treiben sich noch Terroristen in und umBeslan herum, geflohen im Chaos desShowdown? Und haben sie womöglich so-gar Kinder mitgenommen? So fragen dieLeute an der Stadtverwaltung, am Kultur-palast. Antworten darauf gibt es nicht.

Beslan, Krisenstab, 18.13 Uhr

Die Zahl der Patienten in den Kranken-häusern von Beslan und Wladikawkas wirdoffiziell mit 346 angegeben. Tatsächlichsind es um diese Zeit schon über 600. Pu-tins Beauftragter Aslambek Aslachanowlässt erklären, die Zahl der Opfer könne„über 150“ liegen. Tatsächlich werden esam Ende des Tages mehr als 300 sein.

Es gibt einen letzten Kontakt zu Geisel-nehmern in der Schule. Michail Guzerijewtelefoniert. Die Stimme am anderen Endesagt: „Schuld an allem seid ihr.“

Beslan, Leichenschauhaus, 19 Uhr

Als der Abend kommt, hat Murat Kaza-now, Abschleppunternehmer, das Schlacht-

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feld verlassen. Nachrichten von Alana hatdie Familie nicht. Aber Kazanow will auchnicht mehr hinunterschauen auf die Schu-le. Er will die Schüsse nicht mehr hören, erwill ein Bad nehmen.

Die eigene Wohnung hat keine Bade-wanne. Die Familie zieht um zum Hausder Eltern, ein paar Blocks entfernt. Dortlegt sich Murat Kazanow ins heiße Bade-wasser. Es ist gegen sieben am Abend. Es hämmert an der Tür. Seine Mutter steht draußen. Sie ruft: „Sie haben Ala-na gefunden. Sie liegt im Leichenschau-haus.“

Mit der älteren Tochter und mit einerSchwester fährt Murat Kazanow zumLeichenschauhaus. Zwischen den Ge-bäuden, grober Backstein, stehen großeMenschengruppen, still. Viele hier tragenkleine Masken aus Zellstoff über Mundund Nase gegen den allgegenwärtigen Leichengeruch.

Sie werden zu einer Bahre geführt. Derkleine Mensch darauf ist nicht mehr zu er-kennen. Verletzungen haben das Gesichtentstellt, Verbrennungen. Aber sie könntees sein. Es sind ihre Ohrringe. Es ist ihreschwarze Unterhose. Die Größe stimmt.Die zum Knoten gebundenen Haare. DerVater, die Schwester, die Tante, sie schwan-ken. Sie wünschen, Alana wäre noch amLeben. Sie wünschen, wenigstens, sie wärevermisst. Die Leiche, die sie sehen, bringtnicht die letzte Klarheit. Sie ist es, denktMurat Kazanow. Aber ist sie es wirklich?

Er zögert, das Papier zu unterzeichnen,das man ihm hinhält. Das Papier, ein vor-gedrucktes Formular, in dem steht, dassAlana Kazanowa, geboren am 23. Februar1989, tot sei. Todesursache: Mord. Er wirdinformiert, dass er eine Genprobe machenlassen könne, in Rostow am Don, für 300Euro. Murat Kazanow hat keine 300 Euro.Er unterschreibt.

Er wird aufgefordert, jetzt zu gehen undmit zwei Decken und sieben Meter Zello-phan wiederzukommen. Nichts bleibt denOpfern, den überlebenden wie den toten,erspart.

Beslan, Krisenstab, 19.08 Uhr

Es wird bekannt, dass einzelne Kindernoch immer in der Hand der Terroristensind. Rund um die Stadtverwaltung, rundum den Kulturpalast sind Tausende An-gehörige von Geiseln versammelt. Vieletrauern laut und wehklagend. Eltern ge-hen herum mit Fotos ihrer vermissten Kin-der. Es werden Gerüchte laut, einigen Ter-roristen sei die Flucht gelungen und – siehätten noch Kinder in ihrer Gewalt. In derSchule werde noch immer geschossen.

Beslan, Krankenhaus, gegen 19.30 Uhr

Im Erdgeschoss des Krankenhauses liegtFatima auf einem Bett und trinkt. Sie kann

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nicht aufhören, sie trinkt eine ganze Fla-sche. Das Wasser ist warm, aber in ihremMund schmeckt es köstlich. Sie hat dreiTage nicht getrunken. Keinen Tropfen. Siehat es überlebt. Sie ist gerettet.

Sie hört eine Stimme, die ihren Namenruft. „Fatja! Fatja!“, ruft die Stimme. Durchdas Fenster sieht sie ihre Mutter. Sieberühren beide die Scheibe, dann läuft dieMutter ins Krankenhaus hinein. Sie findetFatima am Ende des Korridors. Als siesieht, wie blass und mager ihre Tochter ist,fällt sie in Fatimas Arme und weint.

Die Tochter weint nicht. Sie ist gefasst.Sie hält ihre Mutter. Sie sagt: „Warumweinst du? Ich lebe.“

Beslan, Leichenschauhaus, 21 Uhr

Bei der Rückkehr wird Murat Kazanow dieLeiche seiner Tochter auf einer Bahre über-geben. Er muss sich nun aufs Neue in eineReihe stellen, vor die Tür der Abteilung, inder sie die Leichen waschen und in Deckenund Folie einhüllen. Zwei Stunden stehtKazanow neben der Bahre mit der Leicheseiner Tochter in der Schlange. Dann be-kommt er sie gewaschen und wie eine Mu-mie eingewickelt zurück.

Er fragt die Pathologen, ob er sein totesKind nicht im Leichenschauhaus lassenkönne über Nacht, im Kühlhaus. Er be-kommt zur Antwort, dass man erst denChef fragen müsse. Der Chef sagt Nein.Zu wenig Platz.

Aber vor der Tür stehen Kühllaster. Spe-diteure haben sie vorfahren lassen. Sie ver-kaufen für die Nacht ihren Stauraum. Sienehmen pro Leiche pro Nacht 300 Rubel.Murat Kazanow kauft einen Platz.

Beslan, Krisenstab, 21.21 Uhr

Walerij Andrejew, FSB-Chef in Nordosse-tien, spricht von 79 identifizierten Leichen.Es wird bekannt gegeben, was in Beslan je-der mit eigenen Ohren hören kann: dass inder Schule noch immer gekämpft wird, vorallem im hinteren Teil, wo sich der großeWerkraum befindet. Auch Explosionen sei-en zu hören.

Panzer Nummer 325 aus dem Panzer-bataillon der 58. Armee fährt an die Schu-le heran und schießt mit gesenktem Rohrin den Keller. Was und wer immer sich dortnoch befunden haben mag, wird danachnicht mehr zu sagen sein. Das gilt für großeTeile der Schule.

Beslan, Wohnung Murat Kazanow, nachts

Es geht gegen Mitternacht, der Abschlepp-unternehmer Murat Kazanow ist zurück-gekehrt in die Soslan-Batagow-Straße 37.Er hört von den Nachbarn, dass allein seinWohnhaus 28 Tote zählt und 4 Vermisste.Keine Familie, die nicht betroffen ist. Es istein Totenhaus.

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Ausriss aus einer russischen Zeitung mit den Fotos der erschossenen Terroristen*

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Aus der Schule sind noch immer Schüs-se zu hören, vereinzelt. Und aus dem hin-teren Gebäudeteil der Schule, die längsteine Ruine ist, von dort, wo der Werkraumwar, hört er immer wieder Kampfgeräu-sche, platzende Schüsse, Explosionen. Mu-rat Kazanow betrinkt sich mit Wodka.Dann legt er sich hin. Zum ersten Mal seit66 Stunden. Und schläft. Traumlos. Trau-rig. Wie ein Stein.

Schule Nummer eins, hintererGebäudeteil, 4. September, 2 Uhr

Zehn Explosionen, wie von Handgrana-ten, erschüttern den hinteren Flügel derSchule. In der Stille nach dem Schlag istnoch einmal ein Ruf zu hören, ein Todes-schrei: „Allah ist groß! Allah ist groß!“Dann wieder Stille. Dann ist es vorbei. Esist endlich zu Ende.

EPILOG

Die Männer und Frauen, die sich amfrühen Morgen des 1. September 2004 ineinem Waldstück auf den SunschenskerHöhen in Inguschien auf den Weg gemachthaben, den blutigsten Anschlag seit dem 11. September 2001 in New York zu bege-hen, sind tot. Mit einer Ausnahme. Das sa-gen die Vertreter der Untersuchungskom-mission: 16, die Hälfte der toten Täter, sei-en identifiziert. Aber ist das die Wahrheit?Überlebende Geiseln sprechen von we-sentlich mehr Terroristen. Der Vorsitzende der nordossetischen Untersuchungskom-mission, Stanislaw Kessajew, bestätigt, dassdie Zahl der Täter höher gewesen sein müs-se. Ein Mitglied der in Beslan beteilig-ten Spezialeinheiten des Geheimdienstesspricht von 49 getöteten, 3 verhafteten

* Unter anderem mit Chan-Paschi Kulajew (oben, 2. v. r.),Ruslan Chutschbarow (Mitte, 2. v. l.) und WladimirChodow (Mitte, r.).

Generalstaatsanwaltschaft räumt immer-hin ein, dass ihre Daten unvollständig sein könnten. Und dass demzufolge Terro-risten unbeschadet entkommen sein könn-ten. Wird sich je befriedigend aufklären,was in Beslan, am „Tag des Wissens“,geschah?

Erste Schuldige sind inzwischen zurRechenschaft gezogen. Zurücktreten muss-ten Nordossetiens Innenminister undGeheimdienstchef. Gegen die leitenden Polizeibeamten im inguschischen BezirkMalgobek und im nordossetischen GebietBeslan wird wegen Fahrlässigkeit ermittelt.Die Bestätigung, dass ein hoher Mitarbei-ter der inguschischen Polizeiaufsichts-behörde unter den Terroristen gewesensein könnte, steht noch aus.

Nur, die bisher Beschuldigten sind demRang nach Erfüllungsgehilfen: Minister vonKleinstrepubliken, mittlere Beamte. Dievon Putin zementierte Vertikale der Macht,die russische Forderung und Praxis, mög-lichst viel Verantwortung in möglichst we-nig Händen zu konzentrieren, all das hatim Schuldfall keine Folgen für die wirklichMächtigen. Es ist kein einziger Politikerder Moskauer Zentrale zu finden, kein Mi-nister, auch nicht der Geheimdienstchef,der Verantwortung für das größte Blutbadder jüngeren russischen Geschichte über-nommen hätte.

Unverändert im Amt, auch nach Beslan,sind: Innenminister Raschid Nurgalijew,zuständig für die Polizei, die den Terroris-ten helfende Hand war; Nikolai Patru-schew, Direktor des Inlandsgeheimdiens-tes, der nun, zu spät, mit Material aus Alt-akten prahlt über die Mörder von Beslan;und, nicht zuletzt, Präsident Wladimir Pu-tin selbst.

Er, der den Überfall auf die Schule Num-mer eins in Beslan als „Kriegserklärung“gegen das größte Land der Erde bezeichnethat, machte im Anschluss daran Wahl-kampfwerbung für George W. Bush, den erals Bekämpfer des internationalen Terro-

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rismus besang. Angaben darüber, wie denOpfern des Terrorismus vor der eigenen,der kaukasischen Haustür Gerechtigkeitwiderfahren solle, machte er nicht.

„Wir haben auf Putin gewartet, und eskam nur Auschew“, der inguschische Ex-Präsident, klagten Angehörige der totenGeiseln am 3. November auf einer öffent-lichen Versammlung in Beslan, in derenVerlauf sich der stellvertretende General-staatsanwalt für Russlands Süden demZorn der Menge durch Flucht entziehenmusste.

„Wo war Putin?“, rufen die Menschenund äußern die Befürchtung, die Wahrheitwerde wie so oft in Russland wieder nichtans Licht kommen.

Sie sprechen von Uniformträgern, dieihnen verboten hätten, gegenüber Ermitt-lern und Journalisten die Wahrheit zusagen; sie bezeugen, dass die Terroristen,anders als von Russlands Machthabernbehauptet, konkrete, womöglich erfüll-bare Forderungen gestellt hätten; und sie brüllen ihre Wut über die Korruption imLand heraus. Darüber, dass sich ein Mör-derkommando womöglich den Weg frei-kaufen konnte zur Schule Nummer einsvon Beslan.

Sind die Proteste der Überlebenden nureine Variation des alten Lieds, das Russ-lands Untertanen seit Jahrhunderten sin-gen, wenn ihnen die Herrscher unermess-liches Leid zumuten als Preis für den Erhaltdes Riesenreichs?

Oder ist der Zorn über Lug und Trugund Käuflichkeit im Land diesmal so groß,dass er auch das System Putin gefährdenkönnte? Daran, wie mit den Opfern derBluttat und daran, wie mit den Schuldigenfür die toten Geiseln verfahren wird, fürverbrannte Säuglinge, erschossene Halb-wüchsige und exekutierte Familienväter,wird sich ablesen lassen, wohin RusslandsWeg führt. Uwe Buse, Ullrich Fichtner,

Mario Kaiser, Uwe Klußmann, Walter Mayr, Christian Neef

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