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SIMON BARON-COHEN ist Professor für Psychologie an der Uni-versity of Cambridge und Direktor des Zentrums für Autismusfor-schung (ARC). Bekannt wurde Baron-Cohen für seine Theorie zur Entstehung von Autismus. Seine „extreme male brain theory“ be-sagt, dass Autisten, verursacht durch einen hohen Testosteronspie-gel im Mutterleib, ein extrem ausgeprägtes männliches Gehirn ha-ben. Frauen denken anders. Männer auch. Wie das Geschlecht ins

Gehirn kommt erschien 2003 unter dem Originaltitel The Essential

Difference. Men, Women and the Extreme Male Brain und war in England ein großer Erfolg. Das Buch wurde in zwölf verschiedenen Ländern veröffentlicht.

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Simon Baron-Cohen

Frauen denken anders.männer auch.

Wie das Geschlecht ins Gehirn kommt

aus dem englischen von maren Klostermann

Wilhelm heyne VerlaG münChen

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Titel der englischen Originalausgabe:

The Essential Difference. Men, Women and the Extreme Male Brain

Allen Lane, Penguin Books.

Bei Heyne ist dieses Buch 2006 unter dem Titel Vom ersten Tag an anders.

Das weibliche und das männliche Gehirn erschienen.

(ISBN: 978-3-453-60005-8)

Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100 Das FSC-zertifizierte Papier München Super für dieses Buch

liefert Arctic Paper Mochenwangen GmbH.

Taschenbuchausgabe 08/2009

Copyright © 2003 by Simon Baron-Cohen

Copyright © 2004 Patmos Verlag GmbH & Co. KG / Walter Verlag Düsseldorf

Der Wilhelm Heyne Verlag, München, ist ein Verlag der Verlagsgruppe

Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik Design, München

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany 2009

ISBN: 978-3-453-60115-4

www.heyne.de

SGS-COC-1940

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Inhalt

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

1 Weibliches und männliches Gehirn . . . . . . . . . . . . . . . 112 Junge trifft Mädchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Was ist Empathie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 Das weibliche Gehirn: Nachweise für ein

besonderes Empathievermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505 Was ist Systematisieren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 936 Das männliche Gehirn: Nachweise für ein

besonderes Systematisierungsvermögen . . . . . . . . . . . 1027 Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1228 Biologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1359 Die Evolution des männlichen und des

weiblichen Gehirns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16410 Autismus: Die Extremform des männlichen Gehirns 18411 Ein Mathematikprofessor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21212 Die Extremform des weiblichen Gehirns:

Zurück in die Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231

Anhang1 »Die Sprache der Augen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2532 Der Empathie-Quotient (EQ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2673 Der Systematisierungs-Quotient (SQ) . . . . . . . . . . . . . 2734 Der Autismus-Spektrum-Quotient (AQ) . . . . . . . . . . . 280

Liste der Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326

Zum Gedenken an

Robert Greenblatt(1906–1987)

(Augusta Georgia Medical School),der Endokrinologie mit Menschlichkeit verband

und

Donald Cohen(1940–2001)

(Yale Child Study Center),der den Autismus erforschte und sich für Kinder in Not einsetzte

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Dank

Bridget Lindley hat als Erste an meine Theorie geglaubt, dass esgrundlegende mentale Unterschiede zwischen Mann und Fraugibt und dass eine Extremform des männlichen Gehirns eineErklärung für den Autismus liefern könnte. Sie hat mich unter-stützt, als ich mich auf dieses politisch gefährliche Terrain begab –und das schon Anfang der Neunzigerjahre, als man kaum zu den-ken wagte, dass so etwas wie psychische Unterschiede zwischenden Geschlechtern bestehen könnten. Wie viele andere auchbemerkte Bridget diese Unterschiede im Alltagsleben und über-zeugte mich schließlich, dass die Mehrheit der Leser inzwischenaufgeschlossen genug sei, um sich objektiv mit den Nachweisenauseinander zu setzen.

Viele Menschen haben mir dabei geholfen, meine Gedanken fürdieses Buch zu entwickeln. Dazu gehören meine begabten studen-tischen Mitarbeiter der letzten Jahre: Chris Ashwin, Anna Ba’tkti,Livia Colle, Jennifer Connellan, Jaime Craig, Ofer Golan, RickGriffin, Jessica Hammer, John Herrington, Therese Joliffe, RebeccaKnickmeyer, Johnny Lawson und Svetlana Lutchmaya. Ferner dieMitglieder meines geschätzten Forschungsteams: Carrie Allison,Matthew Belmonte, Jacqueline Hill, Rosa Hoekstra, Karen McGinty,Catherine Moreno, Jennifer Richler, Fiona Scott, Carol Stott undSally Wheelwright. Sally bin ich zu ganz besonderem Dank ver-pflichtet, auch wenn dieser Hinweis sie vielleicht in Verlegenheitbringt. Sally und ich haben erstmals 1996 zusammengearbeitet,und sie war von den Fragen, die in diesem Buch behandelt werden,genauso fasziniert wie ich. Wir haben eine lange und ungeheuerproduktive Zusammenarbeit erlebt, und ein Großteil der For-schungsarbeit, die diesem Buch zu Grunde liegt, wäre ohne sienicht möglich gewesen.

Einige Kollegen und Freunde haben mich ebenfalls nach Kräf-ten unterstützt: Patrick Bolton, Kirsten Callesen, Lynn Clemance,

Peter Fonagy, Ian Goodyer, Ami Klin, Chantal Martin, Amitta Shah,Luca Surian, Helen Tager-Flusberg und Esther Tripp. Meine Klinik-Kollegen Janine Robinson, Emma Weisblatt und Marc Woodbury-Smith haben mir bei meinen Bemühungen um ein besseres Ver-ständnis des Asperger-Syndroms sehr geholfen.

Last, but not least danke ich meinen Mitarbeitern RalphAdolphs, James Blair, Ed Bullmore, Carol Brayne, Andy Calder,Tony Charman, Livia Colle, Carol Gregory, Gerald Hackett, MelissaHines, John Hodges, Ioan James, Mark Johnson, John Manning,Michelle O’Riordan, Robert Plomin, Peter Raggatt, Melissa Ruther-ford, Geoff Sanders, David Skuse, Valerie Stone, Steve Williams,Max Whitby, Andy Young und Martin Yuille.

Viele der oben genannten Personen haben neue Fakten gesam-melt und Hypothesen überprüft. Von einigen dieser Entdeckungenwird in diesem Buch die Rede sein.

Ich danke auch Consulting Psychologist Press für die Erlaubnis,den Test mit den eingebetteten Figuren in diesem Buch abzu-drucken (»Adult Embedded Figures Test«). Der »Augensprache«-Test (»Reading the Mind in the Eyes«-Test, Anhang 1) basiert aufFotos aus kommerziellen Quellen. Der Test als solcher wird nur fürForschungszwecke benutzt und nicht für kommerzielle Zweckevertrieben. Das Copyright für die einzelnen Fotos lässt sich beidiesen Fotofragmenten nicht zurückverfolgen.

Meine Theorie, dass die Extremform des männlichen Gehirnsursächlich für den Autismus sein könnte, habe ich erstmals 1997 ineinem kleinen Aufsatz formuliert.1 Ich zögerte, meine Thesenöffentlich vorzustellen, bis die Organisation »Cure Autism Now« imMärz 2000 eine wissenschaftliche Tagung an der Rutgers Universi-ty veranstaltete. Die eingeladenen Vortragsredner sollten ihre pro-vokativsten Thesen vorstellen. Zu meiner Überraschung bedach-ten die Konferenzteilnehmer meine exzentrische Theorie nichteinfach mit einem höflichen Lächeln, sondern griffen sie begeis-tert auf und ermutigten mich, den Ansatz weiterzuverfolgen. ImMärz 2001 präsentierte ich die Theorie an den Institutes of Psy-chiatry and Cognitive Neuroscience in London. Die positivenReaktionen, die ich dort insbesondere von Uta Frith erhielt,bestärkten mich in der Überzeugung, dass die Ideen nun reif für

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ein größeres Publikum waren. Als meine Thesen auf einer Autis-mus-Konferenz (»Autism India«) in Chennai (Januar 2001) und inMadrid (Mai 2001) ähnlich positiv aufgenommen wurden, gewannich den Eindruck, dass die zur Debatte stehenden Unterschiede inder Psychologie der Geschlechter etwas Universelles sind.2 DieResonanz bei weiteren Vorträgen, zum Beispiel im Rahmen desChild Psychiatry-Lehrprogramms in Pristina (Mai 2002) oder derChild Psychiatry Conference in Rom (Juni 2002), führte dazu, dassich einen kurzen Aufsatz über dieses Thema für die Gemeinschaftder Kognitionswissenschaftler verfasste.3 Im vorliegenden Bucherweitere ich diese frühe Veröffentlichungen für eine breitereLeserschaft.

Die folgenden Institutionen haben meine Arbeit währendder Fertigstellung dieses Buches finanziell unterstützt: MedicalResearch Council (UK), Cure Autism Now, Shirley Foundation,Corob Foundation, Three Guineas Trust, Gatsby Trust, IsaacNewton Trust, NHS Research and Development Fund, NationalAlliance for Autism Research und James S. McDonnell Foundation.

Auch die folgenden Einrichtungen haben meine Arbeit geför-dert: Trinity College Cambridge und innerhalb der CambridgeUniversity das Department of Experimental Psychology andPsychiatry, das Clinical School Department of Biochemistry, dasAutism Research Centre, fMRI Brain Mapping Unit, Wolfson BrainImaging Centre, Section of Developmental Psychiatry und dasRosie Maternity Hospital. Zu den Förderungsinstitutionen außer-halb der University gehörten: Cambridge Lifespan Asperger Syn-drome Service (CLASS), Lifespan NHS Trust (jetzt Cambridgeshireand Peterborough NHS Mental Health Trust), National AutisticSociety (UK) und deren Zweigstelle in Cambridge, Umbrella.

Einige Menschen haben mir den großen Gefallen erwiesen, die-ses Buch im Manuskriptstadium zu lesen, und mir wertvolle An-regungen gegeben: Helena Cronin, Rick Griffin, Rosa Hoekstra,Johnny Lawson, Esther Tripp, Sally Wheelwright, Geoff Sandersund Rebecca Knickmeyer. Diesen freundlichen Kritikern bin ich zubesonderem Dank verpflichtet. Dank auch an Richard Borcherds,der einer Aufnahme des Materials in Kapitel 11 großzügig zu-gestimmt hat. Für die herausragende Unterstützung bei allen

Sekretariatsaufgaben danke ich Alison Clare, Paula Naimi undJennifer Hannah.

Meine Agenten John Brockman und Katinka Matson haben sichin wunderbarer Weise für dieses Buch eingesetzt. Stefan McGrathund Amanda Cooke, meine Herausgeber bei Penguin (UK) und beiBasic Books (USA), haben mir wertvolle Anregungen für die letzteÜberarbeitung der Entwürfe gegeben. Helen Guthrie und Maria-teresa Boffo bei Penguin fügten alles zusammen, und meine Lekto-rin Caroline Pretty hat mir mit Engelsgeduld dabei geholfen, meineWorte in eine verständliche Sprache zu bringen. Ihnen allen binich zu großem Dank verpflichtet.

Meine Eltern ebenso wie meine Brüder und Schwestern Dan,Ash, Liz und Suzie haben schließlich für einen Großteil der gutenLaune gesorgt, die jeder Autor braucht, um den Schreibprozessfortzusetzen. Auch meine Kinder Sam, Kate und Robin habeneinen wertvollen Beitrag zu diesem Buch geleistet, manchmalohne sich dessen bewusst zu sein. Euch allen gilt mein tief emp-fundener Dank.

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1Weibliches und männliches Gehirn

Wer Theorien über grundlegende Unterschiede im Denken undBewusstsein von Mann und Frau aufstellt, begibt sich zweifellosauf gefährliches Terrain. Ich könnte mich dem heiklen Thema vor-sichtig annähern, aber Ihnen ist es bestimmt lieber, wenn ich ohneUmschweife zum Kern der Sache komme. Deshalb hier meineTheorie:

Das weibliche Gehirn ist so »verdrahtet«, dass es überwiegend aufEmpathie ausgerichtet ist. Das männliche Gehirn ist so »verdrah-tet«, dass es überwiegend auf das Begreifen und den Aufbau vonSystemen ausgerichtet ist.

Mit dem Rest dieses Buches gelingt es mir hoffentlich, Sie davon zuüberzeugen, dass es eine wachsende Anzahl von Belegen für dieseTheorie gibt.

Ich kann mir allerdings vorstellen, dass manche LeserInnenschon auf der ersten Seite beunruhigt reagieren. Liefert dieseTheorie vielleicht nur Wasser auf die Mühlen einiger Reaktionäre,die nicht wollen, dass sich an der gesellschaftlichen Diskriminie-rung der Frau etwas ändert? Diese Befürchtungen kann ich ver-mutlich erst zerstreuen, wenn ich Sie davon überzeugt habe, dassman diese Theorie progressiv, zum Vorteil der Frauen nutzen kann.Genauso gut kann ich mir vorstellen, dass manche LeserInnendurchaus bereit sind, mir auf halbem Wege zu folgen und das eins-tige Tabuthema mentaler Unterschiede zwischen Mann und Frauzu erforschen. Doch wenn wir dann auf die eigentlichen Ursachendieser geschlechtsspezifischen Unterschiede stoßen, entdeckendiese LeserInnen möglicherweise Dinge, die sie lieber nicht sehenmöchten. Einige hoffen vielleicht, dass die Unterschiede aus-schließlich ein Produkt der Erfahrung sind. Doch was ist, wenn dieAbweichungen auch einige angeborene physiologische Faktoren

widerspiegeln? Und falls es tatsächlich grundlegende Unterschie-de im Denken von Mann und Frau gibt, sind diese Unterschiedemodifizierbar? Oder sollten wir uns vielleicht sogar über solcheUnterschiede freuen, statt sie zu fürchten?

Fragen wie diese möchte ich in diesem Buch erforschen. Dochzunächst möchte ich noch etwas ausführlicher auf die beiden zen-tralen Behauptungen der Theorie eingehen.

Das weibliche Gehirn: Empathie

Unter Empathie versteht man das Vermögen, die Gefühle undGedanken eines anderen Menschen zu erkennen und darauf mitangemessenen eigenen Gefühlen zu reagieren. Empathie oder Ein-fühlungsvermögen bedeutet nicht nur, dass man kühl berechnet,was eine andere Person denkt oder fühlt (es hat nichts mit dem zutun, was manchmal als »Gedankenlesen« bezeichnet wird). Daskönnen auch Psychopathen. Bei der Empathie geht es darum, dassman eine angemessene emotionale Reaktion im eigenen Innernspürt, die durch die Emotion der anderen Person ausgelöst wird.Wer sich in einen anderen Menschen einfühlt, will ihn verstehen,sein Verhalten vorhersagen und eine emotionale Verbindung zuihm herstellen.

Angenommen, Sie erkennen, dass eine Freundin von IhnenKummer hat, aber es lässt Sie kalt. Es ist Ihnen gleichgültig, Siehaben Wichtigeres zu tun oder empfinden sogar eine gewisseSchadenfreude. Das ist keine Empathie. Stellen Sie sich jetzt vor,Sie erkennen das Unglück Ihrer Freundin nicht nur, sondern füh-len sich automatisch selbst betroffen, leiden mit und verspürenden Wunsch, ihr sofort zu helfen – das ist Empathie. Empathieheißt, dass man Gefühle erkennt und darauf reagiert, und das giltfür alle Emotionen oder jede innere Verfassung, nicht nur für sooffenkundige Gefühlszustände wie Kummer. Empathie entstehtaus dem natürlichen Wunsch, sich um andere zu kümmern. Wiedieses Bedürfnis entsteht, ist relativ umstritten, und wir verschie-ben die Erörterung dieser Frage auf Kapitel 7 und 8.

In diesem Buch soll untersucht werden, welche Nachweise

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dafür vorliegen, dass Frauen – im Durchschnitt – ein stärkeres Ein-fühlungsvermögen entwickeln als Männer. Man beachte, dassich hier keineswegs von allen Frauen rede, sondern nur von derDurchschnittsfrau verglichen mit dem Durchschnittsmann.Empathie ist eine Fähigkeit (oder Gruppe von Fähigkeiten), undwie für jede andere Fähigkeit, ob sportliches, mathematischesoder musikalisches Talent, gilt auch für das Einfühlungsvermögen,dass wir alle in unterschiedlichem Maße damit ausgestattet sind.Genauso wie wir darüber nachdenken können, weshalb jemand indiesen anderen Bereichen besonders talentiert, durchschnittlichbegabt oder auch behindert ist, so können wir auch über individu-elle Unterschiede beim Einfühlungsvermögen nachdenken. Mankönnte die Empathie sogar als ein Merkmal wie die Körpergrößeauffassen, weil sie genau wie diese bei allen Menschen unter-schiedlich ist. Und genauso wie man die Körpergröße eines Men-schen messen kann, kann man auch die Unterschiede im Einfüh-lungsvermögen messen. In Kapitel 4 stelle ich einige Methodenvor, die zur Messung solcher Unterschiede benutzt werden.

In Abbildung 1 ist dieser Gedanke grafisch dargestellt. Die meistenLeute fallen in den mittleren Bereich des potenziellen Spektrums.Doch die Ausläufer dieser glockenförmigen Kurve zeigen, dassmanche Menschen erheblich weniger Empathie besitzen (am lin-ken Verteilungsrand), während andere (am rechten Verteilungs-rand) besonders reich mit dieser Gabe gesegnet sind. Im weiteren

Abbildung 1:Die normale Verteilung von Empathiefähigkeiten

Prozentsatzder

Bevölkerung

Niedrig Hoch

Verlauf wird sich zeigen, ob Frauen tatsächlich verstärkt zumGehirntyp E (für Empathie) neigen.

Das männliche Gehirn: Systeme

Das »Systematisierungsvermögen«, das heißt die Fähigkeit zueinem methodisch-analytischen Vorgehen, zeigt sich in demDrang, Systeme zu analysieren, zu erforschen oder zu entwickeln.Wer seine Wahrnehmungen in ein System bringen will, verstehtintuitiv, wie etwas funktioniert oder durch welche übergreifendenRegeln das Verhalten eines Systems gesteuert wird. Ziel ist es, dasSystem zu begreifen und sein Verhalten vorherzusagen oder einneues zu erfinden.

Fast alles kann ein System sein: ein Teich, eine Pflanze, einBüchereikatalog, ein Musikstück, ein Wurf beim Kricket oder aucheine militärische Einheit. Alle operieren nach dem Prinzip, dasseine bestimmte Eingabe zu einem bestimmten Ergebnis führt,wobei die Wechselbeziehung zwischen diesem Input und Outputvon »Wenn-dann«-Regeln beherrscht wird. Nehmen wir ein ein-faches Beispiel für ein System, wie etwa einen Dimmer. Ange-nommen, das Licht ist der Input. Wenn Sie den Dimmer ein kleinwenig im Uhrzeigersinn drehen (Operation), wird die Glühbirnean der Decke heller (Output 1). Wenn Sie weiterdrehen, leuchtetdie Birne noch heller (Output 2). Durch Regeln über »Wenn-dann«-Zusammenhänge können wir das Verhalten der meisten unbeleb-ten Systeme vorhersagen. Wenn man Input, Operation und Outputkontrolliert, kann man feststellen, wodurch das System mehr oderweniger effizient arbeitet und was es zu leisten vermag. So wie dieEmpathie den Einzelnen befähigt, mit den unzähligen beste-henden Emotionen umzugehen, so eröffnet der Prozess des Syste-matisierens die Möglichkeit, erfolgreich mit einer ungeheurenAnzahl von Systemen umzugehen.

Ich werde im Folgenden darzulegen versuchen, dass Männer imDurchschnitt stärker dazu neigen als Frauen, ihre Wahrnehmun-gen in Systeme zu bringen. Um es noch einmal zu betonen: Ichhabe nicht gesagt, dies gelte für alle Männer. Ich rede lediglich von

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statistischen Durchschnitten, und die Ausnahmen von der Regelkönnen auch hier sehr lehrreich sein. Doch vorläufig will ich dasmännliche Gehirn als Typ S (für Systematisieren) bezeichnen.

Wenn Menschen sich in ihrem Einfühlungsvermögen unter-scheiden, können sie auch individuelle Unterschiede in ihremSystemverständnis aufweisen. Die meisten Leute fallen in den mitt-leren Bereich der in Abbildung 2 dargestellten Kurve, aber einigewenige haben das Glück, dass sie am äußersten rechten Rand desSpektrums stehen. Andere finden Systeme (wie etwa Automotoren,Computer, Mathematik oder Technik) völlig verwirrend; sie stehenam anderen Ende des Spektrums – am linken Verteilungsrand. Wirwerden später noch sehen, ob es tatsächlich stimmt, dass Männer(als Gruppe) bei Messungen des Systematisierungsvermögens bes-ser abschneiden.

Systematisierung oder Empathie?

Kann man einen Menschen systematisieren? Das funktioniertrecht gut, wenn man ein System innerhalb des Menschen zubegreifen sucht, wie etwa die Eierstöcke. So kann man beispiels-weise feststellen, dass eine von zehn schwangeren 20-Jährigeneine Fehlgeburt erleidet, während bei 35-Jährigen bereits jedefünfte davon betroffen ist. Im Alter von 40 Jahren kommt es beieiner von drei Schwangeren und im Alter von 42 Jahren bei neun

Abbildung 2:Die normale Verteilung von Systematisierungsfähigkeiten

Prozentsatzder

Bevölkerung

Niedrig Hoch

von zehn Schwangeren zu einer Fehlgeburt. In diesem Beispielhabe ich die weibliche Fruchtbarkeit in ein System gebracht, mitanderen Worten, ich habe sie als System behandelt, das bestimm-ten Gesetzmäßigkeiten folgt. Die weiblichen Eierstöcke sind derInput, der Anstieg des Lebensalters ist die Aktivität oder die Ope-ration, und das Risiko einer Fehlgeburt ist der Output.

Dieses systematische Ordnen funktioniert auch ganz gut, wennman menschliche Gruppe bzw. ihr Verhalten als System auffassenwill. Das gilt zum Beispiel, wenn man die Muster von Autounfällenauf einer bestimmten Schnellstraße untersucht oder typischeMuster beim Wählerverhalten. Auch diese Systeme werden wie alleanderen von bestimmten Gesetzmäßigkeiten beherrscht, sindendlich und kausal vorherbestimmt.

In den meisten Alltagssituationen ist es jedoch weder hilfreichnoch sinnvoll, wenn wir unsere Wahrnehmungen in Systemebringen, auch wenn einige Philosophen der Ansicht sind, dassunsere praktische Menschenkenntnis (unsere »Alltagspsycho-logie«) bestimmten Regeln folgt, die auf »Wenn-dann«-Gesetzenberuhen oder auf damit verbundenen Verallgemeinerungen wie:»Wenn man einen anstrengenden Tag hat, dann bekommt manschlechte Laune.« Doch Verhaltensweisen und Emotionen folgenkeinen wirklich berechenbaren Gesetzen. Wie ist es sonst zu erklä-ren, dass einige Leute nach einem anstrengenden Tag mit strahlen-der Miene herumlaufen? Auch um zu verstehen oder vorher-zusagen, wie sich das Verhalten einer Person von einem Augenblickzum anderen verändert, sind solche Ableitungsregeln praktischnutzlos. Denken Sie nur an eine Regel wie: »Wer bekommt, was erwill, ist glücklich«. Angenommen, Sie folgen dieser Regel und kau-fen Ihrer Freundin Hannah das Geschenk, das sie sich selbst aus-drücklich zum Geburtstag gewünscht hat. Weshalb ist sie danntrotzdem nicht glücklich? Durch ein systematisches Vorgehen kannman einen so veränderlichen Bereich wie den der menschlichenGefühle einfach nicht in den Griff bekommen.

Während sich das Systematisieren als natürliche Methode anbie-tet, wenn man Ereignisse und Gegenständen vorhersagen oderverstehen will, bietet sich die Empathie als natürliche Methode fürein Verständnis anderer Menschen an. Versuchen wir, Hannah aus

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unserem Beispiel zu verstehen: Sie hatte zwar Geburtstag underhielt das gewünschte Geschenk, aber sie wartete in dieser Wocheauch auf die Ergebnisse einer ärztlichen Untersuchung. Möglicher-weise hat sie eine schlechte Nachricht erhalten. Vielleicht hätteman sie fragen sollen, wie es ihr geht, und sich auf ihre Gefühle, ihreinnere Welt einstellen müssen. Selbst bei dieser scheinbar simplenInteraktion erweisen sich also einfache Regeln über das zu erwar-tende Verhalten eines Menschen als nahezu nutzlos.

Ein systematisches und ein einfühlsames Vorgehen sind dem-nach offenbar zwei völlig unterschiedliche Vorgehensweisen.Empathie setzt man ein, um das Verhalten eines einzelnen Men-schen zu verstehen, während man das Systematisieren gebraucht,um die übrigen Phänomene des Lebens vorherzusagen. Wer syste-matisieren will, braucht Distanz, um die vorhandenen Informatio-nen zu überprüfen und um zu ermitteln, welche Faktoren zuneuen oder anderen Informationen führen. Wer Einfühlungs-vermögen zeigen will, braucht ein gewisses Maß an Nähe zu deranderen Person, um sich bewusst zu machen, dass er es nicht miteinem Objekt, sondern mit einem fühlenden menschlichen Wesenzu tun hat, dessen Gefühle die eigenen Gefühle berühren.

Letztendlich hängen Systematisierung und Empathie vonunterschiedlichen Hirnregionen ab. Sie sind keine mystischen Pro-zesse, sondern gründen in unserer Neurophysiologie.

Die wichtigsten Hirntypen

1987 stellte die kanadische Psychologin Doreen Kimura die Frage:»Gibt es wirklich Unterschiede beim Gehirn von Mann und Frau?«Ihre Antwort lautete: »In Anbetracht der großen morphologischenund häufig bemerkenswerten Verhaltensunterschiede zwischenMännern und Frauen wäre es erstaunlich, wenn es beim Gehirnkeine geschlechtsspezifischen Unterschiede gäbe.«1

Kimura steht repräsentativ für die traditionelle Forschung indiesem Bereich, die zwei unterschiedliche Dimensionen für dieBestimmung des männlichen und weiblichen Gehirns heraus-gestrichen hat, nämlich Sprache (weibliche Überlegenheit) und

räumliches Vorstellungsvermögen (männliche Überlegenheit). Ichbestreite nicht, dass sprachliche und räumliche Fähigkeiten beider Bestimmung von geschlechtsspezifischen Unterschieden sehrwichtig sind, doch ich argumentiere im Folgenden, dass das Ein-fühlungsvermögen und die Neigung zum Systematisieren zweivernachlässigte Dimensionen darstellen. Die sprachliche Über-legenheit der Frauen könnte zudem auf ihr besseres Einfühlungs-vermögen zurückzuführen sein, und das gute räumliche Vorstel-lungsvermögen bei Männern ist möglicherweise nur ein Ausdruckihrer ausgeprägten Neigung zum Systematisieren. Doch davonspäter mehr.

Wir alle verfügen sowohl über die Fähigkeit zur Empathie alsauch über die Fähigkeit zum Systematisieren. Die Frage ist, wie vielman vom jeweiligen Vermögen mitbekommen hat. Wenn es ansMessen geht, braucht man gute Maßstäbe oder Messinstrumentefür beide Fähigkeitsbereiche. Im weiteren Verlauf dieses Bucheswerden Sie auf zwei unserer Messinstrumente, den Systemati-sierungs-Quotienten (Systemizing Quotient, SQ) und den Empa-thie-Quotienten (Empathy Quotient, EQ) stoßen. Ob eine Personbei diesen beiden Messverfahren höhere oder niedrigere Werteerzielt als eine andere, ist sehr aufschlussreich, und ich werde spä-ter noch detailliert auf solche Unterschiede eingehen. Doch fürden Augenblick ist es ausreichend, zwischen drei verschiedenenGehirntypen zu unterscheiden. Stellen Sie sich die drei Typenanhand von drei allgemeinen Kategorien von Personen vor:

� Individuen, bei denen die Empathie stärker ausgeprägt (weiterentwickelt) ist als die Neigung, in Systemen zu denken. Kurzgesagt: E > S ( »>« steht für »größer als«). Dies bezeichne ich alsdas »weibliche Gehirn« oder als Gehirn vom E-Typus.

� Individuen, bei denen das Systematisieren stärker ausgeprägtist als das Einfühlungsvermögen. Kurz: S > E. Dies bezeichne ichals das »männliche Gehirn« oder als Gehirn vom S-Typus.

� Individuen, bei denen das Systematisierungs- und das Einfüh-lungsvermögen gleich stark ausgeprägt sind. Kurz: S = E. Diesbezeichne ich als »ausgewogenen Gehirntyp« oder Gehirn vomB-Typus (für »balanced brain«).

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Zu welcher Gruppe gehören Sie? Zum S-Typus, zum E-Typus oderzum B-Typus? Sie können erste Mutmaßungen darüber anstellen,in welche Kategorie Sie fallen, aber es geht hier nicht darum, wiewir uns selbst gern sehen möchten. Entscheidend ist vielmehr, wiewir tatsächlich bei unterschiedlichen Messungen dieser Fähig-keiten abschneiden. Wir alle stellen (oder machen) uns gern vor,dass wir stark und tüchtig sind oder schnell genug laufen können,um jeden Bus zu erwischen. Aber wie schneiden wir ab, wenn dieseFähigkeiten tatsächlich gemessen werden?

Stellen Sie sich jetzt zwei weniger verbreitete Gehirntypen vor:� Individuen mit der Extremform des männlichen Gehirns, also

Vertreter des extremen S-Typus, oder kurz: S >> E (der Doppel-pfeil zeigt an, dass ein sehr großer Unterschied zwischen denFähigkeiten in diesen beiden Bereichen besteht). In diesem Fallist das Systematisierungsvermögen nicht nur gut, sondern sogarüberentwickelt, während das Einfühlungsvermögen unter-entwickelt ist. Das heißt, diese Personen können eine ausge-prägte Begabung für das Verständnis von Systemen haben, sindaber gleichzeitig »blind für Bewusstseins- oder Gefühlszustän-de« (»mindblind«).2 In Kapitel 10 werde ich einige Fälle aus demautistischen Spektrum vorstellen und der Frage nachgehen, obdas Profil des extremen männlichen Gehirns auf sie zutrifft.

� Stellen Sie sich jetzt Individuen mit der Extremform des weib-lichen Gehirns vor, das heißt eine extreme Ausprägung des E-Typus oder kurz: E >> S. Diese Menschen zeigen ein normalesoder auch überentwickeltes Einfühlungsvermögen, währendihre Systematisierungsfähigkeit unterentwickelt ist. Das bedeu-tet, sie können sich unter Umständen mit erstaunlicher Leich-tigkeit in einen anderen Menschen hineinversetzen und genaunachempfinden, wie ihm zu Mute ist, sind aber gleichzeitig»blind für Systeme« (»systemblind«). In Kapitel 12 werde ich derFrage nachgehen, ob es tatsächlich eine solche Extremform desweiblichen Gehirns gibt und ob dieses psychologische Profil,falls es existiert, zu besonderen Schwierigkeiten führt.

Lassen Sie mich noch einen Moment bei der Theorie vom Autis-mus als einer Extremform des männlichen Gehirns bleiben und

Ihnen einen kleinen Eindruck von den Personen vermitteln, denenSie im weiteren Verlauf des Buches begegnen werden.

Stellen Sie sich einen Menschen vor, der so gut im Systemati-sieren ist, dass er sich die Namen der Kameramänner merkenkann, die im Abspann vieler verschiedener Fernsehfilme auftau-chen. Wie behält er den Überblick über so viele Informationen,die in winziger Schrift über den Bildschirm flimmern? Oder stellenSie sich eine Person vor, die so gut im Systematisieren ist, dasssie Ihnen von allen Kalenderdaten sagen kann, ob sie auf den-selben Wochentag fallen (also zum Beispiel: »Wenn der 22. Märzein Dienstag ist, dann ist der 22. November ebenfalls ein Diens-tag«). Wie gelingt es dieser Person, die Gesetzmäßigkeiten einesKalenders bis in diese ungewöhnlichen Einzelheiten zu erkennen?Doch stellen Sie sich jetzt vor, dass dieser Super-Systematikergravierende Probleme hat, sich in andere Menschen einzufüh-len. Er kann unter Umständen überhaupt nicht verstehen, wiesoes nicht auf Gegenseitigkeit beruht, wenn er einen anderenMenschen für seinen Freund hält. Oder er bemerkt erst, dass seineFrau schrecklich unglücklich ist, wenn sie bitterlich zu weinenanfängt.

Das Geschlecht entscheidet nicht automatisch

über den Gehirntyp

Angenommen, ich sehe Sie in diesem Moment vor mir. Wenn ichSie anschaue oder einfach nur Ihr Gesicht sehe, kann ich norma-lerweise erkennen, ob Sie ein Mann oder eine Frau sind. Ich gehekeine Sekunde lang davon aus, dass Ihr Geschlecht mir irgend-etwas darüber sagt, welchen Gehirntyp Sie als Individuum haben.

Die Indizien, die ich im Weiteren vorlegen werde, lassen ver-muten, dass nicht alle Männer ein Gehirn vom männlichen Typund nicht alle Frauen ein Gehirn vom weiblichen Typ aufweisen.Tatsächlich stößt man bei einigen Frauen auf den S-Typ und beieinigen Männern auf den E-Typ. Die zentrale These dieses Buchesbesagt lediglich, dass mehr Männer als Frauen ein Gehirn vomS-Typ und mehr Frauen als Männer ein Gehirn vom E-Typ haben.

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Von daher dürfen Sie verlangen, dass ein Personalchef keinerleiRückschlüsse auf Ihre Fähigkeiten zieht, nur weil Sie sich als Mannfür einen pflegerischen Beruf oder als Frau für eine Stellung alsTechnikerin bewerben. Ich für meinen Teil bin zwar ein Mann,wäre aber absolut ungeeignet für jeden Job, der mit der Wartungtechnischer Systeme (ob Computer oder was auch immer) zu tunhätte. Ich fühlte mich von den helfenden Berufen in der klinischenPsychologie angezogen – eine von Frauen dominierte Welt. Wennich Rat brauche, weil mein Computer verrückt spielt, wende ichmich vertrauensvoll an eine wunderbare Frau namens Traci amTrinity College. Und wenn ich wissen will, wie die Biochemie vonHormonen funktioniert, wende ich mich an zwei Spitzenwissen-schaftlerinnen, Svetlana und Rebecca. (In Kapitel 8 werde ichIhnen Svetlana und Rebecca noch ausführlicher vorstellen, dennbeide haben etwas sehr Interessantes zu berichten.)

Wenn ich über mentale Unterschiede zwischen Männern undFrauen rede, spreche ich lediglich über statistische Durchschnitts-werte. Und einen Punkt möchte ich von Anfang an klar stellen: Werder Frage nachgeht, ob es geschlechtsspezifische Unterschiedegibt, bestärkt nicht automatisch alte Klischeevorstellungen. Durchdie Suche nach geschlechtsspezifischen Unterschieden könnenwir aufdecken, ob soziale und biologische Einflüsse sich in unter-schiedlicher Weise auf Mann und Frau auswirken, aber dieseErkenntnisse sagen nichts über das Individuum aus. Wenn wirfeststellen, dass Männer im Durchschnitt größer, schwerer, kräfti-ger, schneller oder behaarter sind als Frauen und außerdem einengrößeren Kopf und längere Unterarme haben, bedeutet dies nicht,dass man nicht einige Ausnahmen von der Regel findet.3 Klischee-vorstellungen basieren dagegen auf festen Vorurteilen gegenübereiner Gruppe, die in bösartiger Weise auf den einzelnen Menschenübertragen werden. Das zeigt sich deutlich beim Rassismus oderSexismus ebenso wie bei dem Hass auf bestimmte Gruppen, seienes alte Menschen oder Angehörige einzelner Gesellschaftsschich-ten. Durch Stereotypisierungen werden einzelne Menschen aufeinen Durchschnitt reduziert, während man in der Wissenschaftberücksichtigt, dass es immer sehr viele Ausnahmen von der Regeloder Abweichungen vom Durchschnitt gibt.

Mars und Venus

In einigen Büchern über geschlechtsspezifische Unterschiede wirddas Thema aus einer eher heiteren Perspektive behandelt. Doch soamüsant diese Lektüre sein mag, ist es in wissenschaftlicher Hin-sicht wenig hilfreich, sich vorzustellen, dass »Männer vom Marsund Frauen von der Venus sind«. Zum einen lenkt uns der Witzüber die unterschiedliche planetarische Herkunft von der ernst zunehmenden Tatsache ab, dass beide Geschlechter sich auf demsel-ben Planeten entwickelt haben und wir trotz dieser gemeinsamenEvolution Unterschiede in der Denkweise zeigen. Wir solltenherausfinden, warum das so ist, und in Kapitel 9 untersuche ichdie Möglichkeit, dass die Geschlechter unterschiedlichen evolutio-nären Zwängen ausgesetzt waren und ihre Denkweisen deshalbunterschiedlichen Nischen anpassen mussten. Aus der amüsantenPerspektive von Mars und Venus erscheinen die Unterschiede zwi-schen den Geschlechtern zu extrem. Mann und Frau sind unter-schiedlich, aber nicht so unterschiedlich, dass eine Verständigungunmöglich ist.4

Ich halte ein seriöses Buch über dieses Thema noch aus einemweiteren Grund für notwendig. Die heitere Mars-und-Venus-Perspektive ermutigt zu kleinen Witzchen und Frotzeleien überdas andere Geschlecht. Humor ist etwas Unentbehrliches, undauch die Satire hat ihren Platz. Doch auf diesem Gebiet kann derHumor schnell in einen aggressiven Sexismus umschlagen. Sohörte ich zum Beispiel kürzlich im britischen Fernsehen denfolgenden Witz einer Talkshow-Moderatorin: »Frauen sind von derVenus, Männer sind dumm.« Einige Frauen im Publikum lachten.»Brauchen wir überhaupt Männer?«, fragte daraufhin ihre Co-Moderatorin. »Sind sie eigentlich zu irgendetwas nütze?« Woraufdie erste antwortete: »Ich habe gehört, man kann sie dressierenund zu ganz guten Haustieren abrichten.« In gewisser Weise istes erstaunlich, dass Frauen so sexistische Sprüche über Männermachen, und es würde nirgends geduldet, wenn der Witz aufKosten von Frauen, Schwarzen, Juden oder Schwulen ginge. Späteram selben Tag zeigte mir mein halbwüchsiger Sohn ein Buch, daser gerade las. Als ich es aufschlug, stieß ich auf folgenden Witz:

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Warum hat Gott die Frauen erschaffen? Weil der Hund den Kühl-schrank nicht aufkriegt, um das Bier zu holen. Diese Form vonsexistischem Humor ist erbärmlich, und wenn Frauen die gleicheArt von Witzen über Männer machen, wirkt es wie der Humor desOpfers, das den Spieß umdreht. Ich will damit keineswegs sagen,dass man das Thema geschlechtsspezifischer Unterschiede nichtzum Gegenstand von Witzen machen darf. Man sollte nur daraufachten, dass man nicht einfach alte Formen der Unterdrückung inneuem Gewand präsentiert.

Die politische Dimension bei der Erforschung von

geschlechtsspezifischen Unterschieden

Verantwortungsbewusste Wissenschaftler auf diesem Gebiet ach-ten sehr sorgfältig darauf, nicht den gleichen Vorurteilen zu erlie-gen wie frühere Generationen, die davon ausgingen, dass sich ingeschlechtsspezifischen Unterschieden automatisch die generelleUnterlegenheit des einen Geschlechts im Vergleich zum anderenwiderspiegelt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zog Gustave Le Bonden voreiligen Schluss, die weibliche Minderwertigkeit sei »sooffensichtlich, dass niemand auch nur eine Sekunde daran zwei-feln könne«.5 Hundert Jahre später ist es nicht schwierig, Le BonsPosition anzufechten. Man findet häufig (wenn auch nicht immer)psychische Unterschiede zwischen den Geschlechtern; dennochgibt es einige Bereiche, in denen Frauen den Männern überlegensind und andere, in denen es umgekehrt ist.

Kein Geschlecht ist dem anderen im Hinblick auf die allgemei-ne Intelligenz unter- oder überlegen, doch die Profile, die relativeStärken in bestimmten Domänen widerspiegeln, weisen durchausgeschlechtsspezifische Unterschiede auf. Ich gehe der Behauptungnach, dass Frauen sich besser in andere Menschen einfühlen kön-nen und Männer besser systematisieren können, aber das heißtnicht, dass ein Geschlecht generell intelligenter ist als das andere.

Vor 30 oder 40 Jahren hätte der bloße Gedanke an psychischeGeschlechterunterschiede einen öffentlichen Schrei der Empö-rung ausgelöst. Entsprechend der in den Sechziger- und Siebziger-

UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Simon Baron-Cohen

Frauen denken anders. Männer auch.Wie das Geschlecht ins Gehirn kommt

Taschenbuch, Broschur, 336 Seiten, 11,8 x 18,7 cmISBN: 978-3-453-60115-4

Heyne

Erscheinungstermin: Juli 2009

Ein Buch, das hilft, die Unterschiede zwischen den Geschlechtern besser zu verstehen Männer und Frauen sind von Geburt an anders, so die Theorie des bekannten Psychologenund Autismusforschers Simon Baron-Cohen. Anhand von Beispielen aus Hirnforschung,Psychologie und Verhaltensbiologie belegt er, dass geschlechterspezifisches Verhalten nicht nurauf unterschiedliche Erziehung zurückzuführen ist, sondern tatsächlich schon vor der Geburt imMutterleib festgelegt wird.