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TLZ TREFFPUNKT · Seite 4 Sonnabend, 4. August 2012 GESELLSCHAFT Transzendenz in Zeiten des Postmodernen Im „Petersberger Gespräch“ stellte Sabine Bobert ein Übungsmodell vor, das auf Mystik und Erkenntnissen der Meditationsforschung basiert Von Sabine Bobert Die Hauptaufgabe, die eine Theologie im 3. Jahrtausend im Westen lösen muss, besteht da- rin, eine eigene Empirie für ihre theoretischen Behauptungen zu entwickeln. Westliche Wissen- schaft und gegenwärtige Zeitge- nossen denken und entscheiden empirisch. Der katholische Dogmatiker Karl Rahner sagte im letzten Jahrhundert das Ende eines er- fahrungslosen Christentums vo- raus. Er beschrieb den Typus des Zukunfts-Christen als jemanden mit Erfahrungsbasis: „ ... der Fromme von morgen wird ein ,Mystiker’ sein, einer, der etwas ,erfahren’ hat, oder er wird nicht mehr sein, weil die Frömmigkeit von morgen nicht mehr durch die im Voraus zu einer persona- len Erfahrung und Entschei- dung einstimmige, selbstver- ständliche öffentliche Überzeu- gung und religiöse Sitte aller mitgetragen wird, die bisher üb- liche religiöse Erziehung also nur noch eine sehr sekundäre Dressur für das religiös Institu- tionelle sein kann.“ Rahners Voraussage wird in- zwischen von Soziologen bestä- tigt. (...) Die neuen theoreti- schen Ansätze erkennen zudem die herausgehobene Rolle von Religion bei der Entwicklung der menschlichen Persönlich- keit an. Und sie weisen den Reli- gionen eine Schlüsselstellung bei der Lösung der Probleme ei- ner globalisierten Moderne zu. Bereits 1970 thematisierte der US-amerikanische Wissens- soziologe Peter L. Berger vor- sichtig die Wiederentdeckung des Übernatürlichen in der mo- dernen Gesellschaft. Zehn Jahre später untersuchte er die wis- senssoziologischen Auswirkun- gen des religionskulturellen Plu- ralismus und ihre Rückwirkun- gen auf theologische Formen der Wissenskonstruktion. Die An- gebotsvielfalt an religiösen Tra- ditionen nötige die Zeitgenos- sen zu einem „häretischen Im- perativ“. Die faktische Vielfalt von Überlieferungen relativiere absolute Wahrheitsansprüche. Religiös Interessierte seien da- durch genötigt, sich aus den vor- findlichen Traditionen Passen- des auszuwählen. Auch wer sich für eine fundamentalistische oder orthodoxe Option ent- scheidet, bleibt angesichts ande- rer Wahlmöglichkeiten damit konfrontiert, dass seine ortho- doxe Option revidierbar ist und dass die Alleingeltung auf einer subjektiv gefällten Entschei- dung beruht. Die selbst auswählenden und urteilenden Zeitgenossen setzen faktisch die religionskriti- sche Pointe des Protestantismus um, der ganz auf die Urteilsfä- higkeit des einzelnen Subjektes setzt, das sich seine Mündigkeit nicht mehr von Autoritäten und Institutionen abnehmen lässt. „Nicht mehr andere, Autoritä- ten oder die Tradition, entschei- den für mich, sondern als einzel- ner bin ich meinem Gewissen verpflichtet. Diese Entdeckung gehört zur Grundausstattung des Protestantismus, der zur Modernisierung der Welt we- sentlich beigetragen hat.“ Berger unterscheidet drei Ty- pen von religiösem Wissen: a. autoritär aus Geltungsansprü- chen der Tradition abgeleitetes Wissen (...); b. die Negierung re- ligiösen Wissens durch ein An- passen der religiösen Überliefe- rung an ein materialistisches Weltbild (...) ; c. das Ansetzen bei der Erfahrung als Quelle reli- giösen Wissens (...) Angesichts der Wahlmög- lichkeiten auf dem globalisier- ten Religionsmarkt überzeugt nach Berger ein autoritäres Wie- derholen religiöser Wahrheiten (Typ a) kaum noch. Dennoch seien die Zeitgenossen religiös aufgeschlossen. Eine Ermäßi- gung der religiösen Wahrheits- suche im Sinne einer radikalen Entmythologisierung (Typ b) führt zu einer Selbstbanalisie- rung. Sie findet zudem bei Zeit- genossen, die eigene religiöse Erfahrungen machen, keine Ak- zeptanz. (...) Der religiöse Wissenstyp der Zukunft setzt nach Berger bei der Erfahrung ein (Typ c). Ihm muss wissenssoziologisch eine Phänomenologie der religiösen Erfahrung entsprechen. Die von Berger dazu benannte „indukti- ve Methode“ setzt „bei alltägli- chen menschlichen Erfahrun- gen“ ein und erforscht „die aus ihnen zu empfangenden ,Signa- le der Transzendenz’. Der in- duktive Ansatz lässt Spielraum dafür, dass es manchen Men- schen leichter fällt als anderen, Transzendenzerfahrungen zu machen. Dass solche Erfahrun- gen vielen Menschen unzugäng- lich bleiben, darf nicht zu einem Dogma über die Unmöglichkeit solcher Erfahrungen verallge- meinert werden. „Es gibt Men- schen, Mystiker und derglei- chen, die behaupten, unmittel- bare persönliche Erfahrungen mit religiösen Realitäten gehabt zu haben ... für solche Menschen sind religiöse Glaubensvorstel- lungen genauso unvermittelt selbstbeglaubigend wie die Er- fahrung eines Zahnschmerzes.“ Mit der Abkehr von der äu- ßeren religiösen Autorität hin zu einem individuellen Erfahrungs- weg beschreibt Berger den Zu- kunftstyp des Christen wie be- reits Karl Rahner. Ein Theolo- gietyp, der dieser Glaubensbe- wegung wissenssoziologisch entspricht, muss die Transzen- denzerfahrungen der alten und neuen Mystiker reflektieren und sie als Grundlage von religiösem Wissen analysieren. Alle theolo- gischen Begriffe haben ihren Sitz im Leben in der Transzen- denzerfahrung: im Erleben eines anderen Raumes, einer anderen Zeit, in verwandelnden Begeg- nungen. In der religiösen Erfah- rung lassen Menschen die alltä- glichen Zeit- und Raumerfah- rungen hinter sich. Ihre Auffas- sung der Wirklichkeit erweitert sich. Während der religiösen Er- fahrung wird die „Welt des Übernatürlichen ... als ,drau- ßen’ erfahren, als eine Welt, die unwiderstehliche Realität be- sitzt, unabhängig vom Willen des einzelnen, und dieser über- wältigend objektive Charakter stellt den alten Realitätsstatus der normalen Welt in Frage.“(...) Kontemplation ist nicht Gedanken plus Gefühle Das Erfolgsrezept der asiati- schen Religionen in den westli- chen Industrienationen liegt in ihrem Erfahrungsbezug. Zen, Tai Chi, Yoga und andere Schu- lungswege bieten kritisch einge- stellten westlichen Menschen eine Empirie, die zur Verifika- tion und Falsifikation von Aus- sagen über transzendente Wirk- lichkeitsbereiche führt. Sie er- schließen Menschen auf inter- subjektiv nachvollziehbaren Wegen Erfahrungen der sonst nur behaupteten Transzendenz. (...) Die christlichen Mysti- ker hatten bereits ein System für verschiedene empirische Ebe- nen entwickelt. „Die traditionel- le Haltung des epistemologi- schen Pluralismus wurde viel- leicht von christlichen Mysti- kern wie Bonaventura und Hugo von St. Victor am klarsten dargestellt: „Jeder Mensch besitzt das Auge des Fleisches, das Auge des Geistes und das Auge der Kon- templation. (...) Die große und geheime Botschaft der Erfah- rungsmystiker in aller Welt lau- tet, daß man mit dem Auge der Kontemplation den Geist sehen kann. Mit dem Auge der Kon- templation kann man Gott se- hen. Mit dem Auge der Kon- templation entfaltet sich strah- lend das große Innere.“ (Ken Wilber) Der Biochemiker und Reli- gionstheoretiker Ken Wilber greift diese Wissenschaftsdiffe- renzierung (und die daraus fol- gende Differenzierung von em- pirischen Ebenen) auf. Dadurch stehen sich „die Wissenschaft“ und „die Religion“ nicht in ge- trennten Lagern gegenüber. Sondern jeder Wirklichkeits- ebene entspricht ihre eigene Form von Wissenschaft. Es gibt eine „sinnliche Wissenschaft, geistige Wissenschaft, spirituelle Wissenschaft“. Hierin wider- spricht er der reduktionistischen Wissenschaftskonzeption der Moderne und ihrer reduktionis- tischen Empirie. „Die Moderne erkennt nur das Auge der Ver- nunft im Gespann mit dem Auge des Fleisches an.“ Jeder Zugang zur gestuften Untersuchungen fundiert, als Mittel zur Prävention und zur Therapie anerkannt. „Spirituelle Abstinenz“ gilt in diesem gewan- delten Kontext als ein „Gesund- heitsrisiko“. (...) In diesem präventiven und medizinischen Kontext werden spirituelle Übungen möglichst ohne ihren religiösen Kontext eingesetzt, bzw. es werden bis- lang buddhistische Übungen be- vorzugt. (...) Bei stressbedingten Erkrankungen bewähren sich Meditationstechniken, die regu- lierend in das vegative Nerven- system eingreifen (...) Aus dem buddhistischen Kontext bewäh- ren sich Verfahren zur achtsa- men, nicht wertenden Körper- wahrnehmung. (...) Medita- tionsmethoden, die die Wahr- nehmung schulen, werden inzwischen auch als wichtiger Therapieweg bei schweren seeli- schen Erkrankungen wie Ess- störungen, Suchterkrankungen, Aufmerksamkeitsdefiziten, De- pression und Borderline-Stö- rung eingesetzt. (...) Inzwischen werden von psy- chologischer Seite her patholo- gisierende Vorurteile gegenüber mystischen Erfahrungen abge- baut. Mystische Erlebnisse wer- den zunehmend auf positive Wirkungen für die seelische Ge- sundheit hin untersucht. Re- naud van Quekelberghe hält fest, dass Untersuchungsmetho- den, die spirituellen Praktiken angemessen sind, teilweise erst noch entwickelt werden müs- sen: „Darüber hinaus ist nicht auszuschließen, dass spirituelle oder religiöse Praktiken wie das Gebet oder Meditieren subtile gesundheitsfördernde Bewusst- seinstransformationen in Gang setzen, die zwar z.Z. kaum er- forschbar erscheinen, die aber – wie z.B. bestimmte Psi-Phäno- mene – eines Tages leichter er- fasst und erklärt werden kön- nen.“ (...) Im medizinischen und psy- chotherapeutischen Kontext der Moderne wurden Einheitserfah- rungen und andere mystische Erlebnisse vorrangig als krank- hafte Prozesse diagnostiziert. Aus der Sicht van Quekelberg- hes liegt dies daran, dass „sehr wenig Psychotherapeuten und Psychiater sich systematisch mit einem solchen Bewusstseinspo- tential in Ausbildung und For- schung auseinandergesetzt ha- ben“ und dass „solche Erlebnis- se fälschlicherweise mit dem ex- zessiven Gebrauch illegaler Drogen (z.B. Meskalin, Ecstacy, LSD) nach wie vor eng asso- ziiert werden“. Ein Praxismodell christlicher Mystik inklusive Coaching Inzwischen liegen jedoch zahlreiche differentialdiagnosti- sche Untersuchungen vor. Mys- tische Einheitserfahrungen un- terscheiden sich von schizo- phrenen und psychotischen Er- lebnissen vor allem durch ihre positiven Nachwirkungen (...) Nach einer langen Zeit wis- senschaftlicher Ignoranz began- nen Psychologen in den 1980er Jahren damit, das therapeuti- sche Potenzial von Einheitser- fahrungen näher zu untersu- chen. Einhellig widerlegen sie die medizinischen und psycho- logischen Vorurteile der Moder- ne. Mystische Einheitserfahrun- gen heilen Menschen in lebens- bedrohlichen Situationen, bei der chronifizierten Trauerreak- tion, bei posttraumatischen Be- lastungsstörungen, und sie tra- gen nachweisbar zur Überwin- dung von Alkoholabhängigkeit bei. Die Theologie und die christlichen Kirchen müssen die Forderungen nach Empirie auf- nehmen und allen offenstehen- de Angebote entwickeln. Im Folgenden stelle ich ei- nen eigenen Ansatz vor, den ich auf diesem postmodernen Hin- tergrund entfaltet habe: „Mystik und Coaching mit MTP Mental Turning Point“ (...) Die Basis des MTP-Übungsprogramms bilden drei Grundübungen: eine Übung für die Entwicklung des Willens, der Gefühle und des Denkens. Das christliche Kern- profil bleibt dadurch erhalten, dass im Bereich „Denken“ eine hochfrequente Übungspraxis mit dem Jesusgebet im Alltag empfohlen wird (das mit dem Atemstrom verkoppelte mantri- sche Beten von „Jesus Christus“ oder „Jesus Christus, Sohn Got- tes, erbarme dich meiner [des Sünders]“). Die drei Grundübungen las- sen sich mit drei Übungsleveln kombinieren: 1. Coaching, 2. Heilung, 3. Mystik. Diese wer- den mit den drei klassischen mystischen Stufen, purificatio, illuminatio und unio, verbun- den. Auf der Übungsstufe 1, dem Coaching, dienen die drei Grundübungen vorrangig der Achtsamkeitsschulung. Die oder der Übende nimmt zuneh- mend eigene Willensimpulse, Gefühlslagen und Gedanken differenziert war. Sie oder er kommt dadurch in die Lage, ei- gene Gefühle und Denkschlei- fen zu regulieren statt sie ledig- lich zu erleiden. Die Konzentra- tionsfähigkeit nimmt zu. Die Übenden werden stressresisten- ter und krisenfester (...) Übungsstufe 2, die Aktivie- rung von Selbstheilungsprozes- sen, kann durch eine intensivier- te Übungspraxis erreicht wer- den. Heilungserfolge durch mantrisches Beten sind auf wis- senschaftlicher Ebene durch Professor Herbert Benson von der Harvard Medical School nachgewiesen worden. (...) Nach Professor Benson löst die Sammlung in einem Mantra eine „Entspannungsreaktion“ (rela- xation response) aus. Diese tritt an die Stelle der alltäglichen „Kampf- oder Fluchtreaktion“. (...) Stufe 3 – Mystik: Der Ansatz von „MTP Mental Turninghält daran fest, dass christliche Mystik Menschen mehr vermit- telt als Coaching und alternative therapeutische Maßnahmen. Das intensive Beten des Jesusge- bets führt Menschen zu erwei- terten Identitätsebenen, zu einer Lebens- und Liebesbeziehung mit Jesus Christus als Auferstan- denem und schließlich zu einer Vereinigung mit ihm. Im Kern ist christliche Mystik personal aus- gerichtet, und sie lässt sich in ih- rer Dynamik am ehesten als Lie- besmystik beschreiben. (...) Die personale Grundstruk- tur unterscheidet die christliche Mystik von vielen anderen Techniken, denen es lediglich darum geht, Menschen mysti- sche Erlebnisse zu verschaffen. Der Einstieg in mystische Prozesse ist erneut mit intensi- ven Persönlichkeitsumbrüchen verbunden. (...) Auf dieser Entwicklungsstu- fe warten Krisen eigener Art. Teils sind sie mit der Integration mystischer Wahrnehmungsfor- men verbunden, die sich im Rah- men eines materialistischen Weltbildes nicht mehr hinrei- chend kommunizieren lassen. Der Mensch erkennt, dass er in seinem innersten Wesen reines Bewusstsein ist. Alle anderen Identitätsebenen erscheinen als vorläufig. Auf der Identitätsebe- ne des reinen Bewusstseins ist er in der Lage, mit allen und allem zu verschmelzen und es von in- nen her zu erfahren als sei es das eigene Erleben. Auf dieser Ebe- ne vollzieht sich Mitgefühl nicht mehr auf der Vorstellungsebene, sondern im Erleben einer erwei- terten Identität. „Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich begriffen ... nicht mit dem Intel- lekt, sondern mit meinem Leib, meinem Körper, dass die per- sönliche Heiligung keine Privat- angelegenheit ist! Ob wir es be- wusst spüren oder auch nicht (im Grunde spielt das keine Rol- le) – wir sind im ,mystischen Leib’ miteinander verbunden und somit ist ,Heiligung’ eine höchst politische Angelegen- heit. Wahrhaftig keine neue Er- kenntnis und doch ein Quanten- sprung, wenn man es in allen Fa- sern des Körpers ,fühlt’. Im Klar- text heißt das: wenn du ,mies drauf bist’, dann bin ich es auch ... nicht als ,Zuschauer’, sondern ich erlebe es (wahr- scheinlich in abgemilderter Form) tatsächlich mit! (Gilt na- türlich auch für Freude, Friede, Kraft ...) Dieses individuelle Beispiel lässt sich mit Sicherheit auf die Weltpolitik übertragen. D.h. al- lein schon um der Liebe willen (damit es meinem Nächsten gut geht) sollten wir uns um Heili- gung bemühen.“ Überlegungen einer neuen Mystik: Sabine Bobert ist seit 2001 Theologieprofessorin in Kiel. Im Bereich postmoderner Spiritualitätsformen liegt einer ihrer Forschungsschwerpunkte. Foto: Kai Abresch Wirklichkeit hat sein eigenes Recht: der sinnliche Empiris- mus des „Auges des Fleisches“, der Rationalismus des „Auges des Geistes“ und die kontempla- tive Empirie der Mystiker. Jeder dieser empirischen Zugänge vermag, aufgrund seiner eigenen Methodik, in aufsteigender Fol- ge komplexere Wirklichkeitsbe- reiche zu erschließen. „ (...) Die prärationale Natur kann man mit dem Auge des Fleisches, den rationalen Geist mit dem Auge des Verstandes sehen, den trans- rationalen Geist aber nur mit dem Auge der Kontemplation, und Kontemplation ist nun ein- mal nicht Gefühle plus Gedan- ken: Sie ist die Abwesenheit von beidem in formloser Intuition, die durch ihre Formlosigkeit die Formen von Natur und Geist mühelos integrieren kann, was einem von beidem alleine oder beiden zusammen niemals ge- lingen kann.“ Seit etwa dem Jahr 2000 boomt ein neuer Forschungsbe- reich: die Meditationsfor- schung. Dies ist an einer Flut von Veröffentlichungen, zuneh- menden Investitionen und sei- ner Ausdifferenzierungen ables- bar. Die Meditationsforschung reagiert auf die wachsende Rol- le, die spirituelle Übungen in- zwischen im Gesundheitsbe- reich, in der Wirtschaft und im Alltag von Menschen spielen, die sich oft abseits von den Kir- chen auf einen eigenen Suchweg begeben haben. Die eingesetzten For- schungsmethoden entsprechen der Formenvielfalt spiritueller Wege. Die Spannweite reicht von bewegungsorientierten Me- thoden wie Tai Chi und Yoga über bewegungslose Medita- tionswege wie Zen oder das christliche Jesusgebet bis hin zu therapeutischen Neuentwick- lungen wie dem Autogenen Trai- ning und MBSR nach Jon Kabat- Zinn. Die Meditationsforschung spiegelt in ihrem Zugang zu Re- ligion und zu spirituellen Übun- gen den Trend zum Zweckden- ken wider: Religion soll ihren Nutzen zur individuellen Ent- spannung („relaxation respon- se“ nach Herbert Benson ) er- weisen, zur Persönlichkeitsent- wicklung, zum Gefühlsmanage- ment, zur Steigerung der Konzentrationsfähigkeit und als effektiver therapeutischer Weg. Unter der Perspektive des Coachings fragt die Medita- tionsforschung nach Langzeit- Effekten von spiritueller Praxis. Dabei stehen die Steigerung kognitiver Fähigkeiten und die Ausbildung positiver Persön- lichkeitsmerkmale wie Acht- samkeit, emotionale Klarheit und Mitgefühl im Vordergrund. (...) Spiritualität als Prävention und Therapie Inzwischen ist es erwiesen, dass spezifische meditative Übungen Hirnstrukturen dauer- haft positiv verändern können. „Die wiederholte Aktivierung von Hirnregionen durch intensi- ve Übung hinterlässt Spuren. So ist beispielsweise bekannt, dass sich bei Musikern die sensori- schen und motorischen Felder im Kortex abhängig von den An- forderungen des jeweiligen In- struments ausdehnen und dass dort die Dichte neuronaler Verschaltungen zunimmt. Es liegen bisher fünf strukturelle MRT-Studien vor, die darauf hinweisen, dass auch Medita- tion zu einer Zunahme grauer Substanz in spezifischen Hirn- regionen führen könnte.“ (Ul- rich Ott) (...) S. W. Lazar (2005) sowie G. Pagnoni und M. Cekic (2007) haben inzwischen den Nach- weis erbracht, dass spirituelle Übungen wie im Zen auch den altersbedingten Abbau grauer Hirnsubstanz verhindern. (...) Psychologen und Neurowis- senschaftler erörtern inzwi- schen ernsthaft Spiritualität als gesundheitserhaltenden und auch -erzeugenden Faktor. Re- naud van Quekelberghe, Profes- sor für Klinische Psychologie, markiert eine Trendwende im Bereich Klinischer Psychologie, wenn er bedauert, dass agnos- tisch und atheistisch eingestellte Psychologen die wichtigste Hei- lungsquelle aus dem therapeuti- schen Prozess ausklammern. Seit den 1990er Jahren hat hier ein Umdenken eingesetzt. Em- pirische Untersuchungen bele- gen inzwischen: Entgegen Freuds Annahmen in „Die Zu- kunft einer Illusion“ (1927) führt Religion kaum zu magi- schen Abwehrformen, intensi- ven Verleugnungen und läh- mender Passivität. Das Gegen- teil ist erwiesen: Empirische Un- tersuchungen belegen, dass religiös eingestellte Personen so- gar stärker als nichtreligiöse Per- sonen die direkte und aktive Auseinandersetzungen mit Kri- sen bevorzugen. Spiritualität wird zuneh- mend, durch wissenschaftliche TLZ PRÄSENTIERT Als Vortragsreihe mit The- men aus dem Schnittfeld von Religion, Kunst und Philoso- phie präsentieren sich die „Petersberger Gespräche“ in der früheren Klosterkirche St. Peter & Paul zu Erfurt. Am vergangenen Sonntag sprach Sabine Bobert, seit 2001 Theologieprofessorin an der Christian-Albrechts- Universität Kiel, „Über Glau- be und Atheismus“ und stell- te Überlegungen zu einer neuen Mystik an. Wir dru- cken ihren Vortrag in gekürz- ter Fassung. Für Mittwoch, den 29. August, wird zum nächsten und in dieser Saison letzten „Petersberger Gespräch“ ein- geladen. Hellmut Seeman, Präsident der Klassik Stiftung Weimar, widmet sich dann in seinem Vortrag „Paulus und Goethe. Gnade und Genius“. 29. August, 19 Uhr, St. Peter & Paul, Peters- berg Erfurt

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TLZ TREFFPUNKT · Seite 4 Sonnabend, 4. August 2012GESELLSCHAFT

Transzendenz in Zeiten des PostmodernenIm „Petersberger Gespräch“ stellte Sabine Bobert ein Übungsmodell vor, das auf Mystik und Erkenntnissen der Meditationsforschung basiert

Von Sabine Bobert

Die Hauptaufgabe, die eineTheologie im 3. Jahrtausend imWesten lösen muss, besteht da-rin, eine eigene Empirie für ihretheoretischen Behauptungen zuentwickeln. Westliche Wissen-schaft und gegenwärtige Zeitge-nossen denken und entscheidenempirisch.

Der katholische DogmatikerKarl Rahner sagte im letztenJahrhundert das Ende eines er-fahrungslosen Christentums vo-raus. Er beschrieb den Typus desZukunfts-Christen als jemandenmit Erfahrungsbasis: „ ... derFromme von morgen wird ein,Mystiker’ sein, einer, der etwas,erfahren’ hat, oder er wird nichtmehr sein, weil die Frömmigkeitvon morgen nicht mehr durchdie im Voraus zu einer persona-len Erfahrung und Entschei-dung einstimmige, selbstver-ständliche öffentliche Überzeu-gung und religiöse Sitte allermitgetragen wird, die bisher üb-liche religiöse Erziehung alsonur noch eine sehr sekundäreDressur für das religiös Institu-tionelle sein kann.“

Rahners Voraussage wird in-zwischen von Soziologen bestä-tigt. (...) Die neuen theoreti-schen Ansätze erkennen zudemdie herausgehobene Rolle vonReligion bei der Entwicklungder menschlichen Persönlich-keit an. Und sie weisen den Reli-gionen eine Schlüsselstellungbei der Lösung der Probleme ei-ner globalisierten Moderne zu.

Bereits 1970 thematisierteder US-amerikanische Wissens-soziologe Peter L. Berger vor-sichtig die Wiederentdeckungdes Übernatürlichen in der mo-dernen Gesellschaft. Zehn Jahrespäter untersuchte er die wis-senssoziologischen Auswirkun-gen des religionskulturellen Plu-ralismus und ihre Rückwirkun-gen auf theologische Formen derWissenskonstruktion. Die An-gebotsvielfalt an religiösen Tra-ditionen nötige die Zeitgenos-sen zu einem „häretischen Im-perativ“. Die faktische Vielfaltvon Überlieferungen relativiereabsolute Wahrheitsansprüche.Religiös Interessierte seien da-durch genötigt, sich aus den vor-findlichen Traditionen Passen-des auszuwählen. Auch wer sichfür eine fundamentalistischeoder orthodoxe Option ent-scheidet, bleibt angesichts ande-rer Wahlmöglichkeiten damitkonfrontiert, dass seine ortho-doxe Option revidierbar ist unddass die Alleingeltung auf einersubjektiv gefällten Entschei-dung beruht.

Die selbst auswählendenund urteilenden Zeitgenossensetzen faktisch die religionskriti-sche Pointe des Protestantismusum, der ganz auf die Urteilsfä-higkeit des einzelnen Subjektessetzt, das sich seine Mündigkeitnicht mehr von Autoritäten undInstitutionen abnehmen lässt.„Nicht mehr andere, Autoritä-ten oder die Tradition, entschei-den für mich, sondern als einzel-ner bin ich meinem Gewissenverpflichtet. Diese Entdeckunggehört zur Grundausstattungdes Protestantismus, der zurModernisierung der Welt we-sentlich beigetragen hat.“

Berger unterscheidet drei Ty-pen von religiösem Wissen: a.autoritär aus Geltungsansprü-chen der Tradition abgeleitetesWissen (...); b. die Negierung re-ligiösen Wissens durch ein An-passen der religiösen Überliefe-rung an ein materialistischesWeltbild (...) ; c. das Ansetzenbei der Erfahrung als Quelle reli-giösen Wissens (...)

Angesichts der Wahlmög-lichkeiten auf dem globalisier-ten Religionsmarkt überzeugtnach Berger ein autoritäres Wie-derholen religiöser Wahrheiten(Typ a) kaum noch. Dennochseien die Zeitgenossen religiösaufgeschlossen. Eine Ermäßi-gung der religiösen Wahrheits-suche im Sinne einer radikalenEntmythologisierung (Typ b)führt zu einer Selbstbanalisie-rung. Sie findet zudem bei Zeit-genossen, die eigene religiöseErfahrungen machen, keine Ak-zeptanz. (...)

Der religiöse Wissenstyp derZukunft setzt nach Berger beider Erfahrung ein (Typ c). Ihmmuss wissenssoziologisch einePhänomenologie der religiösenErfahrung entsprechen. Die von

Berger dazu benannte „indukti-ve Methode“ setzt „bei alltägli-chen menschlichen Erfahrun-gen“ ein und erforscht „die ausihnen zu empfangenden ,Signa-le der Transzendenz’. Der in-duktive Ansatz lässt Spielraumdafür, dass es manchen Men-schen leichter fällt als anderen,Transzendenzerfahrungen zumachen. Dass solche Erfahrun-gen vielen Menschen unzugäng-lich bleiben, darf nicht zu einemDogma über die Unmöglichkeitsolcher Erfahrungen verallge-meinert werden. „Es gibt Men-schen, Mystiker und derglei-chen, die behaupten, unmittel-bare persönliche Erfahrungenmit religiösen Realitäten gehabtzu haben ... für solche Menschensind religiöse Glaubensvorstel-lungen genauso unvermitteltselbstbeglaubigend wie die Er-fahrung eines Zahnschmerzes.“

Mit der Abkehr von der äu-ßeren religiösen Autorität hin zueinem individuellen Erfahrungs-weg beschreibt Berger den Zu-kunftstyp des Christen wie be-reits Karl Rahner. Ein Theolo-gietyp, der dieser Glaubensbe-wegung wissenssoziologischentspricht, muss die Transzen-denzerfahrungen der alten undneuen Mystiker reflektieren undsie als Grundlage von religiösemWissen analysieren. Alle theolo-gischen Begriffe haben ihrenSitz im Leben in der Transzen-denzerfahrung: im Erleben einesanderen Raumes, einer anderenZeit, in verwandelnden Begeg-nungen. In der religiösen Erfah-rung lassen Menschen die alltä-glichen Zeit- und Raumerfah-rungen hinter sich. Ihre Auffas-sung der Wirklichkeit erweitertsich. Während der religiösen Er-fahrung wird die „Welt desÜbernatürlichen ... als ,drau-ßen’ erfahren, als eine Welt, dieunwiderstehliche Realität be-sitzt, unabhängig vom Willendes einzelnen, und dieser über-wältigend objektive Charakterstellt den alten Realitätsstatusder normalen Welt in Frage.“(...)

Kontemplation istnicht Gedankenplus Gefühle

Das Erfolgsrezept der asiati-schen Religionen in den westli-chen Industrienationen liegt inihrem Erfahrungsbezug. Zen,Tai Chi, Yoga und andere Schu-lungswege bieten kritisch einge-stellten westlichen Menscheneine Empirie, die zur Verifika-tion und Falsifikation von Aus-sagen über transzendente Wirk-lichkeitsbereiche führt. Sie er-schließen Menschen auf inter-subjektiv nachvollziehbarenWegen Erfahrungen der sonstnur behaupteten Transzendenz.

(...) Die christlichen Mysti-ker hatten bereits ein System fürverschiedene empirische Ebe-nen entwickelt. „Die traditionel-le Haltung des epistemologi-schen Pluralismus wurde viel-leicht von christlichen Mysti-kern wie Bonaventura undHugo von St. Victor am klarstendargestellt:

„Jeder Mensch besitzt dasAuge des Fleisches, das Auge desGeistes und das Auge der Kon-templation. (...) Die große undgeheime Botschaft der Erfah-rungsmystiker in aller Welt lau-tet, daß man mit dem Auge derKontemplation den Geist sehenkann. Mit dem Auge der Kon-templation kann man Gott se-hen. Mit dem Auge der Kon-templation entfaltet sich strah-lend das große Innere.“ (KenWilber)

Der Biochemiker und Reli-gionstheoretiker Ken Wilbergreift diese Wissenschaftsdiffe-renzierung (und die daraus fol-gende Differenzierung von em-pirischen Ebenen) auf. Dadurchstehen sich „die Wissenschaft“und „die Religion“ nicht in ge-trennten Lagern gegenüber.Sondern jeder Wirklichkeits-ebene entspricht ihre eigeneForm von Wissenschaft. Es gibteine „sinnliche Wissenschaft,geistige Wissenschaft, spirituelleWissenschaft“. Hierin wider-spricht er der reduktionistischenWissenschaftskonzeption derModerne und ihrer reduktionis-tischen Empirie. „Die Moderneerkennt nur das Auge der Ver-nunft im Gespann mit dem Augedes Fleisches an.“

Jeder Zugang zur gestuften

Untersuchungen fundiert, alsMittel zur Prävention und zurTherapie anerkannt. „SpirituelleAbstinenz“ gilt in diesem gewan-delten Kontext als ein „Gesund-heitsrisiko“. (...)

In diesem präventiven undmedizinischen Kontext werdenspirituelle Übungen möglichstohne ihren religiösen Kontexteingesetzt, bzw. es werden bis-lang buddhistische Übungen be-vorzugt. (...) Bei stressbedingtenErkrankungen bewähren sichMeditationstechniken, die regu-lierend in das vegative Nerven-system eingreifen (...) Aus dembuddhistischen Kontext bewäh-ren sich Verfahren zur achtsa-men, nicht wertenden Körper-wahrnehmung. (...) Medita-tionsmethoden, die die Wahr-nehmung schulen, werdeninzwischen auch als wichtigerTherapieweg bei schweren seeli-schen Erkrankungen wie Ess-störungen, Suchterkrankungen,Aufmerksamkeitsdefiziten, De-pression und Borderline-Stö-rung eingesetzt. (...)

Inzwischen werden von psy-chologischer Seite her patholo-gisierende Vorurteile gegenübermystischen Erfahrungen abge-baut. Mystische Erlebnisse wer-den zunehmend auf positiveWirkungen für die seelische Ge-sundheit hin untersucht. Re-naud van Quekelberghe hältfest, dass Untersuchungsmetho-den, die spirituellen Praktikenangemessen sind, teilweise erstnoch entwickelt werden müs-sen: „Darüber hinaus ist nichtauszuschließen, dass spirituelleoder religiöse Praktiken wie dasGebet oder Meditieren subtilegesundheitsfördernde Bewusst-seinstransformationen in Gangsetzen, die zwar z.Z. kaum er-forschbar erscheinen, die aber –wie z.B. bestimmte Psi-Phäno-mene – eines Tages leichter er-fasst und erklärt werden kön-nen.“ (...)

Im medizinischen und psy-chotherapeutischen Kontext derModerne wurden Einheitserfah-rungen und andere mystischeErlebnisse vorrangig als krank-hafte Prozesse diagnostiziert.Aus der Sicht van Quekelberg-hes liegt dies daran, dass „sehrwenig Psychotherapeuten undPsychiater sich systematisch miteinem solchen Bewusstseinspo-tential in Ausbildung und For-schung auseinandergesetzt ha-ben“ und dass „solche Erlebnis-se fälschlicherweise mit dem ex-zessiven Gebrauch illegalerDrogen (z.B. Meskalin, Ecstacy,LSD) nach wie vor eng asso-ziiert werden“.

Ein Praxismodellchristlicher Mystikinklusive Coaching

Inzwischen liegen jedochzahlreiche differentialdiagnosti-sche Untersuchungen vor. Mys-tische Einheitserfahrungen un-terscheiden sich von schizo-phrenen und psychotischen Er-lebnissen vor allem durch ihrepositiven Nachwirkungen (...)

Nach einer langen Zeit wis-senschaftlicher Ignoranz began-nen Psychologen in den 1980erJahren damit, das therapeuti-sche Potenzial von Einheitser-fahrungen näher zu untersu-chen. Einhellig widerlegen siedie medizinischen und psycho-logischen Vorurteile der Moder-ne. Mystische Einheitserfahrun-gen heilen Menschen in lebens-bedrohlichen Situationen, beider chronifizierten Trauerreak-tion, bei posttraumatischen Be-lastungsstörungen, und sie tra-gen nachweisbar zur Überwin-dung von Alkoholabhängigkeitbei. Die Theologie und diechristlichen Kirchen müssen dieForderungen nach Empirie auf-nehmen und allen offenstehen-de Angebote entwickeln.

Im Folgenden stelle ich ei-nen eigenen Ansatz vor, den ichauf diesem postmodernen Hin-tergrund entfaltet habe: „Mystikund Coaching mit MTP MentalTurning Point“ (...) Die Basisdes MTP-Übungsprogrammsbilden drei Grundübungen: eineÜbung für die Entwicklung desWillens, der Gefühle und desDenkens. Das christliche Kern-profil bleibt dadurch erhalten,dass im Bereich „Denken“ einehochfrequente Übungspraxismit dem Jesusgebet im Alltagempfohlen wird (das mit dem

Atemstrom verkoppelte mantri-sche Beten von „Jesus Christus“oder „Jesus Christus, Sohn Got-tes, erbarme dich meiner [desSünders]“).

Die drei Grundübungen las-sen sich mit drei Übungslevelnkombinieren: 1. Coaching, 2.Heilung, 3. Mystik. Diese wer-den mit den drei klassischenmystischen Stufen, purificatio,illuminatio und unio, verbun-den.

Auf der Übungsstufe 1, demCoaching, dienen die dreiGrundübungen vorrangig derAchtsamkeitsschulung. Dieoder der Übende nimmt zuneh-mend eigene Willensimpulse,Gefühlslagen und Gedankendifferenziert war. Sie oder erkommt dadurch in die Lage, ei-gene Gefühle und Denkschlei-fen zu regulieren statt sie ledig-lich zu erleiden. Die Konzentra-tionsfähigkeit nimmt zu. DieÜbenden werden stressresisten-ter und krisenfester (...)

Übungsstufe 2, die Aktivie-rung von Selbstheilungsprozes-sen, kann durch eine intensivier-te Übungspraxis erreicht wer-den. Heilungserfolge durchmantrisches Beten sind auf wis-senschaftlicher Ebene durchProfessor Herbert Benson vonder Harvard Medical Schoolnachgewiesen worden. (...)Nach Professor Benson löst dieSammlung in einem Mantra eine„Entspannungsreaktion“ (rela-xation response) aus. Diese trittan die Stelle der alltäglichen„Kampf- oder Fluchtreaktion“.(...)

Stufe 3 – Mystik: Der Ansatzvon „MTP Mental Turning“hält daran fest, dass christlicheMystik Menschen mehr vermit-telt als Coaching und alternativetherapeutische Maßnahmen.Das intensive Beten des Jesusge-bets führt Menschen zu erwei-terten Identitätsebenen, zu einerLebens- und Liebesbeziehungmit Jesus Christus als Auferstan-denem und schließlich zu einerVereinigung mit ihm. Im Kern istchristliche Mystik personal aus-gerichtet, und sie lässt sich in ih-rer Dynamik am ehesten als Lie-besmystik beschreiben. (...)

Die personale Grundstruk-tur unterscheidet die christlicheMystik von vielen anderenTechniken, denen es lediglichdarum geht, Menschen mysti-sche Erlebnisse zu verschaffen.

Der Einstieg in mystischeProzesse ist erneut mit intensi-ven Persönlichkeitsumbrüchenverbunden. (...)

Auf dieser Entwicklungsstu-fe warten Krisen eigener Art.Teils sind sie mit der Integrationmystischer Wahrnehmungsfor-men verbunden, die sich im Rah-men eines materialistischenWeltbildes nicht mehr hinrei-chend kommunizieren lassen.Der Mensch erkennt, dass er inseinem innersten Wesen reinesBewusstsein ist. Alle anderenIdentitätsebenen erscheinen alsvorläufig. Auf der Identitätsebe-ne des reinen Bewusstseins ist erin der Lage, mit allen und allemzu verschmelzen und es von in-nen her zu erfahren als sei es daseigene Erleben. Auf dieser Ebe-ne vollzieht sich Mitgefühl nichtmehr auf der Vorstellungsebene,sondern im Erleben einer erwei-terten Identität. „Zum erstenMal in meinem Leben habe ichbegriffen ... nicht mit dem Intel-lekt, sondern mit meinem Leib,meinem Körper, dass die per-sönliche Heiligung keine Privat-angelegenheit ist! Ob wir es be-wusst spüren oder auch nicht(im Grunde spielt das keine Rol-le) – wir sind im ,mystischenLeib’ miteinander verbundenund somit ist ,Heiligung’ einehöchst politische Angelegen-heit.

Wahrhaftig keine neue Er-kenntnis und doch ein Quanten-sprung, wenn man es in allen Fa-sern des Körpers ,fühlt’. Im Klar-text heißt das: wenn du ,miesdrauf bist’, dann bin ich esauch ... nicht als ,Zuschauer’,sondern ich erlebe es (wahr-scheinlich in abgemilderterForm) tatsächlich mit! (Gilt na-türlich auch für Freude, Friede,Kraft ...)

Dieses individuelle Beispiellässt sich mit Sicherheit auf dieWeltpolitik übertragen. D.h. al-lein schon um der Liebe willen(damit es meinem Nächsten gutgeht) sollten wir uns um Heili-gung bemühen.“

Überlegungen einer neuen Mystik: Sabine Bobert ist seit 2001 Theologieprofessorin in Kiel. Im Bereichpostmoderner Spiritualitätsformen liegt einer ihrer Forschungsschwerpunkte. Foto: Kai Abresch

Wirklichkeit hat sein eigenesRecht: der sinnliche Empiris-mus des „Auges des Fleisches“,der Rationalismus des „Augesdes Geistes“ und die kontempla-tive Empirie der Mystiker. Jederdieser empirischen Zugängevermag, aufgrund seiner eigenenMethodik, in aufsteigender Fol-ge komplexere Wirklichkeitsbe-reiche zu erschließen. „ (...) Dieprärationale Natur kann manmit dem Auge des Fleisches, denrationalen Geist mit dem Augedes Verstandes sehen, den trans-rationalen Geist aber nur mitdem Auge der Kontemplation,und Kontemplation ist nun ein-mal nicht Gefühle plus Gedan-ken: Sie ist die Abwesenheit vonbeidem in formloser Intuition,die durch ihre Formlosigkeit dieFormen von Natur und Geistmühelos integrieren kann, waseinem von beidem alleine oderbeiden zusammen niemals ge-lingen kann.“

Seit etwa dem Jahr 2000boomt ein neuer Forschungsbe-reich: die Meditationsfor-schung. Dies ist an einer Flutvon Veröffentlichungen, zuneh-menden Investitionen und sei-ner Ausdifferenzierungen ables-bar. Die Meditationsforschungreagiert auf die wachsende Rol-le, die spirituelle Übungen in-zwischen im Gesundheitsbe-reich, in der Wirtschaft und imAlltag von Menschen spielen,die sich oft abseits von den Kir-chen auf einen eigenen Suchwegbegeben haben.

Die eingesetzten For-schungsmethoden entsprechender Formenvielfalt spirituellerWege. Die Spannweite reichtvon bewegungsorientierten Me-thoden wie Tai Chi und Yogaüber bewegungslose Medita-tionswege wie Zen oder daschristliche Jesusgebet bis hin zutherapeutischen Neuentwick-lungen wie dem Autogenen Trai-ning und MBSR nach Jon Kabat-Zinn.

Die Meditationsforschungspiegelt in ihrem Zugang zu Re-ligion und zu spirituellen Übun-gen den Trend zum Zweckden-ken wider: Religion soll ihrenNutzen zur individuellen Ent-spannung („relaxation respon-se“ nach Herbert Benson ) er-

weisen, zur Persönlichkeitsent-wicklung, zum Gefühlsmanage-ment, zur Steigerung derKonzentrationsfähigkeit und alseffektiver therapeutischer Weg.

Unter der Perspektive desCoachings fragt die Medita-tionsforschung nach Langzeit-Effekten von spiritueller Praxis.Dabei stehen die Steigerungkognitiver Fähigkeiten und dieAusbildung positiver Persön-lichkeitsmerkmale wie Acht-samkeit, emotionale Klarheitund Mitgefühl im Vordergrund.(...)

Spiritualität alsPrävention undTherapie

Inzwischen ist es erwiesen,dass spezifische meditativeÜbungen Hirnstrukturen dauer-haft positiv verändern können.„Die wiederholte Aktivierungvon Hirnregionen durch intensi-ve Übung hinterlässt Spuren. Soist beispielsweise bekannt, dasssich bei Musikern die sensori-schen und motorischen Felderim Kortex abhängig von den An-forderungen des jeweiligen In-struments ausdehnen und dassdort die Dichte neuronalerVerschaltungen zunimmt. Esliegen bisher fünf strukturelleMRT-Studien vor, die daraufhinweisen, dass auch Medita-tion zu einer Zunahme grauerSubstanz in spezifischen Hirn-

regionen führen könnte.“ (Ul-rich Ott) (...)

S. W. Lazar (2005) sowie G.Pagnoni und M. Cekic (2007)haben inzwischen den Nach-weis erbracht, dass spirituelleÜbungen wie im Zen auch denaltersbedingten Abbau grauerHirnsubstanz verhindern. (...)

Psychologen und Neurowis-senschaftler erörtern inzwi-schen ernsthaft Spiritualität alsgesundheitserhaltenden undauch -erzeugenden Faktor. Re-naud van Quekelberghe, Profes-sor für Klinische Psychologie,markiert eine Trendwende imBereich Klinischer Psychologie,wenn er bedauert, dass agnos-tisch und atheistisch eingestelltePsychologen die wichtigste Hei-lungsquelle aus dem therapeuti-schen Prozess ausklammern.Seit den 1990er Jahren hat hierein Umdenken eingesetzt. Em-pirische Untersuchungen bele-gen inzwischen: EntgegenFreuds Annahmen in „Die Zu-kunft einer Illusion“ (1927)führt Religion kaum zu magi-schen Abwehrformen, intensi-ven Verleugnungen und läh-mender Passivität. Das Gegen-teil ist erwiesen: Empirische Un-tersuchungen belegen, dassreligiös eingestellte Personen so-gar stärker als nichtreligiöse Per-sonen die direkte und aktiveAuseinandersetzungen mit Kri-sen bevorzugen.

Spiritualität wird zuneh-mend, durch wissenschaftliche

TLZ PRÄSENTIERT

Als Vortragsreihe mit The-men aus dem Schnittfeld vonReligion, Kunst und Philoso-phie präsentieren sich die„Petersberger Gespräche“ inder früheren KlosterkircheSt. Peter & Paul zu Erfurt.

Am vergangenen Sonntagsprach Sabine Bobert, seit2001 Theologieprofessorinan der Christian-Albrechts-Universität Kiel, „Über Glau-be und Atheismus“ und stell-te Überlegungen zu einerneuen Mystik an. Wir dru-

cken ihren Vortrag in gekürz-ter Fassung.

Für Mittwoch, den 29.August, wird zum nächstenund in dieser Saison letzten„Petersberger Gespräch“ ein-geladen. Hellmut Seeman,Präsident der Klassik StiftungWeimar, widmet sich dann inseinem Vortrag „Paulus undGoethe. Gnade und Genius“.

29. August, 19 Uhr, St.Peter & Paul, Peters-

berg Erfurt