Tobias Wolff: Unsere Geschichte beginnt

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Unsere Geschichte beginnt

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Die ganze Schaffenskraft von Tobias Wolff umfasst sein neuer Erzählungsband: einige der schönsten frühen Erzählungen und zehn neue Storys, die nun erstmals auf Deutsch zu lesen sind — eingeführt von einem Vorwort von Jakob Arjouni.

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Unsere Geschichte beginnt

Tobias Wolff

Unsere Geschichte beginnt

Erzählungen

Aus dem Amerikanischen

von Frank Heibert

Berlin Verlag

Die Originalausgabe erschien 2008unter dem Titel Our Story Begins bei Alfred A. Knopf, New York

© 2008 Tobias WolffFür die deutsche Ausgabe

© 2011 BV Berlin Verlag GmbH, BerlinAlle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Nina Rothfos und Patrick Gabler, HamburgTypografie: Birgit Thiel, Berlin

Gesetzt aus der Swift von Greiner & Reichel, KölnDruck und Bindung: CPI – Deutschland

isbn 978-3-8270-0852-7

www.berlinverlage.de

Inhalt

Im Garten

der nordamerikanischen Märtyrer 7

Nebenan 23

Jäger im Schnee 31

Der Lügner 53

Dieses Zimmer 77

In Erwartung weiterer Befehle 83

Eine weiße Bibel 97

Ihr Hund 115

Eine erwachsene Studentin 123

Die Aussage 139

Bis auf die Knochen 153

Nachtigall 165

Im Zweifel für den Angeklagten 179

Der Kuss 203

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Im Garten der nordamerikanischen Märtyrer

Als sie jung war, erlebte Mary, wie ein brillanter, origineller

Mann seine Stelle verlor, weil er Meinungen äußerte, die dem

Stiftungsrat des Colleges, wo sie beide unterrichteten, miss­

liebig waren. Sie teilte seine Meinungen, unterschrieb die Pro­

testpetition allerdings nicht. Schließlich war sie selbst auf

Probe – als Lehrkraft, als Frau, als Deuterin der Geschichte.

Mary passte auf. Bevor sie eine Vorlesung hielt, schrieb sie

den genauen Wortlaut nieder und benutzte dabei die Argu­

mente, oft die Worte anderer, anerkannter Autoren, um nicht

zufällig etwas Skandalöses zu sagen. Ihre eigene Meinung

behielt sie für sich, und die Worte dafür verblassten mit der

Zeit; ohne ganz zu verschwinden, schrumpften sie zu fernen,

nervösen Punkten, wie auffliegende Vögel.

Als sich die Abteilung zu einem Bienenstock der Cliquen

entwickelte, kümmerte sich Mary um ihre eigenen Angele­

genheiten und tat so, als wüsste sie nicht, dass die Leute sich

untereinander hassten. Um nicht farblos zu wirken, legte sie

sich harmlose exzentrische Gewohnheiten zu. Sie fing an zu

kegeln, was sie lieben lernte, und gründete die Ortsgruppe

Brandon College einer Gesellschaft, die sich zum Ziel gesetzt

hatte, den guten Ruf von Richard III. wiederherzustellen. Sie

lernte Komikersprüche von Schallplatten und Witze aus Witz­

sammlungen auswendig; die Leute stöhnten, wenn sie sie he­

runterrasselte, aber davon ließ sie sich nicht bremsen, und

nach einer Weile wurde das Stöhnen zum eigentlichen Ziel

der Witze. Sie waren eine Art Tribut an Marys Bereitschaft,

sich bloßzustellen.

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Tatsächlich stand niemand am College sicherer da als Mary,

denn sie machte sich zu einer Institution, wie eine Gewohn­

heit oder ein Maskottchen – zu einem Teil des Bildes, das das

College von sich selbst hatte.

Hin und wieder überlegte sie, ob sie zu vorsichtig gewesen

sein könnte. Was sie sagte und schrieb, kam ihr selber flach vor,

strohig, so als hätte jemand anders den Saft herausgepresst.

Und einmal, während sie mit einem Ordinarius sprach, sah

Mary ihr Spiegelbild in einer Fensterscheibe: Sie beugte sich

vor und hatte ihren Kopf so zu ihm gedreht, dass ihr Ohr sich

direkt vor seinem sprechenden Mund befand. Der Anblick

ekelte sie an. Jahre später, als sie sich ein Hörgerät anschaffen

musste, hatte Mary den Verdacht, ihre Schwerhörigkeit sei ein

Ergebnis ihrer ständigen Bemühung, immer alles mitzukrie­

gen, was die anderen sagten.

In der zweiten Hälfte von Marys fünfzehntem Jahr am

Brandon College berief der Präsident eine Versammlung des

Lehrkörpers und aller Studenten ein, um zu verkünden, dass

das College bankrott sei und seine Pforten schließen müsse. Er

war ebenso davon überrascht worden wie sie; der Bericht des

Stiftungsrats war erst am selben Morgen auf seinem Schreib­

tisch gelandet. Anscheinend hatte Brandons Finanzdezernent

sich mit irgendwelchen Termingeschäften verspekuliert und

alles verloren. Der Präsident wollte die Nachricht persönlich

bekanntgeben, bevor sie die Presse erreichte. Er weinte vor

aller Augen, wie auch die Studenten und die Lehrkräfte, mit

einigen wenigen Ausnahmen – ein paar zynischen Männern

aus der Oberschicht, die so taten, als verachteten sie die emp­

fangene Ausbildung.

Mary wurde das Wort »spekulieren« nicht wieder los. Es

bedeutete »raten« und in Gelddingen »zocken«. Wie konnte

ein Mann ein ganzes College verzocken? Warum tat jemand so

etwas, und warum hatte ihn niemand aufgehalten? Das schien

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in eine andere Zeit zu gehören; Mary sah einen betrunkenen

Plantagenbesitzer vor sich, der am Spieltisch seine Sklaven

verzockte.

Sie bewarb sich für andere Stellen und bekam ein Angebot

von einem neuen experimentellen College in Oregon. Es war

ihr einziges Angebot, deshalb nahm sie es an. Das College

befand sich in einem einzigen Gebäude. Ständig klingelte es,

Spinde waren in den Korridoren aufgereiht und in jeder Ecke

stand ein summender Wasserspender. Die Studentenzeitung

kam alle vierzehn Tage heraus, auf Thermopapier, das sich

feucht anfühlte. Die Bibliothek, die neben dem Probenraum

lag, hatte keinen Bibliothekar und wenige Bücher. »Alles in

Arbeit«, sagte der Leiter gern fröhlich.

Die Landschaft war aber wunderschön, und Mary hätte sich

bestimmt daran erfreut, wenn ihr der Regen nicht so zugesetzt

hätte. Irgendetwas stimmte mit ihren Lungen nicht, aber die

Ärzte konnten sich weder auf die Diagnose noch auf eine

Therapie einigen; was immer es war, die Feuchtigkeit machte

es schlimmer. An Regentagen bildete sich Kondenswasser in

ihrem Hörgerät und sorgte für einen Kurzschluss. Sie fürchtete

schon jedes Gespräch, weil sie nie wusste, wann sie wieder das

Schaltkästchen herausnehmen und gegen ihr Bein schlagen

musste.

Es regnete beinahe täglich. Wenn es gerade nicht regnete,

zog es sich zu oder klarte auf. Der Boden glitzerte unter dem

Gras, und das Licht hatte einen gelben Schimmer, der bei

Gewittern aufloderte.

Marys Keller stand unter Wasser. Die Wände schwitzten,

und hinter dem Kühlschrank wucherten giftige Pilze. Sie fühl­

te sich, als würde sie verrosten, wie eins der alten Autos, die

die Leute in dieser Gegend im Vorgarten auf Holzblöcken auf­

bockten. Mary wusste, jeder musste sterben, aber ihr war, als

ginge das bei ihr schneller als bei den meisten anderen.

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Sie suchte nach einer anderen Stelle, aber erfolglos. Dann,

im Herbst ihres dritten Jahres in Oregon, bekam sie einen

Brief von einer Frau namens Louise, die früher auch mal am

Brandon unterrichtet hatte. Louise hatte großen Erfolg mit

einem Buch über Benedict Arnold gehabt und gehörte jetzt

zum Lehrkörper eines namhaften Colleges in Upstate New

York. Sie schrieb, ein Kollege gehe zum Ende des Jahres in Ren­

te, und fragte, ob Mary an der Stelle interessiert sei.

Mary war überrascht von dem Brief. Louise hielt sich für

eine große Historikerin und fast alle anderen für unnütz; Mary

hatte nicht gewusst, dass Louise sie nicht dazu zählte. Außer­

dem neigte Louise kaum dazu, sich für die Belange anderer zu

engagieren. Sie hatte die Angewohnheit, scharf einzuatmen,

wenn bekannte Namen fielen, so als wüsste sie Dinge, die aus­

zusprechen ihr die Freundschaft verbot.

Mary erwartete nichts, schickte aber einen Lebenslauf und

ein Exemplar ihres Buches hin. Kurz danach rief Louise sie an,

um ihr mitzuteilen, dass die Berufungskommission, dessen

Vorsitzende sie war, Mary zum Vorstellungsgespräch einladen

wolle, Anfang November. »Aber mach dir keine allzu großen

Hoffnungen«, schloss sie an.

»Nein, nein«, sagte Mary und dachte: Warum sollte ich mir

keine Hoffnungen machen? Sie würden doch weder die Umstände

noch die Kosten auf sich nehmen, sie einzufliegen, wenn sie

es gar nicht ernst meinten. Und sie war sicher, dass das Ge­

spräch gut laufen würde. Sie würde dafür sorgen, dass man

sie mochte – oder ihnen zumindest keinen Grund geben, sie

nicht zu mögen.

Sie machte sich kundig über die Gegend, mit einem selt­

samen Gefühl der Vertrautheit, so als wären ihr das Land und

seine Geschichte schon bekannt. Und als ihr Flugzeug in Port­

land startete und ostwärts in die Wolken aufstieg, kam es ihr

vor, als kehrte sie nach Hause zurück. Das Gefühl blieb und

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wurde stärker, als sie landete. Sie versuchte, es Louise zu be­

schreiben, als sie den Flughafen von Syracuse verließen und

zu dem College fuhren, das ungefähr eine Stunde entfernt lag.

»Es ist wie ein Déjà­vu«, sagte sie.

»Déjà­vu ist Humbug«, sagte Louise. »Das ist lediglich eine

Art chemisches Ungleichgewicht.«

»Mag ja sein«, sagte Mary, »trotzdem habe ich dieses Ge­

fühl.«

»Werd mir bloß nicht ernsthaft«, sagte Louise. »Das ist nicht

dein größter Trumpf. Sei einfach so witzig wie immer, klopf

deine Sprüche. Und jetzt mal ganz ehrlich: Wie seh ich aus?«

Es war Abend geworden, zu dunkel, um Louises Gesicht

gut erkennen zu können, aber auf dem Flughafen hatte sie

hager und bleich und angestrengt gewirkt. Sie erinnerte Mary

an eine Beschreibung aus dem Buch, das sie gerade gelesen

hatte – wie Irokesenkrieger durch Fasten dafür sorgten, dass

sie Visionen hatten. So sah Louise aus. Aber das würde sie nicht

hören wollen. »Du siehst wunderbar aus«, sagte Mary.

»Das hat auch einen Grund«, sagte Louise. »Ich habe mir

einen Liebhaber zugelegt. Ich kann mich besser konzentrieren,

bin aktiver und habe viereinhalb Kilo abgenommen. Außer­

dem habe ich etwas Farbe bekommen, aber das könnte auch

am Wetter liegen. Ich kann diese Erfahrung nur wärmstens

empfehlen. Aber du missbilligst das wahrscheinlich.«

Mary wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie sagte, sie sei si­

cher, dass Louise schon wisse, was sie tue, aber das schien nicht

zu genügen. »Die Ehe ist eine großartige Einrichtung«, fügte

sie hinzu, »aber wer will schon in einer Einrichtung le ben?«

Louise stöhnte. »Ich kenne dich«, sagte sie, »und ich kenne

deine Gedanken, und die lauten in diesem Moment: Aber was

ist mit Ted? Was ist mit den Kindern? Es ist nämlich so, Mary, sie

nehmen es überhaupt nicht gut auf. Ted ist eine Nervensäge

geworden.« Sie gab Mary ihre Handtasche. »Sei so gut, Mary,

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und mach mir eine Zigarette an, ja? Ich weiß, ich hab dir ge­

sagt, ich hätte aufgehört, aber diese ganze Sache nimmt mich

furchtbar mit, furchtbar, und wie es aussieht, habe ich leider

wieder angefangen.«

Jetzt fuhren sie nordwärts durch die Hügel auf einer

schmalen Landstraße. Hohe Bäume überwölbten die Straße.

Als sie eine Kuppe erreichten, sah Mary den Wald ringsum,

tiefschwarz unter dem pflaumenfarbenen Himmel. Ein paar

Lichter waren zu sehen, was die Dunkelheit nur verstärkte.

»Ted hat es geschafft, mir die Kinder vollkommen zu ent­

fremden«, sagte Louise gerade. »Es lässt sich nicht vernünftig

mit ihnen reden, mit keinem von ihnen. Sie weigern sich tat­

sächlich, das Thema auch nur anzusprechen, was der Hohn

ist, weil ich über die Jahre immer versucht habe, ihnen beizu­

bringen, wie man sich in die Lage seines Gegenübers versetzt.

Wenn sie Jonathan kennenlernten, würden sie bestimmt alles

ganz anders sehen, das weiß ich. Aber davon wollen sie nichts

hören. Jonathan«, sagte sie, »ist mein Liebhaber.«

»Ich verstehe«, sagte Mary.

Sie bogen um eine Kurve, und das Scheinwerferlicht er­

fasste zwei Hirsche am Straßenrand. Mary sah, wie sie sich an­

spannten, als das Auto vorbeifuhr. »Hirsche«, sagte sie.

»Ich weiß nicht«, sagte Louise. »Ich weiß einfach nicht. Ich

gebe mein Bestes, aber nie scheint es auszureichen. Doch ge­

nug von mir – reden wir von dir. Wie fandest du mein letztes

Buch?« Sie johlte und schlug mit den Handflächen auf das

Lenkrad. »Aber im Ernst, wie geht es dir? Das muss doch total

schockomat für dich gewesen sein, als das gute alte Brandon

die Grätsche gemacht hat.«

»Es war schwer. Ist nicht besonders gut für mich gelaufen,

aber es wird viel besser werden, wenn ich diese Stelle kriege.«

»Zumindest hast du Arbeit«, sagte Louise. »Sieh es mal po­

sitiv.«

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»Das versuche ich ja.«

»Du wirkst so düster. Ich hoffe, du machst dir keine Sorgen

wegen des Kommissionsgesprächs oder des Vortrags. Sorgen

machen wird dir ganz sicher nicht guttun. Betrachte das Gan­

ze doch als kleinen Urlaub.«

»Vortrag? Was für ein Vortrag?«

»Der Vortrag, den du morgen halten sollst, gleich nach dem

Gespräch. Hatte ich dir nichts davon gesagt? Mea culpa, Liebes,

mea maxima culpa. In letzter Zeit bin ich ganz untypisch ver­

gesslich geworden.«

»Aber was soll ich machen?«

»Entspann dich«, sagte Louise. »Such dir einfach ein Thema

aus und lass es laufen.«

»Laufen?«

»Ja. Mach den Mund auf und schau einfach, was raus­

kommt. Improvisier halt.«

»Aber ich arbeite immer mit vorbereiteten Vorträgen.«

»Na schön. Weißt du was, letztes Jahr habe ich einen Artikel

über den Marshallplan geschrieben, den ich dann langweilig

fand und nie veröffentlicht habe. Den kannst du vorlesen.«

Etwas nachzuplappern, das Louise geschrieben hatte, kam

Mary zuerst falsch vor; aber dann wurde ihr klar, dass sie

genau das seit vielen Jahren machte und dass jetzt nicht der

Moment für Skrupel war.

»Da sind wir«, sagte Louise und bog in eine kreisförmige

Auffahrt ein, die von mehreren Hütten umstanden war. In

zwei der Hütten brannte Licht; aus den Schornsteinen stieg

senkrecht Rauch auf. »Das College ist noch mal drei Kilometer

da lang.« Louise zeigte die Straße hinunter. »Ich würde dich

einladen, bei mir zu übernachten, aber ich verbringe die Nacht

mit Jonathan, und Ted ist zurzeit keine angenehme Gesell­

schaft. Du würdest ihn kaum wiedererkennen.«

Sie nahm Marys Gepäck aus dem Kofferraum und trug es

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die Stufen zu einer im Dunkeln liegenden Hütte hoch. »Schau«,

sagte sie, »es ist schon ein Feuer für dich vorbereitet worden.

Du musst es nur noch anzünden.« Sie stand mit verschränkten

Armen mitten im Zimmer und sah zu, wie Mary das Anmach­

holz anzündete. »So«, sagte sie. »Das ist in null Komma nichts

kuschelomat. Ich würde wahnsinnig gern dableiben und noch

weiter quatschen, aber ich muss echt los. Schlaf dich einfach

gut aus, und wir sehen uns morgen früh.«

Mary stand in der Tür und winkte, als Louise unter auf­

spritzendem Kies davonfuhr. Sie atmete tief ein, um die Luft zu

schmecken: herb und rein. Sie konnte die Sterne und ihre Kon­

stellationen erkennen und diffuse Lichtschweife, die zwischen

ihnen verliefen.

Sie fühlte sich immer noch unwohl bei dem Gedanken,

Louises Arbeit als ihre eigene vorzutragen. Es würde ihr ers­

tes komplettes Plagiat werden. Und es würde sie mit Sicher­

heit verändern. Es würde sie kleiner machen – wie viel klei­

ner, wusste sie nicht. Aber was sollte sie sonst tun? Sie konnte

es ganz sicher nicht »laufen lassen«. Ihr könnten die Worte

fehlen, und was dann? Mary fürchtete die Stille. Wenn sie

daran dachte, fiel ihr Ertrinken ein, als wäre die Stille eine Art

Wasser, in dem sie nicht schwimmen konnte.

»Ich will diese Stelle«, sagte sie und schmiegte sich tief in

ihren Mantel hinein. Er war aus Kaschmir, und Mary hatte

ihn nicht mehr angehabt, seit sie nach Oregon gezogen war,

weil die Leute einen dort für hochgestochen hielten, wenn

man etwas anderes anhatte als ein Hemd von Pendleton oder

natürlich Regenkleidung. Sie legte ihre Wange an den hoch­

geklappten Kragen und dachte an einen silbernen Mond, der

hinter kahlen schwarzen Ästen hervorschien, an ein weißes

Haus mit grünen Fensterläden und rotes Laub, das vor einem

stahlblauen Himmel herabfiel.

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Louise weckte sie ein paar Stunden später. Sie saß auf der Bett­

kante, stieß gegen Marys Schulter und schniefte laut. Als Mary

sie fragte, was los sei, sagte sie: »Ich hätte gern deine Meinung

über etwas. Es ist sehr wichtig. Findest du mich fraulich?«

Mary setzte sich auf. »Louise, hat das Zeit?«

»Nein.«

»Fraulich?«

Louise nickte.

»Du bist sehr schön«, sagte Mary, »und du weißt dich zu

präsentieren.«

Louise stand auf und tigerte im Zimmer auf und ab. »Dieser

Wichser«, sagte sie. Sie kam zurück und ragte vor Mary auf.

»Nehmen wir mal an, jemand würde sagen, ich hätte keinen

Sinn für Humor. Würdest du zustimmen oder nicht?«

»In manchen Dingen hast du einen Sinn für Humor. Ich

meine, klar, du hast einen guten Sinn für Humor.«

»Was meinst du damit, in manchen Dingen? In welchen

Dingen?«

»Na ja, wenn du hören würdest, dass irgendjemand auf

ungewöhnliche Art und Weise gestorben wäre, zum Beispiel

durch eine explodierende Zigarre, dann würdest du das lustig

finden.«

Louise lachte.

»Das meinte ich«, sagte Mary.

Louise lachte weiter. »Du liebes bisschen«, sagte sie. »So,

und jetzt bin ich dran, etwas über dich zu sagen.« Sie setzte

sich neben Mary.

»Bitte«, sagte Mary.

»Nur eines«, sagte Louise.

Mary wartete.

»Du zitterst ja«, sagte Louise. »Ich wollte nur sagen – ach,

vergiss es. Hör mal, macht es dir was aus, wenn ich auf dem

Sofa schlafe? Ich bin fix und fertig.«

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»Nur zu.«

»Ganz sicher? Du hast morgen einen großen Tag.« Sie ließ

sich aufs Sofa fallen und kickte ihre Schuhe von den Füßen.

»Ich wollte nur sagen, du solltest dir mal die Augenbrauen

nachziehen. Die verschwinden irgendwie so, und die Wirkung

ist irritierend.«

Sie schliefen beide nicht. Louise rauchte Kette und Mary

starrte in das herunterbrennende Feuer. Als es hell genug war,

dass sie sich sehen konnten, stand Louise auf. »Ich lasse dich

von einem Studenten abholen«, sagte sie. »Viel Glück.«

Das College sah genau so aus, wie Colleges aussehen sollten.

Roger, der Student, der Mary herumführen sollte, erklärte

ihr, es sei die exakte Kopie eines Colleges in England, bis hin

zu den Wasserspeiern und Bleiglasfenstern. Es sah so sehr

nach einem College aus, dass Filmemacher es manchmal als

Kulisse benutzten. Andy Hardy geht aufs College war hier gedreht

worden, und jeden Herbst feierten sie einen »Andy Hardy geht

aufs College«­Tag mit Waschbärjacken und Wettbewerben im

Goldfische­Verschlucken.

Über der Tür des Gründungsbaus prangte ein lateinischer

Wahlspruch, der sinngemäß bedeutete, »Gott hilft denen, die

sich selbst helfen«. Als Roger die Namen berühmter Absolven­

ten aufsagte, war Mary beeindruckt, wie sehr diese das Motto

beherzigt hatten. Sie hatten sich selbst zu Eisenbahnlinien,

Bergwerken, Armeen und Staaten verholfen und zu Finanzim­

perien mit Außenposten in der ganzen Welt.

Roger führte Mary in die Kapelle und zeigte ihr eine Ta­

fel mit den Namen aller Ehemaliger, die in der Schlacht ge­

fallen waren, bis zurück zum Bürgerkrieg. Viele Namen stan­

den nicht darauf. Auch hier hatten sich die Absolventen offen­

bar selbst geholfen. »Ach ja«, sagte Roger, als sie wieder gin­

gen, »das habe ich noch vergessen. Das Altargitter kommt aus

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einer Kirche in Europa, in die Karl der Große immer gegangen

ist.«

Sie besuchten die Sporthalle und die beiden Eishockey­

felder und die Bibliothek, wo Mary den Katalog inspizierte, als

würde sie die Stelle ablehnen, wenn sie nicht die richtigen Bü­

cher hätten. »Wir haben noch ein bisschen Zeit«, sagte Roger,

als sie hinausgingen. »Möchten Sie gern das Kraftwerk sehen?«

Mary wollte sich bis zur letzten Minute beschäftigt halten,

also stimmte sie zu.

Roger führte sie in die Tiefen des Wirtschaftsgebäudes,

wobei er ihr alles Mögliche über die Maschine erklärte, die

sie gleich sehen würden, offenbar die modernste des ganzen

Landes. »Die Leute halten das College für echt altmodisch«,

sagte er, »aber das ist es nicht. Heutzutage dürfen auch Mäd­

chen herkommen, und es gibt auch Frauen im Lehrkörper. Es

gibt sogar eine Bestimmung, die besagt, für jede offene Stelle

muss mindestens eine Frau zum Berufungsgespräch gebeten

werden. Bitte, da ist sie.«

Sie standen auf einem stählernen Steg oberhalb der größ­

ten Maschine, die Mary je zu Gesicht bekommen hatte. Roger,

der seinen Abschluss in Geowissenschaften machte, sagte, ein

Professor aus seinem Institut habe dem Entwurf für diese Ma­

schine den Weg bereitet. War er zuvor geschwätzig gewesen,

so wurde Roger jetzt ehrfürchtig. Für ihn war sonnenklar,

dass diese Maschine die Seele des Colleges darstellte, dass der

Sinn und Zweck des Colleges eigentlich darin bestand, Absatz­

möglichkeiten für die Maschine zu liefern. Sie lehnten sich

gemeinsam an das Geländer und sahen ihr beim Summen zu.

Mary betrat den Versammlungsraum auf die Minute pünktlich

für ihr Berufungsgespräch, doch er war leer. Ihr Buch lag auf

dem Tisch, dazu ein Krug Wasser und einige Gläser. Sie setzte

sich und nahm das Buch in die Hand. Die Bindung krachte,

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als sie es aufschlug. Die Seiten waren glatt, sauber, ungelesen.

Mary blätterte zum ersten Kapitel, das so anfing: »Es wird all­

gemein angenommen, dass …« Wie öde, dachte sie.

Fast zwanzig Minuten später kam Louise mit mehreren

Männern herein. »Entschuldigung, dass wir zu spät kommen«,

sagte sie. »Wir haben nicht viel Zeit, also fangen wir am besten

gleich an.« Sie machte Mary und die Berufungskommission

miteinander bekannt, aber bis auf eine Ausnahme konnte sie

die Namen nicht mit den Gesichtern verbinden. Die Ausnahme

war Dr. Howells, der Fachbereichsleiter, der eine narbige blaue

Nase und schreckliche Zähne hatte.

Ein Mann mit glänzendem Gesicht rechts von Dr. Howells

sprach als Erster. »Also«, sagte er. »Wenn ich es recht verstehe,

haben Sie früher am Brandon College unterrichtet.«

»Es war jammerschade, dass Brandon schließen musste«,

sagte ein junger Mann mit einer Pfeife im Mund. »Ein College

wie Brandon hat absolut seine Daseinsberechtigung.« Beim

Sprechen wippte die Pfeife auf und nieder.

»Jetzt sind Sie in Oregon«, sagte Dr. Howells. »Ich war noch

nie dort. Wie gefällt es Ihnen?«

»Nicht besonders«, sagte Mary.

»Ach was.« Dr. Howells beugte sich zu ihr. »Ich dachte, alle

mögen Oregon. Ich habe gehört, es sei sehr grün.«

»Das stimmt«, sagte Mary.

»Wahrscheinlich regnet es viel«, sagte er.

»Fast jeden Tag.«

»Das würde mir nicht gefallen«, sagte er kopfschüttelnd.

»Ich mag es trocken. Natürlich schneit es hier und ab und zu

gibt’s auch mal Regen, aber es ist ein trockener Regen. Waren Sie

schon mal in Utah? Das wäre ein Staat für Sie. Bryce Canyon.

Der Mormon­Tabernacle­Chor.«

»Dr. Howells ist in Utah aufgewachsen«, sagte der junge

Mann mit der Pfeife.

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»Das war damals ein ganz anderer Ort«, sagte Dr. Howells.

»Mrs Howells und ich haben immer gesagt, wir kehren dorthin

zurück, wenn ich in Rente gehe, aber jetzt bin ich nicht mehr

so sicher.«

»Wir sind ein bisschen knapp mit der Zeit«, sagte Louise.

»Und ich rede und rede hier«, sagte Dr. Howells. »Bevor wir

also zum Ende kommen, gibt es irgendetwas, das Sie uns mit­

teilen möchten?«

»Ja. Ich finde, Sie sollten mir die Stelle geben.« Mary lachte,

als sie das sagte, aber niemand lachte mit oder sah sie auch

nur an. Sie wandten alle den Blick ab. Da begriff Mary, dass

sie sie gar nicht in Erwägung zogen. Sie war hierher gebracht

worden, um einer Regel gerecht zu werden. Sie hatte keine

Hoffnung.

Die Männer räumten ihre Papiere zusammen und schüttel­

ten Mary die Hand und sagten ihr, wie sehr sie sich auf ihren

Vortrag freuten. »Ich kann gar nicht genug vom Marshallplan

kriegen«, sagte Dr. Howells.

»Tut mir leid«, sagte Louise, als sie allein waren. »Ich hatte

nicht damit gerechnet, dass es so schlimm sein würde. Das war

echt fiesomat.«

»Sag mir eins«, sagte Mary. »Ihr wisst schon, wen ihr ein­

stellt, oder?«

Louise nickte.

»Warum hast du mich dann hierher gebracht?«

Als Louise anfing, ihr die Bestimmung zu erklären, unter­

brach Mary sie. »Ich weiß das alles. Aber warum ich? Warum

hast du mich ausgesucht?«

Louise trat ans Fenster und drehte Mary beim Sprechen den

Rücken zu. »In letzter Zeit ist es nicht besonders gut für die

alte Louise gelaufen«, sagte sie. »Ich war unglücklich, und ich

dachte, du heiterst mich vielleicht auf. Du warst früher immer

so witzig, und ich war mir sicher, dass du die Reise genießen

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würdest – es hat dich ja nichts gekostet, und zu dieser Jahres­

zeit ist es hübsch hier mit der Laubfärbung und so. Mary, du

hast keine Ahnung, wie meine Eltern mit mir umspringen.

Und Ted ist derzeit auch nicht gerade eine Stimmungskanone.

Oder Jonathan, der Wichser. Ich habe Liebe und Freundschaft

verdient, aber ich kriege nichts davon.« Sie drehte sich um und

sah auf ihre Armbanduhr. »Es ist fast Zeit für deinen Vortrag.

Wir sollten jetzt gehen.«

»Ich würde ihn lieber nicht halten. Hat ja schließlich eh

keinen Zweck, oder?«

»Aber du musst ihn halten. Das gehört zur Bewerbung dazu.«

Louise reichte ihr eine Mappe. »Du brauchst nur das hier vor­

zulesen. Das ist nicht viel, wenn man bedenkt, wie viel Geld

wir ausgegeben haben, um dich hierher zu bringen.«

Mary folgte Louise den Gang hinunter zum Hörsaal. Die

Professoren saßen mit übereinandergeschlagenen Beinen in

der ersten Reihe. Sie lächelten und nickten Mary zu. Hinter

ihnen war der Saal voller Studenten, einige saßen sogar in den

Gängen. Einer der Professoren stellte das Mikrofon auf Marys

Höhe ein und duckte sich auf dem Weg zum Podium und zu­

rück, als wollte er lieber nicht gesehen werden.

Louise rief den Saal zur Ordnung, dann stellte sie Mary vor

und nannte das Thema des Vortrags. Aber Mary hatte zu guter

Letzt doch beschlossen, es laufen zu lassen. Sie kam aufs Podi­

um und wusste noch nicht genau, was sie sagen würde; sie

wusste nur ganz genau, dass sie lieber sterben als Louises Auf­

satz vortragen würde. Die Sonne ergoss sich durch die Bleiglas­

fenster über die Menschen ringsum und färbte ihre Gesichter

ein. Dicke Rauchschwaden von der Pfeife des jungen Professors

zogen durch einen Kreis aus rotem Licht zu Marys Füßen,

wurden scharlachrot und wanden sich wie züngelnde Flam­

men.

»Ich frage mich, wie viele von Ihnen wohl wissen«, hob sie