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Nachtschattengewächse und Bitterstoffe * Enno Logemann 1 und Rolf Giebelmann 2 1 D-79111 Freiburg im Breisgau, Speckbacherweg 3; [email protected] 2 D-17491 Greifswald, Newtonstrasse 2 B „Diese betäubte und betäubende Erde mit Nachtschattengewächsen, und Strömen von Duft – untergegangen im Meer und aufgegangen im Himmel die Erde.“ Ingeborg Bachmann (1926-1973) Nachtschattengewächse (Solanaceae) gelten seit Jahr- tausenden als mystische Hexenpflanzen und als klassi- sche Giftpflanzen. Man denke an den gefleckten Schierling, Conium maculatum, die gefürchtete Gift- pflanze mit dem unangenehmen Geruch „nach Mäuse- urin“ und das berühmte Mordgift, den bitteren „Schier- lingsbecher des Sokrates“. Die Bezeichnung „Nacht- schatten“ stammt wahrscheinlich von dem althochdeut- schen Wort „nahtscato“, mittelhochdeutsch „naht- schade“ (engl. nightmare) ab, „ein Schaden, den man in der Nacht erfährt“, von einem Traum, der von Angst- und Panikattacken begleitet ist. Abb. 1. Solanum dulcamara. Aus: O.W. Thomé. Flora von Deutschland, Österreich und der Schweiz. Gera (1885). (http:// biolib.mpipz.mpg.de/thome/band4/tafel_027.html) Die Nacht wirft bekanntlich keine Schatten. „Bei dem Begriff ‚Nachtschaden’ handelt es sich um eine Krankheit, die durch einen elbischen Dämon (nächtlichen Alpdämon) nachts im Schlaf ausgelöst wird und mit Solanum dulcamara geheilt werden kann“ (zitiert nach [1]). Der Name Solanaceae leitet sich von dem lateinischen Wort „solari“ (trösten, lindern) ab. Der Bittersüße Nachtschatten, Solanum dulcamara, (engl. bittersweet nightshade) ist ein bis zu etwa 2 Meter langer, kletternder Halbstrauch mit lang gestielten violetten Blüten und auf- fallenden kegeligen Staubblättern, die sich in der Blütezeit Juni bis August ausbilden (Abb. 1). Die Pflanze ist in Europa, Asien und Nordafrika weit verbreitet. Man findet sie vor allem in feuchten Gebüschen, Auwäldern und an Flussufern. Die eiförmigen scharlachroten Früchte sind giftig für Mensch und Vieh, besonders für Kinder wegen ihrer schönen Farbe attraktiv und deshalb gefährlich. Die Beeren verlieren zwar während der Reife an Alkaloidgehalt. Dreißig bis vierzig unreife Beeren können aber für Kinder bereits tödlich sein. Alle Pflanzen- teile sind giftig. Hauptwirkstoffe sind Alkaloide und Saponine mit Steroidcharakter, u. a. α- Solanin, Solasodin. Einige Vögel sind jedoch immun gegen diese Gifte und können somit den Samen dieser Früchte über weite Landstriche verteilen [1-6]. * Dem Andenken an Dr. rer. nat. Kurt Besserer (Tübingen) gewidmet. Toxichem Krimtech 2016;83(3):149

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Nachtschattengewächse und Bitterstoffe*

Enno Logemann1 und Rolf Giebelmann2

1D-79111 Freiburg im Breisgau, Speckbacherweg 3; [email protected] 2D-17491 Greifswald, Newtonstrasse 2 B

„Diese betäubte und betäubende Erde mit Nachtschattengewächsen, und Strömen von Duft –untergegangen im Meer und aufgegangen im Himmel die Erde.“ Ingeborg Bachmann (1926-1973) Nachtschattengewächse (Solanaceae) gelten seit Jahr-tausenden als mystische Hexenpflanzen und als klassi-sche Giftpflanzen. Man denke an den gefleckten Schierling, Conium maculatum, die gefürchtete Gift-pflanze mit dem unangenehmen Geruch „nach Mäuse-urin“ und das berühmte Mordgift, den bitteren „Schier-lingsbecher des Sokrates“. Die Bezeichnung „Nacht-schatten“ stammt wahrscheinlich von dem althochdeut-schen Wort „nahtscato“, mittelhochdeutsch „naht-schade“ (engl. nightmare) ab, „ein Schaden, den man in der Nacht erfährt“, von einem Traum, der von Angst- und Panikattacken begleitet ist. Abb. 1. Solanum dulcamara. Aus: O.W. Thomé. Flora von Deutschland, Österreich und der Schweiz. Gera (1885). (http:// biolib.mpipz.mpg.de/thome/band4/tafel_027.html)

Die Nacht wirft bekanntlich keine Schatten. „Bei dem Begriff ‚Nachtschaden’ handelt es sich um eine Krankheit, die durch einen elbischen Dämon (nächtlichen Alpdämon) nachts im Schlaf ausgelöst wird und mit Solanum dulcamara geheilt werden kann“ (zitiert nach [1]). Der Name Solanaceae leitet sich von dem lateinischen Wort „solari“ (trösten, lindern) ab.

Der Bittersüße Nachtschatten, Solanum dulcamara, (engl. bittersweet nightshade) ist ein bis zu etwa 2 Meter langer, kletternder Halbstrauch mit lang gestielten violetten Blüten und auf-fallenden kegeligen Staubblättern, die sich in der Blütezeit Juni bis August ausbilden (Abb. 1). Die Pflanze ist in Europa, Asien und Nordafrika weit verbreitet. Man findet sie vor allem in feuchten Gebüschen, Auwäldern und an Flussufern. Die eiförmigen scharlachroten Früchte sind giftig für Mensch und Vieh, besonders für Kinder wegen ihrer schönen Farbe attraktiv und deshalb gefährlich. Die Beeren verlieren zwar während der Reife an Alkaloidgehalt. Dreißig bis vierzig unreife Beeren können aber für Kinder bereits tödlich sein. Alle Pflanzen-teile sind giftig. Hauptwirkstoffe sind Alkaloide und Saponine mit Steroidcharakter, u. a. α-Solanin, Solasodin. Einige Vögel sind jedoch immun gegen diese Gifte und können somit den Samen dieser Früchte über weite Landstriche verteilen [1-6].

                                                            

*Dem Andenken an Dr. rer. nat. Kurt Besserer (Tübingen) gewidmet. 

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Der Schwarze Nachtschatten, Solanum nigrum L., (engl. European black nightshade) ist eine einjährige krautige Pflanze, die vorwiegend in Eurasien beheimatet ist (Abb. 2). Man findet sie aber auch in Amerika, Australien und Südafrika. Carl von Linné beschreibt in seinem Werk „Species Plantarum“ (1753) sechs Varietäten von Solanum nigrum. Die etwa 30 cm bis 1,2 Meter hohe Pflanze wächst bevorzugt auf Schuttplätzen, Weinbergen und Äckern, wo sie im Allgemeinen als Unkraut betrachtet wird. Typisch sind meist gleichzeitig Blüten (weiß mit leuchtend gelben Staubfäden) und grüne, unreife sowie schwarze, reife Beeren (Blütezeit Juni bis Oktober) [4].

Alle Pflanzenteile sind stark giftig: 6-8 unreife Beeren können bereits toxische Wirkungen zeigen. Hauptwirkstoffe sind α-Solanin, Solasodin und Solamargin (Abb. 2.). Interessant ist die Tatsache, dass in Mittelmeerländern, in Indien, China und Afrika einige Varietäten von Solanum nigrum bereits seit Jahrhunderten zu Nahrungszwecken kultiviert, die reifen Beeren und die Blätter erhitzt und gegessen wurden [1-7]. „Die reife (!) schwarze Frucht ist nach Teuscher und Lindequist frei von toxischen Bestandteilen“ (zitiert nach [5]). Solanaceae – Nachtschattengewächse Die oben beschriebenen Pflanzen können in erster Näherung als typische Vertreter der Fami-lie der Solanaceae (Nachtschattengewächse) in der Ordnung der Solanales (Nachtschatten-artige) angesehen werden. Die Solanaceae sind eine recht große Familie der Bedecktsamigen Pflanzen (Magnoliopsida) mit ca. 90 bis 100 Gattungen und ca. 2.700 Arten [8,9]. Im Internet werden auch Zahlen von 9.000 bis 10.000 Arten genannt [8]. „Charakteristische (botanische) Merkmale sind vor allem die fünfzähligen Blüten mit verwachsenen Kelchblättern, teilweise verwachsenen Kronblättern, fünf Staubblättern und meist zwei miteinander verwachsenen Fruchtblättern. Die Früchte der Nachtschattengewächse sind meist Beeren oder Kapsel-früchte“ [8]. Eine ausführliche Beschreibung des Habitats und der Klassifikation der Solana-ceae findet sich in [8,9]. Nachtschattengewächse sind – mit Ausnahme der Antarktis – auf allen Kontinenten verbreitet. Eine besondere Mannigfaltigkeit dieser Pflanzen findet sich in Mittel- und Südamerika, insbesondere in der Nähe des Äquators [9]. – Einige Nachtschatten-gewächse werden wegen ihres schönen Erscheinungsbildes von Blumenliebhabern als Kübel-pflanzen kultiviert. So hat z.B. die Engelstrompete Brugmansia arborea (Linné), die ur-sprünglich aus Südamerika stammt, wegen ihrer schönen trompetenartigen Blüten über die ganze Erde Verbreitung gefunden.

Abb. 2. Briefmarke mit Solanum nigrum (Sammlung Giebelmann). Strukturen der Hauptalkaloide: (A) Solanin, (B) Solasodin, (C) Sola-margin (https://de.wikipedia.org/wiki/Solanin, https://en.wikipedia.org/wiki/Solasodine https://en.wikipedia.org/wiki/Solamargin). 

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Die Inhaltsstoffe der Solanaceae, Alkaloide, Bitterstoffe und Gifte haben oft recht unter-schiedliche chemische Strukturen, deren Beschreibung in den Lehrbüchern über Pflanzen-gifte [1,2,5] große Kapitel gewidmet sind. Wichtige Inhaltsstoffe der Nachtschattengewächse, u. a. Atropin (Hyoscyamin) und Scopolamin haben eine lange Tradition als Wirkstoffe für Medikamente; siehe die Angaben der Roten Liste [10].

Zu den Nachtschattengewächsen zählen wichtige Nutzpflanzen wie Kartoffeln, Tomaten, Gurken, Kürbis, Paprika, Auberginen, Tabak…Im Jahr 2005 wurden weltweit 324,5 Mio. Tonnen Kartoffeln, 124,7 Mio. Tonnen Tomaten und 24,7 Mio. Tonnen Paprika bzw. Chilis geerntet. Die Welternte von unverarbeitetem Tabak lag bei 6,6 Mio. Tonnen [8]. Nachtschat-tengewächse haben demnach eine große (volks-)wirtschaftliche Bedeutung und Forschungs-projekte bzgl. Züchtung neuer Sorten etc. liegen nicht nur im rein wissenschaftlichen Inte-resse. „Die Welternährung hängt von nur 150 Pflanzen ab – ein extrem anfälliges System“ [11]. Die Solanaceae Genomics Community trifft sich jährlich auf internationalen Tagungen, um neueste Forschungsergebnisse bzgl. Artenvielfalt, Genetik und Neuzüchtungen von Pflan-zen auszutauschen [12,13]. Eine breit angelegte Solanaceae-Literatur-Datenbank befindet sich an der Radboud Universität, Nijmegen, Niederlande [14]. Kartoffeln, Zucchini, Wassermelonen Die Kartoffel Solanum tuberosum L. stammt ursprünglich aus Peru. Zahlreiche Sorten sind dort seit Jahrtausenden bekannt [1]. In Deutschland verpflichtete Friedrich der Große von Preußen im Jahr 1756 seine Bauern zum Anbau von Kartoffeln. Zu diesem Zweck ließ er den Oderbruch entwässern. Der Philosoph Arthur Schopenhauer (1788-1860) war ein Gegner der Speisekartoffel. Er be-hauptete, sie mache dumm. Bei dieser Bemerkung spielt wohl eine Rolle, dass in der Anfangs-zeit wie bei der Tomate nur die oberirdischen Früchte verzehrt wurden. Eine Anekdote will wissen: Als er zu einem Essen eingeladen wurde, fragte die Gastgeberin, ob es ihm ge-schmeckt habe. Er antwortete: „Sehr gut!“ Darauf sagte sie, dass er Kartoffeln gegessen habe. Er erwiderte: „Da sehen sie, wie dumm die Kartoffel macht; ich habe es nicht gemerkt.“

In diesem Zusammenhang sei angemerkt, dass in jüngster Zeit (1994) in den Kartoffelknollen geringe (!) Spuren von Benzodiazepin-Wirkstoffen („natürliches Diazepam“) nachgewiesen wurden, die Benzodiazepin-Rezeptoren im Rattengehirn hemmen [1]. – Aus toxikologischer Sicht bedeutsamer sind Steroidalkaloidglycoside, die normalerweise „in unbedenklichen Mengen“ in Kartoffelknollen vorhanden sind, beim Auskeimen bzw. Grünwerden jedoch eine Giftwirkung entfalten können [2]. Der Wirkstoff α-Solanin ist hitzebeständig und fettunlös-lich. Er geht beim Erhitzen der Kartoffeln teilweise ins Kochwasser über [15]. Die oberirdi-schen Teile der Kartoffelpflanzen, das Kartoffelkraut, sind zum Verzehr nicht geeignet.

Für die menschliche Ernährung bedeutsam ist die Tatsache, dass Kartoffel-Anbaugebiete durch pflanzenschädigende Pilzinfektionen vom Typ Phytophthora (griech. Phyton = Pflanze; phthorá = Vernichtung) erheblich geschädigt werden können [16]. Dies führte z.B. im Jahr

Abb. 3. Briefmarken zum Thema Kartoffel aus der Sammlung Giebelmann. 

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1845 in Irland zum Totalausfall der Kartoffelernte und zu einer großen Hungersnot: „andert-halb Millionen Iren wanderten aus“ [11]. – Kartoffelpflanzen werden auch durch Kartoffel-käfer (Leptinotarsa decemlineata) bedroht. Die gehäufte Ausbreitung in einigen Gegenden Europas, die seit dem ersten Weltkrieg zu Engpässen in der Lebensmittelversorgung führte, bot Anlass für Propaganda-Kampagnen der Regierungen mit der Behauptung, dass diese „Ami-Käfer“ (in Amerika colorado beetle genannt) von feindlichen Flugzeugen zu Sabotage-zwecken abgeworfen worden seien [17].

Zu den Nachtschattengewächsen gehört auch die Zucchini (Plural des italienischen Wortes zucchino) Cucurbita pepo subsp. convar. Giromontiina, in der Deutschschweiz auch Zuc-chetti genannt [18]. Die Zucchini gehören zur Pflanzenfamilie der Kürbisgewächse Cucurbitaceae. Die ursprünglichen Formen traten am Ende des 17. Jahrhunderts in Europa auf [18]. In Italien wird am 7. Mai traditionell der Tag der Zucchini (giorno dello zucchetto) begangen. Zucchini gelten als kalorienarmes, vitaminreiches und leicht verdauliches (mediter-ranes) Gemüse.

Erde, die uns dies gebracht. Sonne, die es reif gemacht.

Liebe Sonne, liebe Erde, euer nie vergessen werde.

Christian Morgenstern (1871-1914)

Abb. 4. 5α-Cucurbitan (links) und 5ß-Cucurbitan (rechts) (https://en.m.wikipedia.org/wiki/Cucurbitane).

Zucchini können roh, gekocht und gebraten gegessen werden und enthalten durch strenge Zuchtwahl im Allgemeinen keine bzw. nur geringe Mengen an Bitterstoffen. Auch die großen gelben Blüten können verzehrt werden und gelten als besondere Delikatesse [18]. „Besonders durch Rückkreuzung (selbstgezogener Samen) oder durch Kreuzung mit anderen Kürbis-pflanzen kann ein erhöhter Gehalt an Cucurbitacinen entstehen“ [18]. Es handelt sich hierbei um Bitterstoffe, die sich vom tetracyclischen Triterpen Cucurbitan (Abb. 4) ableiten, stark toxisch, hitzebeständig und durch ihren bitteren Geschmack noch in sehr niedriger Konzen-tration wahrnehmbar sind. [19]. In der Literatur sind mehrere Intoxikationsfälle mit Todes-folge beschrieben worden [20-22]. Im August 2015 (ein ungewöhnlich warmer Monat) starb ein 79-jähriger Mann aus Heidenheim (Baden-Württemberg) an den Folgen einer Zucchini-Mahlzeit, die auffallend bitter schmeckte.

Die Wassermelone Citrullus vulgaris (lanatus) gehört zur Familie der Kürbisgewächse Cucurbitaceae und somit zu den Nachtschattengewächsen. Wassermelonen wurden bereits im alten Ägypten um 2.000 v. Chr. kultiviert. Im Jahr 2012 betrug die Weltproduktion 105 Mio. Tonnen [23]. „Der Samen wird in Indien gemahlen und zu Brot gebacken, im Nahen Osten geröstet gegessen.“[23]. Das Fruchtfleisch der Wildformen ist bitter [23]. Zahlreiche Zucht-varietäten sind bekannt, bei denen die Bitterstoffe unter gleichzeitiger Erhöhung des Zucker-gehaltes herausgezüchtet wurden. Eine besondere Rarität, die japanische Yubari-King-Wassermelone, zeichnet sich durch ein sattes, orangefarbenes Fruchtfleisch und durch eine feine Süße aus. Ein Paar dieser Melonen wurden kürzlich auf dem Großmarkt von Sapporo/ Japan zu einem astronomisch hohen Preis von umgerechnet 24.200 € verkauft [24].

Im Jahr 1930 wurde im Preßsaft von Wassermelonen die nicht-proteinogene α-Aminosäure L-(+)-Citrullin nachgewiesen [25]. Bei dieser Aminosäure handelt es sich bei Mensch und Tier

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um ein Zwischenprodukt der Synthese der Aminosäure L-Arginin. Bei Leistungssportlern sind die Aminosäuren Citrullin und Arginin als Nahrungsergänzungsmittel beliebt. In hohen Dosen eingenommen soll L-Citrullin leistungssteigernd wirken, den Muskelkater reduzieren und für eine schnellere Regeneration nach dem Sport sorgen [26]. Moderne Forschungs-projekte beschäftigen sich zurzeit mit der Rolle von Citrullierungsproteinen bei Autoimmun-erkrankungen und bei rheumatoider Arthritis [27]. Bitterstoffe Mit Bitterstoffen wehren sich Pflanzen gegen ihre Fressfeinde. Pflanzen sind ja an ihren Standort gebunden, können nicht weglaufen…Schon unsere Urahnen wussten, dass der bittere Geschmack Giftstoffe in der Nahrung signalisiert. Von den fünf Geschmacksrichtungen wirkt die Geschmacksempfindung süß besonders attraktiv, die bittere Empfindung eher unange-nehm [28]. Nicht nur Kleinkinder verziehen das Gesicht, wenn sie den bitteren Geschmack auf der Zunge haben.

Bitterstoffe haben eine recht unterschiedliche chemische Struktur. Man kennt mehrere hundert chemische Verbindungen u. a. anorganische Salze (Magnesiumsulfat als Bittersalz), Amino-säuren, Alkaloide, Terpene, Flavonoide und viele synthetische Chemikalien [29,30]. Eine Bitterstoff-Datenbank mit mehr als 550 Verbindungen ist im Internet einsehbar [31,32].

Die molekularen Mechanismen der Chemorezeption der Bitterstoffe auf der Zunge sind im Prinzip bekannt, wenn auch viele Fragen noch ungeklärt sind. So konnte man bisher noch nicht für jeden Bitterstoff den passenden Bitterstoffrezeptor identifizieren. Die Primärstruktu-ren der Geschmacksempfindung sind auf den Geschmacksknospen lokalisiert - Ansammlun-gen von etwa 100 Zellen, die sich beim Menschen und bei Säugetieren auf der Zunge, dem Gaumen, im Rachen und am Kehlkopf befinden. Man kennt vier Typen von Geschmacks-Rezeptorzellen (TRCs), Typ I bis IV, die sich manchmal in Unterklassen unterteilen lassen. TRCs sind keine Neurone, sondern spezialisierte Epithel-Zellen [29].

„Understanding of the bitter (and other) taste mechanism at the molecular level is very recent and raises many questions in this aspect of biology. In the case of alkaloids, there are several links between taste and biological function. Indeed, these compounds have a “two-faced” be-havior: defensive-offensive compounds that should be avoided, and compounds with impor-tant biological activities, features that have always interested humans. This is only an apparent contradiction, since Nature is very skilful in giving us signals that we should heed, if we are to optimize the interactions between our organism and the surrounding world.” (wörtlich zitiert nach [29]).

Die moderne Lebensmittelindustrie ist bestrebt, den Gehalt an Bitterstoffen in der Nahrung zu reduzieren und die Süßkraft zu erhöhen. Andererseits sind Bitterstoffe für die menschliche Ernährung lebensnotwendig. Sie aktivieren den Stoffwechsel und regen die Verdauung an. Die Magensaftsekretion, die Gallenblase und die Bauchspeicheldrüse werden stimuliert, die Entgiftungsfunktion der Leber gefördert. Der bittere Geschmack signalisiert relativ schnell ein Sättigungsgefühl, der Heißhunger auf Süßes wird gebremst. Bitterstoffe sind ideale Appetitzügler.

Schon im Mittelalter lehrte Hildegard von Bingen (1098-1179), dass Bitterkräuter eine wich-tige Funktion bei der menschlichen Verdauung ausüben [30]. In der damaligen Zeit war das Gemüse wesentlich reicher an Bitterstoffen als heutzutage. Statistisch gesehen nehmen wir in der heutigen Zeit mit unserer Nahrung Bitterstoffe vor allem in Form von Genussmitteln wie Bier und Kaffee auf. Bitterliköre (Jägermeister®, Campari®, Aperol® etc.), Tonic Water, Gin

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Tonic und auch manche Medikamente (u. a. Pflanzenextrakte aus Artischocken) haben zwar höhere Konzentrationen an Bitterstoffen, spielen aber in der Verbrauchsstatistik nur eine unter-geordnete Rolle. – Die Bitter-Qualität des Bieres, die sich aus dem zugesetzten Hopfen ergibt, wird durch International Bitterness Units (IBU) charakterisiert [33]. Bei der Standardisierung anderer Bitterstoffe wird im Regelfall eine Geschmacksprüfung im Vergleich mit einer Verdünnungsreihe von Chininhydrochlorid herangezogen [30].

Zur Abschätzung der Schärfe von Paprikafrüchten und von frischem Chili, Chilipulvern und Chilisaucen dient die Scoville-Skala, die auf der Bestimmung des Capsaicin-Gehaltes beruht [28,34]. Das Alkaloid Capsaicin reizt die Schmerzrezeptoren der Schleimhäute.

In der Enzianwurzel Gentiana lutea findet sich neben dem Bitter-Glycosid Gentiopicrin das Bitter-Glycosid Amarogentin (Abb. 5). Es gilt als Naturstoff mit dem höchsten Wirkungsgrad bzgl. Bitterkeit. Beim Menschen aktiviert Amarogentin den Bitter-Geschmacksrezeptor hTAS2R50 [35]. Den Spitzenplatz der Bitterstoffe belegt eine synthetische Substanz: Denato-niumbenzoat bzw. -saccharinat, ein Derivat des Lokalanästhetikums Lidocain (Abb. 5).

Abb. 5. Der bitterste Naturstoff, Amarogentin (links), aus der Enzianwurzel und der bitterste bekannte Stoff, Denatoniumbenzoat (rechts), ein synthetisches Derivat des Lidocains (grau unterlegt). Unter Verwendung von Strukturformeln aus https://en.wikipedia.org/wiki/Amarogentin, https://de.wikipedia.org/wiki/Lidocain und https://de.wikipedia.org/wiki/Denatoniumbenzoat.

Denatonium wurde im Jahr 1958 von dem schottischen Chemiker J. R. Smith entdeckt. Es ruft beim Menschen bereits in der hohen Verdünnung von 10 ppm einen unerträglich bitteren Geschmack hervor. Unter den Handelsnamen Bitrex® bzw. Aversion® findet die Verbindung Anwendung u. a. als Vergällungsmittel von technischem Alkohol und als Additiv von anderen Lösungsmitteln und Reinigungsmitteln. [30,36,37].

Die bitteren Eigenschaften des Narkotikums Cyclobarbital (Phanodorm®) sind der breiten Öffentlichkeit durch einen spektakulären Kriminalfall („Waterkantgate“) bekannt geworden. Der ehemalige Schleswig-Holstein`sche Ministerpräsident Uwe Barschel wurde am 11. Okto-ber 1987 in der Badewanne eines Zimmers im Genfer Hotel Beau Rivage tot aufgefunden. Die toxikologischen Analysen ergaben hohe Konzentrationen von Cyclobarbital in den Lei-chenasservaten. Bis in die jüngste Zeit wurden Stimmen laut, die behaupteten, dass Uwe Barschel einem Mord zum Opfer gefallen sei. Diese veranlassten den Rechtsmediziner Prof. Dr. Werner Jansen, ehemals Direktor des Hamburger Instituts für Rechtsmedizin am Univer-sitätsklinikum Eppendorf zu einer Stellungnahme. In seinem Institut wurde seinerzeit die Leiche des Uwe Barschel (nach-)obduziert und es wurden toxikologische Analysen ausge-führt. Die umfangreichen Untersuchungen, die Prof. Dr. W. Jansen zusammen mit seinen Mitarbeitern Prof. Dr. K. Püschel und Prof. Dr. A. Schmoldt ausgeführt hatten, kamen zu der Schlussfolgerung: „Ich sage es noch einmal, es war Suizid“ und „Vor allem der starke Wirk-stoff Cyclobarbital war in so hoher Konzentration vorhanden, dass Uwe Barschel davon min-destens 20 Tabletten geschluckt haben musste … Das Zeug ist bitter“ [38,39].

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http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13525651.html [39] Klingst M. Das Zeug ist bitter. Wurde Uwe Barschel ermordet? Erstmals spricht der Pathologe Werner Jansen,

der den Leichnam damals untersuchte. Die Zeit 18. Februar 2016 Nr. 9, Seite 5. Letzte Einsicht in die zitierten Webseiten am 14.07.2016.

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