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Transaktions-Analyse 2-3/88. S. 68.91 Gegen die Macht der Gewohnheit: Systemische und wirklichkeitskonstruktive Ansätze in Therapie, Beratung und Training Bernd A. Schmid Ein beunruhigendes Experiment In der Weiterbildung für Familientherapeuten verwenden wir gele- gentlich folgende Übung: Aus den Seminarteilnehmern werden zwei Berater-Teams ausge- wählt, die die Aufgabe bekommen, im Rollenspiel ein Erstinter- view mit einer Familie, die in eine Beratungsstelle kommt, durch- zuführen. Die beiden Berater-Teams werden in zwei getrennte Räume gebeten, in denen sie sich auf das Erstinterview vorbereiten sollen, während mit der Familie ebenfalls das Gespräch vorbereitet wird. Tatsächlich wird die ,,Familie” (Seminarteilnehmer) zwar in einen Extraraum gebracht, jedoch wird ihnen nicht erlaubt, verbal untereinander zu kommunizieren. Sie dürfen nicht einmal ihre for- malen Rollen und ihr Alter festlegen, geschweige denn eine Fami- liensituation, eine Familiengeschichte oder ein Familienproblem er- finden. Die anderen Seminarteilnehmer werden über das tatsächliche Setting informiert und gebeten zu studieren, welche Familienwirklich- keit im Kontext der Beratung entsteht. Es ist nun hochinteressant zu beobachten, wie in einem gemein- samen Prozeß der Wirklichkeitserfindung die ,,Familie” und die Berater eine Wirklichkeit erfinden, die sich in kürzester Zeit ver- dichtet und sich bis in die Gefühle und körperlichen Haltungen der Beteiligten hinein verwirklicht. Wir beobachten in dieser Laborsi- tuation insbesondere, welche Wirklichkeitserfindungen der Familie in welcher Weise durch die Berater ausgelöst werden, in welcher Weise sich diese Wirklichkeiten kommunikativ verfestigen bzw. durch neue Aspekte wieder verflüssigt werden. Interessant ist auch, welche Beratungswirklichkeit zwischen Klientsystem und Beratersystem in dieser kurzen Zeit entsteht. Nach ca. 15 Minuten wird dieser Prozeß unterbrochen und das zweite Berater-Team gebeten, ebenfalls ein Erstinterview mit der ,,Familie” durchzuführen. Anders als beim vorigen Team trifft dieses Team schon auf eine ,,Geschichte” der Familie und auf eine Wirklichkeitsvereinbarung, die gerade entstanden ist. Wir verfol- 68

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Transaktions-Analyse 2-3/88. S. 68.91

Gegen die Macht der Gewohnheit:Systemische und wirklichkeitskonstruktiveAnsätze in Therapie, Beratung und Training

Bernd A. Schmid

Ein beunruhigendes Experiment

In der Weiterbildung für Familientherapeuten verwenden wir gele-gentlich folgende Übung:

Aus den Seminarteilnehmern werden zwei Berater-Teams ausge-wählt, die die Aufgabe bekommen, im Rollenspiel ein Erstinter-view mit einer Familie, die in eine Beratungsstelle kommt, durch-zuführen. Die beiden Berater-Teams werden in zwei getrennteRäume gebeten, in denen sie sich auf das Erstinterview vorbereitensollen, während mit der Familie ebenfalls das Gespräch vorbereitetwird. Tatsächlich wird die ,,Familie” (Seminarteilnehmer) zwar ineinen Extraraum gebracht, jedoch wird ihnen nicht erlaubt, verbaluntereinander zu kommunizieren. Sie dürfen nicht einmal ihre for-malen Rollen und ihr Alter festlegen, geschweige denn eine Fami-liensituation, eine Familiengeschichte oder ein Familienproblem er-finden.

Die anderen Seminarteilnehmer werden über das tatsächlicheSetting informiert und gebeten zu studieren, welche Familienwirklich-keit im Kontext der Beratung entsteht.

Es ist nun hochinteressant zu beobachten, wie in einem gemein-samen Prozeß der Wirklichkeitserfindung die ,,Familie” und dieBerater eine Wirklichkeit erfinden, die sich in kürzester Zeit ver-dichtet und sich bis in die Gefühle und körperlichen Haltungen derBeteiligten hinein verwirklicht. Wir beobachten in dieser Laborsi-tuation insbesondere, welche Wirklichkeitserfindungen der Familie inwelcher Weise durch die Berater ausgelöst werden, in welcher Weisesich diese Wirklichkeiten kommunikativ verfestigen bzw. durchneue Aspekte wieder verflüssigt werden. Interessant ist auch,welche Beratungswirklichkeit zwischen Klientsystem und Beratersystemin dieser kurzen Zeit entsteht.

Nach ca. 15 Minuten wird dieser Prozeß unterbrochen und daszweite Berater-Team gebeten, ebenfalls ein Erstinterview mit der,,Familie” durchzuführen. Anders als beim vorigen Team trifftdieses Team schon auf eine ,,Geschichte” der Familie und auf eineWirklichkeitsvereinbarung, die gerade entstanden ist. Wir verfol-

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gen nun, inwiefern das zweite Berater-Team in diese Wirklichkeits-vereinbarung, die schon eine kleine Gewohnheit geworden ist, ein-tritt bzw. welche anderen möglichen Wirklichkeitserfindungen esdurch seine Beratungstätigkeit auslöst.

Wirklichkeit wird durch Analyse erfunden

Meist gehen die Berater-Teams über die ganze Zeit davon aus, daßes eine familiäre Wirklichkeit gibt, die durch Analyse herauszufin-den ist. Und es ist bemerkenswert, in der nachfolgenden Diskus-sion zu erfahren, wie die Berater das Klientsystem charakterisieren,worin sie das Problem des Klientsystems sehen und welche Artund welchen Umfang von Beratung sie bei dieser Familie für sinn-voll halten.

Nicht selten geschieht es, daß die Beratungs-Teams die Aufklä-rung über das Setting erstaunt bis ungläubig entgegennehmen, dadie von allen gemeinsam in dieser kurzen Zeit erfundene Wirklich-keit so konsistent und evident geworden war, daß man sichschlecht vorstellen konnte, daß das Herausgefundene nicht objek-tiv vorhanden gewesen sein soll. Daß die angetroffene Wirklichkeitnicht herausgefunden, sondern von den Beteiligten erfunden und ver-wirklicht wurde, steht für alle Beteiligten häufig in deutlichem Kon-trast zum persönlichen Wirklichkeitserleben.

Als Therapeuten, Trainer und Berater sind wir eher darangewöhnt, bei unseren Klienten einengende Wirklichkeitsgewohn-heiten zu vermuten und diese von außen zu analysieren und, wennmöglich, zu verändern. Als Berater könnten wir dementsprechendunsere ganze Analyseaufmerksamkeit auf die Frage richten,warum die entstandene Wirklichkeit gerade so Sinn macht, wie sienun mal entstanden ist.

Wir können aber auch studieren, welche Wirklichkeitsideen, Erklä-rungsgewohnheiten und implizite Schlußfolgerungen auf der Seite derBerater mitspielen und welche Implikationen und Konsequenzen für diekünftige Wirklichkeit des Klientensystems und die Entwicklung der Bera-tungsbeziehung zu vermuten sind.

Drei Schwäne

Tünnes und Schäl sitzen sinnierend beisammen. Tünnes schwärmtdavon, wie schön es wäre, wenn er ein Schwan wäre und fliegenkönnte. Dadurch inspiriert meint Schäl, er wäre gerne zweiSchwäne, denn dann könnte er als erster Schwan sich fliegend

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erleben und gleichzeitig als zweiter Schwan sich beim Fliegenzusehen und auch dies fliegend erleben. Doch nicht genug, einigensie sich schließlich darauf, daß sie gerne drei Schwäne wären. Denndann könnten sie als der erste Schwan sich fliegend erleben, als derzweite Schwan sich dabei zusehen und als der dritte Schwan sichzusehen, wie sie sich dabei betrachten, wie sie sich fliegenderleben.

Beim wirklichkeitskonstruktiven Ansatz geht es uns um die Einfüh-rung dieses dritten Schwans. Die Wirklichkeitsgewohnheiten unsererKlienten bzw. die Alternativen dazu wären also der erste Schwan.Der zweite Schwan sind wir als Therapeuten und Berater, die dieErlebens- und Verhaltensweisen unserer Klienten aus der Perspek-tive unserer persönlichen Erklärungsgewohnheiten und professio-nell gewachsenen Vorgehensweisen abbilden und beeinflussen.Aus der Perspektive des dritten Schwans beziehen wir eine Meta-Ebene zur Interaktion zwischen Beratersystem und Klientsystem. Ausdieser Sicht analysieren wir die Wirklichkeitskonstrukte, ihre Im-plikationen und Folgen, die durch die Berater in die Berater-Klient-Beziehung und dadurch möglicherweise in die Wirklichkeit desKlientsystems hineingetragen werden.

Wir haben uns also mit einigen zur Selbstverständlichkeit ge-wordenen Grundannahmen unserer persönlichen Gewohnheiten,den Erklärungs- und Vorgehensgewohnheiten der Schulen, indenen wir ausgebildet wurden, und mit den geistigen Gewohnhei-ten unserer Gesellschaft auseinanderzusetzen.

Systemische Therapie ist aus unserer Sichf experimentelle Therapie miteinem wirklichkeitskonstruktiven Ansatz. Es geht darum, in einem ko-kreativen Kommunikations-Prozeß einengende Wirklichkeits- und Erklä-rungsgewohnheiten des Klientsystems zu stören und auf die Erfindungunderer möglicher Wirklichkeiten mit mehr Freiheitsgraden unregend ein-zuwirken.

Das Grundmuster folgt damit dem Ansatz von Milton Erickson,der persönliche Störungen darin begründet sah, daß Menschen sichWirklichkeitsgewohnheiten (conscious mind) zu eigen gemacht habenund auch dann beibehalten, wenn sie zu einer Minderung der Le-bensqualität oder zur Entwicklung von Symptomatiken führen. Ersah in jedem Menschen ein schier unendliches Potential, Wirklich-keit schöpferisch zu gestalten und sich neu zu orientieren (unconsciousmind), das es durch Störung der Wirklichkeitsgewohnheiten freizu-setzen galt. Um dies zu leisten, muß im Kommunikationsprozeßmit dem Klientsystem dessen Wirklichkeitsentfaltung sowohl in-haltlich als auch in den sich ereignenden Prozessen studiert undfür eine verändernde Einwirkung auf das System genutzt werden(Utilisationsprinzip).

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Das übliche Beratermodell, das eine störende Wirklichkeitsge-wohnheit diagnostiziert und eine bessere Wirklichkeit dagegendurchzusetzen versucht, löst sehr häufig Reaktionen des Klientsy-stems aus, die den störenden Einfluß auszugleichen oder unwirk-sam werden zu lassen versuchen. Dieses Verhalten des Klientsy-stems wird dann Widerstand genannt und als Eigenschaft desKlientsystems angesehen. Man könnte natürlich auch denken, daßdie Berater einem schöpferischen Umgang mit dem KlientsystemWiderstand leisten.

Durch Beratung sollen Informationen in die Gewohnheitswirk-lichkeit des Klientsystems eingespeist werden. Durch GregoryBateson (1979) wurde die Definition, daß Information ein Unterschiedist, der einen Unterschied macht, populär. Es ist also die Aufgabe vonBeratern, in das Klientsystem etwas einzubringen, das zu dem, wasbisher geschehen ist, einen Unterschied macht, der signifikant füreine Veränderung der Wirklichkeitsgewohnheit ist. Wie unten zuerläutern sein wird, kann dieser Unterschied auf ganz verschiedeneWeisen eingeführt werden.

Zu einer der Denkgewohnheiten unserer Kultur gehört es, zwi-schen einer Phase der Diagnose und einer zweiten Phase der Bera-tung zu unterscheiden. Wir gehen nicht von einem solchen Unter-schied aus, sondern eher davon, daß der Prozeß der Informationsge-winnung und der Prozeß der Informationserzeugung prinzipiell iden-tisch ist, d.h. daß wir durch die Art unserer Befragung einesSystems bereits dessen Wirklichkeit bestätigen bzw. neue Elementein seine Wirklichkeitsvorstellung einbringen.

Wenn man hinterher ganz andere als die gewohnten Antworten habenwill, darf man nicht auf die gewohnte Weise fragen.

Schöpferisches Fragen schafft schöpferische Wirklich-keiten

Die systemische Therapie und der wirklichkeitskonstruktiveAnsatz haben eine Vielfalt von Fragetechniken hervorgebracht, die indie etwas eintönigen Fragegewohnheiten von Beratern und Thera-peuten einen frischen Wind bringen. Da wäre z.B. die Technik deszirkulären Fragens (vgl. Selvini-Pulazzoli et al. 1980; Penn 1982; Tomm1987). Diese Art des Fragens hebt auf zirkuläre Prozesse der Wirklich-keitsgestaltung ab und fragt dementsprechend zirkulär, d.h. der Mit-arbeiter A wird z. B. befragt, wie der Vorgesetzte reagiert, wennMitarbeiter B und C ihren üblichen Ideologie-Streit in der monatli-chen Teambesprechung austragen. Es wird vielleicht auch gefragt,wer B und C am besten zu ihrem Streitgespräch anregen könnte,falls sie einmal keine Lust dazu haben sollten, und welche anderen

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Fragestellungen anstünden, falls für einige Zeit trotz des Bemühensaller keine Streitgespräche mehr zustande kommen sollten.

Oder es wird in aller Öffentlichkeit zu Bedeutungsgebungen undSpekulationen übereinander angeregt: Mitarbeiter B und C werdenz.B. darüber befragt, ob der Vorgesetzte eher mehr oder eherweniger Kontakt mit den Mitarbeitern erleben würde, wenn diesenicht durch häufige Streitigkeiten ihn in seiner Funktion beanspru-chen würden.

Auch die Beratungswirklichkeit kann Gegenstand solcherFragen sein. Zum Beispiel kann Mitarbeiter A gefragt werden, obdie Kontrahenten B und C denn überhaupt an einer Beratung inter-essiert sein könnten, wenn sie den Eindruck haben, der Vorgesetztekönnte dann in seiner Schiedsrichter-Funktion nachlassen. Viel-leicht würde noch zusätzlich gefragt, wie B und C dokumentierenkönnten, daß die Berater ungeeignet sind und daher doch der Chefweiterhin seine Schiedsrichterrolle beibehalten müsse.

Eine weitere ungewohnte Frage, mit der die Wirkprinzipieneines Systems gut studiert werden könnten, kann sein: Wie könntenals unerwünscht erklärte Ereignisse verstärkt werden? Zum Beispielfragen wir, wer denn in der Abteilung am ehesten dazu beitragenkönnte, daß der Mitarbeiter X sich wieder wegen völliger Überla-stung in Krankheit zurückzieht. Wir fragen auch, wie wir alsBerater am ehesten dem Klientsystem dabei helfen könnten, einenwiederholten Rückzug von Herrn X zu bewirken. Durch die unge-wöhnliche Richtung dieser Fragestellung erfuhren wir häufig vielfreimütiger, wer auf ein bestimmtes Erleben und Verhalten überhauptEinfluß hat bzw. welches Zusammenspiel erforderlich ist. Wir er-fahren auch, welche Bedeutung und Einwirkmöglichkeit den Bera-tern aus dem bisherigen Verständnis der Klient-Berater-Beziehungzugetraut wird.

Produktiv können auch ,,Angenommen, d a ß . ..“-Fragen sein. Mitihnen werden Spuren in mögliche alternative Wirklichkeiten gelegtbzw. ein Kontrast zur bisherigen Sicht- und Verhaltensweise desKlientsystems hervorgerufen, aus dem wir neue Ideen gewinnenkönnen. Manche Gespräche bestehen bis zur Hälfte aus solchenFragen und darauffolgenden Antworten. Zum Beispiel fragen wirMitarbeiter C: ,,Angenommen, Mitarbeiter D würde sich entschei-den, nicht länger auf eine Klärung seiner Arbeitsplatzbeschreibungzu verzichten, würde dies das Klima im Team eher verbessern oderverschlechtern?” Oder: ,,Angenommen, diejenigen Mitarbeiter, diesachliche Bedenken vor Augen haben, würden in der Startphasedes Projekts diese deutlich vorbringen. Würde dies von den Pro-jektverantwortlichen gerne gehört oder eher als Miesmachereiabgetan werden?”

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Streuen von Ideen

Es sei daran erinnert, daß diese Arten des Fragens der Informationser-zeugung dienen, also einen Unterschied hervorrufen zur bisherigenSicht- und Verhaltensweise. Von daher sind die Antworten auf diegestellten Fragen nicht immer besonders wichtig. Bei gutemKontakt reicht es oft schon, die Klienten probehalber eine solchePerspektive einnehmen zu lassen, um Bewegung in ihre eigenenAnalyse-Gesichtspunkte zu bringen.

Wir streuen von daher viele Ideen ein, wie es auch sein oderwerden könnte, im Vertrauen darauf, d a ß viele dieser Samen aufgehenund eine ganz eigene neue Kultur entstehen kann, wenn wir durchStören der Wirklichkeitsgewohnheiten den Boden dafür bereitet haben. In-nerhalb einer fest etablierten Pflanzenkultur in einem Gurten haben neueSamen in der Regel keine Chancen.

Viele Fragen sind von daher als indirekte Vorschläge zu betrach-ten. Sie enthalten Sichtweisen und Vorwegnahmen, die dieWeichen für eine neue, bessere Wirklichkeit stellen können.

Interesse wecken

Damit wir solche ungewöhnlichen Interventionen machen dürfen,müssen wir uns für ein Klientsystem interessant und vertrauens-würdig machen. Wir tun dies nicht durch sehr ausführliche Einar-beitung in die Gewohnheitswirklichkeit des Klientsystems,versuchen uns also nicht als besonders menschlich, vertrauenswür-dig oder verständnisvoll darzustellen, sondern wir interessieren dasKlientsystem für unsere Vorgehensweise durch eine interessante, vielver-sprechende, als treffend empfundene Charakterisierung der Wirklichkeit,die sie erleben. Unser Rapport beruht darauf, d a ß wir den Sinn für in-teressante, neue Möglichkeiten stimulieren und Hoffnung aufAuswege aus Dilemmata wecken. Selbstverständlich versuchenwir, diese Hoffnungen zu erfüllen.

Experimentieren

Das Experimentelle an unserer Beratung besteht darin, daß wir mitverschiedenen Sichtweisen der Situation, mit verschiedenen Zu-sammenhängen, in die wir geschilderte Ereignisse probeweisestellen, experimentieren, bis sich ein Sinn ergibt, aufgrund dessendas Klientsystem die Weichen in alternative Wirklichkeiten stellenkann. Wir glauben also nicht an die von uns eingebrachten Ideenals Wahrheiten, sondern als Wirklichkeitsideen, die, wenn sie vom

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Klientsystem schöpferisch aufgenommen und weiterentwickeltwerden, eine alternative, bisher nicht verwirklichte, aber potentielleWirklichkeit hervorrufen. Wir versuchen auf diese Weise, Feed-forward-Schleifen zugunsten einer neuen, noch unbekannten Wirk-lichkeit in einem Klientsystem zu aktivieren.

Problemerhaltende Lösungsversuche

Viele Probleme von Klientsystemen gehen damit einher, daß siedurch stereotyp wiederkehrende Problemlösungsversuche in ihrerBedeutung und Wiederholung aufrechterhalten werden. Dies ge-schieht auch häufig mit Hilfe von Beratern. Von daher tun wir gutdaran, die bisherigen Lösungsversuche der Klienten wie auch dieLösungsversuche mit Hilfe von externen Beratern sorgfältig zu stu-dieren, um daraus zu lernen, und nicht Ideen. anzubieten, die dasProblem schon früher nicht gelöst haben. Notwendig ist meist einqualitativer Sprung in eine neue Sichtweise.

Anregen statt bearbeiten

Wir gehen weiter davon aus, daß Beratersysteme für Klientsystemenicht fertige Lösungen oder Methoden erarbeiten und diese darininstruieren können. Menschen sind keine trivialen Maschinen (vgl.von Foerster 1985) und können in der Regel auch nicht durch in-struktive Interaktionen (vgl. Maturana 1982) auf die erlebte Wirk-lichkeit der anderen Einfluß nehmen. Bei lebenden Systemen mußman immer mit Eigengesetzlichkeiten rechnen, die nicht von außenvorhersehbar waren. In unsere Denkgewohnheiten schleichen sichimmer wieder Modelle von der Beeinflussung von menschlichenSystemen ein, die instruktive Beeinflussung und Vorausberechen-barkeit der Reaktionen nahelegen.

Um dies ad absurdum zu führen, verglich Gregory Bateson gernezwei Situationen: Wenn man einen Stein in physikalisch genau be-rechenbarer Weise tritt, kann man vorausberechnen, was mit demStein dann passiert. Bei einem Hund ist das anders.

Potentiale ansprechen

Wir fragen in der Psychotherapie nicht: ,,Warum ist ein Menschkrank?“, sondern: ,,Warum ist er nicht gesund?“, oder: ,,Was tut erheute, um sich am Gesundsein zu hindern?“ Auch in der Beratung vonKlientsystemen gehen wir grundsätzlich davon aus, daß die Pro-bleme im gegenwärtigen Verhalten eines Systems nicht so sehr auf

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Defiziten beruhen, die durch langwierige Prozesse beseitigtwerden müssen. Statt dessen richten wir unser Augenmerk auf nicht-genutzte Potentiale und darauf, wie durch die Wirklichkeitsgewohnheitendes Systems die schöpferische Nutzung dieser Potentiale verhindert wird.Die Spielregeln, mit denen dies geschieht, versuchen wir dann zuverändern.

Statt Entstehung Aufrechterhaltung in der Gegenwartstudieren

Natürlich haben jedes Problem und jede Situation eine Entste-hungsgeschichte. Von psychoanalytischem Ursache-Wirkungs-Denken aus geschult, waren wir davon ausgegangen, daß dieKlärung der Entstehung einen wichtigen Beitrag dazu leistenmüßte, die gegenwärtige Situation zu verändern. Gerade in derTherapie mit Familien, die gemeinhin als nicht oder nur schwertherapierbar gelten (Psychosen, Magersucht, Freßsucht u.ä.), habenwir beste Erfahrungen damit gemacht, uns mit der Geschichte derSymptomatik nur insoweit zu beschäftigen, als wir dadurch we-sentliche Kontraste zur heutigen Situation erfahren.

Gerade die hartnäckigsten Symptomatiken und Probleme scheinen sichvon ihrem geschichtlichen Kontext gelöst zu haben und sich als Feedback-Schleifen heute selbst aufrechtzuerhalten.

Ein sogenanntes Aufarbeiten (was immer das wirklich heißensoll) der Entstehungsgeschichte würde hier nur wenig zur Anre-gung einer anderen Zukunft beitragen. Wenn man im Detail stu-diert, wie es dazu kam, daß man einen Karren in den Dreck gefah-ren hat, heißt dies nicht, daß man Fertigkeiten erwirbt, ihn wiederherauszuziehen.

Nicht identifizieren mit gelernten Konzepten und Me-thoden

Obwohl wir vielfältige Deutungsmuster und Vorgehensweisen inverschiedenen Ausbildungen gelernt haben, benutzen wir diesenicht mehr als Deutungs- und Vorgehenskulturen, mit denen wiruns identifizieren, sondern als Figuren, mit denen wir uns freifühlen, auf immer wieder neue Weise in Interaktion mit demKlientsystem zu experimentieren. Manchmal bedarf es mehrerer,sehr voneinander verschiedener Arten, auf ein KlientsystemEinfluß zu nehmen, um genügend Fäden gezogen zu haben, dieschließlich Gewohnheiten zum Kippen bringen und etwas Neuesmöglich machen.

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Wenn wir unsere eigenen Vermutungen und methodischenIdeen diskutieren, reflektieren wir die Implikationen für das Klient-system, für die Beratungswirklichkeit, für unsere Vorstellung vondem, was geht und was nicht geht, mit. Wir stellen dabei immerwieder überrascht fest, wie sehr wir - durch unsere Schulungengeprägt - in ein störungs-orientiertes Denken abrutschen, dasunsere Erlebensweisen und unser methodisches Vorgehen gefan-genzunehmen beginnt. Wir versuchen, uns dann davon wieder zulösen, einmal ganz anders zu denken, davon auszugehen, daß es sichnicht um ein schwerwiegendes Problem handelt, das nicht einerlangwierigen Behandlung bedarf. Sondern wir betrachten erneutdie Situation als eine gegenwärtig gemeinsam aufrechterhalteneWirklichkeit, die jederzeit einer neuen Wirklichkeit weichen kann,wenn die Aufrechterhaltung der Situation gestört wird und dieWirkprinzipien im Klientsystem zur Herausforderung neuer iiberra-schender Wirklichkeiten genutzt werden.

Ein Orientierungs-Schema

Wenn wir über unsere Beratungsarbeit nachdenken, hilft unsimmer wieder ein von uns entwickeltes Orientierung-Schema (vgl.Abb. 1). Betrachten wir zunächst die untere Ebene des Schemas, diewie die beiden anderen auch eine Mischung zwischen einem Kreisund einem Dreieck darstellt. Der Kreisanteil soll dabei andeuten,daß es sich um eine grundsätzliche Ganzheit der Wirklichkeit desKlientsystems handelt, die aus verschiedenen Perspektiven, alsovon jedem Punkt des Kreises aus, betrachtet werden kann. Die dreiPunkte des Dreiecks markieren von uns willkürlich gewählte Per-spektiven, von denen aus wir auf die Wirklichkeit menschlicherSysteme blicken.Aus der Perspektive der Wirklichkeitskonstruktion betrachten wir

die Organisation der Ideen und Bedeutungen eines Klientsystems, ausdenen ihr Wirklichkeitsbild konstruiert ist. Wir untersuchen z.B. dieIdee, daß nur aus unhinterfragter Identifizierung mit dem jeweilsnächsten Projekt genügend Motivation zu schöpfen sei.

Aus der Perspektive der Beziehungen studieren wir, wie diesesWirklichkeitsbild in der Art der Beziehungsgestaltung verwirklicht wird.Wir studieren z.B., wie die Beziehung zwischen Projektmanagerund Linienmanager, z. B. dem Controller, formal und in ihrer tat-sächlichen Handhabung in einer Unternehmung gestaltet wird, umdie vorhergenannte Idee zu verwirklichen. Wir studieren auch dieSerien von Transaktionen (Spiele), die mit dieser Idee in Zusam-menhang stehen.

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Perspektive derWirkl ichkeits-konstruktionen

Perspektive derWirkl ichkeits-konstruktionen

Perspektive derWirklichkeits-konstruktionen

Beratungsumfeldes

Perspektiveder Beziehungen

Perspektiveder Beziehungen

(Erleben und Verhalten als Organisations-muster in persönlichen und organisatorischen

Beziehungen)

PerspektivederPersonen

PerspektivederPersonen

PerspektivederPersonen

Abb.1 Orientierungsschema zur systemischen Therapie und Beratung

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Zum Beispiel könnten wir herausfinden, daß die Projektmanagereinen kürzeren Draht zum Vorstand haben, etwa durch häufigereSitzungen, als die Linienmanager und daß die Linienmanager zwarimmer wieder aufgefordert werden, die Verantwortung für ihrenBereich auch in bezug auf die Projekte zu übernehmen, d a ß siejedoch in Konfliktfällen den kürzeren ziehen, um dann bei auftau-chenden Folgeschwierigkeiten dafür verantwortlich gemacht zuwerden, daß sie die Belange ihres Bereiches nicht hinreichend ver-treten haben.

Aus der Perspektive der Personen heraus untersuchen wir, wie dieWirklichkeitsideen mit der Organisation des Erlebens und Verhaltens derbeteiligten Persönlichkeiten als professionelle Rollenträger und alsPrivatmenschen vernetzt sind. Wir können dabei auf eine Spaltungverschiedener Persönlichkeitsaspekte stoßen, z.B. daß jemand alsRollenträger sich unhinterfragt mit Projekten identifiziert, währender als Privatmensch in vieler Hinsicht Vorbehalte und Zweifeläußert. Störungen in der Ausübung der professionellen Rolle undin der seelischen oder gesundheitlichen Befindlichkeit der Beteilig-ten können damit im Zusammenhang stehen.

Für die Betrachtung einer Situation aus der persönlichkeits- undder beziehungsorientierten Perspektive haben verschiedene Ausbil-dungsdisziplinen eine Rolle von Deutungskonzepten und damitverbundene Vorgehensweisen entwickelt. Der Umgang mit derwirklichkeitsorientierten Perspektive tritt eher in neuerer Zeit inden Vordergrund. Stichworte sind hier z.B. Corporate Identity,Mythenbildung in Unternehmen oder Unternehmenskultur.

Erfahrungsgemäß stellen sich wesentliche Aspekte der Wirklich-keit des Klientsystems auch in der Beratungswirklichkeit dar. Diemittlere Ebene im Orientierungs-Schema (Abb. 1) bezeichnet dieWirklichkeit, die sich im Zusammenspiel von Berater-System undKlient-System in der Beratung entfaltet. Wir als Berater werden ein-geladen, in ein Verständnis von Wirklichkeit und dessen persönli-che, beziehungsmäßige und organisatorische Verwirklichung ein-zutreten. Täten wir dies unreflektiert, würden wir unsere Funktionals innovative Berater verlieren.

Wir benutzen also die Analyse der sich entfaltenden Beratungs-wirklichkeit einmal, um unsere eigene Situation zu begreifen, zumanderen, um daraus die Wirklichkeitsorganisation des Klientsy-stems zu verstehen. Wir verwenden die Ebene der Beratung auch,um neue Wirklichkeiten ideenmäßig und verhaltensmäßig zu initi-ieren.

Die oberste Ebene des Orientierungs-Schemas bezeichnet dieEbene des Beratungsumfeldes oder Kontextes, innerhalb dessen die Bera-tung zu verstehen ist. Hier spielen Fragen der Überweisung, der ge-

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machten Vorerfahrung, der verschiedenen Interessenlagen an derBeratung und ihrem Ergebnis und der Gewohnheiten des Umfel-des sowohl des Beratungssystems als auch des Klientsystems eineRolle.

Zentrale Muster bilden sich häufig auf allen drei Ebenen ab undlassen sich auch aus allen drei Perspektiven abbilden. Entspre-chend kann uns dieses Schema dazu verhelfen, solche Interventio-nen zu machen, die auch auf allen drei Ebenen greifen und ausallen Perspektiven heraus sinnvoll sein könnten.

Das Vorgehen

In der systemischen Beratung haben wir normalerweiseganz wenigeSitzungen, zwei bis fünf in großen Zeitabständen (acht Wochen bisein Jahr). Schon daraus ist zu ersehen, daß systemische BeratungAnstöße bietet, die sich zwischen den Beratungssitzungen im Klient-system auswirken sollen. Beim jeweils nächsten Termin wird eineneue Bestandsaufnahme gemacht und von da aus weitergearbeitet.Die Arbeit während der Beratungseinheiten dient also nicht einerausführlichen Bearbeitung der vorgetragenen Sachprobleme,sondern einer Analyse der aufrechterhaltenden Bedingungen der Nicht-lösung dieser Probleme. Die Transaktionen während der Sitzungdienen dem Erzeugen von bedeutsamen Kontrasten, also der Infor-mationsgewinnung und der Informationserzeugung. Am Endewird in der Regel ein Abschlußkommentar gegeben, mit dem die Be-ratung endet. Der Abschlußkommentar wird häufig noch an alleBeteiligten schriftlich gegeben.

Im folgenden werden nun schematisch die wichtigsten Elementeeiner systemischen Beratung skizziert:

1. Zunächst wird der Kontext geklärt, in dem das Beratungsvorha-ben steht, und die Art und Weise, wie die Beratung konkret zu-stande kam. Außerdem wird abgeklärt, wer welches Interesseoder welche Erwartungen an die Beratung hat. Hierbei gehenwir vorsichtshalber einmal nicht davon aus, daß alle relevantenBeteiligten anwesend sind, daß die Beratung zum gegenwärti-gen Zeitpunkt notwendig ist und daß es opportun ist, das ge-wünschte Beratungsergebnis auch direkt anzugehen.

2. Um eine Überladung der Berater durch Informationen aus derOrganisation und aus der Geschichte der gegenwärtigen Situa-tion zu vermeiden, fragen wir zunächst danach, was die Situa-tion heute ist, wie sie sich von vorher unterscheidet und welchekünftige Wirklichkeit angestrebt wird. Auch klären wir, wer inwelcher Weise von den geschilderten Fragestellungen betroffen

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ist. Hierbei ist wesentlich, auf Schilderungen von konkret beob-achtbarem Verhalten zu bestehen.

3. Wir fragen nach bisherigen Versuchen, das geschilderte Problemmit oder ohne externe Hilfe zu lösen. Wir studieren hierbeiauch, was nach Meinung des Klientsystems ihm bei den bisheri-gen Versuchen am meisten geholfen hat und was am wenigsten.Wir studieren hierbei insbesondere, wie das Klientsystem unddie Berater sich verhalten könnten, um auch bei dieser Beratungam besten zu scheitern.

4. Wir stellen das geschilderte Problemverhalten in einen Interak-tionszirkel und zeigen auf diese Weise, wie es durch die Ideen,durch das Erleben und durch das Verhalten sowie durch die In-teraktionszirkel der Beteiligten gemeinsam aufrechterhaltenwird.

5. Wir fragen danach, wie die Beteiligten selbst ihre Situationsehen und sich das Problem erklären. Hierbei studieren wir Er-klärungsgewohnheiten, die Teil des Problems sind.

6. Wir fragen nach der Auslösesituation, also danach, ab wann dasProblem als solches auftrat oder gesehen wurde und welcheanderen Veränderungen dem vorausgingen oder zu dieser Zeitzu erwarten waren.

7. Wir studieren die aufrechterhaltenden Bindungen für das Problem,indem wir z.B. danach fragen, was die Mitglieder des Klientsy-stems selbst oder wir als externe Berater dazu tun könnten, umdas Problem zu erhalten oder gar zu verschlimmem.

8. Wir gehen grundsätzlich davon aus, daß man einem Problemauch eine positive Funktion abgewinnen kann und daß etwas,was als änderungsbedürftig angesehen wird, durchaus einekreative Leistung zur Lösung von Problemen früher war oderheute noch darstellt. Wir bereiten das Klientsystem auf dieseWeise auch auf neue Herausforderungen vor, die in den Vor-dergrund treten, wenn das gegenwärtige Problem in den Hin-tergrund tritt.

9. Wir lassen uns nicht hypnotisieren von einem Problem oderThema, das gegenwärtig im Vordergrund zu stehen scheint,sondern wir fragen danach, wie repräsentativ der Problembe-reich für die gesamte erlebte Wirklichkeit des Klientsystems ge-genwärtig ist, und fragen besonders gerne nach Zeiten oderKontexten, in denen das geschilderte Problem nicht auftritt. Wirstudieren dann den Unterschied zwischen diesen Situationenund anderen. Auch legen wir Wert darauf, die Fähigkeiten unddie innovative Bereitschaft aller Beteiligten in den Vordergrund zurücken, und nicht die uns angebotenen Beschränkungen.

10. Wir fokussieren auf eine künftige andere, möglicherweisebessere Wirklichkeit und stimulieren im Klientsystem eine

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Vision, wie es auch anders sein könnte, sofern diese noch nichtvorhanden ist. Die Vergegenwärtigung einer Zukunft mit einergeänderten, besseren Wirklichkeit legt eine Spur und stelltWeichen in die Zukunft. Aus unserer psychotherapeutischenErfahrung wissen wir, daß Menschen Wirklichkeitsgewohnhei-ten am ehesten dann aufzugeben bereit sind, wenn ihnenandere, bessere Wirklichkeiten greifbar vor Augen stehen.Einfach nur problematische Wirklichkeitsgewohnheiten loszu-lassen fällt den meisten Menschen schwer, weil sie sich danneiner ungewissen Zukunft, auf die sie sich noch nicht beziehenkönnen, ausgesetzt fühlen. Diese Unsicherheit ist oft schwererzu ertragen als die Gewißheit einer unangenehmen Wirklich-keitsgewohnheit. In diesen Zusammenhang gehören auch die,,Angenommen, daß...”-Fragen, mit denen alle möglichen künf-tigen Wirklichkeiten stimuliert werden.

Die Abschlußempfehlung

Während der Konsultations-Sitzungen machen wir bei Bedarf Kon-sultationspausen, in denen wir uns aus der entstandenen Beratungs-wirklichkeit lösen und diese von einem Meta-Standpunkt nocheinmal analysieren, ebenso wie die Implikationen und Konsequen-zen unserer bisherigen Vorgehensweise. Außerdem ist eine Pauseim rechten Augenblick, besonders dann wenn man glaubt, aus demStand eine geniale Lösung finden zu müssen, besonders heilsam.Oft finden wir die Situation nach einer Pause allein durch die Un-terbrechung weniger schwierig als zuvor. Die Klienten wissen imvorhinein, daß mit der Abgabe der Abschlußempfehlung dieSitzung ohne weitere Diskussion beendet ist.

Die Abschlußintervention beginnt mit einer positiven Anerken-nung aller an den gegenwärtigen Fragestellungen beteiligten Perso-nen. Wir selbst erachten alle Beiträge als Möglichkeit, die Situationweiterzubringen, sofern sie nur in einem neuen Zusammenhangverstanden werde. Zu diesem Zweck bedienen wir uns der Methodeder positiven Bedeutungsgebung. Zum Beispiel akzeptieren wir diesehr skeptisch-negative Einstellung eines Mitarbeiters als ein Zu-rückstellen der eigenen Hoffnungen zugunsten der Bereitstellungvon Skepsis, an der sich neue Entwicklungen erst bewährenmüßten.

Durch vielfältige sprachliche Implikationen und durch aus-drückliche positive Visionen, die an die Entwicklungslinien, diewir im Gespräch angelegt haben, anschließen, regen wir Suchpro-zesse im Klientsystem an.

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Gleichzeitig machen wir uns aber nicht persönlich für Verände-rungsbemühungen stark, sondern gehen häufig eher auf die Seiteder vorsichtigen Beurteilung der Situation, empfehlen sogar, übereinige Zeit hinweg ein Beibehalten des bisherigen Verhaltens, umdieses sorgfältiger studieren zu können. Da häufig Klientsystemenachträglich eher in eine Gegenbewegung zu den Bewegungen desBeratersystems gehen, ist es nützlich, sich auf der Seite des Berater-systems auf die Seite der Homöostase bei gleichzeitiger Umdeu-tung der Situation zu stellen. Damit lassen wir dem Klientsystem dieBewegung in Richtung Veränderung.

Dies hat den Vorteil, daß sich das Klientsystem positive Effekteselbst zugute hält, wodurch ein innovatives Selbstverständnis undein positives Selbstwertgefühl gestärkt wird. Außerdem hat es denVorteil, daß wir nicht als entmachtet dastehen, falls sich bis zurnächsten Sitzung einmal tatsächlich nichts tut. Dies geht allerdingsauch gelegentlich mit einem Verzicht unsererseits einher, der darinbesteht, daß positive Effekte vom Klientsystem nicht mit unseremberaterischen Einfluß in Zusammenhang gebracht werden, ja sogargelegentlich als gegen diesen durchgesetzt betrachtet werden. Wirnehmen dies zugunsten einer höheren Wirksamkeit jedoch in Kauf.

Gelegentlich geben wir Verhaltensaufgaben, die entweder durchihre inhaltliche oder durch ihre ablaufmäßige Logik die hinderli-chen Gewohnheiten des Klientsystems stören und eine Neuorien-tierung der Prozesse wahrscheinlich machen. Falls es zur Störungder bisherigen Wirklichkeitsgewohnheiten des Klientsystems nötigist, arbeiten wir dabei auch mit paradoxen Interventionen. Dies istjedoch nur unter besonderen Bedingungen sinnvoll und erfordertviel Erfahrung beim Beratersystem.

Ein Beratungsbeispiel

Angenommen, wir würden vom Häuptling des Asterix-Dorfes umeine Konsultation gebeten, weil er den Eindruck hat, daß sein Dorfnicht mehr so hochmotiviert und schlagkräftig ist, wie dies in derVergangenheit der Fall gewesen sei.

Schon am Telefon fragen wir, für wen dies ein Problem sei, underfahren, daß die Frau des Häuptlings nach Rücksprache mit derFrau des Fischhändlers diesen Eindruck gewonnen habe. DerDruide habe dazu geraten, vorsichtshalber externe Organisations-berater hinzuzuziehen, da ein solches Problem möglicherweise mitseinen üblichen Heilmitteln nicht zu lösen sei.

Zur ersten Beratung an unserem Institut erscheinen derHäuptling, Asterix, Obelix und der Druide. Nachdem wir die

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Klienten begrüßt haben, schildern wir den bisherigen Überwei-sungskontakt mit dem Häuptling und fragen diesen als nächstes,wie es zur Auswahl der heute am Gespräch Beteiligten kam, und ererklärt, daß diese ausgewählt wurden, weil sie üblicherweise mitzentralen Fragen der Dorfgemeinschaft beschäftigt wurden.

Auf unsere Frage, wer von den Anwesenden am ehesten ein Be-ratungsgespräch für sinnvoll hält und wer am skeptischsten einemsolchen Unterfangen gegenüber ist, schätzt der Häuptling sichselbst als sehr besorgt, den Druiden als motiviert weil vorsichtig,Asterix und Obelix eher als desinteressiert ein. Durch Rückfragenbei den anderen bestätigt sich diese Einschätzung. Obelix, befragt,wer denn die Initiative zu dem Gespräch ergriffen habe, verweistauf den Häuptling. Er und Asterix seien mitgekommen, weil es zurZeit ohnehin langweilig im Dorf sei und dies ein willkommene Ab-wechslung böte.

Außer daß er möchte, daß wieder etwas los ist im Dorf, habe erkeine Wünsche. Daß die Beratung im Dorf für Action sorgenkönne, kann er sich nicht vorstellen. Asterix schließt sich der Äuße-rung von Obelix in etwa an. Auf unsere Frage, wer sich denn nunam meisten Sorgen mache, hören wir, daß es die Frau desHäuptlings und die Frau des Fischhändlers seien und daß derHäuptling und der Druide die heutige Konsultation vereinbarthätten, weil sich auch aus Sicht des Druiden psychosomatische Be-schwerden aus unerklärlichen Gründen im Dorf mehren.

Nun fragen wir den Häuptling, was er denn glaube, was seineFrau und die des Fischhändlers damit meinen, wenn sie sagen, dieSchlagkraft und der Enthusiasmus haben nachgelassen. Wir erfah-ren hier, daß diese einerseits eine lahme und ungesunde Stimmungim Dorf wahrnehmen würden, andererseits sich Streitereien - etwazwischen dem Fischhändler und seiner Kundschaft oder zwischendem Häuptling und seiner Frau - in letzter Zeit auf unangenehmeWeise häuften. Das konkrete Interesse des Häuptlings sei, wenigermit seiner Frau zu streiten, das des Druiden, weniger psychosoma-tische Beschwerden behandeln zu müssen, und das von Asterixund Obelix, das Leben im Dorf wieder interessanter zu haben.

Bei näherem Nachfragen erfahren wir hier, daß die Lebendigkeitim Dorf aus der Sicht von Obelix etwas mit Auseinandersetzungenmit Römern zu tun habe und daß nach seiner Vermutung alle Pro-bleme gelöst wären, wenn die Römer, anstatt diese irritierendeFriedensinitiative zu betreiben, wie üblich ein- bis zweimal imMonat das Dorf angreifen wurden.

Auf unsere Frage an den Häuptling, was denn bisher in derSache schon unternommen worden sei, erfahren wir, daß bezüglichder körperlichen Krankheiten der Druide schon selbst alles auspro-

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biert und eine ganze Reihe von Kollegen zugezogen hätte, die aberdas Problem nicht hätten lösen können. Außerdem seien seit gerau-mer Zeit Obelix und Asterix als Schlichter zwischen demHäuptling und seiner Frau, ebenso wie zwischen dem Fischhändlerund seinen Kunden tätig. Trotz täglicher intensiver überredungs-versuche würden die Beteiligten jedoch ihre Streitereien nicht auf-geben.

Dennoch wolle man von den externen Beratern gerne eine Ein-schätzung der umstrittenen Fragestellungen, die vielleicht für diebeteiligten Streitparteien eine Klärung und für Asterix und Obelixeine Entlastung ihrer internen Beratertätigkeit bringen könnte.

Wir fragen den Druiden, was denn voraussichtlich passierenwürde, wenn Asterix und Obelix in dieser Weise entlastet würden,und er meint, daß sie sich bald selbst gegenseitig in die Haaregeraten würden, wenn nicht ihre Freundschaft durch einen ge-meinsamen Kampf gegen die Römer eine erneute Bestätigung er-halten würde. Asterix und Obelix stünden nämlich in einem engenKonkurrenzverhältnis, wer denn der größere Held sei.

Nun fragen wir den Häuptling, was denn im Dorf die größereBeunruhigung hervorrufen würde, wenn der Häuptling sich mitseiner Frau und der Fischhändler mit seinen Kunden streiten oderwenn Asterix und Obelix sich in die Haare geraten wurden. DerHäuptling meint, daß das letztere das Bedrohlichere sei. Wir fragennun Asterix und Obelix, ob sie dem zustimmen, daß sie sich mögli-cherweise in die Haare kriegen würden, wenn sie nicht als interneBerater zu täglichen Schlichturigen herangezogen würden, und siebestätigen die Einschätzung der anderen.

Auf die Frage, wie wir am ehesten dazu beitragen könnten, diegegenwärtigen Probleme zu verschlimmern, erfahren wir, daß diesdann der Fall sei, wenn wir tatsächlich die gegenwärtigen Streite-reien beenden würden, ohne daß für Asterix und Obelix eine neuekräftebindende Aufgabe geschaffen würde. Denn Asterix undObelix seien nun mal Helden, die mit außergewöhnlichen, schein-bar unlösbaren Aufgaben betraut werden müßten.

Dann fragen wir den Häuptling: ,,Angenommen, im nächstenMonat würden entgegen dem gegenwärtigen Anschein wieder An-griffe der Römer auf das Dorf beobachtet werden können, vermu-test Du, daß dann die Streitereien gleichbleiben, zunehmen oderabnehmen?” Der Häuptling meint, von allen durch Nicken unter-stützt, daß sie dann drastisch abnehmen würden. Eine ähnlicheAntwort erhalten wir bezüglich der psychosomatischen Beschwer-den vom Druiden.

Dann fragen wir Asterix, wer denn am ehesten ihm und Obelixzutrauen würde, daß sie eine sinnvolle Verwendung ihrer Kräfte

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entwickeln könnten, auch wenn sie nicht durch Schiedsrichterrol-len oder Kämpfe mit den Römern beschäftigt wären. Es zeigt sich,daß von den Anwesenden höchstens der Druide sich so etwas vor-stellen könnte. Dieser meint, Asterix und Obelix müßten sich dazuetwas von dem durch vielfältige Veröffentlichungen über sie zumLebenselexier gewordenen Heldenbild lösen; er wäre nicht sicher,ob sie dies zustande brächten, wenngleich er es vom medizinischenStandpunkt und vom Standpunkt des friedlichen Zusammenlebensim Dorf her begrüßen würde.

Wir fragen den Häuptling dann, ob es denn solche Entwicklun-gen im Leben der Dorfgemeinschaft schon einmal gegeben habe,und erfahren, daß in einer längeren Ruhepause mit den RömernAsterix und Obelix ein gemeinsames Hinkelstein-Handelsunter-nehmen gegründet hätten und wegen gutem Geschäftserfolg zu-nehmend außerhalb des Dorfes gewesen wären. Ein überraschen-der Angriff der Römer habe damals das Dorf in arge Bedrängnisgebracht.

Kurz danach sei trotz guter Auftragslage dieses Unternehmendaran in Konkurs gegangen, daß Asterix und Obelix sich wegenstarkem Heimweh auf Handelsreisen nicht mehr lange außerhalbdes Dorfes aufhalten konnten. Durch entsprechend häufige Streite-reien mit den Römern, die durchaus häufig auch durch die Dorfge-meinschaft initiiert worden seien, wären Asterix und Obelix dannohnehin in diesen Auseinandersetzungen unabkömmlich gewesenund das Dorf hätte eigentlich eine vergnügliche Zeit gehabt, bisjetzt die Friedensbewegung bei den Römern die politische Ober-hand gewonnen habe.

Wir fragen den Häuptling, wer denn am überraschtesten wäre,wenn sich die Idee, daß Asterix und Obelix eigentlich unverträgli-che Kontrahenten wären, als Seifenblase herausstellte, und erfah-ren, daß dies wohl er selbst sei. Wir fragen nun Asterix, was dennder Häuptling dazu beitragen könnte, damit Asterix und Obelixsich streiten, selbst wenn ihnen gar nicht danach zumute wäre.Und wir erfahren, daß die monatliche Preisverleihung für die be-eindruckendsten Heldentaten, bei denen Asterix und Obelix sichimmer ein Kopf-an-Kopf-Rennen liefern würden, mit Sicherheit zuStreit führen würde, wenn aus der Sicht der Preisrichter (Häuptlingplus Barde) einer von beiden zu häufig auf dem zweiten Platz er-scheinen würde.

Wir fragen dann Obelix, ob er sich vorstellen könnte, daß derHäuptling auf eine solche Preisverleihung ganz verzichten könne,und erfahren, daß dies schwierig sei, weil diese Preisverleihungeinen wesentlichen Teil der Imagewerbung des Dorfes ausmacheund weil außerdem sonst der Häuptling nicht viel Nennenswertes

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täte, als während des Monats Asterix und Obelix zu beäugen, werdenn diesmal die Liste anführen könne.

Wir fragen dann den Druiden, was denn der Häuptling glaube,was auf ihn zukäme, wenn die Preisverleihung wegfiele undsowohl Asterix als auch Obelix sich ganz neuen Tätigkeitsfeldern,wie etwa dem Umweltschutz o.ä., zuwenden würden. Nach länge-rem Nachdenken meint der Druide zögernd, daß der Häuptlingsich dann vermutlich sehr unsicher fühlen würde, ob er für einesolche neue Ära im Dorf überhaupt angemessene Kompetenzenund Persönlichkeit mitbringe.

Der Häuptling bestätigt solche Unsicherheiten und zeigt sich er-leichtert, über diese geheimen Gedanken einmal offen reden zukönnen. Außerdem befürchtet er massive politische Umwälzungenim Dorf, falls er dann nicht mehr das Dorfoberhaupt sein könne. Esgebe verschiedene politische Parteien, die in den Startlöchernständen, um die politische Macht zu erkämpfen. Da das Dorf fürdemokratische Prozesse dieser Art möglicherweise noch nicht reifsei, befürchtet er für alle Beteiligten ein Chaos. Die anderen bestäti-gen solche Befürchtungen, können aber wenig konkrete Anhalts-punkte nennen, die diesen Glauben bestätigen.

Als wir danach fragen, wann im Dorf denn demokratische Ver-fahren angewandt und welche Erfahrungen damit gemachtwürden, scheint allen Beteiligten zunächst nichts einzufallen. Aufdie Frage, wie denn das Schulwesen organisiert sei, erfahren wir,daß es dort Elternbeiräte gäbe und sowohl die Wahl der Lehrer alsauch die Lehrpläne in einer breiten Diskussion, in der es durchauskontrovers, aber friedlich zugehe, ausgehandelt und abgesegnetwürden.

Ähnliches gebe es auch im Bereich des Häuserbaues usw. Indiesem Sektor würde im Dorf eigentlich auch Erstaunliches gelei-stet, doch hätten der Bürgermeister, Asterix und Obelix wenigKontakt zu diesen Kreisen im Dorf, da in der dorfeigenen Presseöfter mal gegenseitige Anfeindungen wegen der einseitigen Image-pflege und Ausrichtung der Häuptlingspolitik die Gemüter erhit-zen würden. Wir fragen nun den Druiden, wer von den dreiendenn am ehesten zu diesen anderen Kreisen im Dorf Kontakt habe,und erfahren, daß eigentlich alle drei irgendwie solche Kontaktehaben, doch wurde darüber nicht viel untereinander geredet. Ver-mutlich seien Asterix’ Kontakte die besten, was dieser bestätigt.

Wir fragen nun den Druiden weiter, ob Asterix und derHäuptling es als Beeinträchtigung ihrer besonderen Beziehungoder eher als freundschaftliche Initiative im Namen dieser drei auf-fassen würden, wenn Asterix diese Kontakte intensiver und auchin aller Öffentlichkeit pflegen und die gegenseitigen Polarisierun-

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gen abbauen würde. Der Druide meint, daß dies sicher eine unge-wöhnliche Herausforderung an die Beteiligten sei, doch wäre diesinsofern politisch opportun, als ganz neue Wege gegangen werdenmüßten, um sich darauf vorzubereiten, mit den Römern und ihrerin vieler Hinsicht weiterentwickelten Kultur ein friedliches Zusam-menleben zu ermöglichen.

Hier könne man sicher Leute mit großer Kraft und Durchhalte-vermögen und mit der Bereitschaft zu ungewöhnlichen Unterneh-mungen brauchen. Der Häuptling, daraufhin befragt, ob solcheneuen Ideen für ihn selbst, für Asterix und Obelix denn genügendspannend und gemeinschaftsbildend sein könnten, zeigt sich un-schlüssig und meint, daß diese Fragen wegen der gegenwärtigenakuten Schwierigkeiten ja auch nicht zur Debatte stunden. Diesnehmen wir zur Kenntnis.

Zum Schluß fragen wir Asterix, wie er die Beratungssituationeinschätzt, ob das Interesse der Beteiligten an einer beraterischenBegleitung eher zu- oder eher abgenommen habe. Er schätzt, daßbeim Druiden und beim Häuptling das Interesse eher zugenom-men habe, bei ihm selbst wären eine Menge neuer Fragen entstan-den, über die er erst nachdenken müsse; Obelix würde die ganzeSache vielleicht als nicht genügend handfest betrachten und erwürde eher damit rechnen, daß dieser zunächst auf dem Nachhau-seweg mehrfach laut vor sich hin murmeln würde: ,,Die spinnen,die systemischen Berater.” Obelix grient an dieser Stelle vor sichhin, zeigt sich aber nicht feindselig. Die anderen bestätigen in etwadie Einschätzung von Asterix, und der Häuptling würde am lieb-sten sofort einen Beratungstermin für die nächste Woche ausma-chen, was wir zunächst als Information für unsere Pausenbespre-chung zur Kenntnis nehmen.

Dann fragen wir den Häuptling: ,,Angenommen, Verleger,Texter und Zeichner der Asterix-Geschichten hätten das heutigeBeratungsgespräch mitverfolgt, wie glaubst du, würden sie daraufreagieren?” Die Frage löst zunächst Erstaunen aus, doch bestätigtder Druide diese Frage als wichtig, da die Existenz des Dorfes unddie Möglichkeit, auch Beratung in Anspruch zu nehmen, vondiesen Instanzen doch ganz wesentlich mitbestimmt werden. DerHäuptling zeigt sich unschlüssig, ob die genannten Herren nichtAngst kriegen würden, daß Heldengeschichten in der bisherigenMachart rar würden.

Gleichzeitig gibt er zu bedenken, daß in letzter Zeit hier ohnehinnicht sehr viel Überzeugendes auf den Markt kam. Von daherkönnte er sich auch denken, daß diese Herren an zwar noch nichtgeklärten, aber in der Luft liegenden neuen Entwicklungen interes-siert wären. Ob für solche zukünftigen, vielleicht ganz andersarti-

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gen Geschichten dann ein entsprechender Absatzmarkt gefundenwerden könnte, wäre allerdings eine offene Frage.

Zum Schluß fragen wir noch den Druiden: ,,Angenommen, esgäbe keine externen Berater, wie wurdest du vermuten, wie die Si-tuation im Dorf in einem Jahr sich darstellen würde?” Der Druidemeint, daß er erwartet, daß es wesentliche Änderungen gibt, dievielleicht zeitweilig erhebliche Unruhe brächten, daß aber danndoch die hier Anwesenden zusammen mit den genannten anderenKreisen im Dorf gute Ansätze für ein neues Kapitel der Dorfge-meinschaft gefunden hätten.

Er vermutet, daß sowohl Asterix als auch Obelix als auch derHäuptling dann zu neuen Rollen gefunden hätten, in denen ihreauch bisher hochgeschätzten Talente in neuer schöpferischer Weisezum Einsatz kämen. Wir fragen den Druiden weiter, ob dabei Ent-wicklung in diesem Sinne eher diskret geschehen sollte, währenddie Beteiligten sich gegenseitig eher ihre üblichen Beziehungen undAnschauungen bestätigen, oder ob es sinnvoller wäre, die ohnehinbestehenden Entwicklungen auf der Verhaltensebene im gegensei-tigen Austausch deutlich zu machen. Auf diese Frage zeigt er sichetwas irritiert und unentschlossen.

Wir kündigen nun eine Pause an, in der wir uns über unsere Ein-schätzung der Lage austauschen und einen Abschlußkommentarvorbereiten, mit dessen Verlesung nach der Pause die Sitzung dannbeendet sein würde.

Abschluß-Kommentar

Wir bedanken uns bei den vier Herren für das freimütige Gesprächund dafür, daß sie durch die Bereitschaft zur Auseinandersetzungmit den hier aufgeworfenen Fragen zeigen, daß im Dorf Helden-mut und umsichtiges Prüfen ganz neuer Möglichkeiten kombiniertwerden können.

Wir möchten dem Häuptling eine besondere Anerkennung aus-sprechen und bitten ihn, dies in unserem Namen auch seiner Fraugegenüber zu tun. Wir respektieren sehr, daß sie als Ehepaar aufihren häuslichen Frieden verzichten, um Asterix und Obelix mitBeratungstätigkeit wenigstens so lange zu befassen, wie alle imGlauben verharren, daß diese sonst ihre unbändigen Heldenkräftegegeneinander richten würden. Außerdem bitten wir, auch demFischhändler zu bestellen, daß wir zu würdigen wüßten, daß er aufeinwandfreie Qualität seiner Fische verzichtet und zu Lasten seinesguten Namens die Kunden dazu einlädt, mit ihm in heftige Streite-reien zu verfallen, damit dann Asterix und Obelix als Spezialistenin Sachen Streit unabkömmlich wären.

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Wir selbst hätten im heutigen Gespräch keine Anhaltspunktedafür gefunden, d a ß Asterix und Obelix sich auf problematischeWeise gegenseitig konkurrieren könnten, verstehen aber, daß die-se Idee im Gesamtzusammenhang mit der bisherigen Politik derImagebildung des Dorfes durchaus entstanden sein könnte. Wirhätten viel eher den Eindruck, daß Asterix und Obelix schon in derVergangenheit durch sorgfältiges Zusammenspiel auf die Entfal-tung ihrer Handelstalente zugunsten der Verfügbarkeit für dieDorfgemeinschaft verzichtet hätten.

Auch heute hätten wir den Eindruck, daß sie in Abstimmungmiteinander ihre Kräfte als Berater binden lassen und sich so eineZeitlang in der Kultur des Dorfes im Hintergrund halten, zumin-dest was tatkräftige Aktionen nach außen betrifft. Auch hätten siedurch eher zurückhaltende Schlichtung bei den Streitereien demDruiden Argumentationshilfen für die Zuziehung externer Beratergeleistet.

Im Moment scheine es uns noch fast zu früh zu sein, die Streite-reien und Schlichtungsversuche zu beenden, da wir nicht wüßten,ob es nicht hilfreich wäre, die Aufmerksamkeit im Dorf dort etwaszu binden, während die Anwesenden jeder für sich und gemein-sam die Möglichkeiten diskreter Demokratisierungsbestrebungenim Dorf eruieren und entsprechende Kontakte vertiefen. Wir seienim Moment sogar unsicher, in welchem Maße die beobachtbarenEntwicklungstendenzen einander schon offen vor Augen geführtwerden sollten oder ob es nicht sinnvoller wäre, auch hier deutlichfür andere gewohnte und verstehbare Verhaltensweisen und An-sichten zu demonstrieren, während die neuen Entwicklungen imSchatten dieser Darstellungen dann ungestört heranreifen könnten.

Natürlich könnten wir uns vorstellen, daß es sowohl für denHäuptling als auch für unsere beiden Helden wichtig sein könnte,die Demokratie-Bereitschaft und Friedensfertigkeit von Lehrern,Elternbeiräten und ähnlichen gesellschaftlichen Kräften im Dorfdadurch auf die Probe zu stellen, daß sie sich bewähren müßten,obwohl sie mit deftigen und eher auf persönliches Heldentum be-zogenen Verhaltensweisen der drei konfrontiert würden.

Auch könnten speziell durch spektakuläre Aktionen von Asterixund Obelix die Römer doch noch einige Male daraufhin getestetwerden, ob sie nicht doch für die alten Streitbarkeiten wiederge-wonnen werden könnten oder ob die Friedensinitiative bei denRömern ein Faktor geworden sei, mit dem man rechnen müsse undkönne.

Es könnten auf diese Weise auch durchaus noch einige Geschich-ten für die Imagewerbung des Dorfes bereitgestellt werden, bis derHäuptling sich mit dem Druiden und anderen im Dorf einerseits,

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wie auch mit der Abteilung für Imagewerbung und Absatz vonAsterix-Heften andererseits soweit ins Benehmen gesetzt habe, daßman Ideen hätte, wie die sich abzeichnenden Kulturänderungenauch imagemäßig dargestellt werden könnten.

Da auf diese Weise im Dorf eine ganze Serie von untergründigenKlärungs- und Abstimmungsprozessen, von denen ein gewisserAnteil auch offensichtlich werden könne, bereits im Gange sei undnoch anstünde, scheine es uns nicht sinnvoll, nun diesen Prozeßdurch eine zu frühe Vergabe eines weiteren Konsultationsterminszu stören. Viel eher wurden wir einen weiteren Konsultationster-min in ca. drei Monaten empfehlen, an dem wir dann wieder einegemeinsame Bestandsaufnahme der Entwicklungen im Dorf vor-nehmen könnten.

Im Moment könnten wir noch nicht beurteilen, ob die Anwesen-den zu diesem Gespräch auch Vertreter anderer politischer Strö-mungen aus dem Dorf mitbringen sollten. Vielleicht könne es ineinem Vierteljahr dafür noch zu früh sein, und wir bitten die An-wesenden, vor dem nächsten Beratungstermin gemeinsam darübereine Entscheidung zu treffen. Ebenso bitten wir die Anwesenden,in einer gemeinsamen Sitzung darüber zu entscheiden, ob undwann ein weiterer Beratungstermin an unserem Institut gewünschtwird. Da wir an der Weiterentwicklung im Dorf auf jeden FallAnteil nehmen würden, würden wir uns, falls wir nichts hören,nach ca. einem Jahr von uns aus melden, um uns über den Standder Dinge zu erkundigen. Wir danken ihnen für ihr Kommen undwünschen ihnen eine gute Reise.

Dr. Bernd A. Schmid ist Lehrtherapeut der Deutschen und Internationalen Gesell-schaft für Transaktions-Analyse und KoLeiter des Instituts für systemische Thera-pie und Transaktionsanalyse, D - Wiesloch

Zusammenfassung

Der Artikel beschreibt, wie Menschen durch Grundannahmen und Wirklichkeitsge-wohnheiten sich ihre eigene Wirklichkeit schaffen. Durch einen kreativen Beratungs-prozeß kann in den Klienten Potential freigesetzt werden, um neue Sichtweisen,Verhaltensweisen und Zukunftsvisionen zu ermöglichen. Es wird dargestellt, wieein wirklichkeitskonstruktiver, systemisch orientierter Ansatz das Klientsystemdurch vielfaltige Techniken in Bewegung und damit zur Veränderung bringt.

Summary

The article describes how People create their own reality by basic assumptions andconscious rnind. A creative process of consultation may free the clients’ potential toget new perspectives, attitudes and visions of the future. It is shown, in which way asystemic perspective by means of various techniques sets the client-system inmotion and thereby leads to Change.

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Literatur

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Neutralität: Drei Richtlinien für den Leiter der Sitzung. Familiendynamik 1981,6,123 - 139

Tomm, K., Interventive Interviewing: Part 1 - Strategtzing as a Fourth Guideline forthe Therapist. Family Process 1987,26:1

Quellennachweis:Der Erstabdruck erfolgte in der Zeitschrift der Gesellschaft für Organisationsentwicklunge.V. 1987,6:4,21- 42

Anschrift des Autors:Dr. Bernd A. SchmidSchloßhof 3D-6908 Wiesloch

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