Transformative Lernprozesse von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte

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Transformative Lernprozesse von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte

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Anna Laros

Transformative Lernprozesse von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte

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Anna LarosPädagogische Hochschule der

Fachhochschule NordwestschweizLiestal, Schweiz

Dissertation Pädagogische Hochschule Freiburg, 2014

ISBN 978-3-658-09998-5 ISBN 978-3-658-09999-2 (eBook)DOI 10.1007/978-3-658-09999-2

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Danksagung

Ich bedanke mich ganz herzlich bei Prof. Dr. Thomas Fuhr und Prof. Dr.Thomas Diehl für die Betreuung meiner Arbeit. Ein besonderer Dank giltden Frauen, die bereit waren, mir offen und vertrauensvoll von ihren Lern-prozessen zu Unternehmerinnen zu berichten.

Außerdem bedanke ich mich beim gesamten Arbeitskreis Interpretations-werkstatt der PH Freiburg für die gemeinsamen Interpretationssitzungenund die wertvollen Anregungen, insbesondere Dr. Ruth Michalek, Prof. Dr.Jürgen Sehrig und Prof. Dr. Hans-Werner Kuhn.

Prof. Ed Taylor, thank you for some inspiring discussions about my thesisover the last couple years. Meinen FreundInnen und meinen GeschwisternSarah und Simon ein großes Dankeschön für die vielfältige Unterstützung!A special thanks to John D. Thiede and Carrie A. Compton for paving myway many times.

Mein herzlichster Dank gilt meinen Eltern Ruth Laros und Johannes Becker-Laros sowie meinem Ehemann Nils Bernhardsson-Laros, ohne die das Vorha-ben der Dissertation nicht möglich gewesen wäre.

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Für Tilla Margarethe

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Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis 9

Einleitung 13

1 Transformatives Lernen nach Mezirow 191.1 Bedeutungsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221.2 Die Transformation von Bedeutungsstrukturen . . . . . . . . 241.3 Instrumentelles und kommunikatives Lernen . . . . . . . . . . 271.4 Rationaler Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281.5 Gesellschaftliches Handeln, Kontext und Rationalität . . . . . 301.6 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

2 Erziehungswissenschaftliche Migrationsforschung 372.1 Hintergrundinformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382.2 Betrachtung benachteiligender Strukturen . . . . . . . . . . . 412.3 Analysekategorie „Migrationshintergrund” . . . . . . . . . . . 422.4 Intersektionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452.5 Erwachsenenbildung und Migrationsgeschichte . . . . . . . . . 47

3 Unternehmertum, Geschlecht und Migration 493.1 Definitionen: Unternehmertum und Entrepeneurship . . . . . 493.2 Unternehmer_innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513.3 Unternehmer_innen mit Migrationsgeschichte . . . . . . . . . 553.4 Entrepreneurship Education . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

4 Migration, Geschlecht und Arbeitsmarkt 654.1 Gesellschaftstheoretische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . 664.2 Humankapitaltheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 694.3 Soziales und kulturelles Kapital . . . . . . . . . . . . . . . . . 734.4 Diskriminierungstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 764.5 Reflexionen zu meiner „deutschen” Forschungsperspektive . . 78

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10 INHALTSVERZEICHNIS

5 Zielsetzung und Methodik 795.1 Ziele und Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 795.2 Methodologie und Methodik – Verortung der Studie . . . . . 805.3 Datenerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

5.3.1 Interviewform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 825.3.2 Biografieforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 845.3.3 Erhebung der Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . 865.3.4 Mögliche sprachliche Besonderheiten . . . . . . . . . . 875.3.5 Transkriptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88

5.4 Datenauswahl und Untersuchungsgruppe . . . . . . . . . . . . 885.5 Grounded Theory als Methode und Methodologie . . . . . . . 89

5.5.1 Kodierprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 925.5.2 Memos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 935.5.3 Theoretisches Sampling und theoretische Sättigung . . 94

5.6 Grounded Theory in meiner Forschungspraxis . . . . . . . . . 955.6.1 Feldzugang, Sampling und Forschungsweg . . . . . . . 955.6.2 Meine Rolle als Forscherin im Feld . . . . . . . . . . . 1015.6.3 Methodische Herausforderungen . . . . . . . . . . . . 1025.6.4 Gütekriterien der Grounded Theory . . . . . . . . . . 104

5.7 Datenauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106

6 Lernprozesse von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschich-te – ein multiperspektivisches Lernmodell 1076.1 Lernphase Eins: Gründungsvorbereitungsphase . . . . . . . . 112

6.1.1 Stufe Eins: Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . 1126.1.2 Stufe Zwei: Bewältigung und Ergebnis . . . . . . . . . 125

6.2 Lernphase Zwei: Gründungsentscheidungsphase . . . . . . . . 1356.2.1 Stufe Eins: Gründungsgelegenheiten . . . . . . . . . . 1366.2.2 Stufe Zwei: Entscheidungsprozesse . . . . . . . . . . . 139

6.3 Lernphase Drei: Gründungsphase . . . . . . . . . . . . . . . . 1536.3.1 Selbstbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1536.3.2 Eigenanspruch und unternehmerischer Anspruch . . . 1696.3.3 Unternehmens- und Fremdverantwortung . . . . . . . 1766.3.4 Arbeitsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1866.3.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189

6.4 Lernphase Vier: Erlerntes Unternehmerinnen-Sein . . . . . . . 1916.4.1 Unternehmerisches Selbstbewusstsein . . . . . . . . . . 1926.4.2 Unternehmerischer Anspruch . . . . . . . . . . . . . . 2046.4.3 Unternehmerische Verantwortung . . . . . . . . . . . . 2136.4.4 Unternehmerisches Arbeitsverständnis . . . . . . . . . 229

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INHALTSVERZEICHNIS 11

6.4.5 Gesellschaftliche Reflexionen . . . . . . . . . . . . . . 2386.4.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244

6.5 Zusammenfassung des Lernmodells . . . . . . . . . . . . . . . 2456.5.1 Wandel des Selbstbewusstseins . . . . . . . . . . . . . 2456.5.2 Wandel des Anspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2466.5.3 Wandel der Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . 2476.5.4 Wandel des Arbeitsverständnisses . . . . . . . . . . . . 2486.5.5 Auswirkungen auf gesellschaftliche Reflexionen . . . . 248

7 Das Lernmodell als transformatives Lernmodell 2517.1 „Setting the stage” (Lernphase Eins und Zwei) . . . . . . . . 255

7.1.1 „Setting the stage” – Phase Eins . . . . . . . . . . . . 2577.1.2 „Setting the stage” – Phase Zwei . . . . . . . . . . . . 2657.1.3 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . 272

7.2 Das desorientierende Dilemma (Lernphase Drei) . . . . . . . . 2757.3 Die transformierte Perspektive (Lernphase Vier) . . . . . . . 289

7.3.1 Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2927.3.2 Interaktionen und Beziehungen . . . . . . . . . . . . . 2967.3.3 Schlussfolgerungen für das transformative Lernen . . . 303

8 Fazit und Ausblick 3098.1 Implikationen für die (transformative) Erwachsenenbildung . 3098.2 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314

Literaturverzeichnis 319

Abbildungsverzeichnis 345

Tabellenverzeichnis 345

Anhang 3471 Übersicht Lernphasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3472 Transkriptionsrichtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3523 Interviewleitfaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353

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Einleitung

Während für eine klassische Einwanderungsnation wie z.B. Kanada dasThema Migration integraler Bestandteil ihres Selbstverständnisses ist, zeigtsich für Deutschland ein etwas anderes Bild: Erst Ende der 1970er Jah-re, im Anschluss an die Anwerbewellen von Gastarbeitenden gewann dasForschungsphänomen „Migrationsgeschichte”1 zunehmend an Relevanz, underst zur Jahrtausendwende wurde Deutschland auch seitens der Politik alsEinwanderungsland anerkannt. Mit der Auseinandersetzung um das The-ma Migration wurde der Begriff „Migrationshintergrund” eingeführt, umMenschen zusammenzufassen, die entweder selbst oder deren Eltern nachDeutschland eingewandert sind (vgl. Destatis 2013). Es besteht Übereinkunftdarüber, dass es sich beim Migrationshintergrund um eine Kategorie mitbeschränktem Aussagewert handelt, da es sich bei den Unterscheidungen, dieder Begriff einführt, um konstruierte Differenzen handelt. Durch die ethni-sche Differenzierung zwischen Personen mit und ohne Migrationshintergrundwird ein Unterscheidungsmerkmal konstruiert, welches die Betreffenden nichtüberwinden können. Statistiken, die das Kriterium „Migrationshintergrund”als Analysekategorie nutzen, zeichnen für diese Gruppe von Menschen imVergleich zu Personen ohne Migrationshintergrund immer eine Schlechterstel-lung, z.B. hinsichtlich Bildungserfolg und Integration in den Arbeitsmarkt,nach (vgl. z.B. Baumert u.a. 2006).

Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund an der Gesamtbe-völkerung ist hoch. Im Jahr 2011 hatten von 81,75 Millionen Einwohnern15,96 Millionen einen Migrationshintergrund (vgl. Bundeszentrale für politi-sche Bildung 2012). Migrationsgeschichten haben laut Dausien (2000) nichtnur in quantitativer Hinsicht eine hohe Bedeutung. Die Autorin hält fest,dass Migrationsgeschichten „im doppelten Sinn” (ebd.: 10) unsere eigeneGeschichte darstellen,

„weil wir in einem Einwanderungsland leben und tagtäglichmit Menschen zu tun haben, die selbst oder deren Eltern indieses Land gekommen sind (...). Und (...) weil wir u.U. selberauf Migrationserfahrungen zurückblicken, sei es als Angehörige

1Zur Begriffsverwendung siehe Kap.2.3.

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14 Einleitung

immigrierter oder emigrierter Minderheiten, sei es als Ange-hörige der deutschen Mehrheitsgesellschaft, die sich in einerKontrastidentität als homogene ortsansässige Gemeinschaft kon-struiert und zu einer machtvollen Realität wird, die sich aber,sobald man eine historische Perspektive einnimmt, als heteroge-ne Gruppe entpuppt, die sich durch individuelle und kollektiveWanderungen zusammen- und auseinandergesetzt hat.” (ebd.)

Mit diesem Zitat hebt Dausien hervor, dass Migrationsgeschichten eineninhärenten Bestandteil der deutschen Gesellschaft bilden. Ihr Hinweis aufdie historische Perspektive und die damit verbundene Verankerung vonWanderungen in der deutschen Geschichte unterstreicht, dass es sich bei derUnterscheidung von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund um einekonstruierte Differenz handelt.

Einen interdisziplinär relevanten Teilbereich der Forschungen zu Men-schen mit Migrationshintergrund stellen solche zum Arbeitsmarkt dar. DieTeilhabe am Arbeitsmarkt wird als Schlüssel zur Integration angesehen.Neben der Analysekategorie Migrationsgeschichte tragen weitere Kategorien,wie z.B. Geschlecht und Bildungsstand, dazu bei, dass ein differenzierteresBild von Menschen mit Migrationsgeschichte im Arbeitsmarkt entwickeltwerden kann. In diesem Sinne wird in der vorliegenden Studie der Fokus auchauf die Kategorie „soziales weibliches Geschlecht” gelegt. Damit liegt derSchwerpunkt der Arbeit auf zwei in wechselseitiger Abhängigkeit voneinanderbestehenden ungleichheitsgenerierenden Kategorien, der Migrationsgeschich-te und dem sozialen weiblichen Geschlecht.

Bei der Betrachtung des Arbeitsmarktes wird generell eine Schlechter-stellung von Frauen herausgestellt (vgl. z.B. Achatz 2005: 288). Diese zeigtsich u.a. anhand einer vertikalen sowie einer horizontalen Segregation desArbeitsmarktes: Frauen sind nicht nur vermehrt in den niedrigeren Posi-tionen in Unternehmen vertreten, sie werden auch überwiegend in solchenSegmenten des Arbeitsmarktes tätig, die über eine ungünstige Lohnstrukturverfügen (vgl. Dressel/ Wanger 2008: 484).

Die Benachteiligung von Frauen im Arbeitsmarkt wird verstärkt fürFrauen mit Migrationsgeschichte wirksam (vgl. z.B. Szydlik 1990). Den Sta-tistiken nach zu urteilen sind Frauen mit Migrationsgeschichte hinsichtlichihrer Partizipation am Arbeitsmarkt einem komplexen Wechselspiel vonBenachteiligung ausgesetzt. Dennoch können die beiden Kategorien nichtakkumuliert – wobei eine Kategorie der anderen nachgeordnet wird – betrach-tet werden, sondern sie müssen als einander ergänzend beschrieben werden(vgl. Gümen 2003: 38). Darüber hinaus weisen Jungbauer und Preisdörfer

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(1992: 69) darauf hin, dass Frauen nicht nur im abhängigen Arbeitsmarktbenachteiligt werden, sondern auch unternehmerisch selbstständige Frauenvon einer Schlechterstellung betroffen sind.

Schaut man sich in einem weiteren Schritt neben den Kategorien Migrati-onsgeschichte und soziales weibliches Geschlecht Forschungen zum Unterneh-mertum an, dann wird deutlich, dass Frauen in der historischen ökonomischenTheorie als Unternehmerinnen nicht vorkamen, da der Diskurs vom männli-chen und deutschen Unternehmer dominiert war (vgl. Schumpeter/ Röpke2006). Auch heute noch ist der Anteil an Unternehmerinnen geringer alsder an Unternehmern, wobei der Unterschied zwischen beiden Gruppengrößer ist, wenn die Gruppe der Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichtebetrachtet wird (vgl. Leicht u.a. 2005).

Der Gruppe der Unternehmer_innen (bei der Schreibweise mit „_i”sind immer beide Geschlechter gemeint) mit Migrationsgeschichte kommtin den letzten Jahren vermehrte Aufmerksamkeit zu, wobei die Katego-rien Migration (vgl. Hillmann 1998a, Pütz 2003a) und Geschlecht (vgl.Lauxen-Ulbrich/ Leicht 2005) jeweils in unterschiedlichem Ausmaß the-matisiert werden. So existieren hinsichtlich der praktischen Unterstützungund Vernetzung Migrant_innenselbstorganisationen, die sich der Gruppeder Unternehmer_innen widmen (vgl. z.B. SELF 2013, NIKE 2013). Fürdie Forschung sind u.a. das „ethnic business” oder die ethnische Ökonomierelevant, wobei allerdings zumeist nicht gendersensibel vorgegangen wird(vgl. z.B. Hillmann 1998a; Özcan/ Seifert 2003; Pütz 2003a). Demgegenüberexistieren zielgruppenspezifische Angebote für Unternehmerinnen, wie z.B.verschiedene Frauennetzwerke (z.B. FrauenUnternehmen in Freiburg), sowieForschungen zu Unternehmerinnen, die wiederum oft nicht auf migrationss-pezifische Fragestellungen eingehen (vgl. z.B. Leicht/ Welter 2004; Leicht/Lauxen-Ulbrich 2006; Metzger/ Ullrich 2013). Einzelne Studien befassensich mit der Gruppe der Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte (vgl.z.B. Kontos 2003; Leicht u.a. 2009). Sie weisen auf die Vielfalt sowie diePotenziale dieser Unternehmerinnengruppe hin. Dadurch wird unterstrichen,dass es verkürzt wäre, aus der Benachteiligung von Frauen und von Mi-grant_innen eine akkumulierte Benachteiligung von Unternehmerinnen mitMigrationsgeschichte abzuleiten (vgl. Gümen 2003: 38).

Es handelt sich bei der Gruppe der Unternehmerinnen mit Migrati-onsgeschichte um eine Gruppe von Frauen, die auf eine besondere Weiseihren Platz im deutschen Arbeitsmarkt gefunden hat: Als Unternehmerinnenhaben sie nicht nur eine eigene Institution geschaffen, sondern diejenigen,die auch Arbeitgeberinnen sind, schaffen auch Arbeitsplätze für andere.

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16 Einleitung

Im Fokus der folgenden Untersuchung stehen Frauen mit Migrationsge-schichte, die als Unternehmerinnen am deutschen Arbeitsmarkt partizipieren.Es wird untersucht, wie sie ihre Rolle der Unternehmerin erlernt habenund welche Auswirkungen ihre Lernprozesse auf ihre Lebenskontexte ha-ben. Im Zentrum steht folgende Forschungsfrage: In welchen Prozessentransformieren Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte im Zuge ihrerUnternehmensgründung ihre Bedeutungsstrukturen?

Im empirischen Teil der Arbeit wird ein Lernmodell entwickelt, innerhalbdessen herausgearbeitet wird, wie sich das berufliche Selbstverständnis derInterviewten in ein unternehmerisches Selbstverständnis transformiert.

Für die Diskussion der Ergebnisse wird die Theorie des transformativenLernens nach Mezirow herangezogen (vgl. z.B. Mezirow 1991a, 2000). Diesevor allem im nordamerikanischen Raum weit verbreitete Theorie eignet sich,die Lernprozesse der Frauen detailliert zu betrachten. Ein zehn-Phasen-Modell, welches Mezirow für den idealtypischen Lernprozess konstruiert hat,bildet den heuristischen Rahmen für die Diskussion. Innerhalb der Diskussionzeichne ich nach, inwiefern die Theorie des transformativen Lernens für dievorliegende Studie anschlussfähig ist. Außerdem arbeite ich Elemente heraus,die über die bestehenden theoretischen Vorstellungen zum transformativenLernen hinausgehen, leite daraus Hinweise für eine Erweiterung der Theoriedes transformativen Lernens ab und benenne Implikationen für die (transfor-mative) Erwachsenenbildung/ Weiterbildung. In den Schlussfolgerungen geheich der Frage nach, wie transformative Lernprozesse ermöglicht werden kön-nen und zu welchen Zeitpunkten eines Lernprozesses Lernunterstützungenidealerweise ansetzen können.

Die Studie ist wie folgt aufgebaut:Zunächst gehe ich in Kapitel eins auf mein Lernverständnis ein, indem

ich die Theorie des transformativen Lernens erläutere. Daraufhin nähereich mich meinem Forschungsgegenstand an, indem ich im zweiten KapitelAspekte der erziehungswissenschaftlichen Migrationsforschung zusammen-trage, die für meine Studie relevant sind. Im darauffolgenden dritten Kapitelbefasse ich mich mit den Themen Unternehmertum und Entrepreneurship.Daran anschließend folgen in Kapitel vier Darlegungen zu den ThemenArbeitsmarkt, Geschlecht und Migration. In Kapitel fünf erläutere ich dieZiele und Forschungsfragen der Studie und beschreibe die verwendeten For-schungsmethoden. Im sechsten Kapitel stelle ich die Ergebnisse meiner Studieanhand eines Lernmodells dar, welches aus vier chronologisch aufeinanderaufbauenden Lernphasen besteht, und nehme eine detaillierte Beschreibungaller vier Lernphasen vor. Im siebten Kapitel diskutiere ich das Lernmodellunter Bezugnahme auf die Theorie des transformativen Lernens. Ich zeige

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auf, inwiefern und in welchen Prozessen die von mir interviewten Frauenihre Bedeutungsstrukturen transformiert haben und an welchen Stellen dieStudie ein neues Licht auf die Theorie des transformativen Lernens wirft.Dies arbeite ich heraus, indem ich auf den aktuellen Diskurs zur Theo-rie eingehe. Abschließend folgen Fazit und Ausblick (Kapitel acht). Hiergehe ich auf Implikationen für eine (transformative) Erwachsenenbildungein. Außerdem binde ich die Ergebnisse an den eingangs dargestellten For-schungsstand zu den Aspekten Migration, Geschlecht, Arbeitsmarkt sowieUnternehmensgründung an.

Insgesamt zeige ich mit meiner Untersuchung auf, wie Unternehmerin-nen mit Migrationsgeschichte über vier Lernphasen hinweg ihr beruflichesSelbstverständnis in ein unternehmerisches Selbstverständnis transformieren.In der ersten Lernphase, der Gründungsvorbereitungsphase, machen die Un-ternehmerinnen Erfahrungen, die sie in ihrer aktuellen beruflichen Situationirritieren. Sie bewältigen die Desorientierungen, indem sie sich mit Drittenauseinandersetzen und außerdem individuelle Reflexionen durchführen, wo-durch sie eine Bestärkung ihres beruflichen Selbstverständnisses generieren.Ergebnis von Lernphase Eins und Ausgangspunkt von Lernphase Zwei, derGründungsentscheidungsphase, stellen Gelegenheiten für eine unternehmeri-sche Selbstständigkeit dar. In Lernphase Zwei müssen die Frauen entscheiden,inwiefern sie die Gelegenheiten ergreifen und ihr unternehmerisches Potenzialaktivieren. Sie handeln mit sich selbst und unter Einbezug Dritter aus, obeine Unternehmensgründung zu ihrem beruflichen Selbstverständnis passenwürde. Ergebnis von Lernphase Zwei stellt die Entscheidung für eine Grün-dung dar. In der dritten Lernphase, der Gründungsphase, wird das beruflicheSelbstverständnis der Unternehmerinnen irritiert. Sie machen Erfahrungen,die sie auf Grundlage ihres beruflichen Selbstverständnisses nicht hinreichendinterpretieren können. Dadurch wird ein Transformationsprozess ausgelöst,in dessen Rahmen die Interviewten ihr berufliches Selbstverständnis in einunternehmerisches Selbstverständnis umwandeln. Für die Entwicklung desunternehmerischen Selbstverständnisses erschließen sie sich nach und nachneue Lerninhalte. Hierbei stehen sogenannte Softskills im Vordergrund. DasErlernen von Hardskills geschieht eher beiläufig. Da das Unternehmen inLernphase Drei bereits gegründet wurde, findet der Transformationsprozessparallel zum Unternehmerinnen-Sein statt. In Lernphase Vier, der Phase deserlernten Unternehmerinnen-Seins, zeigt sich die transformierte Perspektiveder Unternehmerinnen. Durch ihre Unternehmen schöpfen sie ihre Möglich-keiten aus, sich für verschiedene Menschengruppen sowohl in Deutschlandals auch in ihren Herkunftsländern einzusetzen, die in ihren Augen besonde-rer Unterstützung bedürfen. Verschiedene Auswahlkriterien können hierbei

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leitend werden, wie z.B. weibliches Geschlecht oder Migrationsgeschichte. Sowirken sich die Unternehmen nicht nur positiv auf die arbeitsmarktbezogeneund gesellschaftliche Partizipation der interviewten Frauen aus, sonderneröffnen auch anderen Personen, wie z.B. Angestellten und Kund_innen,Partizipationsmöglichkeiten.

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1 Transformatives Lernen nachMezirow

Ziel der vorliegenden Studie ist es, eine Grounded Theory zu den transfor-mativen Lernprozessen von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte zuentwickeln. Der Gegenstand wurde bisher nicht beforscht. Es existiert alsokein Diskurs zu transformativen Lernprozessen von Unternehmerinnen mitMigrationsgeschichte, an den angeschlossen werden kann. Vielmehr sind fürdas zu entwickelnde Lernmodell Theoriestränge und Forschungsergebnisserelevant, die sich mit einzelnen Aspekten des Gegenstandes befassen. DieseTheoriestränge stehen bisher weitgehend unverbunden nebeneinander. Siemiteinander in Beziehung zu setzen, ist eine der Herausforderungen, diehier bewältigt werden müssen. Im Folgenden unterscheide ich zwischen lern-theoretischen Grundlagen, erziehungswissenschaftlicher Migrationsforschung,Forschungen zu Unternehmertum, Geschlecht und Migration sowie Forschun-gen zum Arbeitsmarkt mit Gender- und Migrationsfokus. Die Besprechungder Themen hilft mir dabei, Merkmale meiner Untersuchungsgruppe her-auszuarbeiten, die sich im Rahmen meiner empirischen Studie und derEntwicklung des Lernmodells als relevant erweisen können.

Ich beginne mit einem kurzen Fallbeispiel, in dem ich Ausschnitte derLernbiografie einer von mir interviewten Unternehmerin (I6) darlege. Anhanddes Fallbeispiels erläutere ich die Theorie des transformativen Lernens.

Lisa (I6) ist im Alter von drei Jahren mit ihrer Familie aus der Türkeinach Deutschland immigriert. Die Erziehung ihrer Eltern war darauf aus-gerichtet, dass sie als erwachsene Frau unabhängig sein soll. Dazu gehörte,dass sie großen Wert darauf legten, dass sie eine Ausbildung abschließt.Die Grundüberzeugung ihrer Eltern hat Lisa im Laufe ihrer Kindheit über-nommen. Auch als Unternehmerin vertritt sie die Einstellung, dass Frauen,insbesondere wenn sie den gleichen ethnischen Hintergrund wie Lisa haben,möglichst unabhängig sein sollten. Voraussetzung dafür ist für Lisa eine abge-schlossene Berufsausbildung. Für ihr Unternehmen hat das zur Konsequenz,dass sie Ausbildungsplätze vorzugsweise an junge türkische Frauen und

A. Laros, Transformative Lernprozesse von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte, DOI 10.1007/978-3-658-09999-2_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015

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Mütter vergibt. Vor der Eröffnung ihres Unternehmens verfügt Lisa nur überwenig Kapital. Daher kann sie für die Inneneinrichtung ihres Ladenlokalskeine_n Innenarchitektin_Innenarchitekten einstellen, sondern übernimmtdie Aufgabe selbst. Sie hat nur sehr begrenzte Zeit zur Verfügung, in dersie ihre Vorstellungen von der Gestaltung ihres Ladenlokals entfalten undrealisieren kann. Als Jungunternehmerin steht sie vor der Herausforderung,dass sie mit steuerspezifischen Fragestellungen überfordert ist. Sie wendetsich an einen Bekannten, der ebenfalls unternehmerisch selbstständig ist undfragt ihn, wen er ihr als Steuerberater_in empfiehlt. Bis zu ihrer Unterneh-mensgründung war Lisa immer abhängig beschäftigt. Sie sieht sich selbstals eine gute Kollegin, der es leicht fällt, in Teams zu arbeiten. Als Chefinmacht sie die Erfahrung, dass ihre Mitarbeitenden sie zunächst nicht alssolche akzeptieren. Ein Schlüsselerlebnis stellt für sie einen Wendepunkt dar:Lisa hatte für ihre Mitarbeitenden T-Shirts mit dem Firmenlogo bedruckenlassen, die von diesem Zeitpunkt an als Arbeitskleidung dienen sollten. Alseiner ihrer Angestellten mehrfach ohne das T-Shirt erscheint, und er ihrauf ihre Nachfrage hin, warum er denn das T-Shirt nicht trage, entgegnet,dass sie es ja auch nicht trage, wird ihr bewusst, dass sie in ihrer Rolle alsChefin nicht akzeptiert wird. Die Situation löst bei Lisa einen Lernprozessaus. Sie stellt ihre bisherige Bedeutungsperspektive, gemäß der sie von ihrenMitarbeitenden als gute Kollegin wahrgenommen werden möchte, infrage,und ersetzt sie im Zuge des Erlernens der Rolle der Unternehmerin sukzes-sive durch die Bedeutungsperspektive, eine Chefin zu sein, die von ihrenAngestellten auch als solche wahrgenommen und akzeptiert wird. In derAuseinandersetzung mit dem Erlernen der Unternehmerinnenrolle wird derRollenbegriff in der vorliegenden Studie – in Anlehnung an Mezirow – eherunspezifisch verwendet, es geht nicht um die Entwicklung einer Theoriesozialer Rollen.

In der vorliegenden Studie geht es um die Analyse von Lernprozessen.Die Interviewten ändern im Zuge des Erlernens ihrer neuen Rolle der Unter-nehmerin ihre Wahrnehmungen und Interpretationen der Welt. Das kannals Transformation beschrieben werden. Aus diesem Grund halte ich dieTheorie des transformativen Lernens nach Mezirow (vgl. 1978, 1991a, 2000,2009a/ b) für geeignet, um die generierten Daten zu interpretieren und zudiskutieren.

Bei der Theorie des transformativen Lernens handelt es sich um einekonstruktivistische Lerntheorie (vgl. Mezirow 1991a: 20) für das LernenErwachsener. Mezirow beginnt die Theorie zu entwickeln, als er mitbekommt,

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dass seine Ehefrau Elee, nachdem sie nach einer langen Pause ein Studium ander Universität aufnimmt, einschneidende Lernprozesse durchlebt. Daraufhinführt er eine großangelegte qualitative Studie in den Staaten Washington,Kalifornien, New York und New Jersey zu transformativen Lernerfahrungenvon Frauen durch, die nach einer längeren Unterbrechung an die Hochschulezurückkehren (vgl. Mezirow 1978). In diesem Rahmen interviewt er 83Frauen. Die Studie fällt in die Zeit der US-amerikanischen Frauenbewegung.Sie bildet die empirische Basis für die überwiegend kognitiv orientierteTheorie des transformativen Lernens, die Mezirow in Anlehnung an dieGrounded Theory-Methodologie von Glaser und Strauss entwickelt (vgl.Glaser/ Strauss 1967).

Bei der Entwicklung der Theorie ist Mezirow von den Arbeiten ver-schiedener Psycholog_innen, Kommunikationswissenschaftler_innen undErziehungswissenschaftler_innen2 sowie von Ansätzen der transformativenEducation (oder transformativen Erziehung/ transformativen Bildung) be-einflusst3. Mezirow unterscheidet einerseits zwischen Lernen, bei dem neuesWissen aufgenommen wird und transformativem Lernen, bei dem vorhande-nes Wissen reorganisiert wird und so problematische Bedeutungsstrukturen(frames of reference) transformiert werden. Während Lernen allgemein aufdie Aneignung von Wissen abzielt, geht es beim transformativen Lernenauch um die Veränderung der Weltsicht der Lernenden4. Die Theorie destransformativen Lernens zielt darauf ab, die Struktur des Erwachsenenler-nens zu erklären. Der Ansatzpunkt der Theorie besteht darin zu erfassen,wie, d.h. auf welche unterschiedliche Arten und Weisen, Erwachsene ihrenErfahrungen Bedeutung zuschreiben und ihre Realität konstruieren. Dabeiwird davon ausgegangen, dass durch Erwartungen – welche durch kulturelleVoraussetzungen und Vorannahmen gerahmt werden – beeinflusst wird, wel-che Bedeutungen Menschen ihren Erfahrungen zuschreiben. Insgesamt setztsich die Theorie des transformativen Lernens mit der Frage auseinander,wie Bedeutungsstrukturen – die herangezogen werden, um Erfahrungen zuinterpretieren – verändert oder transformiert werden:

2Für eine Übersicht der aus Mezirows’ Sicht bedeutsamen Veröffentlichungen zu Trans-formationsprozessen siehe Mezirow (1991a: 185).

3So bezieht er sich zum einen auf Boyds Ansatz zur transformativen Education, beidem eine Individuation im Zentrum steht und der auf der analytischen Psychologiebasiert. Zum anderen stellt er Bezüge zu dem emanzipatorischen Ansatz zur sozialenTransformation nach Freire her. Laut Taylor (1998: 18) bilden die beiden Diskursezwei unterschiedliche Pole – Boyd auf der Seite der Individuation und Freire auf derder sozialen Transformation – in deren Mitte Mezirows Ansatz positioniert ist.

4Für eine Anbindung an Lehr- und Lerntheorien im deutschsprachigen Raum sieheFuhr (2011).

1 Transformatives Lernen nach Mezirow

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22 1 Transformatives Lernen nach Mezirow

„Transformative learning attempts to explain how our expecta-tions, framed within cultural assumptions and presuppositions,directly influence the meaning we derive from our experiences.It is the revision of meaning structures from experiences that isadressed by the theory of perspective transformation.” (Taylor1998: 6)

Auf dieser Vorstellung von Transformation baut das folgende Lernverständnisauf:

„In transformative learning (...) we reinterpret an old experi-ence (or a new one) from a new set of expectations, thus givinga new meaning and perspective to the old experience. Learningmay be understood as the process of using a prior interpretationto construe a new or revised interpretation of the meaning ofone’s experience in order to guide future action. (...) Actionhere includes making a decision, (...) or producing a change inbehavior.” (Mezirow 1991a: 11f.)

Wie das Zitat zeigt, wird Lernen, das zu Perspektivtransformationen führt,immer im Zusammenhang mit Handlungen gedacht (vgl. Mezirow 1991a: 56).Ergebnis eines transformativen Lernprozesses ist die autonom und kritischdenkende Person, wobei hierbei der individuelle Wandel und nicht die Ideolo-giekritik im Vordergrund steht (vgl. Mezirow 2009a: 98). Das transformativeLernen nach Mezirow umfasst zum einen den Prozess der Entwicklung vonErwachsenen und zum anderen das Ergebnis der Entwicklung (vgl. Taylor1998: 11). Im Laufe der Zeit wurde die Theorie weiterentwickelt und weiterausdifferenziert. In meiner Darstellung nehme ich auf den aktuellen Standder Theorieentwicklung Bezug, welche in vielen empirischen Studien kon-tinuierlich bearbeitet wird. So ist heute bekannt, dass das transformativeLernen komplexer ist, als es ursprünglich dargestellt wurde. Im Folgendenwerde ich die Theorie in ihren für die vorliegende Studie relevanten Aspektenvorstellen.

1.1 BedeutungsstrukturenEine zentrale Terminologie in der Theorie des transformativen Lernens stellendie Bedeutungsstrukturen (frames of reference) dar. Bedeutungsstrukturenwerden meist im Laufe der Kindheit unkritisch übernommen (vgl. Mezi-row 1994: 223). Laut Mezirow (1991a) kann man sich die grundlegenden

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1.1 Bedeutungsstrukturen 23

Einstellungen wie Fenster vorstellen, durch die die Individuen ihre Weltwahrnehmen. Sie umfassen kognitive, konative – auf den Willen bezogene –und affektive Aspekte (vgl. Mezirow 2009a: 92). Zur genaueren Analyse derframes of reference werden diese in zwei verschiedene Facetten unterteilt,die abstrakten habits of mind und die konkreten points of view5. Bei denhabits of mind handelt es sich um abstrakte Überzeugungen und Erwartun-gen, bzw. psychokulturelle Vorannahmen, die Individuen von der Kultur,in der sie aufwachsen, sowie ihren Bezugspersonen zumeist unhinterfragtübernehmen (vgl. Mezirow 1994: 223). Sie legen fest, wie Individuen sowohlsich ereignende Situationen als auch vergangene Erfahrungen deuten undinterpretieren (vgl. Mezirow 1991a: 131). Habits of mind umfassen beispiels-weise Soziolinguistisches (z.B. soziale Normen, politische Orientierungen),Moralisch-ethisches (moralische Normen und Werte), Lernarten (bevorzugteLernwege), Religion, Psychologisches (z.B. Selbstkonzept), Gesundheit (z.B.die Art, wie man Gesundheitsprobleme interpretiert), oder Ästhetik (z.B.Geschmack, Urteile über Schönheit)(vgl. Mezirow 2000: 17 und 2009a: 93).Mit Blick auf Lisas Rollenverständnis, nach dem Frauen selbstverantwortlichund finanziell unabhängig sein sollten, besteht ein zugehöriger habit of minddarin, dass Frauen eine Berufsausbildung abschließen sollten.

Bei den points of view handelt es sich um konkrete Manifestationender habits of mind (vgl. Mezirow 1994: 223). Sie werden in Interpretationenartikuliert und konkretisieren als solche Wissen, Überzeugungen, Werte undGefühle (vgl. Mezirow 1991a: 44). Lisas habit of mind, dass Frauen eineBerufsausbildung abschließen sollten, konkretisiert sich in dem point of view,dass sie in ihrem Unternehmen vorzugsweise junge Frauen und junge Mütterals Auszubildende einstellt. An männliche Bewerber vergibt sie hingegenkeine Ausbildungsplätze.

Die individuellen Bedeutungsstrukturen (frames of reference) mit denihnen inhärenten habits of mind und points of view bilden den Erwartungsho-rizont, der sich determinierend auf den Lernprozess der Individuen auswirkt.Sie legen fest, worauf sich Aufmerksamkeit und Wahrnehmung fokussieren(vgl. Mezirow 1991a: 44) und geben den Rahmen vor, in dem ErfahrungenBedeutung zugeschrieben wird (vgl. Mezirow 1991a: 32 und 1994: 223). Dar-über hinaus wirken sie handlungsleitend (vgl. Mezirow 1995: 43). Aufgrunddieser Eigenschaften der frames of reference ist es für Menschen typisch,

5In früheren Publikationen bezeichnete Mezirow habits of mind als meaning perspec-tives und points of view als meaning schemes. In den aktuellen Veröffentlichungenweicht er von seiner ursprünglichen Terminologie ab. Etwas irreführend verwendet erhier die Bezeichnung meaning perspectives, um auf den zusammenfassenden Begriffder frames of reference zu referieren (vgl. Mezirow 2012: 82).

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24 1 Transformatives Lernen nach Mezirow

dass sie sich einerseits dagegen sträuben, etwas zu lernen, das nicht zu ihrenbestehenden Bedeutungsstrukturen passt und dass sie andererseits danachstreben, die Bedeutung ihrer Erfahrungen zu verstehen (vgl. Mezirow 1994:223). Mezirow (1995: 40) merkt dazu folgendes an:

„Creating meaning refers to the process of construal by whichwe attribute coherence and significance to our experience inlight of what we know.”

Das im Zitat beschriebene Streben nach Kohärenz führt dazu, dass Menschendazu tendieren, auch die Erfahrungen zu verstehen, die nicht mit ihrenbereits vorhandenen Bedeutungsstrukturen interpretierbar sind. ErlebenMenschen eine solche Situation, kann dies zu einer Transformation ihrerBedeutungsstrukturen führen.

1.2 Die Transformation vonBedeutungsstrukturen

Die Perspektivtransformation bildet das Kernelement der Theorie des trans-formativen Lernens. Mezirow (1991a: 161) fasst den Prozess folgendermaßenzusammen:

„Perspective transformation is the process of becoming cri-tically aware of how and why our assumptions have come toconstrain the way we perceive, understand, and feel about ourworld; changing these structures of habitual expectation to ma-ke possible a more inclusive, discriminating, and integrativeperspective; and, finally, making choices or otherwise actingupon these new understandings.”

Voraussetzung dafür, dass Menschen sich in einen Prozess der Perspektiv-transformation begeben, ist, dass sie in Situationen geraten, in denen ihrebestehenden Vorannahmen (frames of reference) nicht mehr ausreichen, umihre Erfahrungen zu verstehen. Ist dies gegeben, kann es passieren, dasssich Individuen lernend mit ihrer Umwelt auseinandersetzen und beginnen,ihre Vorannahmen zu transformieren. Kommt es in diesem Prozess zu einerÄnderung oder auch Transformation der Vorannahmen, führt dies dazu,dass die Individuen inklusivere und integrativere Perspektiven entwickeln,die ihnen dabei helfen, ihre Meinungen und Überzeugungen zu hinterfragenund besser zu begründen. Im Zuge einer solchen Transformation ändern dieIndividuen auch ihr Verhalten und ihre Einstellungen.

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1.2 Die Transformation von Bedeutungsstrukturen 25

Einen wichtigen Bestandteil des Lernprozesses stellt nach Mezirow dieReflexion dar (vgl. 1998: 8). Mezirow merkt an, dass die wichtige Rolle, dieReflexion für das Lernen einnimmt, häufig missachtet wird:

„Reflection is the central dynamic in intentional learning,problem solving, and validity testing through rational discourse.(...) There has been an egregious disregard for the function ofreflection, which makes enlightened action and reinterpretationpossible, and especially for the crucial role that reflection playsin validating what has been learned.” (Mezirow 1991a: 100)

Gemäß der wichtigen Rolle, die der Reflexion im Lernen zukommt, sollte imSinne der Theorie des transformativen Lernens besonders darauf geachtetwerden, wann es im Lernprozess zu Reflexionen kommt und wie diese initi-iert werden. Laut Mezirow ereignen sich Reflexionen zumeist dann, wennIndividuen realisieren, dass ihre bestehenden Bedeutungsstrukturen (framesof reference) dysfunktional werden (vgl. Mezirow 1994: 223). Dazu kommtes, wenn Erfahrungen gemacht werden, die die Orientierungswirksamkeitder vorhandenen Bedeutungsstrukturen infrage stellen. Mezirow (1991a:168) spricht diesbezüglich von der Erfahrung desorientierender Dilemmata.Die Erfahrung eines desorientierenden Dilemmas durchlebt auch Lisa ausmeinem Fallbeispiel: Als Unternehmerin macht sie die Erfahrung, dass sievon ihren Angestellten nicht als Chefin akzeptiert wird. Ursächlich dafürist, dass ihrem Verhalten eine Bedeutungsstruktur zugrunde liegt, die sieseit ihrer Zeit als angestellt Beschäftigte nicht verändert hat: Sie möchteeine gute Teamkollegin sein. Die neue Situation, in der sie Chefin ist, passtnicht zu dieser Bedeutungsstruktur. Ein Schlüsselerlebnis wird für sie zueinem desorientierenden Dilemma. Aufgrund dessen, dass ein Angestellterausdrücklich ihre Anweisung ignoriert, die von ihr zur Verfügung gestellteArbeitskleidung zu tragen, realisiert sie, dass sie ihr Selbstverständnis alsChefin noch erlernen muss.

Mezirow beschreibt drei verschiedene Arten der Reflexion, welche einenunterschiedlichen Abstraktionsgrad aufweisen: Die konkreteste Reflexion istdie über den Inhalt eines Problems – in Lisas Beispiel ist dies ihr Nachden-ken über die Frage, warum ihre Mitarbeitenden sie nicht als ihre Chefinakzeptieren. Eine etwas abstraktere Reflexion ist die über den Prozess desProblemlösens – bei Lisa entspricht dies der Frage, ob sie über ausreichendInformationen verfügt, um verstehen zu können, warum ihre Mitarbeitendensie nicht als Chefin akzeptieren. Die abstrakteste Reflexionsart ist die kriti-sche Reflexion über die Prämissen von Problemlösungsprozessen – im Fallvon Lisa würde dies bedeuten, dass sie sich mit der Frage auseinandersetzt,

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26 1 Transformatives Lernen nach Mezirow

warum sie sich überhaupt damit befasst, dass ihre Mitarbeitenden sie nichtals Chefin akzeptieren (vgl. Mezirow 1991a: 140ff.). Die kritische Reflexionzeichnet sich dadurch aus, dass sich die Individuen mit ihren frames ofreference auseinandersetzen und diese auf ihre Funktionalität hin überprüfen.Dabei werden sowohl die Ursprünge und die Beschaffenheit der frames ofreference hinterfragt, als auch deren Konsequenzen für das Handeln überprüft(vgl. Mezirow 1994: 223). Die kritische Reflexion kann sich entweder aufeigene oder aber auf die Überzeugungen anderer beziehen (vgl. Mezirow2000: 23). In Lisas Fall kann die kritische Reflexion zu dem Resultat führen,dass sie feststellt, dass ihr bestehendes berufliches Selbstverständnis nichtzu ihrer neuen Unternehmerinnenrolle passt.

Während die ersten beiden Reflexionsarten – Reflexion über den Inhalteines Problems bzw. den Prozess des Problemlösens – häufiger vorkommen,da es sich um Alltagsphänomene handelt, ereignet sich die kritische Reflexioneher selten. Mit Blick auf das Lernen kommt der kritischen Reflexion imVergleich zu den anderen beiden Reflexionsarten die größte Bedeutung zu.Hier kommt es nicht nur zu einem Lernen über einzelne Inhalte oder sozialeProzesse, sondern es erfolgt eine Transformation ganzer Bedeutungsstruk-turen (vgl. Mezirow 1991a: 111). Aufgrund der Bedeutung der Reflexionfür das Lernen, befasst sich die Theorie des transformativen Lernens aus-drücklich mit Prozessen der kritischen Reflexion. Kernstück der Theorieist ein Lernmodell, das gemäß Mezirow aus zehn Schritten besteht, dieeinen idealtypischen Lernprozess beschreiben. Mezirow hat zwar für seinModell eine lineare Darstellung gewählt, dies bedeutet jedoch nicht, dassder Transformationsprozess, den sein Modell beschreibt, auch zwangsläu-fig linear verlaufen muss. Da sich die einzelnen Lernschritte des Modellsauch wiederholt ereignen können, stellt man sich den Ablauf von Lern- bzw.Transformationsprozessen eher zirkulär vor (vgl. Taylor 2000: 290). Mezirowschreibt diesbezüglich:

„The sequence of transformative learning activities is not madeup of invariable developmental steps; rather, the activities shouldbe understood as sequential moments of ,meaning becomingclarified’ ” (Mezirow 1991a: 193).

Das variabel angelegte Lernmodell Mezirows (2000: 22), welches er im Rah-men seiner Erststudie entwickelt hat, setzt sich aus den folgenden zehnSchritten zusammen:

1. Disorienting dilemma;

2. Self-examination with feelings of fear, anger, guilt, or shame;

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1.3 Instrumentelles und kommunikatives Lernen 27

3. A critical assessment of assumptions;

4. Recognition that one’s discontent and the process of transformation areshared;

5. Exploration of options for new roles, relationships, and actions;

6. Planning a course of action;

7. Acquiring knowledge and skills for implementing one’s plans;

8. Provisional trying of new roles;

9. Building competence and self-confidence in new roles and relationships;

10. A reintegration into one’s life on the basis of conditions dictated by one’snew perspective6.

Bei genauerer Betrachtung der zehn Lernschritte fällt auf, dass diese einLernmodell beschreiben, das auf individualistische Lernprozesse ausgerichtetist. Dies gilt auch für Schritt vier, bei dem das Individuum im Rahmenseiner lernenden Auseinandersetzung mit seiner Umwelt auf andere PersonenBezug nimmt. Aufgrund von Mezirows Interesse am individualistischenLernen stehen bei seinem Modell Individualität, Rationalität und Kognitionim Fokus.

Als einen weiteren Aspekt in seiner Theorie benennt Mezirow vierverschiedene Wege des Lernens: Die Transformation von points of view, dieTransformation von habits of mind, die Ausarbeitung und Erweiterung vonframes of reference sowie das Erlernen neuer frames of reference. Währendim Rahmen der ersten beiden Lernwege transformativ gelernt wird, indembestehende Bedeutungsstrukturen reorganisiert werden, besitzen die letzterenbeiden Lernwege keine transformative Qualität, da hier lediglich etwashinzugelernt wird und es nicht zu einer Reorganisation bestehenden Wissenskommt (vgl. Mezirow 1995: 49).

1.3 Instrumentelles und kommunikativesLernen

In der weiteren Darstellung seiner Lerntheorie unterscheidet Mezirow zwi-schen einem kommunikativen und einem instrumentellen Lernen. Es handelt

6Für (jeweils etwas unterschiedliche) deutsche Übersetzungen siehe Arnold (1997); Fuhr(2011) und Zeuner (2012).

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sich dabei um zwei unterschiedliche Lernwege, die sich aufgrund ihrer Ziele,Logiken und Prozesse fundamental voneinander unterscheiden (vgl. Mezirow1995: 49). Beim instrumentellen Lernen geht es um praktische Fähigkeiten,die im Rahmen eines aufgabenorientierten Problemlösens zum Tragen kom-men (vgl. Mezirow 2000: 8f.). In Lisas Fall betrifft dies z.B. die Aufgabe derGestaltung der Inneneinrichtung ihres Ladenlokals. Mit diesen Tätigkeitenhatte Lisa zuvor keine Erfahrungen gesammelt, weshalb sie sich die nötigenFähigkeiten durch Ausprobieren selbst beibringt. Laut Mezirow (1991a: 74,80) vollzieht sich das instrumentelle Lernen eingebunden in ein kommunika-tives Lernen. Das kommunikative Lernen erfolgt in der Auseinandersetzungmit anderen – direkt oder indirekt z.B. durch ein Buch oder eine Zeitschrift(vgl. Mezirow 2009a: 91). Hierbei wird nicht wie beim instrumentellen Lernendurch empirisches Testen eine Wahrheit gefunden, sondern Annahmen wer-den im Rahmen des Einbezugs anderer eher vorläufig validiert (vgl. Mezirow1991a: 80). Für das kommunikative Lernen ist es bedeutsam, welche Rolleman seiner_seinem Gesprächspartner_in zuspricht und ob man ihn_sieals qualifizierte_n Gesprächspartner_in wahrnimmt (vgl. Mezirow 2000:9, 2009a: 91). In Lisas Fall würde es z.B. zu einem kommunikativen Ler-nen kommen, wenn sie einen Bekannten, den sie schätzt und der ebenfallsselbstständig ist, fragt, ob sie eine_n Steuerberater_in für ihre geschäftli-chen Anliegen benötigt oder nicht, und daraufhin mit diesem Bekannten ineinen Diskurs eintritt, in dem sie gemeinsam die Vor- und Nachteile vonSteuerberater_innen erörtern. Laut Mezirow finden instrumentelles undkommunikatives Lernen meist in Kombination miteinander statt (vgl. 2000:9, 2009a: 91). Im Folgenden stelle ich dar, was Mezirow unter dem Begriffdes rationalen Diskurses versteht, der für ihn inhärenter Bestandteil deskommunikativen Lernens im Besonderen bzw. des transformativen Lernensim Allgemeinen ist.

1.4 Rationaler DiskursDen rationalen Diskurs (in früheren Publikationen auch reflexiver Diskursgenannt) bezeichnet Mezirow als wichtiges Element des kommunikativen Ler-nens sowie generell des gesamten Erwachsenenlernens. Als Diskurs bezeichneter eine spezielle Art des Dialogs, der für die menschliche Kommunikation unddas Lernen zentral ist (vgl. Mezirow 1994: 225). Hierbei geht es darum, pro-blematische Überzeugungen und gegensätzliche Sichtweisen kommunikativzu validieren (vgl. Mezirow 1994: 225).

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1.4 Rationaler Diskurs 29

„Discourse involves an effort to set aside bias, prejudice, andpersonal concerns and to do our best to be open and objectivein presenting and assessing reasons and reviewing the evidenceand arguments for and against the problematic assertion toarrive at a consensus. When we critically reflect on assumptionsin communicative learning and arrive at a newly transformedway of knowing, believing, or feeling, we need to validate theassertions we make based upon these transformative insightsthrough this process of discourse.” (Mezirow 1995: 53)

Gegenstand des rationalen Diskurses sind sowohl Erfahrungen als auch kriti-sche Reflexion (vgl. Taylor 1998: 10). Das Ziel des Diskurses ist ein Konsens,„in the form of a best collective judgement” (Mezirow 1994: 225). Um zu einemidealen Konsens zu gelangen, bedarf es laut Mezirow idealer Konditionen füreinen rationalen Diskurs. Die Vorstellung idealer Bedingungen für Diskurseentwickelt Mezirow aus Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns(vgl. Habermas 1981) und überträgt sie auf das Lernen von Erwachsenen.Mezirows ideale Voraussetzungen für das Erwachsenenlernen sind folgende:

1. More accurate and complete information;

2. Freedom from coercion and distorting self-deception;

3. Openess to alternative points of view: empathy and concern about howothers think and feel;

4. The ability to weigh evidence and assess arguments objectively;

5. Greater awareness of the context of ideas and, more critically, reflectivenessof assumptions, including their own;

6. An equal opportunity to participate in the various roles of discourse;

7. Willingness to seek understanding and agreement and to accept a resultingbest judgment as a test of validity until new perspectives, evidence, orarguments are encountered and validated through discourse as yielding abetter judgement (Mezirow 2000b: 14; vgl. auch Mezirow 1991a: 77f.)7.

Auf diese Weise macht Mezirow deutlich, dass er von idealen Vorausset-zungen für das Lernen Erwachsener ausgeht, nach denen die Akteure (z.B.Weiterbildungseinrichtungen, Lehrende und Lernende) streben sollten (vgl.

7Für eine deutsche Übersetzung siehe Zeuner (2012).

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Mezirow 1991a: 7). Mezirow ist sich bewusst, dass es sich bei den genanntenBedingungen um Idealvorstellungen handelt, die in der Realität kaum jemalsvollständig einlösbar sind. Aus diesem Grund kommt den Idealen eher eineOrientierungsfunktion zu. Sie bilden für Mezirow (1995: 53f.) einen heuristi-schen Wegweiser, an dem sich die am Erwachsenenlernen beteiligten Akteureund Akteurinnen orientieren können. Da die idealen Konditionen für ratio-nale Diskurse in der Realität so gut wie gar nicht eingelöst werden können,ist auch der Konsens, der unter Alltagsbedingungen erreicht werden kann,immer nur von vorläufiger Dauer und zwar solange, bis die_der Lernende –in Mezirows Terminologie – auf neue „Beweise” und Sichtweisen stößt (ebd.).

1.5 Gesellschaftliches Handeln, Kontext undRationalität

Die Theorie des transformativen Lernens wurde hinsichtlich verschiedenerAspekte kritisiert und weiterentwickelt8. Im Folgenden gehe ich auf die Kritik-punkte ein, dass Mezirows Theorie gesellschaftliches Handeln vernachlässigt,zu einer dekontextualisierten Sichtweise des Lernens führt und den Aspektder Rationalität zu stark betont. Obwohl Mezirow sich in der Begründungseiner Theorie des transformativen Lernens an Paolo Freire und JürgenHabermas anlehnt, steht für ihn der individualistische Wandel und nichtdie soziale Handlung im Fokus. Soziale Handlung kann zweierlei Formenannehmen: Eine Form steht für jedes Handeln mit Anderen und eine zweitefür prosoziales Handeln. Bei den von mir interviewten Frauen kommt eszu prosozialen Handlungen, wenn z.B. Lisa bevorzugt Frauen und Müttermit türkischer Migrationsgeschichte als Auszubildende einstellt, um dieseMenschengruppe zu fördern. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit bezieheich mich auf das Verständnis des sozialen Handelns als prosoziales Handeln.Es kann zur Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse beitragen.

Mit Blick auf das gesellschaftliche Handeln wird häufig kritisiert, dassdie Theorie des transformativen Lernens die Beziehung zwischen transfor-mativem Lernen, sozialer Handlung und Macht vernachlässigt. Die Kritikennehmen überwiegend darauf Bezug, dass Mezirow für die Entwicklung seinerTheorie Lernkategorien (das kommunikative und das instrumentelle Lernen)aus der Kommunikationstheorie von Habermas entwickelt hat, ohne dabeiden emanzipatorischen Anspruch dieser Theorie zu berücksichtigen. Haber-mas’‘ Theorie ist emanzipatorisch gerahmt: In seiner Erkenntnistheorie zum

8Für einen Überblick siehe Taylor (1998, 2000, 2007) und Taylor/ Snyder (2012).

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1.5 Gesellschaftliches Handeln, Kontext und Rationalität 31

emanzipatorischen Wissen untersucht er die kommunikationstheoretischenBedingungen, um Menschen zu befähigen, sozialen Wandel herbeizuführen.So möchte er vor allem die Bedingungen klären, unter denen es Menschenmöglich wird, emanzipatorisch zu handeln und so sozialen Wandel herbeizu-führen. Hierbei ist eine Machtkritik inhärent (vgl. Taylor 1998: 23).

Den Aspekt der Machtkritik, der mit Habermas’ Theorie verbundenist, lässt Mezirow weitgehend unberücksichtigt. In Anlehnung an Haber-mas entwickelt er seine Lernkategorien kommunikatives und instrumentellesLernen. Sie helfen ihm dabei, den individualistischen Perspektivwechsel zubeschreiben, auf den seine Theorie ausgerichtet ist. Laut Collard und Law(1989: 105f.) führt der verkürzte Anschluss an Habermas’ Theorie dazu,dass nicht berücksichtigt wird, welche determinierenden Einflüsse sowohlsozialer Wandel als auch Kontextbedingungen auf den individualistischenPerspektivwechsel haben. Dies führt laut den Autoren dazu, dass die Theoriedes transformativen Lernens dem Anspruch von Habermas auf Emanzipationnicht gerecht werden kann und ein gewisser Widerspruch zwischen beidenTheorien entsteht.

Ein weiterer Kritikpunkt, der auf eine defizitäre Anlehnung an Haber-mas’ Theorie zurückgeführt wird, besteht darin, dass Mezirow nicht aufMachtbeziehungen eingeht, die in der Kommunikation zwischen Lehrendenund Lernenden bestehen. Er stellt Kommunikationsbeziehungen außerhalbvon machtbeeinflussenden Kontexten dar, was der Praxis des transformativenLernens widerspricht (vgl. Hart 1990: 136).

Ein weiterer relevanter Kritikpunkt knüpft an Mezirows dekontextua-lisierter Sichtweise des Lernens sowie seiner damit zusammenhängendenAnnahme eines universell gültigen Lernmodells für Erwachsene an (vgl.Clark/ Wilson 1991). Kritisiert wird, dass Mezirow in seinen Beschreibungeneines dekontextualisierten, rationalen Diskurses verkennt, dass dessen sub-jektive Beschaffenheit erst durch soziale, kulturelle und historische Einflüsseentsteht (vgl. Taylor 1998: 26). Laut Clark und Wilson (1991) haben persönli-che und soziokulturelle Kontexte einen großen Einfluss auf rationale Diskurseund das Lernen von Erwachsenen, weshalb die Theorie des transformativenLernens diese Kontexte nicht vernachlässigen sollte. Warum aus ihrer Sichtsolche Kontexte nicht vernachlässigt werden sollten, zeigen die Autoren amBeispiel von Mezirows Erststudie zu Frauen, die an die Universität zurück-kehren. Sie weisen darauf hin, dass die Studie im spezifischen historischenKontext der Frauenbewegung durchgeführt wurde und argumentieren, dassinsbesondere vor diesem historischen Hintergrund damit zu rechnen gewesenwäre, dass Themen wie Gender oder sozialer Status besonderen Einflussauf die transformativen Lernprozesse der Frauen haben (vgl. Clark/ Wilson

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1991: 77). Darüber hinausgehend unterstreichen Clark und Wilson ihr Argu-ment für die Berücksichtigung von Kontexten, indem sie herausstellen, dassrationalen Diskursen erst eine spezifische Bedeutung zugeschrieben werdenkann, wenn sie vor dem Hintergrund der Kontexte betrachtet werden, indenen sie ablaufen: Mezirows „decontextualizing separates rational discoursefrom the framework which gives its meaning” (Clark/ Wilson 1991: 84).Damit machen Clark und Wilson (1991) deutlich, das ihrer Meinung nachdas Individuum immer im Einfluss der jeweiligen sozialen und historischenKontexte steht. Ihre Kritik erhärten sie zusätzlich, indem sie diese mit derbereits zuvor erwähnten Kritik an der Vernachlässigung des Machtaspekteszusammenführen:

„The relationship between the individual and the social con-text is therefore problematic because how individuals thinkabout and understand themselves is shaped by language andculture, both of which are socially constructed and serve theinterests of those in power. Much of this structuring of the selfoccurs apart from conscious awareness; it is only when it isbrought to consciousness and critique that it can be changed.”(ebd.: 79)

Clark und Wilson machen damit deutlich, dass auch selbstbestimmte Ent-scheidungen, die im Rahmen von Lernprozessen getroffen werden, unter demEinfluss bestehender gesellschaftlicher Machtstrukturen entstehen. So kanndavon ausgegangen werden, dass es gerade die hegemonialen Strukturensind, die Lernende dazu bringen, sich selbstgesteuert/ selbstbestimmt fürihre Weiterentwicklung zu entscheiden oder eben auch nicht. Im Fall vonLisa würde ein solcher Zusammenhang bestehen, wenn sie Ihre Entscheidungfür eine berufliche Weiterqualifizierung damit begründet, dass sie auf demArbeitsmarkt diskriminiert wird.

Aufgrund des beschriebenen Zusammenhangs zwischen Machtstrukturenund Selbstbestimmung ist es erforderlich, dass insbesondere benachteilig-te Gruppen im Rahmen ihrer Lernprozesse bestehende Machtstruktureninfrage stellen, um diese nicht zu reproduzieren. Zusammenfassend zumKritikpunkt der Dekontextualisierung kann festgehalten werden, dass Mezi-rows ursprüngliches Lernmodell sehr stark auf Individuen ausgerichtet warund gesellschaftliche Kontexte weitgehend unberücksichtigt blieben. Diesbedeutet jedoch nicht, dass die Theorie die Einflüsse von Kontexten auf dasLernen negiert. Vielmehr wurden sie von Mezirow bei der Entwicklung derursprünglichen Theorieanlagen einfach außer Acht gelassen. Dass die Theoriedes transformativen Lernens dafür offen ist, auch Kontexteinflüsse im Rah-

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1.5 Gesellschaftliches Handeln, Kontext und Rationalität 33

men ihrer Theoriearchitektur zu berücksichtigen, zeigt sich insbesondere anden zahlreichen empirischen Studien zum Einfluss von Kontextbedingungenauf das transformative Lernen9.

Ein weiterer relevanter Kritikpunkt an der Theorie des transformativenLernens bezieht sich auf Mezirows Hervorhebung der Rationalität. Sie hängteng mit der Betonung der kritischen Reflexion zusammen, die laut Mezirowfür eine Perspektivtransformation unerlässlich ist (vgl. Mezirow 2000: 22).Laut Taylor (1998: 33) weist die Hervorhebung der Rationalität darauf hin,dass der Theorie des transformativen Lernens eine westliche Epistemologiezugrunde liegt (vgl. ebd.: 33). Taylor argumentiert, dass dies zu einer Engfüh-rung der Theorie führt und verweist darauf, dass empirische Untersuchungennachweisen konnten, dass Perspektivtransformationen nicht nur durch Ra-tionalität, sondern auch durch Aspekte wie Emotionen, unbewusstes Lernenund Beziehungen geprägt werden können (vgl. ebd.: 34). Auf Emotionenund unbewusstes Lernen geht Mezirow in seiner Theorie nicht genauer ein.Beziehungen thematisiert er im Zusammenhang mit seinen Überlegungenzum rationalen Diskurs. Zudem fließt der Aspekt der Beziehungen in seinezehn Schritte eines idealen Lernprozesses ein. So weist z.B. die Erwähnungdes Gefühls Scham darauf hin, dass das von ihm beschriebene Lernen insozialen Beziehungen stattfindet. Allerdings rückt Mezirow hier das Indi-viduum und den individualistischen Wandel in den Fokus des Interessesund setzt sich mit dem Aspekt, dass Lernen gemäß seinem Modell auchein sozialer Prozess ist, nicht weiter auseinander. Demgegenüber konntenStudien, die an der Weiterentwicklung der Theorie interessiert sind, nachwei-sen, dass Beziehungen sowie subjektive Empfindungen, die mit Beziehungenzusammenhängen – wie z.B. Vertrauen, Unterstützung und Freundschaft –transformative Lernprozesse entscheidend prägen.

Zusammenfassend zu den kritisierten Aspekten hält Taylor (1998: 38)fest:

„[T]ransformative learning is not just rationally and cons-ciously driven, but incorporates a variety of extrarational andunconscious modalities for revising meaning structures. Theynot only confirm the importance of rationality to transformativelearning, but recognize as well other ways of knowing that areof equal importance to the learning process.”

Damit weist Taylor auf die Inklusivität der Theorie hin. Die Hervorhebungeinzelner Aspekte bedeutet für ihn nicht, dass Aspekte, die nicht angespro-chen werden, automatisch von der Theorie ausgeschlossen werden. Auch

9Für einen Überblick siehe Taylor (1998: 27).

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Mezirow selbst unterstreicht diesen Aspekt, indem er in einer späterenVeröffentlichung seine kognitionsorientierte, auf Rationalität und Reflexionausgerichtete Theorie um unbewusst ablaufende Lernprozesse, die durchIntuition geprägt sind, ergänzt (vgl. Mezirow 2009a: 95).

1.6 Zusammenfassung und AusblickDer Nachvollzug der Theorie des transformativen Lernens nach Mezirowzeigt, dass es sich bei der von mir gewählten Lerntheorie um einen klein-schrittigen und vielseitigen Ansatz handelt, das Lernen Erwachsener zubeschreiben. Kernstück der Theorie sind die Bedeutungsstrukturen (framesof reference), die im Rahmen von Lernprozessen transformiert werden. Zurgenaueren Beschreibung dessen, was mit Transformation gemeint ist, werdendie frames of reference anhand der Begriffe habits of mind und points ofview konkretisiert. Ein zentrales Element von Transformationsprozessenist Reflexion. Zu einem besonders tiefgründigen Lernen, bei dem Bedeu-tungsstrukturen transformiert werden, führt die sog. kritische Reflexion. AufTransformationsprozesse, die ohne Reflexion ablaufen, geht Mezirow nichtgenauer ein. Er schlägt jedoch vor, bei unbewusst ablaufenden LernprozessenReflexion durch Intuition zu ersetzen. Von diesem Theoriezusammenhangmache ich im Rahmen der Diskussion der Ergebnisse meiner empirischenStudie zu Lernprozessen von Unternehmerinnen mit MigrationsgeschichteGebrauch. Dabei eruiere ich, inwiefern es bei den interviewten Frauen zuReflexionsprozessen kam und an welchen Stellen im Lernprozess sie eherintuitiv gehandelt haben. Anhand des Aufdeckens und Nachvollziehens vonElementen kritischer Reflexion und Intuition zeichne ich nach, inwiefern undin welchen Prozessen die Frauen beim Erlernen der Unternehmerinnenrolleihre Bedeutungsstrukturen transformiert haben.

Ein weiterer Theoriezusammenhang, auf den ich im Rahmen der Dis-kussion der Studienergebnisse Bezug nehme, sind Mezirows zehn Schritteeines idealen Lernprozesses. Die zehn Schritte dienen mir als Heuristik, umdas Lernen der Interviewten als einen Prozess zu beschreiben. Dabei arbeiteich heraus, inwiefern sich welche Schritte in den Daten zeigen und an wel-chen Stellen das von mir identifizierte Lernmodell zu Unternehmerinnen mitMigrationsgeschichte über die von Mezirow herausgearbeiteten Schritte hin-ausgeht. Dabei wird neben der Reflexion und Intuition das Augenmerk auchauf die Rolle von Beziehungen und Emotionen gelegt. Sowohl der Beginndes transformativen Lernprozesses, den Mezirow im ersten Schritt seinesModells, dem desorientierenden Dilemma, verortet, als auch das Ergebnis

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1.6 Zusammenfassung und Ausblick 35

des transformativen Lernprozesses, die Reintegration der neuen Weltsicht indie eigene Perspektive, werden eingehend analysiert.

Auch wenn Mezirow im Rahmen seiner Theorie der sozialen Handlungkeine Beachtung schenkt, so arbeite ich in der Diskussion der Ergebnissedennoch heraus, welche Rolle ihr in den Lernprozessen der Unternehmerin-nen zukommt. Dabei gehe ich nicht davon aus, dass die befragten Frauenim Sinne Freires eine soziale Transformation erfahren und eine Reformoder Revolution initiieren, wie es Freire in seiner Schrift „Pädagogik derUnterdrückten” fordert (vgl. Freire 1984). Vielmehr gehe ich auf die ausder individualistischen Perspektivtransformation resultierenden Handlungenein, die das Potential haben, die soziale Realität im jeweiligen Umfeld derInterviewten zu ändern. Dabei werde ich der Frage nachgehen, inwiefern dietransformierte Perspektive der Interviewten Auswirkungen auf ihr Umfeldhat und welche prosozialen Handlungen durch den Transformationsprozessangestoßen werden. Zudem lege ich besonderen Wert darauf, die vielfältigenKontexte, in die die befragten Frauen eingebettet sind, zu ergründen. DieserAbsicht widmet sich auch der folgende Theorieteil (Kapitel 2 – 4), in demich die soziokulturellen, politischen und historischen Kontexte erschließe,die für das Lernen der von mir interviewten Frauen relevant sein können.Hierbei geht es mir darum nachzuzeichnen, welche Erfahrungszusammenhän-ge meiner Untersuchungsgruppe im wissenschaftlichen Diskurs thematisiertund beschrieben werden. Im Rahmen der Aufarbeitung der einschlägigenLiteratur gehe ich der Frage nach, was die Forschung dazu beiträgt, umdas Lernen meiner Untersuchungsgruppe – Unternehmerinnen mit Migra-tionsgeschichte – zu verstehen. Dabei lege ich den Fokus darauf, Wissendarüber zusammenzutragen, in welchen gesellschaftlichen Zusammenhängendas Lernen der Frauen stattfindet und von welchen Diskursen ihr Lernenunter Umständen beeinflusst wird.

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2 ErziehungswissenschaftlicheMigrationsforschung

In der Erziehungswissenschaft erfolgt eine Auseinandersetzung mit demThema Migration zumeist im Rahmen der Sub-Disziplin Interkulturelle Päd-agogik. Die Bezugnahme auf den Begriff der Interkulturalität suggeriertauf den ersten Blick eine thematische Eingrenzung, die der Vielfalt derFragestellungen der Disziplin nicht gerecht wird. Tatsächlich sind in derInterkulturellen Pädagogik weitere kulturelle Konzepte wie z.B. Transkultu-ralität, Multikulturalität und Cultural Studies relevant, um nur einige zunennen, die weit über Interkulturalität im engeren Sinne hinausgehen undauch andere als nur „inter”- bzw. „zwischen”-kulturelle Bezüge aufweisen (vgl.z.B. Escher 2000; Datta 2005; Gippert u.a. 2008). Aufgrund der Vielfalt derbeforschten Konzepte ist eine klare disziplinäre Trennung oft schwierig; dieÜbergänge zwischen Interkultureller Pädagogik und sozialwissenschaftlicherMigrationsforschung sind fließend. Dies zeigt sich auch anhand weiterer ge-meinsamer Forschungsfelder, die nicht auf den Kulturbegriff bezogen sind, wiez.B. strukturorientierter Forschungen zur institutionellen Diskriminierung,biografieorientierter Forschungen sowie Forschungen zur Intersektionalität(vgl. Riegel 2004; Gomolla/ Radtke 2007; Winker/ Degele ²2010).

Lange Zeit wurde von Seiten der Politik die bestehende Einwanderungs-bzw. Migrationsrealität Deutschlands nicht anerkannt; bis vor wenigen Jah-ren proklamierte die Politik, dass Deutschland kein Einwanderungslandsei. Einwanderungsland ist der Terminus, der von Seiten der Politik einge-führt wurde, um die Anerkennung der Migrationsrealität zu verdeutlichen.Allerdings verwende ich im Folgenden den Terminus Migrationsland. DerBegriff der Einwanderung ist verkürzt, da er die Vielfalt der bestehendenMigrationsrealität, welche neben Zugewanderten auch Menschen mit Mi-grationsgeschichte der zweiten Generation umfasst, verkennt. Die langeandauernde Nicht-Anerkennung der Migrationsrealität hat pädagogischeUmsetzungen der erziehungswissenschaftlichen interkulturellen Diskussionsowie die öffentliche Auseinandersetzung mit der Einwanderungsrealität inDeutschland lange ausgebremst (vgl. John/ Röhe 2001: 424; Plahuta 2007:2).

A. Laros, Transformative Lernprozesse von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte, DOI 10.1007/978-3-658-09999-2_2, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015

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38 2 Erziehungswissenschaftliche Migrationsforschung

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, einen Überblick über die erziehungs-wissenschaftliche Migrationsforschung zu geben, über Forschungsschwerpunk-te10, über Zielgruppen oder über zeitliche Entwicklungsphasen11. Ziel desvorliegenden Kapitels soll es weniger sein, einen vollständigen Überblick überdas gesamte Forschungsgebiet der erziehungswissenschaftlichen Migrations-forschung zu geben. Im Sinne meiner Fragestellung geht es mir vielmehrdarum darzustellen, welche Kategorien der erziehungswissenschaftlichen Mi-grationsforschung potentiell einen Beitrag dazu leisten können, das Lernenvon Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte zu verstehen.

2.1 HintergrundinformationenMigrationsbewegungen von und nach Deutschland haben eine lange Tradition.Sie wirken sich auf Strukturen und Prozesse der gesamten Gesellschaft undnicht nur auf einzelne gesellschaftliche Teilbereiche aus (vgl. Dirim 2009: 7).Obwohl Zu- und Auswanderung in der deutschen Geschichte verankert sind(vgl. z.B. Bade 1994), hat es lange gedauert, bis Migration zu einem selbst-verständlichen Part des öffentlichen Diskurses geworden ist. Vielfach werdendie durch die ökonomische Situation nach dem zweiten Weltkrieg ausgelöstenAnwerbewellen von Gastarbeiter_innen als Ausgangspunkt dafür angesehen,dass Deutschland heute als Einwanderungsland bezeichnet wird (vgl. Nohl2006b: 15f.). Der Begriff Gastarbeiter_in impliziert, dass die im Auslandangeworbenen Personen in Deutschland einen Gaststatus innehaben unddass ihr Status gleichzeitig an ihre Arbeit gekoppelt ist. Für den Gaststatusist folglich die Arbeitsfähigkeit relevant. Dieses Bedingungsgefüge ist dafürverantwortlich, dass für die Gastarbeiter_innen zu Beginn der Anwerbungenzuerst keine Bildungs- und auch keine psychosozialen Angebote vorgesehenwaren (vgl. Mecheril 2004: 35)12. In der Folge der Anwerbewellen wurdeninterkulturelle Fragestellungen in der pädagogischen Forschung relevant

10So unterscheiden z.B. Lutz und Wenning (2001: 15f.) zwischen a) dem Gleichheits-diskurs, b) der „Ontologisierung der Differenz als Ethnisierung”, c) dem Diskurs überGemeinsamkeiten und d) dem Diskurs des Poststrukturalismus.

11Zeitliche Entwicklungsphasen werden in den verschiedenen Lehrbüchern nicht einheit-lich beschrieben (vgl. z.B. Westphal 1997, Mecheril 2004 und Auernheimer 2007), daunterschiedliche Schwerpunktsetzungen hinsichtlich der verschiedenen Dekaden undPhasen bestehen. Die Darstellungen stimmen zwar in den Themenbereichen überein,aber datieren Entwicklungstrends (z.B. den Beginn der Interkulturellen Pädagogik)unterschiedlich.

12Zur Reflexion des Begriffs Gastarbeiter_in siehe Krüger-Potratz (2005) und Klee(41981): Sie gehen darauf ein, dass der Begriff „Fremdarbeiter” vermieden werdensollte, da er ausgehend von der Zeit des Nationalsozialismus vorbelastet ist.

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2.1 Hintergrundinformationen 39

und es begann sich zunächst die Ausländerpädagogik herauszubilden, dieAusländer_innen in den Fokus nahm und von der Grundannahme geleitetwurde, dass die Gastarbeitenden wieder in ihre Heimatländer zurückkehrenwürden. Die gesamte Gesellschaft und deren Veränderungen beachtete sienicht. Anschließend an die Ausländerpädagogik begann sich mit der Inter-kulturellen Pädagogik eine eigene erziehungswissenschaftliche Subdisziplinherauszubilden, die sich zunächst mit den besonderen Erfordernissen fürdie Beschulung von ausländischen Kindern und später dann mit weiterenThemen wie der Lehrer_innenausbildung und der Begründung einer eigenenStudienrichtung befasste13. Im Zuge der weltweiten Ölkrise in den 1970erJahren und der damit in Verbindung stehenden Rezension kam es zu einemAnwerbestopp von Gastarbeitenden. Trotz den von der Bundesregierungeingeführten Rückkehrförderungen blieben viele der Migrant_innen, die zumArbeiten angeworben worden waren, in Deutschland und verlegten im Rah-men von Familienzusammenführungen, welche durch die Bundesregierungermöglicht wurden, den Lebensmittelpunkt ihrer gesamten Familie nachDeutschland (vgl. Nohl 2006b: 16; Hejazi 2009: 250). Die Folge war eineerneute Zuwanderungswelle. Sie führte dazu, dass „die Bundesrepublik defacto zum Einwanderungsland geworden [war], ohne dass jedoch die Mehr-heitsgesellschaft und ihre politischen Repräsentanten bereit gewesen wären,dies anzuerkennen” (Kronauer 2010: 11f.).

Seit Beginn des 21. Jahrhunderts wird Deutschland von Seiten der Politikals Einwanderungsland anerkannt; seitdem wurden auf struktureller EbeneÄnderungen vorgenommen, die belegen, dass sich das Selbstverständnis imöffentlichen Diskurs geändert hat und es zu einer vielfältigen Auseinander-setzung mit einer nun öffentlich anerkannten Einwanderungsrealität kommt:Im Jahr 2004 wurde mit dem sog. „Gesetz zur Steuerung und Begrenzungder Zuwanderer und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration vonUnionsangehörigen und Ausländern” ein neues Zuwanderungsgesetz ver-abschiedet. Das Gesetz führte zu einer weitreichenden Umstrukturierungdes Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, welchesseit dem Jahr 2005 den Namen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge(BaMF) trägt (vgl. BaMF 2011). Zudem wurden im Jahr 2005 neue Kate-gorien für den Mikrozensus eingeführt, die auf eine differenzierte Erfassungvon eingebürgerten Personen und Ausländer_innen ausgerichtet sind (sieheBundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, §4 Abs. 2 und

13Auch wenn in der vorliegenden Darstellung von Migrationsbewegungen nach Deutsch-land Gastarbeiter_innen im Fokus stehen, so existieren daneben weitere große Ein-wanderungsgruppen in Deutschland, wie beispielsweise Aussiedler und Flüchtlinge(vgl. Mecheril 2004: 28ff.).

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40 2 Erziehungswissenschaftliche Migrationsforschung

2a, Nr. 4 des Mikrozensusgesetz (MZG) 2005). Die neuen Kategorien sollenzur Anerkennung kultureller Vielfalt beitragen und eine differenzierte Be-trachtung der Einwanderungsrealität ermöglichen. In Anbetracht des langenAnlaufwegs, den die Politik bis zur Anerkennung der Einwanderungsrealitätbenötigte, ist es auf der einen Seite bemerkenswert, wie intensiv seitdeman Fragen der Integration und Partizipation gearbeitet wird, andererseitsist es jedoch erschreckend, wie groß die aktuellen Herausforderungen sind,die die Einwanderungs- und Migrationsrealität betreffen: Sie beziehen sichz.B. auf die Benachteiligung von Menschen mit Migrationsgeschichte beider Arbeitsstellensuche sowie den geringen Erfolg dieser Personengruppeim deutschen Schulsystem. Bei der Benachteiligung im Schulsystem fälltauf, dass es sich hierbei um eine strukturelle Herausforderung handelt, diegar nicht mit Integrations- bzw Partizipationsmaßnahmen zu bearbeiten ist.So wirkt sich z.B. die Organisationsform eines dreigliedrigen Schulsystemsbenachteiligend auf Kinder mit Migrationsgeschichte aus. In dem Zusammen-hang ist vor allem die PISA-Studie zu nennen (Baumert u.a. 2006), welchedie Unzulänglichkeiten des dreigliedrigen Schulsystems beschreibt und daraufhinweist, dass sowohl sozial schwache Kinder als auch Kinder mit einer ande-ren Muttersprache als Deutsch entscheidend benachteiligt werden. Darüberhinaus weisen Studien zur institutionellen Diskriminierung auf strukturelleDiskriminierungen durch die Institution Schule hin (vgl. Gomolla/ Radtke2007). Dies hat Einfluss darauf, dass der Anteil an Jugendlichen mit Migrati-onsgeschichte, die keinen Schulabschluss besitzen, im Gesamtvergleich höherist als der Anteil an Jugendlichen ohne Migrationsgeschichte, die keinenSchulabschluss besitzen. Außerdem fällt der Anteil an Abiturient_innen mitMigrationsgeschichte niedriger aus als der Anteil an Abiturient_innen ohneMigrationsgeschichte.

Durch die Wirtschaftskrise und die Erweiterung Europas wird Deutsch-land in den nächsten Jahr(zehnt)en vor neuerlichen Einwanderungswellenstehen. Die immer noch aktuelle ambivalente Haltung zur Einwanderungs-realität im öffentlichen Diskurs zeigt sich unter anderem beispielhaft an denwidersprüchlichen Statements des letzten sowie des amtierenden Bundesprä-sidenten: Während Christian Wulff als Bundespräsident den Islam als zuDeutschland zugehörig erklärte, distanziert sich der aktuelle BundespräsidentJoachim Gauck deutlich von diesem Standpunkt (vgl. Spiegel online 2012).Mit Blick auf meine Studie zu Lernprozessen von Unternehmerinnen mitMigrationsgeschichte kann davon ausgegangen werden, dass auch die vonmir interviewten Unternehmerinnen Erfahrungen gemacht haben, in denensich die beschriebene ambivalente Haltung der Politik widerspiegelt. Zu

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2.2 Betrachtung benachteiligender Strukturen 41

denken wäre hier z.B. an Erfahrungen des Anders-Seins oder Erfahrungenhinsichtlich der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nationalität.

2.2 Betrachtung benachteiligender StrukturenEin für die vorliegende Studie relevanter Forschungsstrang setzt sich mitbenachteiligenden Strukturen innerhalb von Institutionen auseinander. Sobeschäftigen sich Gomolla und Radtke (2007) mit dem Phänomen Migra-tionsgeschichte, indem sie strukturelle Diskriminierungsmechanismen vonInstitutionen untersuchen. Sie prägen den Begriff der institutionellen Diskri-minierung:

„Die allermeisten Möglichkeiten der Diskriminierung von Mi-granten sind als formale Rechte, etablierte Strukturen, ein-geschliffene Gewohnheiten, etablierte Wertvorstellungen undbewährte Handlungsmaximen ‚in der Mitte der Gesellschaft’institutionalisiert, wobei solche Institutionen zumeist in Organi-sationen (Behörden, Betrieben, Anstalten) ihren Platz finden.”(ebd.: 18)

Während die Ausländerpädagogik sowie die Interkulturelle Pädagogik sugge-rieren, dass es nötig sei, auf Individuen bzw. Gruppen pädagogisch Einflusszu nehmen, um so das Miteinander in der Einwanderungsgesellschaft zuverbessern, ist der Ansatz zur institutionellen Diskriminierung auf eineranderen Ebene angesiedelt. Der Ansatz der institutionellen Diskriminierungargumentiert, dass gesetzliche Vorschriften und strukturelle Bedingungen denRahmen vorgeben, in dem die Mitglieder einer Gesellschaft agieren. Wennder gegebene Rahmen Benachteiligungen bedingt, dann kann innerhalb desRahmens die Ungleichheit in der Gesellschaft lediglich reproduziert werden.Aus diesem Grund, so die Argumentation, haben Anstrengungen, die beieinzelnen Gruppen oder Individuen ansetzen – wie dies in interkulturellenKonzepten häufig vorgesehen ist – nur eine begrenzte Aussicht auf Erfolg.Mit den Konzepten sei zwar ein Gegensteuern möglich, welches aber zwangs-läufig an Grenzen stößt. Da Gomolla und Radtke (2007) die institutionelleDiskriminierung besonders für das deutsche Schulsystem nachweisen, also zudem Zeitpunkt beginnend, an dem Kinder in das deutsche Bildungssystemerstmals eintreten, scheinen für eine Ermöglichung wirklicher Chancengleich-heit strukturelle Veränderungen unumgänglich zu sein. Die institutionelleDiskriminierung, die bereits in der Schule einsetzt, wird auch von der PISA-Studie (vgl. Prenzel u.a. 2013) nachgewiesen und sie wird außerdem deutlich,

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42 2 Erziehungswissenschaftliche Migrationsforschung

wenn man sich Zahlen zu Schüler_innen ohne Schulabschluss anschaut14.Zusammenfassend fällt auf, dass Ansätze, die sich mit diskriminierendenStrukturen auseinandersetzen, Hinweise auf bestehende Machtverhältnisseinnerhalb der Gesellschaft geben. So weisen die dargestellten Forschungen zurinstitutionellen Diskriminierung eine von benachteiligenden Strukturen aus-gehende Diskriminierung von Menschen mit Migrationsgeschichte nach, dieinstitutionalisiert ist. Auch im Hinblick auf meine Studie zu Lernprozessenvon Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte kann davon ausgegangenwerden, dass die von mir interviewten Frauen institutionelle Diskriminie-rungen selbst erlebt oder zumindest Kenntnis über diskriminierende Effektehaben. Es ist damit zu rechnen, dass mögliche strukturelle Diskriminierungendie Lernprozesse, die zur Gründung und Etablierung ihrer Unternehmenführen, erheblich beeinflussen. Diesbezüglich wird es spannend sein, in denDaten nachzuzeichnen, ob die Frauen institutionelle Diskriminierungen selbsterfahren haben und wie sich das Thema institutionelle Diskriminierung inder Ausgestaltung ihrer Unternehmen spiegelt.

2.3 Analysekategorie „Migrationshintergrund”Die begriffliche Verwendung „Migrationshintergrund” unterstreicht eine di-chotome Betrachtungsweise der deutschen Gesellschaft. Bei dem Ausdruckhandelt es sich um eine deutsche Erfindung, mit der Menschen unabhängigvon ihrer Nationalität, aber abhängig von ihrer Ethnie als „anders” kategori-siert werden. Der Terminus „Migrationshintergrund” suggeriert, dass es „eineZeit gegeben habe, als ‚die Deutschen’ noch unter sich waren. Hierbei wirddreierlei verkannt: dass ‚Deutschland’, wie andere nationale Konstruktionen,eine relativ junge Erfindung ist, dass diese Konstruktionen nur mit großemAufwand, insbesondere bildungspolitischer Anstrengung und pädagogischerDisziplinierung, durchgesetzt werden konnten und dass schließlich die homo-genisierende Rede von ‚Deutschen’ vielfältige Differenzlinien vernachlässigt”(Mecheril 2004: 11).

Das Besondere an der Kategorie Migrationshintergrund ist, dass es sichum eine Zuschreibung handelt, die von den betreffenden Personen nichtabgelegt werden kann, da sie sich eher auf Ethnie und Herkunft beziehtals auf änderbare Aspekte. Der Kategorie können daher sogar Menschenzugeordnet werden, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind.

14Die Zahlen unterscheiden nur zwischen Schüler_innen deutscher und nichtdeutscherStaatsangehörigkeit, sind allerdings in 12 der 16 Bundesländer entscheidend höher fürausländische Schüler_innen (vgl.: Klemm 2010).

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2.3 Analysekategorie „Migrationshintergrund” 43

Menschen mit Migrationshintergrund werden in Deutschland unter folgenderDefinition des Statistischen Bundesamtes (Destatis 2013) zusammengefasst:

„Zur Bevölkerung mit Migrationshintergrund im engeren Sin-ne gehören alle Zugewanderte und alle in Deutschland gebo-renen Ausländer/-innen. Von den Deutschen mit Migrations-hintergrund, die ihre deutsche Staatsangehörigkeit seit Geburtbesitzen, haben nur jene einen Migrationshintergrund im en-geren Sinne, die mit ihren Eltern oder einem Elternteil imselben Haushalt leben, weil nur dann die für die Zuordnungentscheidende Elterninformation vorliegt. Zur Bevölkerung mitMigrationshintergrund im weiteren Sinne gehören zusätzlichjene Deutsche mit Migrationshintergrund, die ihre deutscheStaatsangehörigkeit seit Geburt besitzen und nicht (mehr) mitden Eltern im selben Haushalt leben. Sie sind ausschließlichdurch die bislang nur 2005 und 2009 gestellten Zusatzfragenzum Migrationsstatus der nicht im Haushalt lebenden Elternals Menschen mit Migrationshintergrund identifizierbar.”

Zu der Gruppe, die als Menschen mit Migrationshintergrund bezeichnetwird, gehören somit Zugewanderte sowie Deutsche mit mindestens einemausländischen Elternteil. Bei den nicht selbst zugewanderten Menschenmit Migrationsgeschichte wird unterschieden, ob sie mit mindestens einemElternteil im selben Haushalt leben (Migrationshintergrund im engerenSinne) oder nicht (Migrationshintergrund im weiteren Sinne).

Durch die Kategorisierung des Statistischen Bundesamtes ist zu erklären,warum die Beschreibung von Personen als Menschen mit Migrationshinter-grund herangezogen wird, wenn es um die Vielfalt und deren Analyse imEinwanderungsland Deutschland geht. Anhand der Definition wird deutlich,dass die Staatsbürgerschaft bei der Klassifizierung von Personen keine exklu-sive Rolle spielt, wie dies in anderen Ländern, wie z.B. Kanada15 der Fallist. Im deutschen Kontext werden strukturell eher die Ethnie bzw. Herkunftals relevante Attribute hervorgehoben.

Bei Betrachtung der vielfältigen Gruppe der Menschen mit Migrati-onshintergrund wird deutlich, dass mit der Begrifflichkeit allenfalls eine15Das Einwanderungsland Kanada mit seiner multikulturellen Gesellschaft wird häu-

fig als best-practice-Beispiel genannt, wenn es um Einwanderungsfragen geht. Sobaldeine Person die kanadische Staatsbürgerschaft besitzt, gilt sie als Kanadier_in. Ein of-fizieller Kategorisierungsbegriff von Personen als Menschen mit Migrationsgeschichteexistiert im Englischen nicht. Während meines Forschungsaufenthaltes in Toronto rea-gierten verschiedene Expert_innen mit Unverständnis auf die im deutschen Kontextgeläufige Zuschreibung.

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44 2 Erziehungswissenschaftliche Migrationsforschung

scheinbare Differenzierung konstruiert wird, die ein autochthones „wir” undein allochthones „die anderen” suggeriert (vgl. Nduka-Agwu/ Hornscheidt2010; Arndt/ Ofuatey-Alazard 2011)16. Insgesamt beschreibt der Migrations-hintergrund eine heterogene Gruppe. Mit der Klassifizierung als Menschenmit Migrationshintergrund gehen jedoch häufig Benachteiligungen einher.Auch wenn die Kategorie Migrationshintergrund kaum trennscharfe Unter-scheidungen einführt, so impliziert sie doch Machtunterschiede, die einewertfreie Beschreibung von Vielfalt weitgehend verhindern und eher „pro-blematische Zuschreibungen” (Auernheimer 2007: 34) nach sich ziehen. DieBeschreibung „Migrationshintergrund” enthält dadurch eine negative Konno-tation und wird im öffentlichen Diskurs vorwiegend für problemorientierteBetrachtungen genutzt. Insgesamt sind die Begriffe „Migrant_in” sowie „Mi-grationshintergrund” im öffentlichen Sprachgebrauch weit verbreitet. Hierwerden sie beispielsweise verwendet, um soziale Unterschiede, Bildungserfolg,Arbeitslosenquoten und soziale Probleme zu analysieren. Die eher negativkonnotierte Verwendung weist laut Auernheimer (2007) darauf hin, dass diePolitik von einer ambivalenten Haltung zur Einwanderung geprägt ist:

„[Der Terminus Migrant_in, Anm. AL] spiegelt die Unent-schiedenheit einer Politik wider, in der man sich kaum dazudurchringen kann, die Einwanderung als Tatsache zu akzeptie-ren und einen entsprechenden rechtlichen Rahmen zu schaffen.”(ebd.: 23)

Wie ich dargelegt habe, ist der Begriff „Migrationshintergrund” vorbelastetund bringt eine gewisse Stigmatisierung mit sich. Um dem entgegenzutretenund differenziertere Beschreibungen vornehmen zu können, verzichte ich inder vorliegenden Studie auf die Verwendung der Begrifflichkeit. Stattdessenwerde ich vom Terminus „Menschen mit Migrationsgeschichte” Gebrauch ma-chen. Dies ermöglicht es mir, mich in Anlehnung an den aktuellen Diskurs zurMigrationsforschung aus der Tradition der Defizitperspektive zu lösen und dieKontextbedingung der Migration als Merkmalskategorie zu analysieren, dieden Lernprozess der Untersuchungsgruppe mit beeinflusst (vgl. z.B. Sprung2012). Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass auch der von mir gewählteTerminus nicht frei von dem Problem ist, Menschen zu kategorisieren, indem er von einer wie auch immer gearteten Andersartigkeit dieser Menschenausgeht. Aus diesem Grund kann auch die Begrifflichkeit „Menschen mit

16Als autochton werden die „einheimischen” Menschen beschrieben, während allochtoneMenschen eine ethnische, kulturelle bzw. nationale Differenz aufweisen (vgl Lutz 2010:573).

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2.4 Intersektionalität 45

Migrationsgeschichte” keine abschließende Lösung der Begriffsproblematiksein.

Für ein gleichberechtigtes Zusammenleben wäre es erstrebenswert, dassdie Bezeichnung „Migrationshintergrund” und die daran anschließende Diffe-renz zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund an Bedeutungverlieren. Zur Überwindung der existierenden Differenz zwischen Menschenmit und ohne Migrationshintergrund hilft es nicht, sie zu verleugnen. Dieshebt die kritische Weißseinsforschung hervor, die sich mit der sozialen Kon-struktion des Weißseins auseinandersetzt (Arndt (2005a/ b). Daran anschlie-ßend ist es für Forschungen notwendig, an der jeweiligen Ausgangssituationanzuschließen. Für meine empirische Untersuchung der Lernprozesse vonUnternehmerinnen mit Migrationsgeschichte bedeutet dies, dass sie an derkonstruierten Differenz zwischen Menschen mit und Menschen ohne Migrati-onshintergrund ansetzen sollte. Es kann davon ausgegangen werden, dass dieLernprozesse der Frauen erheblich davon beeinflusst werden, inwiefern siesich selbst als Menschen mit Migrationsgeschichte wahrnehmen und welcheBedeutung die Kategorisierung für ihre Selbst- sowie Fremdwahrnehmungeinnimmt. Außerdem stellt sich die Frage, wie die Interviewten, die sichals erfolgreiche Unternehmerinnen (mit Migrationsgeschichte) auszeichnen,anderen Menschen mit Migrationsgeschichte gegenübertreten. Mit Blick aufihre Unternehmen stellt sich zudem die Frage, ob und inwiefern die dichoto-misierte Betrachtungsweise von Menschen mit und ohne Migrationsgeschichtesich auf die Ausgestaltung ihrer Unternehmen auswirkt.

2.4 IntersektionalitätDer Ansatz der „Intersectionality” geht auf die Begriffswahl von Crenshaw(1989) zurück, die sich – im Kontext der schwarzen Bürgerrechtsbewegungin Kombination mit der Frauenbewegung – damit auseinandersetzt, wieMenschen zwischen verschiedenen, Ungleichheit generierenden Kategorienpositioniert sind, und wie sich das Wechselspiel der Kategorien gestaltet. Umden Einfluss verschiedener Kategorien zu veranschaulichen macht Crenshaw(1989) vom Bild einer Straßenkreuzung – intersection – Gebrauch, in derenMitte das Individuum steht. Der Ansatz der Intersektionalität wird aktuellvor allem in der Geschlechterforschung diskutiert (vgl. z.B. Winker/ Degele²2010) und ist im Rahmen von Forschungen zur Interkulturalität anwendbar(vgl. z.B. Crenshaw 1989). Vielfach gilt eine intersektionale Perspektive alseine Weiterentwicklung der Geschlechterforschung, da hier nicht nur dieKategorie Geschlecht betrachtet wird, sondern noch weitere Ungleichheit

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46 2 Erziehungswissenschaftliche Migrationsforschung

generierende Kategorien sowie ihr Wechselspiel Gegenstand der Analyse sind(vgl. Winker/ Degele ²2010). Neben dem sozial zugeschriebenen Geschlecht(Gender) werden auch die Kategorien Rasse, Klasse und Körper im Hinblickauf die Auseinandersetzung mit den Themen Vielfalt und gesellschaftlichePartizipation betrachtet17 (vgl. Klinger 2003; Winker/ Degele ²2010: 11).Nach Winker und Degele (ebd.) wird im deutschsprachigen Diskurs vor allemauf Wechselwirkungen der verschiedenen Differenzkategorien eingegangen,Kategorien wie Sexualität, Alter, (Dis-)Ability, Religion oder Nationalitätsind aber prinzipiell integrierbar.

Mit einer intersektionalen Perspektive und der damit einhergehendenBetrachtung mehrerer Differenzkategorien kann der Heterogenität und Kom-plexität der untersuchten Personen besser Rechnung getragen werden als miteiner interkulturellen Perspektive (vgl. hierzu auch Nowicka 2010: 40). DieIntersektionalität kann auf theoretischer Ebene als differenzierende Perspek-tive für eine Ungleichheitsanalyse herangezogen werden. Außerdem kann sieals Methodologie praxeologisch Anwendung finden (Winker/ Degele ²2010)und in Politiken münden (vgl. Smykalla/ Vinz 2011).

Der Intersektionalitätsansatz kann in einer Verbindung zu Diversity-Ansätzen gesehen werden, bei denen ebenfalls Heterogenität im Mittelpunktsteht (vgl. Smykalla/ Vinz 2011). Der englische Begriff Diversity bedeutetVielfalt und setzt sich mit einer Anerkennung von Vielfalt auseinander. Esexistieren verschiedene Ansätze, wie mit Vielfalt konstruktiv umgegangenwerden kann. Weit verbreitet ist bspw. der Ansatz des Diversity-Managementsin Betrieben. Im Unterschied zu Diversity-Ansätzen, die eher ökonomischmotiviert und an Institutionen orientiert sind, konzentriert sich die Intersek-tionalität auf das Individuum:

„In dieser Hinsicht scheint der Intersektionalitätsansatz geeig-net zu sein, Diversitystrategien durch eine individuumsbezoge-ne Perspektive zu ergänzen. Auf diese Weise können auch dieAdressat_innen von Diversity-Strategien in die Betrachtung miteinfließen. Darüber hinaus fordert der Intersektionalitätsansatzdazu auf, Zusammenhänge zwischen einzelnen Diskriminierungs-gründen sowie deren gegenseitige Wirkung zu beschreiben, stattnur einzelne Diversity-Dimensionen isoliert zu betrachten. EinSymptom dafür, dass dies noch immer nicht hinlänglich ge-schieht, ist die Tatsache, dass Intersektionalität mittlerweilevielfältig – vor allem im Bereich der Geschlechterforschung –

17Es besteht keine eindeutige Meinung darüber, welche Kategorien ein vollständigesBild ermöglichen (vgl. Winker/ Degele ²2010).

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2.5 Erwachsenenbildung und Migrationsgeschichte 47

diskutiert wird, nicht jedoch in Bereichen wie Cultural Diversity,Religion, Alter oder Gesundheit.” (von Dippel 2012)

Für meine empirische Studie zu Lernprozessen von Unternehmerinnen mitMigrationsgeschichte ist der Intersektionalitätsansatz relevant, weil ich michim Rahmen meiner Interviews den subjektiv konstruierten Relevanzstruk-turen der Frauen zuwende. Es kann davon ausgegangen werden, dass inmeiner Studie das Wechselspiel verschiedener identitätsstiftender und un-gleichheitsgenerierender Kategorien zum Tragen kommt, welches der Inter-sektionalitätsansatz diskutiert. Der Ansatz der Intersektionalität macht zwarkeine Aussagen über Lernprozesse, öffnet aber den Blick für verschiedeneKategorien, die das Lernen der interviewten Unternehmerinnen bestimmenkönnen.

2.5 Erwachsenenbildung undMigrationsgeschichte

Aufgaben und Fragestellungen, die mit der Perspektive einhergehen, Deutsch-land als Migrationsland zu betrachten, rücken zunehmend auf die politischeAgenda. Diese Entwicklung spiegelt sich in Angebot und Nachfrage desWeiterbildungssystems18 wider und hat darüber hinaus Einfluss auf diedidaktische Gestaltung von Weiterbildungsangeboten. So gehört die inter-kulturelle Kompetenz für die meisten Erwachsenenbildner_innen zu einemrelevanten Softskill.

In verschiedenen auf dem Weiterbildungsmarkt fest etablierten Angebo-ten19 kann die gesellschaftliche Partizipation als handlungsleitendes Prinzipbzw. als Ziel herausgestellt werden: Neben verschiedenen zu erreichendenLernzielen wird die Förderung eines Zusammenlebens im MigrationslandDeutschland angestrebt. Für die Ermöglichung gleichberechtigter gesellschaft-licher Teilhabe besteht für die verschiedenen erwachsenenpädagogischenTätigkeitsfelder die Herausforderung, zu erforschen, welche neuen Strukturenund Angebote helfen können, dieses Ziel zu erreichen.

Eines der Tätigkeitsfelder bezieht sich auf den deutschen Arbeitsmarkt:Die unterdurchschnittliche Integration in den Arbeitsmarkt von Personen mitMigrationsgeschichte stellt eine Tatsache dar, an der die Erwachsenenbildung

18Ich verwende die Begriffe Erwachsenenbildung und Weiterbildung synonym und spre-che im Folgenden zusammenfassend von Weiterbildung.

19Als Beispiele können hier Bereiche der Elternbildung sowie Alphabetisierungs- undSprachkurse genannt werden.

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48 2 Erziehungswissenschaftliche Migrationsforschung

ansetzen könnte, indem sie den Arbeitsmarkt weiter erforscht und ein geeig-netes Unterstützungssystem bereitstellt (vgl. OECD 2005; Bundesagenturfür Arbeit 2013). Ein Teilbereich des deutschen Arbeitsmarktes gerät inaktuellen Forschungen vermehrt in den Blickpunkt: Die unternehmerischeSelbstständigkeit von Migrant_innen (vgl. Ministerium für Generationen,Familie, Frauen und Integration des Landes NRW 2007; Leicht u.a. 2009).Innerhalb dieses Personenkreises sind vor allem Frauen eine Zielgruppe, fürdie in den letzten Jahren Projekte durchgeführt und zielgruppenspezifischeAngebote unterbreitet wurden (vgl. z.B. die bundesweite Gründerinnenagen-tur des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie 2013). Darüberhinaus wird im Rahmen von empirischen Studien versucht, neue geeigneteWege für eine teilnehmer_innenorientierte Unterstützung zu finden (vgl.Leicht u.a. 2005; Bührmann u.a. 2010). Im Weiteren gibt es Studien, dieUnternehmerinnen mit Migrationsgeschichte mit spezifischen Fragestellun-gen beforschen und z.B. ihr Gründungsverhalten quantitativ erfassen unddie gesamtgesellschaftliche Bedeutung von Unternehmensgründungen durchUnternehmerinnen mit Migrationsgeschichte herausarbeiten20 (vgl. Leichtu.a. 2009).

In Studien zu unternehmerisch selbstständigen Migrantinnen wird ge-fordert, die Praxis der Gründungsberatung weiterzuentwickeln und so dieGründungsneigung von Migrantinnen zu unterstützen (vgl. Leicht u.a. 2009;Haber/ Richter 2010). Man weiß einiges über Unternehmensgründungen vonMigrantinnen, aber wenig über die Struktur und qualitativen Unterschiedevon Lernprozessen, die mit der Unternehmensgründung einhergehen.

Im Hinblick auf meine empirische Studie zu Lernprozessen von Unter-nehmerinnen mit Migrationsgeschichte wäre diesbezüglich darauf zu achten,ob die von mir interviewten Frauen an erwachsenenbildnerischen Angebotenzum Themenfeld Unternehmen teilgenommen haben, ob sie von ihnen profi-tiert haben, oder ob es sich bei ihren Lernprozessen gar um Lernprozessehandelt, die einen rein informellen Charakter besitzen. Zudem wäre aufzu-nehmen, ob sie sich bestimmte Angebote wünschen (gewünscht hätten) undzu welchen Zeitpunkten in ihrem Lernprozess eine erwachsenenbildnerischeUnterstützung hilfreich gewesen wäre.

20Auf die Ergebnisse gehe ich in Kap. 3.3 ein.

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3 Unternehmertum, Geschlechtund Migration

Für den Diskurs zu Unternehmertum und Entrepreneurship sind nach wie vorökonomische Ansätze, die auf den männlichen deutschen Unternehmensgrün-der rekurrieren, wirkmächtig (vgl. z.B. Klandt 1984, Kirzner/ Hoppmann1978, Kirzner 1988, Fallgatter 2002, Schumpeter/ Röpke 2006). Auch neuereArbeiten, die der Ökonomie zugeordnet werden können, sind von einer hege-monialen Perspektive geprägt, was sich z.T. bereits am Titel erkennen lässt(vgl. z.B. „Erfahrene Unternehmensgründer”, Merz 2008).

Für die vorliegende Studie bilden die Unternehmensgründung und diedaran anschließende Unternehmensführung den zentralen Lerngegenstand,an dem die Interviewten professionell und persönlich lernen. In der folgendenDarstellung lege ich solche Forschungsergebnisse zu Unternehmertum undEntrepreneurship dar, die für die Lernprozesse bedeutsam sein können.

3.1 Definitionen: Unternehmertum undEntrepeneurship

In der Literatur gibt es keine klare Übereinkunft darüber, was genau untereiner_einem Unternehmer_in bzw. unter Entrepreneurship verstanden wird(vgl. Ripsas 1997: 55, vgl. auch Fueglistaller u.a. 2005: 5). Dies hängt damitzusammen, dass es sich hierbei um einen interdisziplinären Forschungsgegen-stand handelt, der aus z.B. ökonomischer, soziologischer und psychologischerPerspektive analysiert wird (vgl. Schmette 2008: 57).

Der Begriff Unternehmer_in bzw. Unternehmertum geht auf die Über-setzung des französischen Begriffs Entrepreneur bzw. Entrepreneurship zu-rück, der seine Wurzeln in Frankreich im 18. Jahrhundert hat (vgl. Ripsas1997: 4). Auf eine wirtschaftliche Tätigkeit bezogen bedeutet er, etwas un-ternehmen oder in die eigenen Hände nehmen (Fueglistaller u.a. 2005: 4).Bisweilen werden Unterschiede zwischen den Begriffen „Unternehmer_in”und „Entrepreneur_in” herausgestellt. So argumentiert bspw. Faltin (1994),dass Unternehmer keine passende Übersetzung von Entrepreneur sei, da

A. Laros, Transformative Lernprozesse von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte, DOI 10.1007/978-3-658-09999-2_3, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015

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50 3 Unternehmertum, Geschlecht und Migration

hierdurch der von einer_einem Entrepreneur_in ausgehenden Innovationnicht Rechnung getragen werde und der Begriff Unternehmer somit nicht dievolle Bedeutung von Entrepreneur wiedergebe (vgl. Faltin 1994). Dennochverwende ich im Folgenden in Anlehnung an Ripsas (1997: 71) beide Begriffesynonym, da der Schwerpunkt der Studie auf den Lernprozessen von Un-ternehmerinnen liegt und nicht auf den ökonomischen Besonderheiten derjeweiligen Unternehmungen, welche eine solche Unterscheidung notwendigwerden ließe. Im ökonomischen Diskurs wird der Unternehmer_innenbegriffunterteilt in einen funktionalen Unternehmer_innenbegriff, der sich auf dieDurchsetzung von Innovationen am Markt bezieht, einen statischen, der anPositionen, Kontroll- und Leitungsfunktionen sowie Besitzstand orientiertist und einen personalen Unternehmer_innenbegriff, der Persönlichkeits-merkmale fokussiert. Bei den Betriebsformen kann zwischen Unternehmenohne Mitarbeitende, Unternehmen mit Mitarbeitenden sowie Ausbildungs-unternehmen unterschieden werden, bei den Erwerbsformen stehen sichNebenerwerb und Vollerwerb gegenüber (vgl. Ripsas 1997: 66).

Mit Blick auf Unternehmer_innen und Entrepreneur_innen unterschei-det Klandt (1984: 31) zwischen Unternehmensgründungen und Existenz-gründungen, bei letzterem steht der Wechsel von einem abhängigen in einunabhängiges Arbeitsverhältnis im Mittelpunkt, es kann also auch ein beste-hendes Unternehmen gekauft werden. Fallgatter (2002: 22) betont bei derdefinitorischen Trennung hinsichtlich der Existenzgründung die Präsenz derGründer_innenperson im Unternehmen, während die Unternehmensgrün-dung unabhängig davon ist21.

Im Rahmen der vorliegenden Studie mache ich von einem weiten Un-ternehmerinnenbegriff Gebrauch, der sowohl den Besitz des Unternehmensals auch leitende Managementfunktionen im Unternehmen umfasst. Bezieheich die dargelegten Ausführungen zu Unternehmer_innen auf mein Vorha-ben zur Rekonstruktion von Lernprozessen von Unternehmer_innen mitMigrationsgeschichte, wird zu berücksichtigen sein, dass insbesondere dieBetriebsform sowie der Grad der Aktivitäten und Präsenz der Frauen inihren Betrieben zu zentralen Lerngegenständen werden können.

21Die definitorische Trennung wird kritisiert, weil Unternehmungen erst im Nachhineinals Unternehmensgründungen bezeichnet werden können. Außerdem gibt es Beispie-le, bei denen es der Definition nach zu Überschneidungen kommt, z.B. würde einUnternehmen wie Microsoft zwar als Unternehmensgründung gelten, ist aber nichtunabhängig von der Gründerperson Bill Gates (vgl. hierzu Fallgatter 2002: 23f.).

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3.2 Unternehmer_innen 51

3.2 Unternehmer_innenIm interdisziplinären Diskurs gibt es vielfältige Forschungen zur Unterneh-mer_innenperson: Ein relevanter Strang der Forschungen kann dadurchzusammengefasst werden, dass eine personen- oder angebotsorientierte For-schungsperspektive eingenommen wird. Sie fokussiert die Unternehmens-person und ihr Umfeld bzw. die sie beeinflussenden Faktoren. Es handeltsich um eine angebotsorientierte Perspektive, da darauf eingegangen wird,was die_der Unternehmensgründer_in als Person anzubieten hat. Das denForschungen zugrundeliegende Unternehmer_innenbild ist entweder statischund die angeborenen Persönlichkeitsmerkmale der Unternehmensperson be-dingen, dass sie als fertige_r Marktakteur_in besteht; oder es ist dynamisch,hierbei steht das unternehmerische Handeln am Ende eines Sozialisations-bzw. Lernprozesses22. Weiter können bei den Faktoren, die eine unterneh-merische Selbstständigkeit initiieren Push- und Pullfaktoren unterschiedenwerden. Pushfaktoren sind solche, die eine Person in die unternehmeri-sche Selbstständigkeit drücken. So kann eine Notsituation – wie bspw. dieArbeitslosigkeit – einen Pushfaktor für eine unternehmerische Selbststän-digkeit darstellen. Pullfaktoren sind solche Faktoren, die eine Person indie unternehmerische Selbstständigkeit ziehen. Bei ihnen kann bspw. dieSelbstverwirklichung relevant werden. Push- und Pullfaktoren treten meistin einer Kombination miteinander auf und sind nicht immer klar vonein-ander trennbar (vgl. hierzu Bögenhold 1987: 141; Jungbauer-Gans 1993:73f.). Es kann davon ausgegangen werden, dass die Lernprozesse der von mirinterviewten Unternehmerinnen wesentlich durch Push- und Pullfaktorenbeeinflusst werden.

Nach der allgemeinen Hinführung zu Forschungsperspektiven auf Un-ternehmer_innen, gehe ich im Folgenden auf die geschlechtsspezifische For-schung ein. Wie bereits einleitend erwähnt, befassen sich zahlreiche ökonomi-sche Arbeiten mit dem männlichen deutschen Unternehmer. Bei genauererBetrachtung dieser Arbeiten fällt auf, dass sie den Zusammenhang vonGeschlecht und Unternehmensgründung lediglich randständig behandelnund allenfalls die geringe Gründungsneigung von Frauen thematisieren undgegebenenfalls kurz begründen (vgl. z.B. Fueglistaller/ Zellweger 2004: 50;

22Demgegenüber gibt es nachfrageorientierte Ansätze. Bei ihnen steht die Nachfrage –die Bedingungen des Marktes – im Zentrum der Betrachtung; institutionelle, branchen-spezifische, oder technisch-organisatorische Voraussetzungen werden hierbei fokussiert(vgl. Leicht u.a. 2009: 14). Da es in der vorliegenden Studie um die Unternehmerinnen-person und ihre Lernprozesse geht, wird auf eine Darstellung von nachfrageorientiertenAnsätzen verzichtet.

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52 3 Unternehmertum, Geschlecht und Migration

De 2005: 42). Demgegenüber gibt es Studien, die explizit Unternehmensgrün-derinnen und die Entwicklung von Frauenselbstständigkeit in Deutschlandin den Fokus rücken. (Sie gehen allerdings in der Regel nicht spezifischauf Fragen der Migration ein.) (vgl. z.B. Leicht/ Welter 2004; Leicht u.a.2005b; Leicht/ Lauxen-Ulbrich 2006 ; Kohn/ Spengler 2009; Hagen u.a. 2012;Metzger/ Ullrich 2013). Bezogen auf Frauenselbstständigkeit in Deutschlandlässt sich in den letzten zehn Jahren ein zunehmender Trend in RichtungSelbstständigkeit erkennen; der Global Entrepreneurship Monitor (GEM)konstatiert für 2011, dass der Anteil der Neugründungen durch Frauen „sohoch wie noch nie” sei (Brixy u.a. 2012: 5), wobei ein Jahr später herausge-stellt wird, dass die Gründungsneigung von Frauen im Vergleich zu der vonMännern stagniert23 (Sternberg u.a. 2013: 6). Die KFW-Bankengruppe gibtjährlich einen Bericht zum Gründungsgeschehen, den Gründungsmonitor,heraus. Dieser (2012) zeigt auf, dass sich die Unterschiede in der Gründungs-neigung von Frauen und Männern deutlich reduziert haben (vgl. Hagen u.a.2012; siehe auch Brixy u.a. 2012: 41). Hinsichtlich der nebenerwerblichenGründungsneigung sind keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern aus-zumachen (vgl. Metzger/ Ullrich 2013; Hagen u.a. 2012). Trotz des Trends,dass immer mehr Frauen Unternehmen gründen, besteht hinsichtlich derGeschlechterverteilung ein Gender-Gap24 – Frauen sind unterrepräsentiertunter den Unternehmenspersonen (vgl. Lauxen-Ulbrich/ Leicht 2005: 55).Daneben ist die Selbstständigenrate von Frauen auch im Vergleich zu derGesamtzahl der erwerbstätigen Frauen gering. Auf Forschungsergebnissezur geringen Selbstständigenrate von Frauen gehe ich im Folgenden ein.Bezüglich der unternehmerischen Selbstständigkeit von Frauen wird eineSegregation des Arbeitsmarktes deutlich: Es machen sich weniger Frauen alsMänner unternehmerisch selbstständig. Frauen führen im Vergleich zu Män-nern kleinere Betriebe mit weniger Mitarbeitenden und geringerem Gewinn(vgl. Lauxen-Ulbrich/ Leicht 2005: 14). 70% der Gründerinnen gründen zu-nächst als Einzelpersonen und beschäftigen keine Mitarbeitenden (vgl. ebd.:50). Außerdem arbeiten Gründerinnen und Selbstständige vom Zeitumfangher weniger als männliche Unternehmer (vgl. ebd.: 13, 81). Im Vergleich

23Dies wird anhand der Total Early-Stage Entrepreneurial (TEA) Quote belegt: Hierbeiwird der Anteil von erwachsenen Personen, die seit weniger als dreieinhalb Jahrenein Unternehmen haben prozentual festgelegt und mit anderen innovationsbasiertenLändern verglichen. Für Frauen in Deutschland betrug die Quote 2010 4,5% und 20113,5% (vgl. Sternberg u.a. 2013: 6).

24Der gestiegene Anteil von unternehmerisch selbstständigen Frauen muss im Kontextder gestiegenen Erwerbsbeteiligung von Frauen gesehen werden. Der Gender-Gap wirddeutlich, wenn der Anteil der Frauen an der Gesamtquote der Selbstständigen betrach-tet wird (vgl. Lauxen-Ulbrich 2005: 55).

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3.2 Unternehmer_innen 53

zu Männern arbeiten sie häufiger in Teilzeit, im Nebenerwerb und von zuHause (vgl. ebd.: 13, 85). Dadurch kann der geringere Umsatz von Frauenbe-trieben erklärt werden (vgl. ebd.: 90f.). Jungbauer-Gans und Preisendörfer(1992: 65) fassen die Merkmale als „randständige Selbständigkeitsexistenzen”zusammen.

Im Hinblick auf die Auswahl der Unternehmerinnen für meine empirischeStudie zu Lernprozessen von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichtewird daher darauf zu achten sein, dass im Sinne eines theoretischen Samplingssowohl Unternehmerinnen interviewt werden, die den dargelegten Forschungs-ergebnissen entsprechen, aber auch solche, die sie nicht bestätigen. So wirdes möglich, einen differenzierten Einblick in die qualitative Struktur ihrerLernprozesse zu erhalten.

Die Segregation bzw. Marginalisierung von Frauen unter den Selbst-ständigen – die durch ihre geringe Präsenz deutlich wird – kann mit un-terschiedlichen Motiven, Ressourcen, Gelegenheiten und Restriktionen inVerbindung gebracht werden (vgl. Lauxen-Ulbrich/ Leicht 2005: 13). ImFolgenden lege ich verschiedene Erklärungslinien für die geringe Präsenzvon Frauen unter den Selbstständigen dar, die sich auf geschlechtstypischeErwerbsverläufe, geschlechtstypische Berufs- und Branchenwahlen, unter-schiedliche Erfolgsdefinitionen von Frauen im Vergleich zu Männern, dieunterschiedliche Risikobereitschaft unter den Geschlechtern sowie wirtschaft-liche Rahmenbedingungen beziehen.

Geschlechtstypische Erwerbsverläufe stellen eine Erklärungslinie für dasGründungsverhalten von Frauen dar. Es wird davon ausgegangen, dass dieErwerbsverläufe von Frauen mit längeren Erwerbsunterbrechungen einherge-hen und wechselvoller als die von Männern sind (vgl. Jungbauer-Gans 1992:63). Dies wird allerdings durch die Entwicklung widerlegt, dass sich heuteweibliche Erwerbsverläufe nicht mehr durch längere Erwerbsunterbrechungenauszeichnen (vgl. Lauxen-Ulbrich/ Leicht 2005: 14).

Mit geschlechtstypischen Erwerbsverläufen in Zusammenhang steht aucheine geschlechtstypische Berufs- und Branchenwahl. Hierbei wird von der An-nahme ausgegangen, dass Frauen eher in Berufen und Branchen tätig werden,die weniger Gelegenheiten für eine unternehmerische Selbstständigkeit bieten.Allerdings ist die Gründungsneigung von Frauen auch dann geringer, wennsie über gleiche berufliche Ausgangspositionen wie Männer verfügen (vgl.Lauxen-Ulbrich/ Leicht 2004: 94). Für meine empirische Studie bedeutetdies, die Daten u.a. auf die Frage hin zu analysieren, was die Interviewten zueiner Gründung bewogen hat. Bei denjenigen, die Mütter sind, könnte dannz.B. herausgearbeitet werden, welche Rolle Erwerbsunterbrechungen für ihrUnternehmertum spielen. Zudem ist anzunehmen, dass Erwerbsunterbre-

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54 3 Unternehmertum, Geschlecht und Migration

chungen für Unternehmerinnen ohne Mitarbeitende weitreichendere Folgenhaben als für solche, die Mitarbeitende beschäftigen, da erstere währendeiner Erwerbsunterbrechung nicht vertreten werden können.

Eine weitere Erklärungslinie besteht darin, die unterschiedlichen Er-folgsdefinitionen von Frauen im Vergleich zu Männern zu untersuchen.

„Grundsätzlich sind Erfolgsmaße in zwei Dimensionen zuunterscheiden. So sind Messgrößen, die auf der Ebene der Un-ternehmerperson ansetzen, von solchen auf Unternehmensebenezu unterscheiden. Zudem ist eine Unterteilung in subjektive Ein-schätzungen der Befragten und objektive Daten erforderlich.”(Merz 2008: 32)

Die subjektiven Erfolgsmaße von Frauen und Männern divergieren: Die For-schungsergebnisse zeigen, dass sich die Erfolgsmaße von Frauen und Männerndahingehend unterscheiden, dass für Frauen Zufriedenheit und Selbstverwirk-lichung wichtiger sind als Erfolg und Wachstum (vgl. Moore/ Buttner 1997und Lauxen-Ulbrich/ Leicht 2005: 43). Das andere Erfolgsverständnis vonFrauen kann herangezogen werden, um die Segregation zu erklären. Dabeisollte jedoch darauf geachtet werden, dass die herausgearbeiteten Unterschie-de hinsichtlich der Erfolgsdefinitionen nicht generalisierend auf alle Frauenübertragen werden können. Die Ergebnisse legen nahe, dass in von Frauengeführten Betrieben wirtschaftlicher Erfolg und Wachstum in der Regelnicht die höchste Priorität einnehmen. Diesbezüglich ergeben sich für meineStudie folgende Fragen: Wird dies von den von mir interviewten Frauenbestätigt? Wie generieren die Befragten Unternehmerinnen Zufriedenheitund das Gefühl der Selbstverwirklichung aus ihren Unternehmen? Was sinddie Prioritäten der Unternehmerinnen? Ist ihre Prioritätensetzung damitverbunden, dass wirtschaftlicher Erfolg als nachrangig betrachtet wird? Wiewird das von Unternehmerinnen beschrieben, die mit ihren Unternehmengroßen Erfolg haben?

Eine weitere Erklärungslinie setzt sich mit der Risikobereitschaft aus-einander. Als Gründe, warum Frauen nur etwa halb so häufig Unternehmengründen wie Männer, nennt De (2005: 43) u.a. die potenziell geringereRisikobereitschaft von Frauen (vgl. auch Fritzsche 2006: 92). Es gibt je-doch Studien, die gegenteiliges aussagen und diese Meinung widerlegen(vgl. Lauxen-Ulbrich/ Leicht 2005). Demgemäß ist im Rahmen meiner em-pirischen Studie darauf zu achten, welches Risiko die Unternehmerinnenbei ihrer Unternehmensgründung eingehen mussten. Es kann davon aus-gegangen werden, dass insbesondere die Risikoabwägung einen zentralenLerngegenstand darstellt. Es wird keine Vergleichsstudie zu Unternehmens-

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3.3 Unternehmer_innen mit Migrationsgeschichte 55

gründungen durch Männer durchgeführt, aber es wird darauf eingegangen,welche Rolle subjektiv wahrgenommene Risiken für die Lernprozesse der Un-ternehmerinnen spielen. Hierbei gehe ich von der Annahme aus, dass in jedeGründungsentscheidung subjektiv wahrgenommene Risiken mit einfließen,die als Desorientierungen wirksam werden können. Inwiefern hierbei desori-entierende Dilemmata im Sinne der Theorie des transformativen Lernensnach Mezirow erfahren werden, wird die Datenanalyse zeigen.

Darüber hinaus können wirtschaftliche Rahmenbedingungen Einfluss aufdie unternehmerische Selbstständigkeit haben. Während fehlendes finanziel-les Kapital ein Gründungshemmnis darstellen kann, kann sich die finanzielleAbsicherung durch die_den Partner_in positiv auf die Gründungsentschei-dung auswirken (vgl. Strohmeyer/ Lauxen-Ulbrich 2003). Diese Ergebnisseder Forschungen zu wirtschaftlichen Rahmenbedingungen von Unterneh-men werden in der Analyse der Lernprozesse der Unternehmerinnen mitMigrationsgeschichte ebenfalls berücksichtigt. Einen differenzierten Einblickin die Frage, welche Rolle das finanzielle Kapital für den Lernprozess derUnternehmerinnen spielt, können Interviews mit solchen Unternehmerinnenliefern, die über Kapital verfügen. Es ist davon auszugehen, dass Interviewsmit diesen Unternehmerinnen eine Ergänzung zu Interviews mit Unternehme-rinnen darstellen, die im Zeitfenster ihrer Gründungsentscheidung kaum überKapital verfügten. Dadurch, dass in der vorliegenden Studie ausschließlichFrauen befragt werden, die ein Unternehmen gegründet haben – bei denensomit fehlendes finanzielles Kapital kein Gründungshemmnis darstellte –wird bei der Datenanalyse darauf zu achten sein, wie die Frauen solcheHemmnisse überwunden haben. Zudem muss darauf geachtet werden, dassauch alleinstehende Frauen in die Untersuchungsgruppe einbezogen werden.Auf diese Weise kann sichergestellt werden, dass nicht ausschließlich dasErgebnis von Strohmeyer und Lauxen-Ulbrich (2003) bestätigt wird, wonachdie finanzielle Absicherung durch die_den Partner_in Gründungsrisikenminimiert.

3.3 Unternehmer_innen mitMigrationsgeschichte

Bei einer historischen Beschreibung der Migrant_innenselbstständigkeit inDeutschland besteht zunächst die Problematik fehlender Daten: Lange Zeitwurden zunächst nur Ausländerinnen erfasst, und die Kategorie „Menschenmit Migrationsgeschichte” existierte nicht. Für den Global EntrepreneurshipMonitor (GEM) wird letztere erst seit 2009 erfasst (vgl. Brixy u.a. 2011a:

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56 3 Unternehmertum, Geschlecht und Migration

27). Der Anteil von Unternehmer_innen mit Migrationsgeschichte ist imVergleich zu Deutschstämmigen deutlich angestiegen aber immer noch unterderen Quote (vgl. Destatis 2012b). Laut Mikrozensus machen sich Frauen mitMigrationsgeschichte zunehmend unternehmerisch selbstständig, dennochsind sie unter den Selbstständigen unterrepräsentiert (vgl. Leicht u.a. 2005a:15, 2009: 246; Jung u.a.: 54; Laros 2013; zu den hohen Zunahmen auf nied-rigem Niveau vgl. auch Leicht/ Leiß 2006). Vermehrt weisen feministischeUntersuchungen zur ethnischen Ökonomie allerdings auf die diesbezüglicheBedeutung von Frauen hin (vgl. Light/ Gold 2000). Wie für die Studienzu Frauen mit Migrationsgeschichte allgemein dominierten auch bei denStudien zur Migrant_innenselbstständigkeit zunächst solche zu Türk_innen(vgl. z.B. Blaschke/ Ersöz 1987; siehe hierzu auch Pütz 2003a/ b) – auchwenn andere Nationalitäten, wie z.B. Italiener_innen und Griech_innen,eine höhere Gründungsneigung aufweisen (vgl. Leicht u.a. 2009: 18). Leichtu.a. (2009, 2012) unterscheiden in ihren Studien zwischen verschiedenenMigrant_innengruppen. Da in der vorliegenden Studie nicht auf eine be-stimmte Gruppe, sondern auf Frauen mit dem gemeinsamen Merkmal derMigrationsgeschichte Bezug genommen wird, erfolgt an dieser Stelle keinemigrant_innengruppenspezifische Darstellung (für eine solche Darstellung s.Leicht u.a. 2009: 17ff.; 2012: 44ff.).

Im Folgenden gehe ich zunächst auf Forschungsperspektiven ein, diesich mit Migrant_innenselbstständigkeit auseinandersetzen und keine gen-dersensible Herangehensweise aufweisen. Sie sind häufig mit englischen Be-griffen verschlagwortet, da sie im englischsprachigen Raum eine längereTradition aufweisen. Zu nennen sind hier z.B. ethnic economies/ business,Immigrant business/ entrepreneurs, ethnic Entrepreneurship, etc. (vgl. z.B.Light 1972; Light/ Bonacich 1988; Hillmann 1998a; Özcan/ Seifert 2003;Pütz 2003a; Fueglistätter u.a. 2004: 50). Danach gehe ich auf Forschungenzur Untersuchungsgruppe der vorliegenden Studie – Unternehmerinnen mitMigrationsgeschichte – ein.

Der Mainstream der Forschungsperspektiven, die die Kategorie Migra-tionsgeschichte fokussieren, sind Studien zur ethnischen Ökonomie. LautHillmann (2001: 44f.) gibt es keine einheitliche Definition für die ethnischeÖkonomie; die jeweiligen Definitionen variieren in ihren Eingrenzungen.In der englischsprachigen Literatur wird die Vernetzung mit der eigenenethnischen Gruppe im Hinblick auf Arbeitskräfte25, Zulieferer_innen undKund_innen betont. Außerdem wird davon ausgegangen, dass die jeweiligenUnternehmen einem ethnischen Cluster angehören – als Beispiele können

25Hier wird auch die Relevanz mithelfender Familienangehöriger herausgestellt.

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3.3 Unternehmer_innen mit Migrationsgeschichte 57

hier die Bezirke China Town oder Little Italy in vielen amerikanischen Groß-städten genannt werden (vgl. z.B. Portes/ Shafer 2007). Für den deutschenKontext rekurrieren zahlreiche Studien zur ethnischen Ökonomie auf dieDefinition des Deutschen Instituts für Urbanistik (unter zahlreichen anderenvgl. z.B. Henn 2010). Ethnische Ökonomie wird wie folgt definiert:

„Selbständige Erwerbstätigkeit von Personen mit Migrations-hintergrund in Deutschland und abhängige Beschäftigung vonMigranten in von Personen mit Migrationshintergrund geführ-ten Betrieben (...), die in einem spezifischen Migrantenmilieuverwurzelt sind” (Schuleri-Hartje u.a. 2004: 15).

Da in der vorliegenden Studie die Lernprozesse von Unternehmerinnen mitMigrationsgeschichte im Fokus stehen und nicht in erster Linie nach deren An-bindung an spezifische Migrant_innenmilieus gefragt wird, kann anschließendan die Definition an dieser Stelle noch nicht beantwortet werden, inwiefern dieBefragten Unternehmerinnen der ethnischen Ökonomie zugeordnet werdenkönnen. Leicht u.a. (2012: 226) stellen in ihrer migrationssensiblen Studiefür Baden-Württemberg heraus, dass der Großteil der Unternehmen vonMenschen mit Migrationsgeschichte im offenen Markt und nicht in ethnischenNischen angesiedelt ist. Im Hinblick auf ethnische Ressourcen weisen siedarauf hin, dass diese von den Unternehmer_innen bewusst dort eingesetztwerden, wo kulturelle Kompetenzen von außen zugeschrieben werden (alsBeispiel nennen sie Italiener_innen, die durch gastronomische Unternehmenden guten Ruf mediterraner Küche nutzen).

Die Auswirkungen der Selbstständigkeit von Migrant_innen werdenin der Literatur ambivalent beschrieben. So interpretieren Loeffelholz u.a.(1994: 92ff.) sowie Özcan und Seifert (2000: 289) die unternehmerischeSelbstständigkeit von Immigrant_innen aufgrund der möglichen mit ihreinhergehenden Integrationseffekte einerseits positiv. Andererseits bewertensie sie negativ, da die unternehmerische Selbstständigkeit eine erzwungeneBeschäftigungsform darstellen und somit mit Marginalisierung zusammen-hängen kann. Insgesamt weist dies auf einen wichtigen Aspekt hin, der imRahmen der zu rekonstruierenden Lernprozesse relevant werden könnte: Inder empirischen Studie muss danach geschaut werden, inwiefern die Integra-tion als Unternehmerin in den Arbeitsmarkt parallel zur Integration in dieGesellschaft abläuft. Damit steht folgende Frage in Verbindung: Wie nehmendas Interviewte wahr, die als Frauen mit Migrationsgeschichte in Deutschlandgeboren und aufgewachsen sind? Außerdem wird der Frage nachgegangen, in-wiefern Unternehmerinnen, bei denen die unternehmerische Selbstständigkeiteine gewissermaßen erzwungene Beschäftigungsform darstellte, dies in den

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58 3 Unternehmertum, Geschlecht und Migration

Interviews bewerten. Nehmen sie eine negative Beschreibung vor, oder ist esBestandteil ihrer Lernprozesse, dass sie die Selbstständigkeit als erzwungeneBeschäftigungsform als Chance und Möglichkeit für sich umdeuten?

Im Vergleich zur gendersensiblen Entrepreneurshipforschung rückt inder ethnic Entrepreneurshipforschung die Humankapitaltheorie in den Hin-tergrund und es wird vermehrt auf den Einfluss von Netzwerken im Rahmenvon kulturellem und sozialem Kapital im Kontext verschiedener Ethnieneingegangen. So beziehen sich Leicht u.a. (2009) auf die nachfrageorientier-ten institutionellen Rahmenbedingungen sowie auf die personenorientiertenAspekte des sozialen und des kulturellen Kapitals26. Eine solche Unterschei-dung trifft auch Pütz (2003a), er bezeichnet einerseits die Rahmenbedingun-gen als Opportunitäten27 und andererseits die Kultur der Unternehmendenals ethnische Ressource28. Pütz unterteilt die ethnischen Ressourcen wei-ter in embeddedness und soziales Kapital. Ersteres kann in Anlehnung anGranovetter (1985) weiter unterschieden werden in relationale Aspekte, alsosolche, die mit Beziehungen in Verbindung stehen, und strukturelle, die aufAnsehen und Reputation gestützt werden, ohne dass eine direkte Beziehungzwischen zwei Akteur_innen bestehen muss (vgl. Pütz 2003a: 264f.). Eskann davon ausgegangen werden, dass die Frauen in den Interviews darlegen,ob und inwiefern ihre ethnischen Hintergründe sowie ihre sozialen Netzwerkeihre Lernprozesse beeinflusst haben. Mit Blick auf diesen Zusammenhangkann herausgearbeitet werden, welche Rolle soziale Beziehungen für dentransformativen Lernprozess spielen, um welche sozialen Beziehungen es sichhandelt und wie sich die sozialen Beziehungen der Interviewten durch ihreUnternehmen verändern.

Häufig werden zur theoretischen Einordnung des ethnischen Unterneh-mertums drei verschiedene Erklärungsmodelle herangezogen: Das Nischen-modell, das Kulturmodell sowie das Reaktionsmodell (vgl. Goldberg/ Sen1997; Schutkin 2000). Sie argumentieren nicht geschlechterdifferenziert.

Das Nischenmodell unterscheidet meist zwischen Nischen- und Ergän-zungsökonomie. Die Nischenökonomie betrachtet die Nachfrage der Mehr-heitsgesellschaft und die Ergänzungsökonomie bezieht sich auf die Nachfrage,die innerhalb der eigenen ethnischen Gruppe besteht. Allerdings werdendie Begrifflichkeiten nicht einheitlich verwendet. Das Nischenmodell stellenLoeffelholz u.a. (1994: 92ff.) in einen Zusammenhang mit der Marginalisie-rungsthese – sie beschreibt einen zur Integration gegenteiligen Effekt. In der

26Für weitere Ausführungen zur Kombination von kulturellem Kapital und Migrationsiehe Nohl u.a. (2010a).

27Hiermit sind Zweckmäßigkeiten bzw. Möglichkeiten gemeint.28Er bezeichnet diesen Forschungsfokus als „Immigrant business” (Pütz 2003a: 257).

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3.3 Unternehmer_innen mit Migrationsgeschichte 59

Weiterentwicklung solcher Unternehmungen kann es zu einer Erweiterung desKundenkreises – auf die Mehrheitsgesellschaft – oder zu einer Erweiterungdes Angebots auf nicht-ethnische Waren kommen (vgl. Pütz 2000). DasNischenmodell bezieht sich auf Marktfaktoren.

„ [Es] besteht die Annahme, dass Personen mit Migrations-hintergrund in bestimmten Branchenbereichen höhere Grün-dungserfolgschancen aufweisen als Personen ohne Migrations-hintergrund. Dies wird (...) auf eine spezifische Marktnachfragerespektive offene ethnische Marktnischen oder auch auf einegezielte Spezialisierung auf eine bestimmte Kundenklientel zu-rückgeführt.” (Burak 2009: 54)

Eine weitere Erklärungslinie bietet das Kulturmodell. Bei diesem steht derEinfluss kulturbedingter Wertvorstellungen einer ethnischen Gruppe imVordergrund.

„Das Kulturmodell beruht auf einer festgefügten, von demHerkunftsland bestimmten und unveränderbaren Kultur, diedaher auch eine durch Erfahrungen in der Aufnahmegesellschaftbedingte Verhaltensänderung, wirtschaftliche Neuorientierungetc. nicht erwarten läßt”. (Goldberg/ Sen 1997: 69)

Es wird deutlich, dass das Kulturmodell verkürzt von einem statischenKulturbegriff ausgeht, welcher besonders im Hinblick auf Forschungen zurzweiten oder dritten Migrationsgeneration weiterer Modifizierungen bedarf.Eng mit dem Kulturmodell steht die Sozialisationsperspektive, die die unter-nehmerische Aktivität als Ergebnis eines Sozialisationsprozesses ansieht, inZusammenhang. Kulturelle Einflüsse, die bestimmte positive Einstellungenzu einer unternehmerischen Selbstständigkeit vermitteln, können so eineentscheidende Rolle für Unternehmensgründungen spielen. Daneben gibt esden sogenannten sozial-ökonomischen Benachteiligungsansatz, der die Un-ternehmensgründung als eine Reaktion auf eine Benachteiligung beschreibt.Schutkin (2000) bezeichnet den Ansatz daher auch als Reaktionsmodell.

Nach Schuleri-Hartje (2004: 19) kann es zwischen Nischen-, Kultur-und Reaktionsmodell zu Überschneidungen kommen. Vorab kann nicht ge-klärt werden, welche Rolle die Modelle für die angemessene Beschreibungder verschiedenen Unternehmen der befragten Unternehmerinnen einnimmt.Da lediglich die Migrationsgeschichte – neben dem sozialen weiblichen Ge-schlecht – gemeinsames Merkmal aller Interviewten darstellt, ist es möglich,dass die verschiedenen Modelle zutreffen. Es kann aber auch sein, dass

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60 3 Unternehmertum, Geschlecht und Migration

die Unternehmerinnen gar nicht in ein sogenanntes ethnisches Unterneh-mertum eingeordnet werden können und den Modellen im Rahmen meinerempirischen Untersuchung keine Bedeutung zukommt.

Eine weitere Forschungsperspektive nimmt Rahmenbedingungen desjeweiligen städtischen bzw. nationalen Kontextes in den Blick. Hier wirddavon ausgegangen, „dass es im Wesentlichen die immigrant regimes derverschiedenen Nationalstaaten sind, die Arbeitsmarktintegration der Zuwan-derInnen determinieren und nicht die kulturellen bzw. ethnischen Merkmaleder ZuwanderInnen” (Hillmann 2001: 44). In der Ergebnisdarstellung dervorliegenden Studie wird herausgearbeitet, welche Aspekte die Arbeitsmark-tintegration der befragten Unternehmerinnen aus ihren Sichtweisen deter-minieren. Wie schätzen Sie die Rahmenbedingungen in Deutschland ein?Welche Rolle schreiben sie ihren individuellen mit ihrer Migrationsgeschichtein Verbindung stehenden Merkmalen zu?

Viele der dargestellten Erklärungsansätze zu Unternehmer_innen mitMigrationsgeschichte sind genderblind. Daher eignen sie sich nur bedingtdazu, die unternehmerische Selbstständigkeit von Frauen mit Migrationsge-schichte zu erklären und es unterstreicht außerdem, dass der Diskurs zurunternehmerischen Selbstständigkeit von Frauen mit Migrationsgeschichtein Deutschland noch am Anfang steht. Viele Jahre hat in der öffentlichenDiskussion und in der Politik das Bild der als Familienmitglied migrieren-den, an Tradition und Familie gebundenen, von ihrem Mann abhängigenMigrantin vorgeherrscht (vgl. Kontos 1997: 281).

Die beschriebene Differenz zwischen selbstständigen Männern undFrauen ist innerhalb der Bevölkerung mit Migrationsgeschichte größer alsinnerhalb der Gesamtbevölkerung. Laut Burak (2009) stellen sowohl Mi-grant_innen als auch Frauen ein „unausgeschöpftes Potenzial für erfolgreicheUnternehmensgründungen in Deutschland dar” (ebd.: 4). Aktuell setzensich vermehrt empirische Studien mit Unternehmerinnen mit Migrationsge-schichte auseinander. Eine erste gender- und migrationssensible quantitativeErhebung liefern Leicht u.a. (2009) für Nordrhein-Westfalen. Sie stellenheraus, dass die Gründungsrate von zugewanderten Frauen höher ist als dievon Einheimischen, wobei häufiges Scheitern zum insgesamt geringen Be-stand an unternehmerisch selbstständigen Frauen mit Migrationsgeschichteführt. Unter den Unternehmer_innen mit Migrationsgeschichte bilden dieder ersten Zuwanderungsgeneration die zahlenmäßig am stärksten vertreteneGruppe. Während unter den deutschen Unternehmerinnen weniger als dieHälfte mit Kindern im eigenen Haushalt lebt, sind es bei den Frauen mitMigrationsgeschichte zwei Drittel. Selbstständige Frauen mit Migrations-geschichte verfügen sowohl über ein höheres Netto-Einkommen als auch

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3.3 Unternehmer_innen mit Migrationsgeschichte 61

über eine bessere Bildung als abhängig beschäftigte Frauen mit Migrations-geschichte. Hinsichtlich der Belegschaft ihrer Betriebe wird deutlich, dassUnternehmerinnen mit Migrationsgeschichte eher Frauen bzw. Frauen mitMigrationsgeschichte einstellen und sie eine höhere Ausbildungsbereitschaftals Männer mit Migrationsgeschichte aufweisen (vgl. ebd. 246 ff.). Neben derStudie von Leicht u.a. (2009) existieren weitere Studien, die Unternehmerin-nen mit Migrationsgeschichte beforschen: Bührmann u.a. (2010) entwickelnpraxisrelevante Konzepte für die Beratung von Unternehmerinnen mit Migra-tionsgeschichte. Kontos (2003) untersucht aus soziologischer Perspektive dieberufliche Sozialisation und die Lernprozesse, welche zu einer Gründungsmo-tivation führen. Apitzsch und Kontos (2008) untersuchen Unternehmerinnenmit Migrationsgeschichte in einer vergleichenden europäischen Studie aussoziologischer Perspektive und stellen hinsichtlich einer Unterstützung po-tenzieller Gründerinnen durch Mentor_innenprogramme die Relevanz einerAuseinandersetzung mit der eigenen Biografie heraus. Zöckler (2006) beziehtsich durch ihre Fokussierung auf Spanien auf ein Land, aus dem in den1970ern viele der in Deutschland tätigen Gastarbeitenden stammten. Inihrer Studie untersucht sie Erwerbsbiografien und -strategien andalusischerExistenzgründerinnen und betont solche Aspekte, die unabhängig von un-ternehmerischem Expert_innenwissen für die Unternehmerinnen Relevanzhaben (vgl. Zöckler 2006). Hillmann (1998b) stellt heraus, dass sich türkischeUnternehmerinnen im Vergleich zu türkischen Unternehmern bei der Ange-stelltensuche eher von ihrer ethnischen Community und Familienangehörigenabwenden.

Die erwähnten Studien geben Hinweise darauf, dass die Erkenntnisseder dargestellten Forschungsperspektiven zu Unternehmertum, Frauen undMigration in einer sich wechselseitig beeinflussenden Weise für Unternehme-rinnen mit Migrationsgeschichte Gültigkeit besitzen. Die Studie von Hillmann(1998b) gibt Hinweise darauf, dass Forschungsergebnisse zu Migrant_innenallgemein nicht direkt auf migrantische Frauen übertragbar sind; außerdemist die Gruppe der Frauen mit Migrationsgeschichte so vielfältig, dass esgenerell schwierig ist, allgemeingültige Aussagen zu machen. Die Erklärungs-ansätze für ethnic Entrepreneurship sind nicht geschlechtersensibel. Es istmöglich, dass die dargestellten Ergebnisse in einer Kombination mit dem,was zu Frauen und Unternehmertum bekannt ist, wirksam werden. Eineempirische Prüfung dessen steht noch aus; hierzu leistet die vorliegendeStudie einen Beitrag.

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62 3 Unternehmertum, Geschlecht und Migration

3.4 Entrepreneurship EducationEntrepreneurship Education umfasst im weiteren Sinne alle Bildungsmaßnah-men zur Weckung unternehmerischer Einstellungen und Fertigkeiten, beziehtsich also auf die Entwicklung bestimmter persönlicher Qualifikationen, dienicht unmittelbar zur Gründung eines Unternehmens führen müssen, aberkönnen. Im engeren Sinne bedeutet Entrepreneurship Education die Vermitt-lung von Fachwissen und Fertigkeiten, die für eine erfolgreiche Unternehmens-gründung und Unternehmensführung erforderlich sind (vgl. Schmette 2008:67). Das Thema Entrepreneurship Education sowie Gründungsförderungallgemein erhält in den letzten Jahren vermehrt Aufmerksamkeit29. Bei derAusrichtung der Entrepreneurship Education kann zwischen einer alten undeiner neuen Schule unterschieden werden. Die alte Schule orientiert sich aneinem objektivistischen Paradigma – sie beinhaltet ein materielles Bildungs-verständnis und ist am Behaviorismus orientiert. Für die neue Schule istneben der Vermittlung von konkreten Lerninhalten – wie dies das materielleBildungsverständnis nahelegt – die Entwicklung der individuellen Kräfte derLernenden zu einer unternehmerischen Persönlichkeit zentral. Daher ist siean einem subjektivistischen Paradigma orientiert und geht eher von einemformalen Bildungsverständnis in Anlehnung an den Konstruktivismus aus(vgl. Hekman 2005: 109ff.).

Die vorliegende Studie schließt mit ihrer Fokussierung auf die indivi-duellen Lernprozesse an die Frage an, wie die Interviewten ihre Rolle alsUnternehmerinnen erlernt haben. Hierbei ist zentral, welche Lerninhalteneben betriebswirtschaftlichen und managementbezogenen Inhalten relevantwurden und auf welche Weise die Interviewten sie erworben haben.

Basierend auf den Ergebnissen werden Impulse formuliert, zu welchenZeitpunkten der Lernprozesse von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschich-te eine Entrepreneurship Education, die die Entwicklung einer unternehme-rischen Persönlichkeit unterstützt, ansetzen kann30. Es wird angenommen,dass die Gruppe der Frauen mit Migrationsgeschichte in der Vergangenheitnicht adäquat von den existierenden Unterstützungssystemen profitierenkonnte.

„[Frauen und Migrantinnen, Anm. AL] können wegen dieserProblemlage, die von derjenigen des typischen, von der Politik

29Für eine Übersicht über Angebote der Entrepreneurship Education für verschiedeneZielgruppen in Deutschland siehe BMWi (2013: 4ff.).

30Krämer (2008: 78ff.) beispielsweise versucht es über das Konzept des selbstgesteuertenLernens – als Ziel, Methode und Voraussetzung.

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3.4 Entrepreneurship Education 63

berücksichtigten Existenzgründers, der männlich und deutsch ist,abweicht, vom regulären Angebot an Beratung und Förderungnicht angemessen profitieren.” (Kontos 1997: 278)

Auf verschiedenen Wegen wird deshalb versucht, Frauen bei der Unterneh-mensgründung durch die Schaffung von Strukturen und Gründung verschie-dener Institutionen zu unterstützen. Vielfältige Angebote richten sich explizitoder implizit an die Zielgruppe der Frauen mit Migrationsgeschichte31. Al-lerdings besteht weiterer Handlungs- und Forschungsbedarf (vgl. Leichtu.a. 2009: 246). Durch die aus ökonomischer Sichtweise hohe Relevanz, derBildungsangebote, steigt auch ihre Bedeutung für die Erwachsenenbildung.

Frauen mit Migrationsgeschichte verfügen gerade durch ihre Migrati-onsgeschichte über besondere Potenziale (vgl. Räthzel 1995: 30). Sie könnenjedoch nicht umfassend entfaltet werden, wenn kein detailliertes Wissendarüber vorliegt, welche Lernanforderungen sich für Migrantinnen bei derUnternehmensgründung stellen. Fritzsche (2006: 77) unterscheidet in diesemZusammenhang zwischen dem beruflichen und dem persönlichen/ sozia-len Lernen. Kontos (1997: 284) bringt den Migrationsprozess selbst mitdem Übergang von der abhängigen Beschäftigung in die Unabhängigkeit inVerbindung:

„Der_die Migrant_in hat also bereits durch den Migrations-akt die Transformation zu einem intentionalitätsreichen Handelnvollzogen, das für die Selbständigkeit im Regelfall während desProzesses der Transformation von der Kultur der abhängigenArbeit zur Kultur der selbständigen Arbeit in Form sozialenLernens angeeignet wird.”

Zu den detaillierten (überwiegend informellen) Lernprozessen von Unterneh-merinnen mit Migrationsgeschichte liegen jedoch wie erwähnt keine Studienvor. Die vorliegende Studie kann Impulse für eine Entrepreneurship Educati-on liefern, die teilnehmer_innenorientiert vorgeht. Das Vorhaben bestehtdarin, individuelle Lernprozesse zu rekonstruieren und zu ermitteln, welcheArt der Entrepreneurship Education den Interviewten auf ihrem Weg, Un-ternehmerinnen zu werden, geholfen hat. Außerdem kann aufgezeigt werden,welche Unterstützung sie sich gewünscht hätten.

31So gibt es z.B. Migrant_innenselbstorganisationen wie SELF e.V. und NIKE e.V. (vgl.SELF 2013; NIKE 2013)

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4 Migration, Geschlecht undArbeitsmarkt

Der Arbeitsmarkt bildet ein interdisziplinäres Forschungsfeld, das mit ver-schiedenen Forschungsperspektiven unter anderem von Ökonomie, Soziologie,Politikwissenschaften und Erziehungswissenschaft unter Bezugnahme aufArbeitsmarktbedingungen einerseits und gesellschaftsstrukturelle sowie in-dividuelle Bedingungen andererseits analysiert wird. Im Folgenden gehtes darum, die Forschungsansätze unter besonderer Bezugnahme auf dasWechselspiel von Arbeitsmarkt, Geschlecht und Migration darzulegen; Migra-tionsgeschichte und soziales weibliches Geschlecht stellen für die vorliegendeStudie die beiden ungleichheitsgenerierenden Kategorien dar, über die alleInterviewten verfügen. Anhand der Darstellung der Situation von Frauenmit Migrationsgeschichte im deutschen Arbeitsmarkt wird nachgezeichnet,welche Forschungsergebnisse zum Themenfeld Migration, Geschlecht undArbeitsmarkt für mein Vorhaben der empirischen Rekonstruktion von Lern-prozessen von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte relevant sind.

Bevor ich differenzierter auf einzelne Forschungsergebnisse zum Themen-feld eingehe, weise ich mit Gümen (2003: 38) darauf hin, dass die AspekteGeschlecht und Migration nicht kumulativ – also ein Aspekt dem anderennachgeordnet – sondern als einander ergänzend betrachtet werden sollten.Häufig wird die Migrationsthematik als Teilkapitel der Genderforschungthematisiert, während die Genderthematik ein Unterthema der Migrations-thematik darstellt (vgl. Gümen 1996, Lutz 2010: 573). Wenn beispielsweiseder Aspekt der Migration als dem Geschlecht nachgeordnet betrachtet wird,

„landen wir wieder bei der Auffassung, dass Einwanderungs-und Ethnisierungsprozesse periphere Ereignisse bzw. dem Haupt-determinant der Geschlechterhierarchie nachzuordnende Begleit-phänomene seien.” (ebd.)

Zudem geben Forschungsergebnisse zu den Schulerfolgen und zur Berufs-motivation von Frauen mit Migrationsgeschichte (vgl. z.B. Wilpert 1980)Hinweise darauf, dass eine kumulative Analyse der Untersuchungsgruppe,

A. Laros, Transformative Lernprozesse von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte, DOI 10.1007/978-3-658-09999-2_4, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015

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66 4 Migration, Geschlecht und Arbeitsmarkt

die bei der Geschlechterdichotomie anfängt und bei der daraus resultieren-den kumulativen dreifachen Benachteiligung – von Frau, Arbeitnehmerinund Minoritätsangehöriger – endet, verkürzte Sichtweisen präsentiert (vgl.Gümen 2003: 47).

Demnach stehen Forschungsvorhaben, die sich dem Themenfeld Ge-schlecht und Migration widmen, generell vor der Herausforderung, dass ihrForschungsgegenstand in einer Überschneidung zwischen Gender-Studiesund Migrationsforschung verortet ist, zu der bisher kaum Literatur exis-tiert (vgl. Lutz 2001, Hess/ Lenz 2001). Zudem wird die Forschung dadurcherschwert, dass die Themen Geschlecht und Migration mit unterschiedli-chen Forschungstraditionen verknüpft sind, welche sich relativ unabhängigvoneinander entwickelt haben.

Aufgrund dieser Voraussetzungen gehe ich im Folgenden auf verschiedeneForschungsstränge ein, die für die Themenbereiche Geschlecht und/ oderMigration relevant sind.

4.1 Gesellschaftstheoretische PerspektivenGesellschaftliche Aspekte werden von der Frauen- bzw. Genderforschungherangezogen, um die Situation von Frauen im Arbeitsmarkt zu erklären. Diefrühe Frauenforschung hatte zum Ziel, den Androzentrismus aufzubrechen(vgl. Bührmann u.a. 2000: 10). In ihren Anfängen in den 1970er Jahrenkonzentrierte sich die westdeutsche Frauenforschung – die später zur Ge-schlechterforschung wurde – auf das Thema Frauenarbeit32 (vgl. Bührmannu.a. 2000: 11). Mit dem Thema Frauenarbeit wurden nicht nur Fragen zurErwerbstätigkeit von Frauen bearbeitet, sondern es gerieten auch gesell-schaftliche Zusammenhänge in den Blick.

So befasst sich z.B. der sog. Ansatz der doppelten Vergesellschaftung,der auf Becker-Schmidt (1987) zurückgeht, mit der Herausforderung derVereinbarkeit von Beruf und Haushalt/Familie (vgl. Becker-Schmidt 2008).Durch die Betrachtung dieser Herausforderung rückt ein neues Bewusstseinfür die Situation von Frauen in den Fokus der Forschungen:

„Mit der Doppelorientierung von Frauen auf den Berufs- undReproduktionsbereich rückten die Begriffe Widerspruch undAmbivalenz in den Mittelpunkt der Analyse und das Arbeits-vermögen von Frauen wird in der Folge als eines bestimmt, das

32Insbesondere in ihren Anfängen befasste sich die Frauenforschung nicht mit Frauenmit Migrationsgeschichte (vgl. Han 2003: 1).

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4.1 Gesellschaftstheoretische Perspektiven 67

gerade durch die Integration widersprüchlicher Anforderungengekennzeichnet ist.” (Wetterer 1992: 18)

Die als doppelte Vergesellschaftung beschriebene Herausforderung der Verein-barkeit von Familie und Beruf kann für Frauen einen gleichzeitigen Prozessvon Integration und Segregation bedeuten. Ein solcher findet z.B. statt, wennFrauen Teilzeitarbeitsplätze annehmen (Segregation im Arbeitsmarkt), umder Verpflichtung im Haushalt nachzukommen (Integration von Familie undHaushalt) (vgl. Geissler 1998: 161).

Lenz entwickelte den Ansatz der doppelten Vergesellschaftung zur dreifa-chen Vergesellschaftung weiter; sie beschreibt die Aspekte Kapitalverhältnis,Nationalstaat und Familie/Haushalt als Determinanten für vergesellschaftli-chende Prozesse (vgl. Lenz 1995, 2009; vgl. auch Laros 2013). Der Aspektdes Kapitalverhältnisses entspricht dem im Rahmen der doppelten Ver-gesellschaftung angesprochenen Aspekt des Berufs und bezieht sich aufdie Tatsache, dass Frauen entweder Güter produzieren, oder im kapita-listischen Arbeitsmarkt beschäftigt sind. Der Aspekt des Nationalstaatesberücksichtigt die Rolle der Frauen als Staatsbürgerinnen, hierbei stehendurch nationale Mitgliedschaften verursachte Ausschlussmechanismen so-wie Migrant_innengruppen betreffende ethnische Zuschreibungsprozesse imFokus (vgl. Lenz 2008: 97).

„Während der moderne Nationalstaat seinen männlichen undweiblichen Mitgliedern formal geschlechtsneutrale, real abergeschlechtshierarchische Zugänge zu Rechten und Ressourcenverschafft, grenzt er die Zuwandernden als ,Ausländerinnen undAusländer’ aus. Sie erhalten Rechte oder Zugang zu Ressourcenin geringerem Umfang oder werden davon ausgeschlossen.” (ebd.98)

Insgesamt zeigt sich, dass zur Vergesellschaftung von Frauen neben denAspekten Familie und Beruf maßgeblich soziale Schließungsprozesse beitra-gen, die durch nationale Mitgliedschaften beeinflusst werden. Mit Blick aufeine unternehmerische Selbstständigkeit kann daher z.B. die Familie sowohlein Hemmnis als auch ein Motiv für die unternehmerische Selbstständigkeitsein. Sie erweist sich als Hemmnis, wenn der Zeitmangel in den Vordergrundgestellt wird, der mit der Übernahme familiärer Verantwortung einhergeht,und wird zum Motiv, wenn der Vorteil der freien Zeiteinteilung betont wird,den eine unternehmerische Selbstständigkeit mit sich bringt (vgl. Lauxen-Ulbrich/ Leicht 2005: 17; vgl. auch Leicht u.a. 2009). Vor diesem Hintergrunderhält die Selbstständigkeit von Frauen eine andere Rahmung als die von

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68 4 Migration, Geschlecht und Arbeitsmarkt

Männern. Während die unternehmerische Selbstständigkeit von Frauen alsMöglichkeit beschrieben werden kann, Anforderungen von Familie und Be-ruf durch einen „maßgeschneiderten Arbeitsplatz” zu vereinbaren, wird dieSelbstständigkeit von Männern eher als eine rein berufliche Entscheidunggedeutet (BMWi 2013: 2).

Die Ansätze der doppelten und dreifachen Vergesellschaftung erfahrendurch den Ansatz der Intersektionalität eine Erweiterung. Die Erweiterungbesteht darin, dass das Geschlecht als alleinige identitätskonstruierende Kate-gorie überwunden wird, indem weitere Kategorien wie Ethnizität und Milieuin den Blick genommen werden. Mit Blick auf die Kategorie Geschlechtführt das zu einem Wechsel der Forschungsperspektive (vgl. Bergmann u.a.2012: 11). Die Geschlechter werden nun als heterogene Kategorien betrach-tet, die in einem vielschichtigen Bedingungsgefüge stehen. Eine verkürzteBetrachtung des weiblichen Geschlechtes, wie sie für die Ansätze der dop-pelten und dreifachen Vergesellschaftung charakteristisch ist, wird dadurchvermieden. Insgesamt betrachtet steht der Ansatz der Intersektionalität füreinen Forschungstrend in der Genderforschung, gemäß dem darauf geachtetwird, die komplexen Zusammenhänge, in denen Frauen agieren, möglichstgenau zu erfassen, indem die Strukturkategorie Geschlecht ausdifferenziertund in Kombination mit anderen Kategorien betrachtet wird.

Für meine empirische Studie zu Lernprozessen von Unternehmerinnenmit Migrationsgeschichte beschreiben die Ansätze zur doppelten und dreifa-chen Vergesellschaftung sowie zur Intersektionalität wichtige Vorannahmen.Bezüglich der doppelten Vergesellschaftung kann davon ausgegangen werden,dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf im Rahmen der Lernprozesseder von mir interviewten Frauen eine zentrale Rolle spielt. Demgemäß richteich in meiner Studie das Augenmerk darauf, inwiefern die unternehmerischeSelbstständigkeit der Frauen es zulässt, Familie und Beruf miteinander zuvereinbaren. Um dies differenziert beantworten zu können, wird im Zugedes theoretischen Samplings darauf zu achten sein, dass sowohl Frauen ohneKinder als auch Frauen mit Kindern, die entweder in einer Partnerschaftleben oder alleinerziehend sind, interviewt werden. Im Sinne der dreifachenVergesellschaftung und des Intersektionalitätsansatzes wird bei diesem Vorge-hen auch auf die Staatsbürgerschaft bzw. die Migrationsgeschichte zu achtensein, woraus sich zusätzliche Herausforderungen ergeben können, die für dieLernprozesse der Frauen relevant sind. In diesem Zusammenhang könntensich z.B. bestimmte Rollenverständnisse und Familienvorstellungen der Her-kunftsländer als Herausforderung für die unternehmerische Selbstständigkeiterweisen.

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4.2 Humankapitaltheorien 69

4.2 HumankapitaltheorienHumankapitaltheorien sind angebotsseitig orientiert, da sie darauf eingehen,was eine Person an Humankapital anzubieten hat. Sie gelten als Weiter-entwicklung des neoklassischen Gleichgewichtsmodells (vgl. Becker 1993),und basieren auf der Annahme, dass sich in Märkten unter gleichbleibendenBedingungen ein Gleichgewicht herstellt: Für Arbeitsmärkte wird angenom-men, dass sich ein Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage nachArbeitsplätzen einstellt. Die Humankapitaltheorien gehen davon aus, „dassdie Produktivität und damit der Wert des Arbeitnehmers auf dem Arbeits-markt durch sein Wissen und seine Fähigkeiten bestimmt werden. Diese(...) müssen von dem Arbeitnehmer unter Kosten erworben werden” (Hinz/Abraham 2005: 33).

Humankapitaltheorien postulieren, dass das Individuum über sein Hu-mankapital frei entscheiden kann. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass mitsteigendem Bildungsniveau der Wert auf dem Arbeitsmarkt steigt, was zueiner besseren Positionierung auf dem Arbeitsmarkt führt.

„Das Humankapital bestimmt das Arbeitsvermögen eines Men-schen und somit seine Produktivität und das damit erzielbareEinkommen einer Person. (...) Bildung [hat] durch die damit ver-bundene Steigerung der Produktivität eine Ertragsrate.” (Binder2007: 45)

Mit dem Zusammenhang zwischen Bildung und Produktivität wird nahege-legt, dass Individuen selbstselektiv vorgehen, indem durch ihre Investitionin ihr Humankapital automatisch ihre Produktivität und ihr Einkommengesteigert werden. Dass der angenommene Kausalzusammenhang zwischenBildung und Produktivität nicht automatisch gegeben ist, zeigen Studienmit Gender- sowie Migrationsfokus. Die Annahme, dass durch die Entschei-dung für Berufe mit höheren Löhnen das Einkommen von Frauen maximiertwerden könnte, wird vor allem durch amerikanische Studien widerlegt. Sieweisen anhand der schlechteren Lohnentwicklungen von Frauen im Vergleichzu Männern (vgl. Blau/ Ferber 1991), den niedrigeren Eintrittsgehälternvon Frauen im Vergleich zu Männern (vgl. Baron/ Newman 1989, 1990;Engelbrech/ Nagel 2002) und anhand der Lohneinbußen, die nach einerErwerbsunterbrechung entstehen, die für beide Geschlechter gleich ist33 (vgl.Corcoran u.a. 1984, England u.a. 1988), darauf hin, dass die Benachteiligung

33Allerdings gehen Frauen eher eine familienbedingte Erwerbsunterbrechung ein alsMänner (vgl. BMFSFJ 2010: 20ff.).

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70 4 Migration, Geschlecht und Arbeitsmarkt

von Frauen im Arbeitsmarkt anders gelagert ist, als die Annahme der Selbst-selektion suggeriert. Zu nennen wären hier Diskriminierungsprozesse, diehumankapitaltheoretische Ansätze nicht berücksichtigen, wie z.B. Zugangs-barrieren für Frauen zu Bildungseinrichtungen und zu männlich dominiertenStudiengängen (vgl. z.B. Binder 2007: 50). Achatz (2005: 288) macht deutlich,dass die These der Selbstselektion allenfalls teilweise abgesichert werdenkann:

„Die Erwartungshypothese, wonach sich die Berufswahl anden geplanten Erwerbsunterbrechungen und dem erzielbarenLebenseinkommen orientiert, findet in den empirischen Arbeitenam wenigsten Unterstützung.”

Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass die Humankapitaltheorien aufgrundihrer mangelhaften empirischen Evidenz sowie wegen der Nichtbeachtungunterschiedlicher Bildungszugänge kritisiert werden (vgl. Binder 2007: 68).Weitere Hinweise für eine mangelnde Erklärungswirksamkeit der Humankapi-taltheorien liefern auch die Zahlen zum Bildungserfolg von Frauen: Obwohlgemäß der Verteilung der Bildungsabschlüsse und somit des Humankapitalszwischen den Geschlechtern von einer Gleichverteilung von Frauen und Män-nern in allen Segmenten des Arbeitsmarktes ausgegangen werden könnte, istdem nicht so34. Dies wird beispielhaft anhand der Zahlen zu Führungskräftendeutlich: 2010 waren lediglich 30% der Führungskräfte weiblich. Von allenweiblichen Führungskräften waren 49% im Bereich Erziehung und Unterrichttätig, 17% waren im verarbeitenden Gewerbe beschäftigt und 15% warenim Baugewerbe angestellt. An der Verteilung der weiblichen Führungskräfteauf die unterschiedlichen Branchen zeigt sich, dass ein enger Zusammenhangzwischen dem Frauenanteil in der jeweiligen Branche und dem Anteil anFrauen in Führungspositionen besteht (vgl. Destatis 2012a: 26f.). Die Zahlenverdeutlichen exemplarisch die Ungleichheiten zwischen den Geschlechternund die Benachteiligung der Frauen im deutschen Arbeitsmarkt. Für meineempirische Studie bedeutet dies, dass darauf zu achten sein wird, ob undinwiefern die allgemeine Benachteiligung von Frauen im deutschen Arbeits-markt für die von mir interviewten Frauen eine Rolle spielt. Ausgehend vonden dargestellten Forschungsergebnissen kann z.B. angenommen werden, dassdie Benachteiligung sogar ein zentrales Gründungsmotiv darstellt. Zudemwird es interessant sein, die von den Interviewten geführten Unternehmenhinsichtlich der Belegschaftszusammensetzung zu betrachten. Diesbezüg-lich stellt sich die Frage, ob die Frauen, die Angestellte beschäftigen, auchvermehrt Frauen und/ oder Migrant_innen einstellen.

34Zu den niedrigeren Verdienstmöglichkeiten von Frauen siehe z.B. Schäfer 2002.

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4.2 Humankapitaltheorien 71

Ein weiterer Aspekt, der mit den Humankapitaltheorien in Verbindungsteht und für meine empirische Studie relevant ist, besteht in der Annahme,dass Frauen im Vergleich zu Männern über weniger selbstständigkeitsrele-vantes Humankapital verfügen (vgl. Jungbauer-Gans 1992: 63f.; Strohmey-er 2004; Leicht u.a. 2009). Das selbstständigkeitsrelevante Humankapitalwird unterteilt in „Selbstständigkeitserfahrung”, „Branchenerfahrung” und„Führungserfahrung”. Selbstständigkeitserfahrung wird durch die eigenenErfahrungen mit unternehmerischer Selbstständigkeit erworben, Branchen-erfahrung durch Erfahrungen in der jeweiligen Branche sowie dem damiteinhergehenden Erwerb relevanten Wissens über die Branche und zum Erwerbvon Führungserfahrung kommt es im Rahmen der Tätigkeit als Führungs-kraft (vgl. Jungbauer-Gans 1993: 42, 86; Klandt 1984). Die Annahmen zumfehlenden selbstständigkeitsrelevanten Humankapital von Frauen werdendurch die Ergebnisse der Münchner Gründerinnenstudie unterstrichen (vgl.Jungbauer-Gans 1993). Daneben stellen Jungbauer-Gans und Preisendörfer(1992) bezogen auf ihre Analyse der Sterberate von Betrieben fest: Wenn„Frauen mit derselben Humankapitalausstattung in die berufliche Selbststän-digkeit einträten wie die Männer und/oder wenn Frauen dieselbe Art vonBetrieben gründeten, gäbe es keine geschlechtsspezifischen Unterschiede derBestandschancen von Männer- und Frauenbetrieben” (Jungbauer-Gans/ Prei-sendörfer 1992: 69). Gemäß der Annahmen zum selbstständigkeitsrelevantenHumankapital wird in meiner empirischen Studie zu Lernprozessen von Un-ternehmerinnen mit Migrationsgeschichte darauf zu achten sein, über welcheArt des selbstständigkeitsrelevanten Humankapitals die von mir interview-ten Unternehmerinnen zu Beginn ihrer unternehmerischen Selbstständigkeitverfügt haben. Aufschluss darüber kann die Rekonstruktion biografischerVorerfahrungen liefern. Nachzuvollziehen wäre dann z.B., ob die Unterneh-merinnen bei der Gründung auf für sie stützende berufliche Vorerfahrungenzurückgreifen konnten, die unter Selbstständigkeits-, Branchen- oder Füh-rungserfahrung zusammengefasst werden können. Es wäre durchaus möglich,dass die Unternehmerinnen dabei auch biografische Vorerfahrungen thema-tisieren, die eher im privaten als im beruflichen Bereich angesiedelt sind,und/oder dass sie ihren unternehmerischen Erfolg in einem Zusammenspielaus beruflichen und privaten Vorerfahrungen verorten. Im Zuge des theo-retischen Samplings wird daher darauf zu achten sein, dass sowohl Fraueninterviewt werden, die aus Unternehmer_innenfamilien stammen, als auchFrauen, deren familiäre Sozialisation nicht vom Unternehmertum geprägtist. Auf diese Weise wird es möglich sein nachzuvollziehen, ob indirekteSelbstständigkeitserfahrungen, die im Rahmen der Sozialisation erworben

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72 4 Migration, Geschlecht und Arbeitsmarkt

wurden, von entscheidender Relevanz für eine erfolgreiche Unternehmungsind.

Ein weiterer für meine Studie relevanter Aspekt ist, dass Humankapi-taltheorien das jeweilige Humankapital in Abhängigkeit von der Zuwande-rungsgeneration betrachten. Bezogen auf die erste Zuwanderungsgenerationkann mit der Migration eine Entwertung des Humankapitals im Aufnahme-land einhergehen. Hier können nicht anerkannte, bzw. formal anerkannte,aber von Arbeitgeber_innen nur bedingt anerkannte Abschlüsse eine Rollespielen. Daneben ist die Relevanz der verschiedenen Aspekte des Humanka-pitals von den jeweiligen Gesellschaften beeinflusst (vgl. Esser 2001). So istz.B. in einem afrikanischen Betrieb, der nicht computerbasiert arbeitet, einanderes Humankapital bedeutsam als in einem computerbasiert arbeitendendeutschen Unternehmen. Als weiterer Aspekt wird die selektive Migrationgenannt. So lässt sich für die ursprüngliche Anwerbung von Arbeitskräftenaus den Gastarbeiter_innenstaaten eine negative Selektivität35 von Seitendes Aufnahmelandes erkennen: Sie ist gegeben, wenn die angeworbenenArbeitskräfte eine niedrige Qualifikation mitbringen. Zusätzliche Erklärungs-ansätze für eine Schlechterstellung von Zugewanderten der ersten Generationgehen auf mangelnde Sprachkenntnisse sowie die Segmentation des deutschenArbeitsmarktes ein (vgl. Kalter 2005: 322). So werden die Gründe für sozialeUngleichheit z.T. bei den Migrant_innen selbst gesucht, indem z.B. aufeine geringe Berufsorientierung und eine überhöhte Familienorientierungeingegangen wird (vgl. Castro Varela 2003: 14). Daneben werden besondereMotivationen bezüglich der Investition in Humankapital im Aufnahmelandherausgestellt, die sowohl auf Seiten der Arbeitnehmenden als auch auf Sei-ten der Arbeitgebenden durch die (angenommene) Rückkehrorientierung36

sinken (vgl. Kalter 2005: 306f.).Bezogen auf die zweite Zuwanderungsgeneration können die letztgenann-

ten Aspekte nicht wirksam werden, wenn die Sozialisation in Deutschlanderfolgte. Kalter (2005) stellt diesbezüglich heraus, dass die schlechte Positio-nierung auf dem Arbeitsmarkt für die zweite Generation nicht durch direkteDiskriminierungen im Arbeitsmarkt, sondern eher durch geringe formaleQualifikationen determiniert wird. Dass für die zweite Zuwanderungsgenera-tion eine geringe formale Qualifikation mit einer indirekten Diskriminierungzusammenhängen kann, wurde seit dem Jahr 2000 mehrfach durch die PISA-Studien aufgezeigt. Sie wiesen wiederholt nach, dass in Deutschland im

35Eine positive Selektivität besteht demgegenüber häufig für Zugewanderte aus West-europa (vgl. Kalter 2005).

36Zur Vielschichtigkeit der Rückkehrorientierung siehe Kontos (2000: 171). Sie be-schreibt die Beiträge der Rückkehrorientierung zur Integration und Identitätsstiftung.

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4.3 Soziales und kulturelles Kapital 73

Vergleich zu anderen Ländern ein relativ hoher Zusammenhang zwischendem Bildungserfolg von Kindern und den Bildungsaspirationen ihrer El-tern besteht37. Aufgrund dieses Zusammenhangs können die für die ersteGeneration wirksam werdenden Nachteile auch auf die zweite Generationübertragen werden; beispielhaft dafür sind Sprachprobleme (vgl. Kalter 2005:308f. und 326). So kann es zu einer indirekten Diskriminierung kommen, diesich auch auf den Arbeitsmarkt auswirkt. Bei ihr handelt es sich um eineDiskriminierung, die auch bildungsferne Deutsche ohne Migrationsgeschichtebetrifft (vgl. hierzu Rommelspacher 1998: 245). Dem Ergebnis zur geringenformalen Qualifikation von Menschen der zweiten Zuwanderungsgenerationstellt Castro Varela (2003: 29) folgendes Ergebnis gegenüber:

„Faktum ist (...), dass selbst Migrantinnen, die in Deutsch-land geboren sind, die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen,in Deutschland einen höheren Bildungsabschluss erlangt habenund Deutsch als Erstsprache sprechen, mit erheblichen Schwie-rigkeiten beim Zugang zum Arbeitsmarkt rechnen müssen.”

Damit unterstreicht Castro Varela, dass die Diskriminierungen im Arbeits-markt anders gelagert sein können, als dies die PISA-Studien nahelegen.

Insgesamt wird deutlich, dass sowohl die erste als auch die zweite Zu-wanderungsgeneration unterschiedlichen Diskriminierungsformen ausgesetztsind. Für meine empirische Studie zu Lernprozessen von Unternehmerinnenmit Migrationsgeschichte bedeutet dies, dass im Zuge des theoretischenSampling darauf geachtet werden sollte, dass sowohl Frauen aus der erstenals auch aus der zweiten Zuwanderungsgeneration interviewt werden. Aufdiese Weise kann untersucht werden, ob die Zugehörigkeit zu einer bestimm-ten Zuwanderungsgeneration Einfluss auf den Verlauf der Lernprozesse derUnternehmerinnen hat.

4.3 Soziales und kulturelles KapitalBourdieu (1983, 1986) liefert eine Gesellschaftstheorie, die die Segregation desArbeitsmarktes erklärt, indem sie auf das Individuum im gesellschaftlichenKontext eingeht und die Ausstattung des Individuums mit verschiedenenKapitalarten betrachtet. Bourdieus Theorie beschreibt habituelle Dispositio-nen und damit in Zusammenhang stehende Kapitalarten wie z.B. das soziale

37Niedrigere Leistungen von Schüler_innen mit Migrationshintergrund im Vergleich zuSchüler_innen ohne Migrationshintergrund weisen die PISA-Studien kontinuierlichnach; auch wenn die Unterschiede geringer werden (Prenzel u.a. 2013: 275ff.).

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74 4 Migration, Geschlecht und Arbeitsmarkt

und kulturelle Kapitel (vgl. Bourdieu 1983, 1986; von Hausen 2010). DerUnterschied zu den Humankapitaltheorien besteht darin, dass Bourdieu auchMachtverhältnisse und Ungleichheiten thematisiert (vgl. auch Erel 2003:163).

Das Sozialkapital bei Bourdieu verweist auf die sozialen Beziehungen inder gesellschaftlichen Gesamtstruktur, womit z.B. die Familie, Freund_innen,Netzwerke und Organisationen gemeint sind (vgl. Bourdieu 1983). Für daskulturelle Kapital, welches in Bourdieus Theorie das Humankapital reprä-sentiert gilt, dass es nicht objektiv gegeben ist, sondern ein Ergebnis ge-sellschaftlicher Aushandlungen darstellt. Das kulturelle Kapital schließt dieVerwertung von Wissen und Können (vgl. auch Nohl u.a. 2010a), Bildungs-abschlüssen, Bildungsorientierungen etc. mit ein. Eine im Migrationskontextspezifische Kapitalart ist die des ethnischen Kapitals, welche in der Lite-ratur als Besonderheit des kulturellen Kapitals beschrieben wird (vgl. z.B.Schmidtke 2010). Eine Art des Unternehmertums, die in besonderem Zu-sammenhang mit ethnischen sozialen Netzwerken steht, ist die sogenannteNischenökonomie38. Die Kapitalarten können für die Gruppe der Menschenmit Migrationsgeschichte besondere Herausforderungen mit sich bringen,v.a. wenn für den Erfolg in Deutschland ungünstige Bildungsorientierungenbestehen und außerdem vor dem Hintergrund, dass kulturelles bzw. ethni-sches Kapital39, wie oben erläutert, erst gesellschaftlich ausgehandelt werdenmuss40. So kann für Menschen mit Migrationsgeschichte eine ungünstigeKapitalausstattung bestehen.

„[Es] zeigt sich am Beispiel der Migration mit besonderer Präg-nanz, was für den Begriff des kulturellen Kapitals allgemein gilt:Bildung, Wissen und Können sind nicht einfach kulturelles Kapi-tal, sondern bezeichnen eine gesellschaftlichen und historischen,aber auch biographischen Veränderungen unterworfene Relationzwischen den Erwartungen des Arbeitsmarktes einerseits unddem, womit man im Bildungssystem ausgestattet wurde undwird.” (Nohl u.a. 2010c: 13)

Wenn das mitgebrachte kulturelle Kapital im Aufnahmeland verwendetwerden kann, so sprechen Nohl u.a. (2010b: 81) von transkulturellem Ka-

38Die Nischenökonomie wird als solche bezeichnet, da betreffende Personen innerhalbihrer ethnischen sozialen Netzwerke in einer Art Nische agieren (vgl. z.B. Light 1972;Light/ Rosenstein 1995; Portes 1995a/ b; Light/ Gold 2000; Portes/ Shafer 2007).

39Homogene ethnische soziale Netzwerke werden auch als ethnisches Kapital bezeichnet(vgl. z.B. Borjas/ Freeman 1992).

40Für eine Analyse von kulturellem und sozialem Kapital von Migratinnen siehe Erel(2003: 154 ff.).

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4.3 Soziales und kulturelles Kapital 75

pital. Die im vorliegenden Kapitel dargelegten Erklärungsansätze für dieUngleichheit im deutschen Arbeitsmarkt bringen mit sich, dass eine ethnischeDiskriminierung nicht direkt belegbar ist (vgl. Kalter 2005: 327).

Die Ansätze zu sozialem Kapital und Netzwerken versuchen neben denUngleichheiten im Arbeitsmarkt auch zu erklären, warum der Anteil derselbstständigen Frauen unter dem der Männer liegt, indem sie die Verfüg-barkeit verschiedener Netzwerke betrachten. In der ökonomischen Literaturwird zwischen starken bzw. engen Netzwerken, wie z.B. Familie und engeFreund_innen (strong ties) – sowie schwachen Netzwerken, wie z.B. Ge-schäftspartner_innen und entfernte Bekannte (weak ties) unterschieden. Diejeweiligen Netzwerke können einen Einfluss auf eine (mögliche) unternehme-rische Selbstständigkeit haben, wobei die Forschungsergebnisse zu der Frage,welche Art der Netzwerke förderlicher für einen Unternehmenserfolg sind,nicht einheitlich sind (vgl. Jungbauer-Gans 1993: 90; Leicht/ Welter 2004:21). Institutionalisiert existieren vielfältige Netzwerke, die z.B. in Form vonKursen und Unterstützungsangeboten für Gründerinnen bereitstehen. AusZeitmangel nutzen Gründerinnen solche allerdings seltener als Gründer.

In den Daten der vorliegenden Studie wird nachgezeichnet, welche Rolleverschiedene Elemente, die mit den Kapitalarten in Verbindung gebrachtwerden können, einnehmen. So wird analysiert, inwiefern die Interviewtenvon ihren Eltern ausgegangene Einflüsse als bedeutsam für ihre Lernpro-zesse beschreiben und um welche Einflüsse es sich hierbei handelt. Da dieInterviewten entweder in Deutschland mit mindestens einem ausländischenElternteil, oder aber im Ausland aufgewachsen sind, wird davon ausgegangen,dass bei den von den Eltern ausgehenden Ressourcen die Migrationsgeschich-te besonders zur Geltung kommt. Außerdem wird beschrieben, welche Rollestarke sowie schwache Netzwerke für die Lernprozesse der Unternehmerinnenspielen. Durch die Tatsache, dass Gründerinnen institutionalisierte Netzwerkewie z.B. Kurse, in denen unternehmerisches Wissen vermittelt wird, seltenerNutzen als Gründer, kann davon ausgegangen werden, dass soziale Netzwerkefür die Untersuchungsgruppe eine relevante Rolle spielen. Da somit davonausgegangen wird, dass die Unternehmerinnen relevantes unternehmerischesWissen überwiegend durch den kommunikativen Austausch innerhalb ihrersozialen Netzwerke erwerben, liegt auch die Annahme nahe, dass die Unter-nehmerinnen ihre für ihre Unternehmungen relevanten Netzwerke im Zugeder Gründung weiter ausdifferenzieren.

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76 4 Migration, Geschlecht und Arbeitsmarkt

4.4 DiskriminierungstheorienEs existieren vielfältige Diskriminierungstheorien41, die versuchen, Ungleich-heiten im Arbeitsmarkt zu erklären. Die im Folgenden dargestellten Theorienbeziehen sich auf askriptive – also (unveränderlich) zugeschriebene – Merk-male, die auf tatsächlichen oder fälschlich angenommenen Unterschieden inder Produktivität von potenziellen Arbeitnehmenden basieren. Zur Erklä-rung von Marktdiskriminierungen hat der Humankapitaltheoretiker Becker(1957) das Präferenzmodell entwickelt. Mit ihm weist er nach, dass vonder sogenannten Nachfrageseite – Arbeitgeber_innen, Arbeitnehmer_innen,Kolleg_innen und Kund_innen – aufgrund von ethnischen PräferenzenMarktdiskriminierungen bzw. Segregationen ausgehen. Obwohl Unterschiedezwischen dunkel- und hellhäutigen Menschen den Ausgangspunkt für denErklärungsansatz bilden, überträgt ihn der Autor auch auf Unterschiedezwischen Frauen und Männern auch wenn er bemerkt, dass die ethnische Ab-neigung nur bedingt auf das Geschlechterverhältnis übertragbar ist. Dennochweist sein Präferenzmodell darauf hin, dass Frauen mit Migrationsgeschichtemehrfachen Benachteiligungen ausgesetzt sind42. Auch für meine empirischeStudie zu Lernprozessen von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschich-te ist das Präferenzmodell relevant. Es kann davon ausgegangen werden,dass auch die von mir interviewten Frauen Diskriminierungen aufgrundihrer Migrationsgeschichte erfahren haben. Darüber hinaus wäre es möglich,dass erlebte Diskriminierungen ausschlaggebend dafür waren, den Weg derunternehmerischen Selbstständigkeit einzuschlagen.

Neben dem Präferenzmodell setzt auch die Theorie der statistischenDiskriminierung an askriptiven Merkmalen an. Achatz (2005: 269) beschreibtdie Theorie der statistischen Diskriminierung wie folgt:

„Arbeitgeber haben bei Stellenbesetzungen nur begrenzteInformationen über produktivitätsrelevante Merkmale der Be-werber zur Verfügung. (...) Annahmen etwa über eine geringereEinsatzbereitschaft oder eine höhere Fluktuation von Frauenwerden aus dem durchschnittlich beobachtbaren Verhalten dieserGruppe hergeleitet.”

41Hier können z.B. die institutionelle, individuelle, strukturelle, offene, versteckte, di-rekte, indirekte, echte, unechte und ökonomische Diskriminierung genannt werden.Für einen Überblick über Diskriminierungsarten aus ökonomischer Perspektive sieheBinder (2007: 24ff.).

42Zur zusammenfassenden Kritik an diesem verkürzt nachfrageseitig argumentierendenModell siehe Binder (2007: 38ff.). Es kann eher zur Erklärung von Segregation als zulangfristiger Erklärung von Diskriminierung beitragen (vgl. Binder 2007: 68).

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4.4 Diskriminierungstheorien 77

Eine solche, auf rein askriptiven Merkmalen basierende Diskriminierung kannsich auf Frauen wie eine self-fullfilling-prophecy auswirken, was zur Folgehaben kann, dass sie auf Diskriminierungen mit geringeren Investitionen inihr Humankapital reagieren (vgl. Binder 2007: 53).

Von der statistischen Diskriminierung und dem Präferenzmodell, die aufaskriptiven Merkmalen basieren, sind Diskriminierungen zu unterscheiden,die eher von struktureller Natur sind. Strukturelle Diskriminierungen könnensowohl vom Staat und dessen Einfluss auf das Bildungswesen ausgehen, alsauch vom Arbeitsmarkt, dem öffentlichen Diskurs (vgl. Nohl u.a. 2010c: 17)und der rechtlichen/ politischen Situation bedingt werden. Ein Beispiel fürdie strukturelle Diskriminierung stellt die Nicht-Anerkennung ausländischerAbschlüsse dar. Festzuhalten bleibt, dass sich sowohl strukturelle Diskrimi-nierungen als auch Diskriminierungen, die auf zugeschriebenen Merkmalenbasieren, auf Frauen und auf Migrant_innen auswirken können. Im Hinblickauf meine empirische Studie zu Lernprozessen von Unternehmerinnen mitMigrationsgeschichte bedeutet das, dass meine Untersuchungsgruppe unterdem Einfluss unterschiedlicher Diskriminierungsarten stehen kann. Es kanndavon ausgegangen werden, dass der Nachvollzug von berufsbiografischenErfahrungen, die die Frauen im abhängigen Arbeitsmarkt gemacht haben,bevor sie ihr Unternehmen gegründet haben, Aufschluss darüber gibt, ob undinwiefern sich mögliche Diskriminierungen auf ihre Lernprozesse auswirken.

Für die Erklärung der geringen Präsenz von Frauen unter den Selbststän-digen stellen Diskriminierungen eine mögliche Erklärung dar. Die genanntenDiskriminierungslinien im Arbeitsmarkt können auch für potenzielle Un-ternehmerinnen wirksam werden (für eine Übersicht über die möglichenwirksam werdenden Diskriminierungstheorien siehe Jungbauer-Gans 1993:49). Demgegenüber können gerade die Diskriminierungen, die im abhän-gigen Arbeitsmarkt erfahren werden, auch zu sogenannten Push-Faktorenfür eine unternehmerische Selbstständigkeit werden und so zu steigendenSelbstständigkeitsraten bei Frauen beitragen (vgl. Leicht u.a. 2004: 25).

Einschränkend für Erklärungsansätze, die eine Schlechterstellung vonFrauen im Arbeitsmarkt im Vergleich zu Männern durch Bezugnahme aufDiskriminierung erklären gilt, dass die Schlechterstellung nicht zwangsläu-fig mit Diskriminierung zusammenhängen muss, aber kann: So können dieverschiedenen Indikatoren für eine Benachteiligung von Frauen neben Dis-kriminierung auch mit Selbstselektion oder Sozialisation zusammenhängen(vgl. Binder 2007: 336). Hinsichtlich des Einkommens kann „die monetäreOrientierung zwischen den Geschlechtern (...) unterschiedlich stark sein”(Binder 2007: 20). Ausgehend davon wird die These vertreten, dass einegeringere monetäre Orientierung von Frauen verantwortlich für deren Be-

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78 4 Migration, Geschlecht und Arbeitsmarkt

rufswahl sei. Um auch diese Position in meiner Studie zu den Lernprozessenvon Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte zu berücksichtigen, wirdes erforderlich sein, dass in den Interviews nicht nur möglichen Diskriminie-rungserfahrungen nachgegangen wird, sondern auch nach Motiven gefragtwird, die zur Berufswahl geführt haben. Werden sie berücksichtigt, kanndavon ausgegangen werden, dass sich anhand der Motive sowohl Aspekteder Diskriminierung als auch der Selbstselektion nachzeichnen lassen, dieu.U. eng miteinander verwoben auftreten.

4.5 Reflexionen zu meiner „deutschen”Forschungsperspektive

Die Aspekte Benachteiligung und Ungleichheit sind zentral für den For-schungsstand und haben auch meine deutsche Forschungsperspektive beein-flusst. Sie wurde mir besonders im Rahmen meiner Datenerhebung bewusst:Verschiedene meiner Interviewpartnerinnen haben positiv ihre Chancen undMöglichkeiten, die der deutsche Kontext bietet, herausgestellt. Eine solchepositive Herangehensweise durch die, wie ich dargelegt habe, aus deutscherPerspektive mehrfach benachteiligte Gruppe, begründet sich darin, dassdie Frauen zunächst auf negative berufliche Bedingungen referieren, diesie in dem Land gehabt hätten, das mit ihrer Migrationsgeschichte in Ver-bindung steht. So stellt bspw. eine der interviewten Frauen heraus, dasssie aufgrund der patriarchalen Strukturen in ihrem Herkunftsland Italienniemals die beruflichen Chancen gehabt hätte, die ihr nach ihrer Migrati-on nach Deutschland zur Verfügung standen. Eine weitere Interviewte ausder Türkei, die als Friseurin selbstständig ist, beschreibt, dass das für siein der Türkei undenkbar gewesen wäre, da der Beruf des Friseurs in derTürkei rein männlich dominiert ist. Die Ausführungen zeigen, dass es imSinne einer differenzierten Herangehensweise hilfreich ist, wenn die jeweiligeForscher_innenperspektive im Zusammenhang mit der jeweiligen Rolle imUntersuchungsfeld reflektiert wird (s. Kap. 5.6.2).

Dem auf Deutschland bezogenen Forschungsstand, der eine mehrfa-che Benachteiligung für die Untersuchungsgruppe im deutschen Kontextnachweist, kann ich im Rahmen meiner Datenauswertung die subjektiven –in vielen Bereichen positiven – Sichtweisen meiner Interviewpartnerinnengegenüberstellen. Da für die Datenerhebung die Kategorie „Migrationsge-schichte” leitend war, und somit nicht auf bestimmte Herkunftsländer Bezuggenommen wurde, wird an dieser Stelle darauf verzichtet, die berufliche Lagevon Frauen in den jeweiligen Herkunftsländern nachzuzeichnen.

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5 Zielsetzung und Methodik

Wie aus der Darstellung des aktuellen Forschungsstandes sowie der gesell-schaftlichen Relevanz des Themas hervorgeht, besteht weiterer Forschungs-bedarf bezüglich der qualitativen Struktur der Lernprozesse unternehme-risch selbstständiger Frauen mit Migrationsgeschichte in Deutschland. DasForschungsfeld ist in einem Schnittpunkt zwischen Forschungen zum trans-formativen Lernen, erziehungswissenschaftlicher Migrationsforschung sowieForschungen zu Geschlecht und Arbeitsmarkt und Unternehmertum angesie-delt.

5.1 Ziele und ForschungsfragenDie vorliegende Studie untersucht, wie Unternehmerinnen mit Migrationsge-schichte ihre Rolle als Unternehmerin erlernen. An dieser Stelle verweise icherneut darauf, dass hierbei keine Theorie sozialer Rollen entwickelt, sondernder Begriff eher unspezifisch verwendet wird, so wie man in vielen Textenvon der Rolle der Unternehmerin spricht, die erlernt werden muss. Im Fokusder Studie stehen die subjektiven Relevanzstrukturen der Interviewten, d.h.die Befragten legen selbst fest, welche Aspekte für ihr Lernen welche Rollespielen.

Das Ziel der Studie ist, eine Grounded Theory zu Lernprozessen vonUnternehmerinnen mit Migrationsgeschichte zu entwickeln. Auf Grundlagedes dargestellten Forschungsstandes kann davon ausgegangen werden, dassFrauen mit Migrationsgeschichte, die ein Unternehmen gründen, Lernprozessedurchlaufen, die bisher nicht systematisch aufgearbeitet und beschriebenwurden. Der dargestellte Forschungsstand zeigt, dass eine Kenntnis derProzesse und ihrer Abläufe von hoher Relevanz sowohl für die Frauen selbstals auch für die Gesellschaft und ihre Institutionen ist.

Im Zentrum der vorliegenden Studie steht folgende Forschungsfrage:

In welchen Prozessen transformieren Unternehmerinnen mit Migrationsge-schichte im Zuge ihrer Unternehmensgründung ihre Bedeutungsperspektiven?

A. Laros, Transformative Lernprozesse von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte, DOI 10.1007/978-3-658-09999-2_5, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015

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80 5 Zielsetzung und Methodik

Die Forschungsfrage wurde im Sinne der Grounded Theory im Zuge deszirkulären Vorgehens der Datenauswertung weiter konkretisiert. Im Verlaufder Interpretation hat sich herausgestellt, dass mit der Hauptforschungsfragevor allem folgende Forschungsfragen verbunden sind:

1. Durch welche dilemmatischen Situationen werden die Interviewten wäh-rend ihrer Lernprozesse herausgefordert?

2. Welche soziale Unterstützung haben sie in Anspruch genommen?

3. Welche Relevanz haben Erfahrungen im Zusammenhang mit Migrationund sozialem Geschlecht?

4. Welche Rolle spielen Herausforderungen, die mit den Unternehmen selbstzusammenhängen, wie z.B. flexible Arbeitszeiten und das Erstellen einerSteuererklärung?

5. Welche Wissensdomänen, in denen sich Lerninhalte konkretisieren, werdenin den Lernprozessen relevant, z.B. Anspruch an sich selbst und anMitarbeitende, Deutschland als Einwanderungsland?

6. Wie können qualitativ unterschiedliche Phasen des Lernprozesses unter-schieden werden?

7. Inwiefern lassen sich die Ergebnisse mit der Theorie des transformativenLernens erklären, wo gehen sie über den aktuellen Stand der Theoriebil-dung hinaus?

Die Fragen bearbeite ich im Zuge der Ergebnisdarstellung und disku-tiere sie unter Bezugnahme auf die Theorie des transformativen Lernens.Basierend darauf zeige ich abschließend Anschlussmöglichkeiten für die Er-wachsenenbildung/ Weiterbildung auf.

Im Folgenden gehe ich zunächst auf Methodologie und Methodik ein,die für das Vorgehen leitend sind.

5.2 Methodologie und Methodik – Verortungder Studie

Die deutsche qualitative Forschung ist in der amerikanischen verankert43:Zunächst beschränkte sie sich darauf, die amerikanische qualitative Forschung43Laut Flick gibt es in der zeitlichen Entwicklung der qualitativen Forschung im deut-

schen und im amerikanischen Sprachraum unterschiedliche Schwerpunkte und Phasen.

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5.3 Datenerhebung 81

zu importieren, indem sie sie übersetzte und nachvollzog. Ab dem Endeder 1970er Jahre entwickelte sich dann in Deutschland eine eigenständigeDiskussion der qualitativen Methoden und besonders des Interviews. Hier sindvor allem das narrative Interview nach Schütze und die objektive Hermeneutiknach Oevermann zu nennen. Daran anschließend richtete sich Mitte der1980er Jahre die Aufmerksamkeit vermehrt auf Fragen nach der Gültigkeitund Verallgemeinerbarkeit von Forschungsergebnissen sowie auf Kriterienzu deren Überprüfung. Es folgten Konsolidierung und Verfahrensfragen inden späten 1980ern und Anfang der 1990er Jahre. Daraufhin etablierte sichin Deutschland zunehmend eine eigenständige qualitative Forschungspraxis(vgl. hierzu Flick 2007: 31ff.). Das Anliegen der qualitativen Forschung fasstWittpoth (³2009: 86) exemplarisch wie folgt zusammenfassen:

„Qualitativ orientierte Forschung will die besonderen Eigen-schaften und Merkmale (also die ‚Qualität’ im Sinne der Be-schaffenheit) eines sozialen Feldes möglichst genau, differenziertund gegenstandsnah erfassen. Sie will nicht ‚messen’, sondern‚verstehen’, was in ihrem jeweiligen Objektbereich geschieht.(...) Die ‚Experten’ für die Lebenswelt sind also die, die ihrangehören. (...) [Q]ualitative Forschung [ist] darauf angelegt,möglichst unvoreingenommen zu registrieren, wie Menschen sichselbst und ihre Umwelt sehen, wie sie sich handelnd aufeinanderbeziehen usw.”

Im Anschluss an die Ausführungen von Wittpoth ist ein qualitativer Zugangfür die Bearbeitung meiner Forschungsfrage der angemessene, da es um dasVerstehen der Lernprozesse von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichtegeht. Ziel ist es nicht, auf Grundlage des Vorwissens vorab Hypothesen zubilden; vielmehr geht es darum, das Weltverständnis der Befragten kennenzu lernen, um daraus eine Theorie über ihre Lernprozesse zu generieren.

5.3 DatenerhebungAls Erhebungsform habe ich Interviews mit hohen narrativen Anteilen ge-wählt. Auf die Interviewform sowie die Besonderheiten, die sich für dievorliegende Studie ergeben, gehe ich im Folgenden ein.

Für eine ausführliche Darstellung der Verläufe in Amerika und Deutschland mit unter-schiedlichen Schwerpunktsetzungen zu verschiedenen Zeitpunkten siehe Flick (2007:31ff.).

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82 5 Zielsetzung und Methodik

5.3.1 InterviewformEs existieren zahlreiche verschiedene Interviewformen, die nicht immer klarvoneinander trennbar sind, jedoch meist durch ihren Grad an Strukturiertheitunterschieden werden können44. Der Hauptteil der von mir durchgeführtenInterviews basiert auf der Vorgehensweise für narrative Interviews nachSchütze (1976). Schütze hat sie als eine der ersten eigenständigen Methodender deutschen qualitativen Sozialforschung Ende der 1970er Jahre entwickelt.Er wurde dabei von verschiedenen US-amerikanischen soziologischen For-schungsrichtungen beeinflusst, die von dem Verständnis ausgehen, dass diesoziale Wirklichkeit als ein in Interaktionen ausgehandeltes und immer wiederneu hergestelltes Prozessgeschehen und nicht als etwas statisch Existieren-des besteht (vgl. Küsters ²2009: 18). Die Rekonstruktion der subjektivenRelevanzstrukturen steht im Zentrum der Datenerhebungsform:

„In der narrativ-retrospektiven Erfahrungsaufbereitung wirdprinzipiell so berichtet, wie die lebensgeschichtlichen Ereignissevom Erzähler als Handelndem erfahren worden sind.” (Schütze1976: 197)

Narrative Interviews ermöglichen eine möglichst weite, offene Perspektive.Wichtige Forschungsfelder, die sich narrativer Interviews bedienen, sind dieMigrationsforschung (vgl. Apitzsch/ Jansen 2003) und die Erwachsenenbil-dungsforschung, die an Fragen zum biografischen Lernen interessiert sind(vgl. Wittpoth ³2009: 91).

Schütze (1983) gliedert narrative Interviews in drei Elemente, die sichauf immanente Erzählungen, also das im Interview von den Interviewtenbereits Angesprochene, beziehen. Hierbei handelt es sich erstens um die„autobiographisch orientierte Erzählaufforderung” (ebd.: 285), zweitens wirddas „tangentielle Erzählpotenzial” ausgeschöpft (ebd.),

„das in der Anfangserzählung an Stellen der Abschneidungweiterer, thematisch querliegender Erzählfäden, an Stellen derRaffung des Erzählduktus wegen vermeintlicher Unwichtigkeit,an Stellen mangelnder Plausibilisierung und abstrahierenderVagheit, weil die zu berichtenden Gegenstände für den Erzählerzu schmerzhaft, stigmatisierend oder legitimationsproblematischsind, sowie an Stellen der für den Informanten selbst bestehendenUndurchsichtigkeit des Ereignisgangs angedeutet ist.” (ebd.)

44Für einen Überblick über verschiedene Interviewformen sowie die Überschneidungenzwischen ihnen siehe Helfferich (³2009: 45).

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5.3 Datenerhebung 83

Drittens geht es um „abstrahierende Beschreibung[en]” (ebd.) und die ar-gumentative Beantwortung von theoretischen Warum-Fragen (vgl. ebd.).Vorteil der Erhebungsform ist es, „dass sich der Erzähler in bestimmtenZwängen (,dreifache Zugzwänge des Erzählens’) verstrickt, sobald er sich aufdie Situation des narrativen Interviews insgesamt eingelassen und die Erzäh-lung einmal begonnen hat. Die Zwänge sind der Gestaltschließungszwang,der Kondensierungszwang und der Detaillierungszwang” (Flick 2007: 231).

Der Gestaltschließungszwang bewirkt, dass die interviewte Person ei-ne Erzählung abschließt und der Kondensierungszwang führt dazu, dassNotwendiges verständlich und nachvollziehbar dargelegt wird. Durch den De-taillierungszwang werden Hintergrundinformationen mitgeliefert (vgl. Flick2007: 231; vgl. auch Schütze 1976: 224f).

Küsters (²2009: 63f.) ergänzt die immanenten Fragen um einen ex-manenten Nachfrageteil45. In ihm werden Themen angesprochen, die nochnicht Gegenstand der Erzählung waren, die aber dem Forschungsinteresseentsprechen. Auch Dausien (³2010) spricht sich im Kontext der Biografiefor-schung für eine Abwandlung und Ergänzung der von Schütze bestimmtenErhebungsform des narrativen Interviews aus:

„Es kann mit anderen Methoden kombiniert und situationsspe-zifisch modifiziert werden, etwa durch die Ergänzung bestimmterFragen oder Erzählanreize im Nachfrageteil (...).” (ebd.: 369)

Beendet werden die Interviews durch eine erzählgenerierende Abschlussfragezu noch nicht angesprochenen Aspekten. Dadurch wird ermöglicht, dass dieinterviewte Person Inhalte thematisiert, die noch nicht angesprochen wurden,die aber für sie eine subjektive Relevanz besitzen (vgl. Gläser/ Laudel 2004:144f.).

Aufgrund der Modifikation der narrativen Interviews durch einen er-gänzenden exmanenten Nachfrageteil können die in der vorliegenden Studieerhobenen Interviews als Interviews mit hohen narrativen Anteilen beschrie-ben werden. In ihnen gelten die Interviewten als Expertinnen für das Erlernendes Unternehmerinnen-Seins. Nach Schütze (1983) kann jede_r Biografieträ-ger_in als Expertin_Experte seiner selbst angesehen werden. Auch Bognerund Menz (2009: 67) nehmen auf einen weiten Expert_innenbegriff Bezug,indem sie mit ihrer Definition voluntaristischer Expert_innen festlegen,dass jeder Mensch als Experte_Expertin hinsichtlich seines eigenen All-tagslebens gilt. Daran anschließend handelt es sich bei den vorliegendenDatenerhebungen um Interviews mit voluntaristischen Expertinnen.

45Der Leitfaden befindet sich im Anhang.

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84 5 Zielsetzung und Methodik

5.3.2 BiografieforschungDie Biografieforschung hat sich insbesondere in der Frauenforschung undder Erwachsenenbildungsforschung bewährt; beides Forschungsbereiche, diefür die vorliegende Studie von besonderem Interesse sind (vgl. Kraul ²2006:484ff.; Dausien ³2010: 365). In der Frauenforschung geht z.B. das Konzept derdreifachen Vergesellschaftung auf Biografieforschung zurück (Becker-Schmidt1987) und in der Erwachsenenbildungsforschung werden vor allem Fragenzur interkulturellen Erwachsenenbildung im Rahmen von Biografieforschunguntersucht (vgl. z.B. Apitzsch 1989 und 1990, zur historischen Einordnungder interkulturellen Biografieforschung siehe Apitzsch ²2008: 500ff.). Apitzsch(²2008) weist auf die Vorteile der Grounded Theory im Zusammenhang derBiografieforschung hin.

Zahlreiche Studien, die mit dem Ansatz der Biografieforschung arbeiten,untersuchen die Forschungsphänomene Migrationsgeschichte und sozialesweibliches Geschlecht (vgl. z.B. Gutiérrez Rodríguez 1999; Diehm/ Messer-schmidt 2013). Zu biografischen Untersuchungen zu Frauen mit Migrati-onsgeschichte „überrascht vor allem die Entdeckung, dass die Anhäufungungleichheitsverschärfender Faktoren in Bildungskarrieren (z.B. Frau undAngehörige einer ethnischen Minderheit zugleich zu sein) u. U. zu unerwar-teten biografischen Handlungsautonomien führen kann” (Alheit/ Dausien²2006: 412; vgl. hierzu auch Alheit 1993). Solche Handlungsautonomienelaborieren auch die in der vorliegenden Studie befragten Unternehmerinnenin ihren Erzählungen; bereits zu Beginn der Lernprozesse werden sie relevant.

Des Weiteren besteht zwischen Ansätzen der Biografieforschung undMigrationsprozessen ein inhärenter Zusammenhang, denn „Leben ist Bewe-gung” (Dausien 2000: 15). Der Gegenstand der Biografieforschung kann lautDausien (³2010: 369) wie folgt konkretisiert werden:

„Es geht nicht darum, wie das Leben, von dem ein Text er-zählt, ‚wirklich’ (gewesen) ist, sondern um die Entwicklung einerdichten, am Material plausibilisierten und differenzierten Theo-rie über biografische Konstruktionsmodi und Kontexte, die siehervorgebracht haben, die (...) auf spezifische Deutungshorizontebezogen werden (z.B. (...) Lernprozesse (...)).”

Im Sinne dieses Vorgehens rekonstruieren und analysieren zahlreiche For-schungsstudien – zu unterschiedlichen Sachverhalten – retrospektiv formu-lierte Narrationen von Individuen (vgl. z.B. Apitzsch 1990, 1991; Riegel

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5.3 Datenerhebung 85

2004; Nohl 2006a, 2009). Es bildet ebenfalls die Herangehensweise in dervorliegenden Studie 46.

Die erhobenen Interviews beziehen sich auf einen biografischen Ab-schnitt aus dem Leben der Interviewten – den Lernprozess von der Unter-nehmensgründung bis zum Interviewzeitpunkt. Die vorliegende Studie kannin die erwachsenenbildnerische Biografieforschung eingeordnet werden. MitMarotzki (²2006: 113) kann das Anliegen der Biografieforschung wie folgtbeschrieben werden:

„In einer Gesellschaft, die sich durch Pluralisierung von Sinn-horizonten und Lebensstilen auszeichnet, kann erziehungswis-senschaftliche Biografieforschung ein Wissen über verschiedeneindividuelle Sinnwelten, Lebens- und Problemlösungsstile, Lern-und Orientierungsmuster bereitstellen und in diesem Sinne aneiner modernen Morphologie des Lebens arbeiten.”

Einen Beitrag zu einer „modernen Morphologie des Lebens” (ebd.) leistetauch die vorliegende Studie, indem sie als Basis für die zu entwickelndeLerntheorie die „individuelle[n] Sinnwelten, Lebens- und Problemlösungsstile”(ebd.) der Interviewten heranzieht.

Dausien nennt für die Biografieforschung verschiedene Analyseperspekti-ven, im Folgenden beziehe ich mich auf eine weit verbreitete, welche Biografieals „individuelle Leistung (‚biografische Arbeit’) der Selbst- und Weltkon-struktion [versteht, die] insbesondere in der Form der narrativen Konstruktioneiner Lebensgeschichte [artikuliert wird]” (Dausien ³2010: 368).

Neben der Forschungsfrage und der Analyseperspektive lässt sich au-ßerdem die unter 5.3 dargestellte Erhebungsform – Interviews mit hohennarrativen Anteilen – in die erziehungswissenschaftliche Biografieforschungeinordnen. Narrative Verfahren sind in der erziehungswissenschaftlichen Bio-grafieforschung weit verbreitet 47. . Laut Marotzki gelten narrative Verfahrenin der Forschungsrichtung als „Standard” (Marotzki ²2006: 113; vgl. hierzuauch Küsters ²2009: 181)

46Die Vorteile biografieorientierter Ansätze werden vor allem im Vergleich zu kultur-orientierten Ansätzen deutlich: Erstere ersetzen eine statische, kulturalistische Heran-gehensweise durch eine Rekonstruktion individueller Relevanzsysteme (vgl. Tepecik2009: 31). Auf diese Weise kann ein kulturbedingter Reduktionismus ausgeschlossenwerden.

47Für weitere Ausführungen zur erziehungswissenschaftlichen Biografieforschung siehevon Felden (2008); Marotzki (2006); Krüger/ Marotzki (2006) .

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86 5 Zielsetzung und Methodik

5.3.3 Erhebung der Interviews Die dargelegten methodischen Vorgaben wirken sich wie folgt anf die mter­viewerhebung aus: Die immanente Interviewphase, welche den Hauptteil des mterviews darstellt, wird mit der Impulsfrage ,,Erzählen Sie mir doch mal, wie es zu Ihrer Unternehrnensgriindung kam, von Anfang an" eingeleitet. Auf Basis dieser Frage können die Interviewten den Startpunkt ihrer Erzählung subjektiv wählen und ihr eigenes Relevanzsystem zum Verlauf ihrer Unter­nehmensgriindung kreieren. Hierfür erwies sich die Eingangsfrage als geeignet. Aus diesem Grund wurde sie im Verlauf des gesamten Forschungsprozesses nicht verändert.

Entgegen der Festlegung des Begründers Schütze ergänze ich den Haupt­teil in Anlehnung an Küsters (22009: 63) um einen exmanenten Frageteil. Ein Leitfaden (siehe Anhang), den ich im Zuge des theoretischen Samplings weiter ausdifferenziert und flexibel angepasst habe - indem ich auf einzelne Kategorien verstärkt eingegangen bin - bildet die Grundlage des exmanenten Frageteils.

,,Der Leitfaden [bildet] lediglich eine Art Gerüst, das heißt er belässt dem Interviewer weitergehende Entscheidungsfreiheit darüber, welche Frage wann in welcher Form gestellt wird." (Gläser/ Laudei 2004: 138)

Die exmanenten Fragen betreffen bisher nicht behandelte Themen, die jedoch für die Fbrschung relevant sind. Es handelt sich um weitgehend offene, erzählgenerierende Fragen, mit denen Aspekte angesprochen werden, die für die Lernprozesse möglicherweise zentral sind. Durch die exmanenten Fragen fließen theoretische Bezüge und der aktuelle Forschungsstand in die Erhebung mit ein. Für ein solches Vorgehen habe ich mich entschieden, da nach der Methodenlehre der Grounded Theory nach Corbin und Strauss (82008) Vorwissen und Theorie in die Studie mit einfließen. Durch die abschließenden Leitfaden kann ich eine Verbindung zwischen meinem Vorwissen und den Relevanzstrukturen der Interviewten herstellen. Außerdem wird es mithilfe des Leitfadens möglich, relevante Kategorien weiter zu dimensionalisieren, die konzeptuelle Dichte zunehmend auszuarbeiten und so das Theoriemodell zu den Lernprozessen der Unternehmerinnen zu generieren 48.

481n Zusammenhang mit der ErhebtmgSlIlethode ,,narrative Interviews" nach Schütze steht häufig auch die von ihm ausgearbeitete Auswertungsmethode, die N arrations­analyse. In der vorliegenden Studie werden Interviews mit hohen narrativen Anteilen in Anlehnung an die Methode ,,narrative Interviews" nach Schütze erhoben. Daneben arbeite ich gemäi der Methodologie und Methode der Grounded Theory. Dass die von

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5.3 Datenerhebung 87

Insgesamt habe ich für die vorliegende Studie 11 Unternehmerinneninterviewt Die Auswahl der Räumlichkeit für die Interviews lag bei denInterviewten, so fanden drei Interviews in meinem Büro an der Hochschule,fünf in den jeweiligen Geschäftsräumen der Unternehmerinnen und drei inden Privatwohnungen statt. Die Interviews dauerten zwischen 60 und 150Minuten, wurden digital aufgezeichnet und vollständig transkribiert.

5.3.4 Mögliche sprachliche BesonderheitenAlle von mir Interviewten verfügen über gute bis sehr gute deutsche Sprach-kenntnisse, einige sprechen Deutsch auf muttersprachlichem Niveau, obwohllediglich eine von mir Interviewte (I4) deutsche Muttersprachlerin ist 49.Aufgrund der vielfältigen Zusammensetzung der Erstsprachen wird im Rah-men der Auswertung bei verwunderlichen sprachlichen Ausdrücken nichtauf die Übersetzung und eventuelle Übersetzungsschwierigkeiten hinsichtlichder jeweiligen Muttersprache eingegangen. Auch bei sehr guten deutschenSprachkenntnissen können hinsichtlich nicht reflektierter Sachverhalte Auf-fälligkeiten bei der deutschen Verbalisierung bestehen. Daher muss bei derAnalyse besonderer sprachlicher Ausdrucksweisen immer der sprachlicheHintergrund der Interviewten mitbedacht werden.

„Bei der Auswertung von Studien mit Migranten, auch derzweiten und dritten Generation, ist zu berücksichtigen, dass fürdie Befragten Deutsch oft die erste Fremdsprache (...) ist, (...)die Interpreten des Interviews wiederum meist Deutsche ohneoder mit nur geringer Kenntnis der jeweiligen anderen Sprachensind. Das bedeutet, dass die Sprachbilder sich dem Interpretenoft nicht auf Anhieb erschließen und viele Auslegungen einspekulatives Element behalten.” (Küsters ²2009: 188)

Ein solches „spekulatives Element” (Küsters ²2009: 188) ist auch in dem vonmir entwickelten Lernmodell enthalten. Eine gewisse Spekulation bzgl. derSprache ist laut Küsters unumgänglich, wenn Personen, die Deutsch nicht alsErstsprache sprechen, interviewt werden. Ich habe jedoch versucht, das speku-lative Element möglichst gering zu halten, indem ich die Theorie im Verlauf

mir gewählte Erhebungsform gut mit der Grounded Theory Methodologie in Einklanggebracht werden kann, geht auch daraus hervor, dass sich bereits Schütze für die Ent-wicklung der Methode des narrativen Interviews auf die Grounded Theory berufenhat (vgl. Schütze 1983 und Flick 2005: 237).

49Die weiteren Muttersprachen sind: Italienisch, Türkisch, Polnisch, brasilianisches Por-tugiesisch und Russisch.

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88 5 Zielsetzung und Methodik

der Studie durch Interviews mit Personen, die über ein muttersprachlichesDeutschniveau verfügen, gesättigt habe.

5.3.5 TranskriptionenFür die Transkription raten Gläser und Laudel (2004: 144f.) dazu, eigeneRegeln festzulegen und sie konsistent anzuwenden. Die von mir verwende-ten Transkriptionsregeln gehen auf die rekonstruktive Sozialforschung nachBohnsack zurück (vgl. Bohnsack 82010: 236; s. Anhang). Hierbei wird zurErmöglichung einer differenzierten Analyse sehr detailliert transkribiert, sowerden Pausen und ihre Längen, Stimmhebungen und Stimmsenkungen, laut,leise und lachend Gesprochenes sowie Paraverbales verschriftlicht. Für einegenaue Transkriptionsweise habe ich mich entschieden, da die Art, wie etwasgesagt wird, den Inhalt in eine besondere Perspektive rücken kann. Betonun-gen und Wiederholungen werden in der Auswertung herausgestellt, auf diegenaue Einordnung und Bewertung von Gesprächspausen wurde im Verlaufeder Analyse verzichtet, da hier ein Zusammenhang zu den Sprachkenntnissenbestehen kann und ich die Daten nicht überinterpretieren möchte.

5.4 Datenauswahl und UntersuchungsgruppeDie vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit Lernprozessen von Unternehme-rinnen mit Migrationsgeschichte, daher bilden sie auch die Untersuchungs-gruppe. Es geht darum, ihre Lernprozesse differenziert zu analysieren (fürdie Einordnung der Untersuchungsgruppe siehe Kap. 1 bis 3), und so heraus-zustellen, wie die Lernprozesse ablaufen und welche Kategorien (Geschlecht,Migrationsgeschichte etc.) inwiefern relevant werden.

„Die meisten Ansätze, die sich mit dieser oftmals diskrimi-nierten Bevölkerungsgruppe (Migrant_innen, Anm. AL) aus-einandersetzen, betonen die Defizite, bekräftigen Integrations-hindernisse, sind problemorientiert. Die Ursachen hierfür (...)gründen auch auf einer methodischen Ebene im Umgang mitdem Fremden. In vielen Programmen und Projekten, die Migran-ten als Zielgruppe haben, werden Maßnahmen für sie entwickeltund entworfen, die nur im begrenzten Maße ihre Perspektiveeinbeziehen.” (Drubig 2003: 1)

Eine potenzialorientierte Herangehensweise, in der die Perspektive der Unter-nehmerinnen mit Migrationsgeschichte Untersuchungsgegenstand ist, bildet

Page 84: Transformative Lernprozesse von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte

5.5 Grounded Theory als Methode und Methodologie 89

den Fokus der vorliegenden Arbeit. Selbstverständlich kann es bei denErgebnissen Parallelen zu dem, was zu Lernprozessen anderer Unterneh-mer_innengruppen bekannt ist, geben. Die Ergebnisse müssen nicht exklusivfür Frauen mit Migrationsgeschichte gelten, da Aspekte herausgearbeitetwerden, die auch für Unternehmer_innen allgemein – unabhängig von derKategorie Migrationsgeschichte – eine wichtige Rolle spielen können50.

Gegenstand der Arbeit ist es, eine Lerntheorie zu generieren, die dieProzesse, in denen Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte vor, währendund nach ihrer Gründung lernen, differenziert anhand eines Phasenmodellsbeschreibt. Die Ergebnisdarstellung in einem Phasenmodell hat sich empirischergeben.

5.5 Grounded Theory als Methode undMethodologie

Die Grundlagen einer Theorie in dem bisher wenig entfalteten Forschungsge-biet - Lernprozesse von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte – könnennicht aus den verschiedenen Forschungsbereichen, die mit dem Thema inVerbindung stehen, abgeleitet werden. Aus diesem Grund arbeite ich mitdem Forschungsansatz, der Methodologie und der Methode der GroundedTheory in Anlehnung an Strauss und Corbin (Corbin/ Strauss ³2008).

Das Vorgehen nach der Grounded Theory ermöglicht es, die Lernwegeder Interviewten anhand ihrer subjektiven Relevanzsysteme differenziertnachzuzeichnen. Dadurch kann herausgestellt werden, welche Strategien zurBewältigung welcher Herausforderungen entwickelt wurden und wie sie vonden Interviewten rückblickend im Hinblick auf ihre Teilhabe an Gesellschaftund Arbeitsmarkt bewertet werden. Laut Strübing (2008: 7) handelt essich bei der Grounded Theory um „eine konzeptuell verdichtete, methodolo-gisch begründete und in sich konsistente Sammlung von Vorschlägen, diesich für die Erzeugung gehaltvoller Theorien über sozialwissenschaftlicheGegenstandsbereiche als nützlich erwiesen haben”.

Charakteristisch für die Grounded Theory sind „eine iterativ-zyklischeVorgehensweise, das theoretische Sampling mit dem Kriterium der theo-retischen Sättigung und nicht zuletzt die Methode ständigen Vergleichens

50Es geht nicht darum, eine Vergleichsstudie durchzuführen, und die Lernprozesse derFrauen mit Migrationsgeschichte mit denen anderer Unternehmer_innengruppen zuvergleichen. Allgemeine Strukturen zum Lernen gibt es bei allen Unternehmer_innen.Sie herauszufinden bzw. zu bestätigen ist nicht Gegenstand der Arbeit.

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90 5 Zielsetzung und Methodik

unter Verwendung generativer Fragen ebenso (...) wie Kodieren und MemosSchreiben” (Strübing 2008: 93).

Die Bezeichnung „Grounded Theory” bezieht sich zum einen auf die Leh-re von der Vorgehensweise – Methodologie – und auf das konkrete Vorgehenselbst – Methode. Zum anderen wird damit aber auch das Ergebnis einerStudie bezeichnet, an deren Ende eine „empirisch gesättigte” Theorie steht(Mey/ Mruck 2011: 12). Nach dem ursprünglichen Konzept von Glaser undStrauss kann die Grounded Theory Methodologie einerseits dazu eingesetztwerden, formale Theorien zu generieren, sie beziehen sich auf formale oderkonzeptuelle Bereiche der Sozialforschung wie z.B. abweichendes Verhalten(vgl. Glaser/ Strauss 1998: 42). Andererseits lassen sich mit der GroundedTheory Methodologie aber auch substantive bzw. gegenstandsbezogene Theo-rien generieren, die auf bestimmte Bereiche sozialen Lebens und die darineingelassenen sozialen Handlungspraxen bezogen sind (vgl. Mey/ Mruck 2011:29); letzteres ist das Ziel der vorliegenden Studie. In der Anwendung derGrounded Theory orientiere ich mich an Corbin und Strauss (32008), derenmethodologische Position von zahlreichen Vertreter_innen der GroundedTheory geteilt wird (vgl. Mey/ Mruck 2011: 16f.). Corbin und Strauss habeneine positive Einstellung gegenüber Vorwissen, Literatur und Theorie, die siein das methodologische und das methodische Vorgehen integrieren, um krea-tiv neue Wahrnehmungstatbestände zu interpretieren (vgl. Strübing 2008:54). Beim methodischen Vorgehen nach der Methodenlehre der GroundedTheory sind Datenerhebung und -auswertung eng miteinander verwoben:

„Eine ,Grounded’ Theory ist eine gegenstandsverankerte Theo-rie, die induktiv aus der Untersuchung des Phänomens abgeleitetwird, welches sie abbildet. Sie wird durch systematisches Erhe-ben und Analysieren von Daten, die sich auf das untersuchtePhänomen beziehen, entdeckt, ausgearbeitet und vorläufig be-stätigt.” (Strauss/ Corbin 1996: 7f.)

Zunächst wird zu Beginn der Auswertung im Zuge des Kodierens (s. S. 92)eine Vielzahl von Kategorien aus den Daten generiert, die im weiteren Verlaufder Auswertung in Kernkategorien integriert werden. Die Basis für die zuentwickelnde Theorie bilden dann die Kernkategorien. Die Datenerhebungerfolgt sukzessive. Auf diesem Weg wird die Struktur des Feldes durch Datenaus dem Feld nachvollzogen und so die Theorie generiert. Das Vorgehen istzirkulär und beinhaltet einen ständigen Wechsel von Datenerhebung undDatenauswertung bzw. Theoriebildung. Strauss beschreibt den ständigenWechsel von Induktion, Deduktion und Verifikation folgendermaßen:

Page 86: Transformative Lernprozesse von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte

5.5 Grounded Theory als Methode und Methodologie 91

Abbildung 5.1: Flick 2007: 128

„Mit Induktion sind die Handlungen gemeint, die zur Ent-wicklung einer Hypothese führen (...). Hypothesen sind sowohlvorläufig als auch konditional. Deduktion heißt, dass der For-scher Implikationen aus Hypothesen oder Hypothesensystemenableitet, um die Verifikation vorzubereiten. Die Verifikationbezieht sich auf Verfahren, mit denen Hypothesen auf ihre Rich-tigkeit überprüft werden.” (Strauss 2004: 441)

Wurden die drei Schritte Induktion, Deduktion und Verifikation im For-schungsprozess einmal durchlaufen, beginnen sie wieder von neuem, und diessolange, bis eine theoretische Sättigung erreicht ist. Im Detail stellt sich diesso dar, dass bei jedem Arbeitsschritt auch auf frühere Arbeitsschritte Bezuggenommen wird. Das Vorgehen lässt sich mit dem folgenden Schaubild vonFlick (2007) veranschaulichen. (vgl. Abbildung 5.1 auf Seite 91).

In seinem Schaubild veranschaulicht Flick das Modell zirkulärer For-schung, indem er dieses einem Modell linearer Forschung gegenüberstellt. Beieinem linearen Vorgehen bildet die Theorie den ersten Arbeitsschritt im For-schungsprozess. Die verschiedenen darauffolgenden Arbeitsschritte sind klarvoneinander getrennt, ein neuer erfolgt erst dann, wenn der vorangegangeneabgeschlossen ist.

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92 5 Zielsetzung und Methodik

Demgegenüber bilden beim zirkulären Vorgehen die Vorannahmen denersten Arbeitsschritt. Darauf folgen die miteinander zirkulär verknüpftenArbeitsschritte Erhebung, Auswertung, Sampling und Vergleich. Die Er-hebung und Auswertung einzelner Fälle werden für das weitere Samplingherangezogen. Außerdem werden neu erhobene und ausgewertete Fälle mitden anderen bereits erhobenen und ausgewerteten Fällen verglichen. ImZuge der Arbeitsschritte ist es wichtig, dass neue Themen und Aspekte,die im Forschungsprozess erscheinen, durch den Einbezug von Theorie ge-rahmt und im darauffolgenden Sampling berücksichtigt werden. Am Endedes Forschungsprozesses steht die entwickelte Theorie. Als einen zentralenAspekt für das gesamte Vorgehen nennen Strauss und Corbin (1996: 25ff.)die theoretische Sensibilität, welche Strübing wie folgt beschreibt:

„Der Unterschied zu nomologisch-deduktiven Verfahren liegtalso nicht in dem unterstellten Verzicht auf die Berücksichti-gung vorgängiger Theorien, sondern vielmehr in einem verän-derten Umgang mit jenem notwendig immer schon vorhandenenVorwissen sowie generell in einem Theorieverständnis, das dieprinzipielle Unabgeschlossenheit von Theorien stärker betontals strukturelle Verfestigungen.” (Strübing 2008: 59)

Um dem beschriebenen zirkulären Forschungsmodell gerecht zu werden, habeich die Daten, die ich für meine Studie erhoben habe, mit der für GroundedTheory entwickelten Software „Atlas ti” ausgewertet, an deren EntwicklungStrauss beteiligt war (vgl. Mey/ Mruck 2011:33).

In der Methodenlehre der Grounded Theory wird für das Vorgehenbei der Datenauswertung eine „Triade der analytischen Operation” (Strauss2004: 449) benannt: Datenerhebung, Kodierprozesse und Memo-Schreibenwechseln sich ab. Diese Schritte stelle ich im Folgenden getrennt voneinan-der dar. Zuerst beschreibe ich den Kodierprozess und die ihm inhärentenunterschiedlichen Kodierschritte, dann gehe ich auf Memos ein, abschließendbeschreibe ich das Vorgehen für das theoretische Sampling sowie dessenFunktion. Außerdem erläutere ich den Aspekt der theoretischen Sättigung.

5.5.1 KodierprozessDie Kodierung des Datenmaterials erfolgt zunächst in einem sehr offenenZugang. Die Vertreter_innen der Grounded Theory verstehen „kodieren alsden Prozess der Entwicklung von Konzepten in Auseinandersetzung mit demempirischen Material” (Strübing 2008: 19).

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5.5 Grounded Theory als Methode und Methodologie 93

Es werden drei Kodierarten unterschieden: Offenes, axiales und selekti-ves Kodieren. Damit die Theorie aus den Daten heraus entwickelt werdenkann, wird im Forschungsprozess zwischen den drei Kodierarten hin und hergewechselt. Das Vorgehen ist folgendermaßen aufgebaut: Eine erste Annähe-rung an die Daten erfolgt im Rahmen des offenen Kodierens. Besonders derAnfang eines Interviews bietet viele dichte Erzählstellen, deren Kodierungein besonderer Wert zukommt (vgl. Strauss/ Corbin ³2008: 317). Das offeneKodieren zu Beginn des Forschungsprozesses dient zunächst dazu, die Daten„aufzubrechen” (Strübing 2008: 20). Die Verwendung der Ausdrucksweise„aufbrechen” weist bereits darauf hin, dass die Kodes aus den Daten herausentwickelt und nicht in Form von Hypothesen an das Material herangetra-gen werden. Auf das erste offene Kodieren folgt als Zwischenschritt dasStrukturieren. Dabei wird herausgearbeitet, welche Kodes vermehrt vorkom-men und zwischen welchen ein Zusammenhang besteht. Daran schließt dasaxiale Kodieren an. Hierbei werden Beziehungen zwischen den Konzepten(Code Families) hergestellt. Das axiale Kodieren zielt „auf das Erarbeiteneines phänomenbezogenen Zusammenhangsmodells, d.h. es werden qualifi-zierte Beziehungen zwischen Konzepten am Material erarbeitet und im Wegekontinuierlichen Vergleichens geprüft” (Strübing 2008: 20).

An das axiale Kodieren schließt das selektive Kodieren an. Dabei werdenKernkategorien gebildet, in die die bisher erarbeiteten theoretischen Konzepteintegriert werden (vgl. ebd.).

Ein weiterer integrativer Bestandteil des Kodierens ist das sogenannteDimensionalisieren. Nach Strauss und Corbin (1996) geht es beim Dimensio-nalisieren darum, eine Eigenschaft in verschiedene Dimensionen aufzugliedern(vgl. ebd.: 43; Mey/ Mruck 2011: 27).

5.5.2 MemosNeben dem Kodieren ist das Schreiben von Memos ein integraler Bestandteildes Forschungsprozesses. Prozessbegleitend werden analytische und theo-retische Informationen notiert. Nach Beendigung des Forschungsprozessesdienen die Memos als Basis, um die generierte Theorie zu verschriftlichen.

„Zugleich ist der Prozess des Schreibens, Überarbeitens, Sor-tierens etc. von Memos ein sehr handfester Schritt der Theo-riebildung, der zur Systematisierung und zu Entscheidungenanleitet, weil Schriftlichkeit Festlegungen erfordert und weil Wi-dersprüche in geschriebenen Texten sichtbar und überprüfbarwerden.” (Strübing 2008: 25)

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94 5 Zielsetzung und Methodik

Corbin und Strauss (³2008: 117ff.) bezeichnen in ihrer Publikation „Basicsof Qualitative Research” das Memo-Writing als das zentrale Element derGrounded Theory Methodologie. Gemäß ihrer Darstellungen werden analyti-sche Memos und Theoriememos parallel zum Auswertungsprozess verfasst.Wie die Bezeichnung bereits nahelegt, stehen erstere dem Material näher,während Theoriememos auf einer abstrakteren Ebene angesiedelt sind undbereits theoretische Bezüge zwischen Konzepten darlegen (zu Theorie-Memosvgl. Strauss 2004: 448f.). Die Memos sind Bestandteile eines systematischenund konzeptorientierten Schreibens, welches nach Strübing (2008: 36) nebendem kontinuierlichen Dateneinbezug das zentrale Arbeitsmittel der GroundedTheory Methodologie darstellt.

Das Memoschreiben begleitet somit kontinuierlich den Prozess der Da-tenauswertung und Theoriegenerierung. Es gibt wichtige Impulse für dastheoretische Sampling und beeinflusst damit auch die weitere Datenerhebungim Forschungsprozess.

5.5.3 Theoretisches Sampling und theoretischeSättigung

Das theoretische Sampling ist ein Prinzip, mit dessen Hilfe im Forschungspro-zess bestimmt wird, welche Art von Daten erhoben werden sollen. Es besagt,dass zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Forschungsprozess Daten erhobenwerden, und dazu Datenquellen (z.B. Interviewpartner_innen, Interviewgrup-pen, Zeitungsartikel) ausgewählt werden, die zu dem jeweiligen Zeitpunktim Mittelpunkt des Forschungsinteresses stehen. Mithilfe des theoretischenSamplings ist es möglich, die Analyse kontinuierlich weiterzuentwickeln. Diesgeschieht, indem Kernkategorien herauskristallisiert und im fortschreitendenForschungsprozess weiter gesättigt werden. Laut Corbin und Strauss (³2008:145) unterscheidet sich das Vorgehen fundamental von anderen Methoden:

„What makes theoretical sampling different from conventionalmethods of sampling is that it is responsive to data rather thanestablished before the research begins. This responsive approachmakes sampling open and flexible.”

Für den Start der Erhebung – die erste Datenerhebung im Forschungsprozess- wird mit einer weiten Perspektive an das Untersuchungsfeld herangegangen.Die Forscher_innenperson legt Kriterien für das Sampling fest, wobei hierbeiihr_sein Vorwissen eine zentrale Rolle spielt (vgl. Lamnek 2005: 314). ImAnschluss an die erste Erhebung wird der aktuelle Analysestand der bereitserhobenen Daten leitend für das weitere theoretische Sampling. Die für die

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5.6 Grounded Theory in meiner Forschungspraxis 95

nächste Erhebung gewählten Untersuchungspersonen stellen einen maximalenoder minimalen Kontrast zum aktuellen Analysestand dar.

„Die Auswahl der Untersuchungseinheiten zielt also systema-tisch darauf ab, einen Fall (bzw. eine Untersuchungseinheit) zufinden, der die theoretischen Konzepte des Forschenden kom-plexer, differenzierter und profunder gestalten kann.” (Lamnek2005: 314)

Neben der Ausarbeitung der bereits entwickelten Konzepte liegt ein weitererVorteil des theoretischen Samplings darin, dass es möglich wird, „genera-listische Existenzaussagen zu machen, Hypothesen zu entwickeln, Typenzu konstruieren, Gemeinsamkeiten festzustellen, Strukturen zu entdeckenetc. Über deren Verteilung und Häufigkeiten sind keine Aussagen möglich,dies wäre weiteren quantitativ-repräsentativen Untersuchungen vorbehalten”(Lamnek 2005: 266, vgl. hierzu auch Flick 2007: 159).

Auf diese Weise ermöglicht das theoriegenerierende Verfahren der Groun-ded Theory eine schrittweise Erschließung des Forschungsfeldes. Dabei richtetsich der Blick vor allem auf solche Phänomene, die in der bisherigen For-schung unberücksichtigt geblieben sind und die den eigenen Vorannahmenwidersprechen. Auf diese Weise wird der eigene forschende Blick gezielt fürdie Strukturen des Feldes geöffnet.

Der Prozess der Theorieentwicklung gilt dann als beendet, wenn einetheoretische Sättigung und somit das Ziel einer „konzeptuellen Repräsentati-vität” (Strübing 2008: 34) erreicht ist. Die theoretische Sättigung ist dannerreicht, wenn sich ab einem bestimmten Zeitpunkt im zikulären Erhebungs-und Auswertungsprozesses keine neuen Aspekte für die zu entwickelte Theoriezeigen (vgl. Strübing 2008: 33).

5.6 Grounded Theory in meinerForschungspraxis

Im Folgenden gehe ich auf die Grounded Theory in der Forschungspraxisein und lege die konkrete Anwendung für die vorliegende Studie dar.

5.6.1 Feldzugang, Sampling und ForschungswegZunächst werde ich auf den Feldzugang eingehen, um dann das theoretischeSampling meiner Studie sowie den daraus resultierenden Forschungswegvorzustellen. Da im Zuge des theoretischen Samplings die Datenerhebung

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96 5 Zielsetzung und Methodik

parallel zur Analyse und zum Prozess der Theoriegenerierung verläuft, bildetes in großen Teilen den Forschungsweg ab.

Einen Feldzugang zu Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte zuerhalten, ist nicht ganz einfach. Es erwies sich als herausfordernd, die Frauendirekt – ohne eine Kontaktperson, über die die Daten weitergegeben wurden– anzusprechen. Anhand des Telefonbuchs ist es zwar möglich, Unterneh-mer_innen mit Nachnamen, die auf eine Migrationsgeschichte hinweisenkönnten, zu identifizieren. Allerdings erwies sich dieser Zugangsweg als wenigerfolgreich, weshalb ich den Zugang zum Feld über Dritte gewählt habe.Zunächst habe ich Kontakte zu Institutionen, Organisationen und Personenhergestellt, die mit Unternehmerinnen und/ oder Menschen mit Migrations-geschichte in Kontakt stehen (könnten)51. Diese halfen mir dabei, eine Listemit Namen möglicher Interviewpartnerinnen zusammenzustellen. Durch dieVielfalt der Zugangswege wurde sichergestellt, dass Frauen erreicht werden,die in unterschiedlichem Ausmaß mit ihren Unternehmen an institutiona-lisierte Unterstützung angebunden sind. Da sich meine Anfrage fast wiein einem Schneeballsystem verbreitete, konnte ich die Liste im Verlauf desForschungsprozesses zunehmend erweitern und aktualisieren. Das von mirgewählte Vorgehen entspricht dem von Corbin und Strauss (32008: 318)vorgeschlagenen Weg für die erste Datenerhebung:

„The first data are gathered through variety of procedures- cashing in on lucky obersvations, using ‚snowball sampling’,networking, and so on.”

Im Anschluss an die ersten Interviews konnte ich aus einer großen Anzahlvon Personen Interviewpartnerinnen auswählen, die den Vorgaben meinestheoretischen Samplings möglichst genau entsprachen. In einzelnen Fällen,in denen ein solches matching zwischen potentiellen Interviewpartnerinnenund den Vorgaben des theoretischen Samplings nicht möglich war, habe ichneue Kontakte hergestellt und zusätzliche Unternehmerinnen für Interviewsgewonnen. Über Vereine und Unternehmer_innenverbände wie z.B. SELFe.V. (vgl. SELF 2013) war es möglich, gezielt Unternehmerinnen zu finden,die zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Analyse den Kriterien meinestheoretischen Samplings entsprachen. Aufgrund des Feldzugangs war ein

51Dazu gehören z.B. Industrie- und Handelskammer, Gründerzentren, Men-tor_innenprogramme, und die Veranstaltung „Gründertag” in Freiburg. Ich habe auchIntegrationsbeauftragte von Parteien angeschrieben, sowie Vereine, die gezielt Men-schen mit Migrationshintergrund ansprechen. Außerdem habe ich Einzelpersonen an-gesprochen, die weitervermitteln konnten.

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5.6 Grounded Theory in meiner Forschungspraxis 97

Abgleich zwischen den Kriterien des theoretischen Samplings und den nächs-ten Interviewpartnerinnen nicht immer im Voraus möglich, so dass ich aucheinige Interviews geführt habe, die nicht transkribiert wurden, da die Perso-nen sich als nicht zu meinem theoretischen Sampling passend herausgestellthaben oder sich mangelnde Deutschkenntnisse als Hürde herausstellten.

Vor der ersten Datenerhebung habe ich mich zunächst in den Forschungs-stand der für meinen Schwerpunkt relevanten Themen eingearbeitet, meineVorkenntnisse ausdifferenziert und geordnet und auf dieser Basis den erstenLeitfaden für die exmanenten Fragen erstellt. Auch die Theorie des trans-formativen Lernens lernte ich bereits vor der ersten Datenerhebung kennen.Gemäß der Grounded Theory Methodologie habe ich diesbezüglich daraufgeachtet, dass ich mit der Theorie sowie mit meinen weiteren Vorkenntnissenreflektiert umgehe. Das „Forcing statt Emerging”, welches Corbin und Straussdurch Glaser aufgrund ihres Einbezugs von Vorwissen vorgeworfen wurde,wird umgangen, indem explizit nicht hypothesengenerierend vorgegangenwird, sondern das Vorwissen und die Theoriekenntnis lediglich genutzt wer-den, um die theoretische Sensibilität zu schärfen (vgl. Mey/ Mruck 2007:31). Die erste Datenerhebung erfolgte recht zeitnah nach dem Festlegen derForschungsfrage.

In Rahmen des ersten Zugangs zum Feld habe ich meine Interviewpart-nerinnen nicht differenziert nach der Art des gegründeten Unternehmensausgewählt, da für die Interviews keine weiteren äußeren Kriterien angelegtwerden sollten. Die folgende Beschreibung der Herkunft der Interviewtenbezieht sich jeweils auf die Migrationsgeschichte und nicht auf die Staatsbür-gerschaft. Das erste Interview (I1) fand mit einer aus Italien immigriertenUnternehmerin statt, die zum Interviewzeitpunkt keine Arbeitnehmer_innenin ihrem Unternehmen beschäftigte. Hierbei kristallisierten sich das Themamögliche Arbeitgeberin52 und die damit in Verbindung stehenden Ideale alszentrale Kategorien heraus. I1 führt ihr Unternehmen von zuhause aus. Indem Zusammenhang stellt ihre Mutterrolle einen zentralen Aspekt dar.

Im Sinne eines maximalen Kontrastes führte ich das zweite Interview miteiner Unternehmerin der ersten Migrant_innengeneration aus Russland (I2),für die zum Interviewzeitpunkt über 300 Mitarbeitende in zwei Unternehmenarbeiteten. Ihre Ideale zeigten sich als zentrale Kategorie und ich habe michfolglich gefragt, ob sie mit ihrem wirtschaftlichen Erfolg zusammenhängen.

Auch das dritte Interview folgte dem Prinzip des maximalen Kontrastes.Dies führte ich mit einer aus Italien immigrierten Unternehmerin (I3), die

52In der folgenden Beschreibung setze ich die Kategorien, die für das theoretische Samp-ling leitend waren, kursiv.

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98 5 Zielsetzung und Methodik

gerade mit ihrem ersten Unternehmen gescheitert war und plante, ein neuesUnternehmen zu gründen.

Da die ersten drei Interviews mit Frauen der ersten Migrant_innengenerationstattfanden, habe ich mich näher mit dem Strang Migrationsgeschichte be-schäftigt und befragte im vierten Interview (I4) eine Migrantin der zweitenMigrant_innengeneration mit spanischem Hintergrund. Sie besitzt ein Un-ternehmen in dem sie keine Angestellten beschäftigt. Ihre Mutterrolle istinsbesondere dadurch zentral, dass sie eine schwierige Schwangerschaft mitZwillingen hatte und insgesamt drei Kinder hat, deren Geburten sie als„Genickbrecher” für ihr Unternehmen bezeichnet. Darüber hinaus nimmtihr Partner eine zentrale Rolle zur Unterstützung ihrer unternehmerischenTätigkeit ein.

Zusätzlich zu den genannten zentralen Themen konnten im Rahmen derAnalyse der ersten vier Interviews weitere zentrale Aspekte ermittelt werden,die etwas über die Lernwege, Unternehmerin zu werden, aussagen. Es konnteermittelt werden, dass das Lernen in einem Prozess verläuft, dem ein Kate-goriensystem mit vier Lernphasen zugeordnet werden kann (zum Lernmodellsiehe Kap. 6). Dabei zeigt sich, dass insbesondere die letzte der vier von mirermittelten Lernphasen (Erlerntes Unternehmerinnen-Sein) für die Unterneh-merinnen vor allem dadurch eine hohe Relevanz besitzt, als dies die Phase ist,in der sich die meisten Interviewten53 zum Zeitpunkt des Interviews befanden.In der Phase wird die neue Rolle als Unternehmerin am deutlichsten explizitund die Änderungen - gesellschaftliche Auswirkungen, soziale Einbettungdes Unternehmens u.a. – werden thematisiert. Alle vorangegangen Phasenwerden als Rekonstruktion aus dieser zeitlichen Perspektive beschrieben. Umhierzu sowie zu weiteren relevanten Kategorien einen maximalen Kontrastzu erhalten, habe ich im fünften Interview eine alleinerziehende polnischeUnternehmerin (I5) interviewt, die am Anfang ihrer unternehmerischenTätigkeit steht, der sie nebenberuflich nachgeht und deren Unternehmennoch nicht konsolidiert ist, d.h. dass ich davon ausgegangen bin, dass sich I5noch nicht in der Phase des erlernten Unternehmerinnen-Seins befindet unddaher allenfalls in der Lage ist, in vorausschauender Erwartung auf einzelneElemente dieser Phase hinzudeuten. Dadurch war es möglich, die Lerntheoriemit Interviewdaten einer Unternehmerin, die den Lernprozess noch nichtabgeschlossen hat und ihn somit nur hinsichtlich der ersten Lernphasenbeschreibt, weiter zu sättigen.

Im Zuge der weiteren Auswertung und des Vergleichens der ersten fünfInterviews habe ich festgestellt, dass alle Frauen in irgendeiner Art und

53Alle Interviewten außer I3.

Page 94: Transformative Lernprozesse von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte

5.6 Grounded Theory in meiner Forschungspraxis 99

Weise an Frauennetzwerke angebunden sind – obschon ich die Kontakte zuihnen nicht ausschließlich über solche Netzwerke hergestellt habe. Da dasGemeinsame der Frauennetzwerke ist, dass sie sich über die Kategorie „Frau-Sein” (bzw. noch spezifischer zum Teil: „Unternehmerin-Sein”) definieren,habe ich für das folgende Interview (I6) eine Unternehmerin ausgewählt, dienicht in solche institutionalisierte Frauennetzwerke eingebunden ist.

Daneben kristallisierte sich im weiteren Vergleichen der Daten heraus,dass die Themen Mutterrolle, Vereinbarkeit von Familie und Beruf und dieMöglichkeit der freien Zeiteinteilung zentrale Aspekte darstellen.

I6 ist mit ihren Eltern als Kind aus der Türkei nach Deutschland gekom-men. Neben der Tatsache, dass sie nicht in ein Frauennetzwerk eingebundenist, ist sie alleinerziehend und hat mehrere Angestellte.

Die Interviewten der ersten fünf Interviews wussten, dass mein For-schungsfokus „Frauen mit Migrationsgeschichte” ist. Diese Offenheit wur-de gewählt, um einen Zugang zum Feld zu erhalten und um potenzielleInterviewpartnerinnen zu gewinnen. Abweichend davon habe ich meinerInterviewpartnerin des sechsten Interviews lediglich das Thema „Unterneh-merin” mitgeteilt. Dadurch wollte ich herausfinden, inwiefern die von mir alsForscherin gesetzte Kategorie der Migrationsgeschichte das Thema in denMittelpunkt der Erzählung der Interviewten rückt. Das Resultat war, dassdie Interviewte (I6) kaum explizit auf ihre Migrationsgeschichte eingegangenist, diese jedoch in ihren Rekonstruktionen implizit eine zentrale Rolle spiel-te. Aufgrund der Schwierigkeit des Feldzugangs konnte ich für die weiterenInterviews die Thematik der Migrationsgeschichte nicht verschweigen.

Da die Mutterrolle auch in der weiteren Analyse einen zentralen Strangbildete, wurde im Sinne eines minimalen Kontrastes im nächsten Interview(I7) wieder eine Mutter interviewt. I7, die über eine türkische Migrationsge-schichte verfügt, führt – genauso wie I1 – ein Unternehmen ohne Angestellte.Darüber hinaus hat sie zwei Kinder und lebt in einer Partnerschaft. Zu die-sem Zeitpunkt der Analyse habe ich herausgearbeitet, inwiefern die Tatsache,die Mutterrolle als Alleinerziehende zu bewältigen, sich aus Sicht der Frauenerleichternd oder erschwerend auf die unternehmerische Selbstständigkeitauswirkt. Demgegenüber sollte das Interview mit der in einer Partnerschaftlebenden Mutter im Sinne eines maximalen Kontrastes Auskunft über dieRolle des Partners geben. Im weiteren Verlauf der Analyse wurden dann dieThemen Arbeitgeberin-Sein und Möglichkeiten als Arbeitgeberin relevant. Da-her habe ich ein Interview mit einer Unternehmerin mit ebenfalls türkischerMigrationsgeschichte (I8) geführt, die in ihrem Unternehmen keine Mitarbei-tenden beschäftigt. Ziel war es, genauere Informationen dazu zu erhalten,welche Gründe es gibt, keine Mitarbeitende im Unternehmen einzustellen

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100 5 Zielsetzung und Methodik

und was das Arbeitgeberin-Sein für eine Frau, die nicht Arbeitgeberin ist,bedeutet (bedeuten würde).

Um zusätzlich die Art der unternehmerischen Selbstständigkeit zu kon-trastieren, habe ich I9 interviewt, die mit ihrem Partner aus Brasilien migriertund freiberuflich tätig ist.

Für das weitere theoretische Sampling habe ich Unternehmerinnen, dieauch Arbeitgeberinnen sind, ausgewählt. Um hier einen guten Feldzugangzu bekommen, habe ich mit einem Verein Kontakt aufgenommen, bei demdie verbindende Kategorie „Unternehmer_innen mit Migrationshintergrund”lautet. Hierdurch besteht ein Kontrast hinsichtlich der Interviewten, diein Frauennetzwerke eingebunden sind, bei denen die Migrationsgeschichtekeine Rolle spielt. Daneben besteht außerdem ein maximaler Kontrast zuden Frauen, die keine Arbeitgeberinnen sind. So ist I10 alleinerziehendeMutter und Arbeitgeberin. I11 ist geschieden und in ihrem Unternehmenohne Mitarbeitende tätig.

Das theoretische Sampling und die weitere Datenerhebung habe ich nachdem Interview mit I11 beendet, da mir das von mir entwickelte Lernmodell zudiesem Zeitpunkt gesättigt schien, d.h. es kamen durch weitere Erhebungenkeine neuen Aspekte zu dem Theorieentwurf hinzu. Bereits das 10. sowiedas 11. Interview bestätigten die ermittelten Kategorien des Lernmodells,erbrachten aber keine neuen Ergebnisse hinsichtlich neuer Eigenschaften derKategorien. Im Unterschied zu quantitativen Erhebungen geht es beim theo-retischen Sampling darum, ein tiefergehendes Verständnis der analysiertenFälle zu erhalten, um daraus ein Theoriekonzept zu entwerfen und es nachund nach zu einer Theorie weiterzuentwickeln und somit eine „konzeptuelleRepräsentativität” zu erreichen (Strübing 2004: 31 und vgl. Kap. 8.5.2); esgeht nicht darum, mögliche Variationen repräsentativ zu erfassen.

Wie bereits dargelegt, ist das Vorgehen im Erhebungs- und Auswer-tungsprozess gemäß der Methodenlehre der Grounded Theory zirkulär. Soist das dargestellte theoretische Sampling eng mit dem Kodier- und Aus-wertungsprozess verbunden. Im Zuge des offenen Kodierens habe ich dieInterviewanfänge im Rahmen verschiedener Forschungskolloquien 54 undDoktorand_innenworkshops 55 diskutiert. Auf diese Weise war es möglich,

54In der Arbeitsgruppe „Interpretationswerkstatt” der Pädagogischen Hochschule Frei-burg habe ich mehrfach die Möglichkeit wahrgenommen, meine Daten einzubringen.Außerdem habe ich aktiv am jährlich stattfindenden Treffen zu qualitativen For-schungsmethoden der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg (siehe ZSM 2013)sowie am Berliner Methodentreffen (siehe FU Berlin u.a. 2013) teilgenommen.

55Z.B. Werkstatt Forschungsmethoden in der Erwachsenenbildung/ Weiterbildung,Deutsches Institut für Erwachsenenbildung; Deutsche Gesellschaft für Erziehungswis-senschaft (siehe DGfE 2013), International Summer School; Ph.D.-Forum: „Classifica-

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5.6 Grounded Theory in meiner Forschungspraxis 101

eine differenzierte Forschungsperspektive gegenüber dem Datenmaterial auf-zubauen (zu weiteren Ausführungen zu Forschungswerkstätten siehe Reim/Riemann 1997). Neben der Sichtweise auf die Daten und auf das Kodieren,wurde im Rahmen der Forschungsgruppen auch das weitere Vorgehen disku-tiert. Die Forschungsgruppen unterstützten mich z.B. dabei, ein an meineFragestellung angepasstes theoretisches Sampling für die weiteren Datenerhe-bungsphasen zu entwickeln. Solch ein Vorgehen der kollektiven Validierungder Datenauswertung und der Planung weiterer Forschungsschritte ist auchlaut Mey und Mruck (2011: 34) ratenswert:

„Die in der GTM [Grounded Theory Methodologie] zu leisten-den Schritte – das konzeptuelle Arbeiten am Einzelfallmaterial,der kontrastive Vergleich unterschiedlicher Materialien und diedarauf aufbauende Entwicklung theoretischer Modelle – könnenwesentlich effektiver in einer Arbeitsgruppe umgesetzt werden.”

Bereits nach der ersten Datenanalyse im Zuge des offenen Kodierens wurdeersichtlich, dass die Theorie des transformativen Lernens nach Mezirow für dieDiskussion meiner Ergebnisse eine adäquate Basis bildet (vgl. Mezirow 1991a,2000). In der Diskussion wird geschaut, inwiefern verschiedene Kategorienund Elemente der Theorie auf das von mir entwickelte Lernmodell zutreffenund es bestätigen. Darüber hinaus kann die Diskussion der Ergebnisse anhandder Theorie zeigen, welche neuen Perspektiven meine Daten hinsichtlich destransformativen Lernens eröffnen.

5.6.2 Meine Rolle als Forscherin im FeldDie Rolle der_des Forschenden im Feld stellt einen beeinflussenden Faktorfür den Forschungsprozess dar (vgl. hierzu Mey/ Mruck 2007: 13), daherwird sie für die vorliegende Studie im Folgenden reflektiert:

Meine Rolle als Forscherin im Feld war dadurch geprägt, dass ich übereinen universitären Abschluss verfüge, was den Interviewten bekannt war undwodurch ich entweder gleich oder höher gebildet bin als sie. Darüber hinauswussten die meisten, dass ich mich für das Thema Migrationsgeschichteinteressiere, während ich als Forscherin nicht über eine sichtbare Migrati-onsgeschichte verfüge. Die Interviewten empfanden das also möglicherweiseals ein Unterscheidungskriterium zu mir. Außerdem bin ich – genau wie die

tions and the Construction of Belongings”, Institut für Sozialwissenschaften, Universi-tät Duisburg-Essen, Institut für Sozialwissenschaften Ruhr-Universität Bochum undEssener Kolleg für Geschlechterforschung (siehe Universität Duisburg-Essen 2011).

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102 5 Zielsetzung und Methodik

Interviewten – weiblich und entweder gleich alt oder – was bei den meis-ten Gesprächen der Fall war – jünger als sie. Der Altersunterschied wurdebesonders zu denjenigen Befragten deutlich, die über ihre Erfahrungen mitihrer Kindererziehung berichteten, wenn sie wussten, bzw. davon ausgingen,dass ich selbst keine Kinder habe. Außerdem, und das ist ein weiterer großerUnterschied zwischen mir als Forscherin und den Interviewten, verfügen dieInterviewten über Erfahrungen als Unternehmerinnen, über die ich nichtverfüge.

Als Forscherin im Feld hatte ich teilweise das Gefühl, dass Kategori-sierungen wie die, ob man eine Migrationsgeschichte mitbringt oder nicht,eine Rolle spielen. Das zeigte sich unterschiedlich, teilweise wehrten sichdie Befragten vehement gegen den defizitären öffentlichen Diskurs, grenztensich selbst von „Menschen mit Migrationshintergrund” ab oder machtenihre Migrationsgeschichte gar nicht explizit zum Thema. Bezogen auf dieKategorien, in denen Unterschiede zwischen mir als Forscherin und deninterviewten Frauen bestanden, als auch bei den Kategorien, in denen wirüber Gemeinsamkeiten verfügen, muss meine Rolle als Forscherin als Aspektbedacht werden, der auf die Erzählungen der Interviewten Einfluss nimmt (zuReflexionen über den eigenen Forschungsprozess vgl. Becker 1988). Dies wirdals inhärenter Bestandteil des von mir gewählten Vorgehens angesehen: LautMey und Mruck (2007: 13) ist bei der Entwicklung einer Grounded Theoryder gesamte Forschungsprozess durch die Forschenden und ihre Auseinan-dersetzung mit dem Feld bzw. dem Untersuchungsgegenstand beeinflusst.

5.6.3 Methodische HerausforderungenIm Rahmen des Forschungsprozesses besteht eine methodische Herausforde-rung darin, dass es sich bei den Narrationen um Rekonstruktionen handeltund den Interviewten außerdem mein Forschungsinteresse fast immer bekanntwar.

Inhalt der erhobenen Interviews sind subjektive Rekonstruktionen; dieBedeutungsstrukturen sind nachträglich konstruierte Referenzen. Es handeltsich nicht um eine Längsschnittstudie. In der Darstellung der Ergebnissewird ein Prozess dargelegt, obwohl die Interviews nicht prozessbegleitend –sondern auf ihn rückblickend – stattgefunden haben. In den Fokus rückt dasParadigma narrativer Identität, „Untersuchungsgegenstand ist die im narra-tiven Interview her- und dargestellte Identität” (Lucius-Hoene/ Deppermann²2004: 97).

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5.6 Grounded Theory in meiner Forschungspraxis 103

„Sie [die Biografieforschung, Anm. AL] re-konstruiert Kon-struktionen von ‚Biografie’, die alltagsweltliche Subjekte inRelation zu je konkreten Kontexten vornehmen (...).” (Dausien³2010: 368)

Eine objektive Überprüfung des Erzählten wird nicht angestrebt. Es istmöglich, dass die Interviewten in ihren Erzählungen aus der rückblickendenPerspektive Kategorien von „damals” als zentral konstruieren, die jedoch aufihre aktuellen Perspektiven hinweisen. Die rückblickende Unternehmerinnen-perspektive kann somit beeinflussen, welche Aspekte aus der Vergangenheitals relevant konstruiert werden.

Daneben besteht eine weitere methodische Herausforderung darin, „dassdie untersuchte soziale Wirklichkeit in Subjektperspektive jeweils das Ergeb-nis interpretativer und interaktiver Prozesse ist, die dem Forscher zumindestteilweise unbekannt und unzugänglich sind, da er nicht Teil des untersuchtenInteraktionszusammenhangs ist” (Küsters ²2009: 19).

Um in der Analyse nicht ausschließlich eine Perspektive zu berücksichti-gen, die retrospektiv auf alle vier Lernphasen zurückblickt, wurden im Zugedes theoretischen Samplings auch Unternehmerinnen befragt, die sich nocham Anfang ihrer Unternehmensgründung befanden und deren Lernprozess,eine Unternehmerin zu werden, noch nicht abgeschlossen war.

Eine weitere methodische Herausforderung besteht darin, dass die Re-konstruktionen, die aus dem Interviewmaterial entstehen, auf Erzählbaresbegrenzt sind (vgl. Flick 2005: 273). Gegenüber diesem problematisieren-den Hinweis wird betont, dass gerade die Fokussierung auf Erzählbares einkonstitutives Element der Biografieforschung darstellt.

„Die Ansätze der Biografieforschung gehen davon aus, dassBiografien nicht einfach das Leben wiedergeben, ‚wie es war’,sondern dass Biografien konstruiert sind und der eigene Blickauf das eigene Leben die Biografie erst herstellt.” (von Felden2008: 11)

Neben den beschriebenen methodischen Herausforderungen bestand eineweitere Herausforderung darin, dass ich aus Gründen des Feldzugangs fastallen Interviewten mein Forschungsinteresse mitteilen musste. Da fast allevon mir Interviewten wussten, dass ich mich für das Thema Migrationsge-schichte interessiere, ist es möglich, dass die Befragten nur aus diesem Grundauf die Kategorie Migrationsgeschichte Bezug genommen haben – obwohldieses Thema aus ihrer Sicht gar nicht zentral gewesen wäre. D.h. wennauf die Aspekte Unternehmerinnen und Migrationsgeschichte eingegangen

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104 5 Zielsetzung und Methodik

wird, so bedeutet das nicht unbedingt, dass die Aspekte im subjektiven Re-levanzsystem der Frauen zentral sind, sondern vielmehr kann es heißen, dassdie Frauen dadurch, dass ihnen das Forschungsthema bekannt ist, darüberberichten (vgl. hierzu auch Kap. 5.6.1).

Daneben kann das Wissen um den Forschungsfokus auch mit sich brin-gen, dass die Befragten sich über das Interesse an ihnen und auch an ihrerMigrationsgeschichte freuen. In dem Interview (I6), in dem der Fokus aufdas Thema Migrationsgeschichte nicht bekannt war, hat die befragte Unter-nehmerin dennoch implizit detailliert darauf Bezug genommen.

Um die Güte der entwickelten Theorie zu sichern, habe ich – neben dengenannten Doktorand_innen- und Forschungswerkstätten – die Zwischener-gebnisse meiner Theoriebildung regelmäßig bei nationalen und internationa-len Tagungen vorgetragen und diskutiert. Hierdurch wurden Prozesse derTheoriebildung und die Theorie selbst durch Offenlegung u.a. des Samples,des theoretischen Samplings der Studie, der Kategorien, der Beziehungeninnerhalb und zwischen Kategorien und Konzepten überprüfbar gemacht(vgl. Corbin/ Strauss ³2008: 307ff.). Das Vorgehen orientiert sich an denzehn Leitlinien von Corbin und Strauss (ebd.), die die Güte einer GroundedTheory sichern sollen.

5.6.4 Gütekriterien der Grounded TheoryDie Gütekriterien Validität, Objektivität und Reliabilität stehen mit einemquantitativen Forschungsparadigma in Verbindung und werden in der qualita-tiven Forschung, wenn überhaupt, nur in modifizierter Form angewandt (vgl.Flick 2007: 487 ff.). Von Glaser und Strauss wurden ursprünglich gemeinsamGütekriterien für die Überprüfung einer Grounded Theory entwickelt, welchevon Strauss und Corbin (³2008: 305ff.) später weiter elaboriert wurden. AlsGütekriterien nennen sie zehn Kriterien 56, die im Prozess der Theoriebil-dung und für die Theorie selbst eine Rolle spielen, u.a. das Sample, dastheoretische Sampling der Studie, die Kategorien sowie die Beziehungeninnerhalb und zwischen Kategorien und Konzepten. Einschränkend schreibenCorbin und Strauss (³2008: 309) dazu:

„The criteria are meant as guidelines. (...) , the researchershould identify and convey the strenghts and inevitable limi-tations of the study. (...) it might be useful, (...) to include a

56„1.Fit (...) 2. Applicability, (...) 3. Concepts, (...) 4. Contextualisation of concepts (...)5. Logic (...) 6. Depth (...) 7. Variation (...) 8. Creativity (...) 9. Sensitivity (...) 10.Evidence of Memos” (Corbin/ Strauss ³2008: 305ff.). Ergänzende Fragen sollen dieÜberprüfbarkeit einer Grounded Theory vereinfachen (vgl. ebd.: 305ff.).

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5.6 Grounded Theory in meiner Forschungspraxis 105

short explanation of his or her own research perspectives andresponses to the research process.”

Eine einschränkende Formulierung, wie die der Verwendung der Kriterien alsLeitlinien, findet sich bei allen Aspekten des Vorgehens gemäß der GroundedTheory. Es gibt kein statisch festgelegtes Vorgehen, es muss vielmehr immeran die jeweilige Forschungsfrage der konkreten Studie angepasst werden.Strauss weist darauf hin, dass „die von uns vorgeschlagenen Methoden aufkeinen Fall als starre Regeln zu verstehen sind, nach denen Datenmaterialienin eine effektive Theorie umgewandelt werden können. Sie sind lediglichLeitlinien, die den meisten Wissenschaftlern bei ihren Forschungen Orien-tierungshilfen geben können” (Strauss 2004: 436, dies bestätigen auch Meyund Mruck, vgl. 2011: 42).

Laut Strübing werden bei der Grounded Theory die Qualitätssicherungsowie die Güteprüfung argumentativ miteinander vermischt. So sind fürihn die qualitätssichernden Vorgehensweisen wie theoretisches Sampling,Memos schreiben und systematischer Vergleich weitere Aspekte, die ebenfallsdie Güte der zu entwickelnden Grounded Theory bestätigen (vgl. Strübing2008: 84ff.). Wie das folgende Zitat zeigt, unterscheidet Strübing bei derBeurteilung einer Grounded Theory zwischen der Qualität einer Theorieeinerseits und ihrer Reichweite andererseits:

„Praktische Relevanz, konzeptuelle Dichte, Reichweite undempirische Verankerung sind diejenigen der genannten Kriterien,die der Struktur des Verfahrensmodells und dessen epistemolo-gischem Hintergrund besonders angemessen sind. (...) Diejenige[Theorie], deren Kategorien und Subkategorien stärker und viel-fältiger im Datenmaterial verankert und zugleich intensiveraufeinander bezogen sind, ist nach den Maßstäben die ‚bessere’Theorie. Die Theorie, die dabei mehr divergierende Falldomä-nen zu erfassen und zu integrieren versteht, hat eine größereReichweite.” (Strübing 2008: 91)

Auch wenn im Rahmen der Methodenlehre der Grounded Theory ein Systeman Gütekriterien entwickelt wurde, das im Vergleich zu dem der quantitativenForschung relativ unübersichtlich ist, so existieren dennoch zentrale Elemente,die eine aus den Daten entwickelte Theorie überprüfbar machen.

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106 5 Zielsetzung und Methodik

5.7 DatenauswahlIm Folgenden gebe ich einen Überblick über die Datenauswahl, indem ichdie für die vorliegende Studie interviewten Unternehmerinnen kurz zusam-menfassend beschreibe.

Insgesamt bilden 11 Interviews das Datenmaterial. Die Interviews wur-den in verschiedenen deutschen Städten durchgeführt.

Die Interviewten sind zum Interviewzeitpunkt zwischen 30 und 50 Jahrealt: Vier sind unter 40, und sieben sind über 40. Zwei Interviewte sindkinderlos, die anderen haben zwischen ein und drei Kind(ern). Der Großteilder Kinder ist im Jugendalter oder erwachsen, lediglich drei Interviewtehaben Kinder im Kindergarten- und Grundschulalter.

Eine Interviewte verfügt über eine Migrationsgeschichte aufgrund ihresausländischen Vaters. Die anderen Interviewten verfügen über Migrationsge-schichten, da sie entweder als Kinder mit ihren Eltern oder als Erwachsenenach Deutschland migriert sind. Unter den Interviewten befinden sich Frauenmit Migrationsgeschichten, die in der Türkei, Italien, Brasilien, Polen, Russ-land und Spanien verortet sind. Zwei Interviewte sind alleinerziehend, dierestlichen leben zusammen mit ihren Partnern. Drei Interviewte beschäftigenin ihren Unternehmen Mitarbeitende (zwischen 5 und 300), die anderen sindohne Mitarbeitende unternehmerisch selbstständig.

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6 Lernprozesse vonUnternehmerinnen mitMigrationsgeschichte – einmultiperspektivischesLernmodell

Im Folgenden stelle ich ein multiperspektivisches Lernmodell zu Unternehme-rinnen mit Migrationsgeschichte vor, welches aus den Daten heraus entwickeltwurde. Das Modell besteht aus vier aufeinanderfolgenden Lernphasen, inner-halb derer das berufliche Selbstverständnis der Interviewten durch Lernentransformiert wird. Im Verlauf der vier Phasen wird das berufliche Selbst-verständnis zunächst um eine unternehmerische Perspektive erweitert undschließlich in ein unternehmerisches Selbstverständnis umgewandelt (vgl.Abbildung 6.1 on 108).

In der Beschreibung gehe ich zuerst auf die rechte Seite der Grafikein. Das berufliche Selbstverständnis stellt eine Bedeutungsstruktur dar. Sieist unterteilt in vier Bedeutungsperspektiven, die während des Lernprozes-ses so transformiert werden, dass sie schlussendlich das unternehmerischeSelbstverständnis ergeben. Die Bedeutungsperspektiven sind:

1. Das hohe berufliche Selbstbewusstsein: Die Interviewten verfügen übereine positive Selbsteinschätzung hinsichtlich ihrer beruflichen Kenntnisseund Fähigkeiten.

2. Der berufliche Eigenanspruch: Die Anspruchshaltung orientiert sich aninhaltlichen Aspekten der beruflichen Tätigkeit der Interviewten, alsodaran, welchem Beruf sie nachgehen möchten.

3. Die berufliche Eigenverantwortung: Die Interviewten weisen eine hoheErwerbsmotivation auf; durch eine Berufstätigkeit sehen sie sich in derLage, für sich selbst finanziell Verantwortung zu übernehmen.

A. Laros, Transformative Lernprozesse von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte, DOI 10.1007/978-3-658-09999-2_6, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015

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108 6 Lernprozesse von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte

Abbildung 6.1: Übersicht Lernmodell (eigene Darstellung)

4. Das berufliche Arbeitsverständnis: Die Interviewten formulieren Idealvor-stellungen im Hinblick auf die Ausgestaltung von Arbeitszusammenhän-gen. Für die Interaktion mit Mitarbeitenden sowie Vorgesetzten wird einArbeitsklima antizipiert, in dem sie sich wohlfühlen.

Zu Beginn des Lernprozesses in Phase Eins kommt es aufgrund irritie-render Erfahrungen dazu, dass die Interviewten in einzelnen oder mehrerenBedeutungsperspektiven desorientiert werden. Im weiteren Verlaufe desLernprozesses wird das berufliche Selbstverständnis durch die Unternehmens-gründung (Phase Zwei) sowie das bestehende Unternehmen (Phase Drei) umeine unternehmerische Perspektive erweitert. Dies führt letztendlich in PhaseVier zu einer Transformation des beruflichen Selbstverständnisses in einunternehmerisches Selbstverständnis. Das neu entwickelte unternehmerischeSelbstverständnis beinhaltet folgende Bedeutungsperspektiven:

1. Das hohe unternehmerische Selbstbewusstsein: Die Interviewten verfügenüber ein hohes Maß an Selbstbewusstsein, welches sowohl auf ihrenberuflichen Wissensbeständen und Fähigkeiten als auch auf der Tatsachegründet, dass sie ein eigenes Unternehmen besitzen, dessen Einflussdeutlich über ihre berufliche Sphäre hinausgeht.

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109

2. Der unternehmerische Anspruch: Die Anspruchshaltung orientiert sichnicht ausschließlich an inhaltlichen Aspekten der beruflichen Tätigkeit,sondern bezieht sich vielmehr darauf, wie das Unternehmen insgesamtausgestaltet wird. Sie richtet sich an alle, die mit dem Unternehmen inVerbindung stehen, also die Unternehmerinnen selbst sowie gegebenenfallsAngestellte und Zuliefernde, aber auch an die Unternehmensprodukte.Beim unternehmerischen Anspruch geht es nicht nur um die Unternehmenund den unternehmerischen Erfolg, sondern der Anspruch geht überökonomische Fragestellungen hinaus.

3. Die unternehmerische Verantwortung: Durch ihr erfolgreiches Unterneh-men sind die Interviewten finanziell unabhängig. Dadurch hat das Ein-kommen nicht mehr die gleiche zentrale Stellung wie noch zu Beginndes Lernprozesses. Ihre anfänglich hohe Eigenverantwortung haben dieInterviewten im Verlauf des Lernprozesses um eine Fremdverantwortungfür andere sowie eine gesellschaftliche Verantwortung erweitert.

4. Das unternehmerische Arbeitsverständnis: Als Unternehmerinnen kreierendie Interviewten für sich (und andere) ein angenehmes Arbeitsumfeld.Die unternehmerische Selbstständigkeit ist für sie eine Art zu Leben, beider sie viele Freiheiten genießen, aber auch eine hohe Arbeitsbelastung inKauf nehmen.

Nach der Beschreibung der vier Bedeutungsperspektiven, die zusammendie Bedeutungsstruktur berufliches bzw. unternehmerisches Selbstverständnisbilden, gehe ich nun auf die linke Seite der Grafik ein und beschreibe, wie invier Lernphasen die dargestellten vier Bedeutungsperspektiven transformiertwerden. Die Lernphasen habe ich in Anlehnung an die jeweilige aktuelleSituation bzgl. der Unternehmung wie folgt benannt:

1. Gründungsvorbereitungsphase: In Phase Eins stehen die Interviewtenvor der Herausforderung, dass sie in einzelnen oder mehreren Bedeu-tungsperspektiven ihres beruflichen Selbstverständnisses desorientiertwerden: Ihre berufliche Situation und einzelne oder mehrere der vier Be-deutungsperspektiven passen nicht mehr zusammen. Bewältigt wird dieDesorientierung, indem sich die Interviewten durch Reflexionen oder In-teraktion mit Dritten in einzelnen oder mehreren Bedeutungsperspektivenbestärken. Ergebnis von Phase Eins sind beiläufig geschaffene Gelegen-heiten für eine mögliche Unternehmensgründung, die sich zu Beginn vonPhase Zwei zeigen.

6 Lernprozesse von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte

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110 6 Lernprozesse von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte

2. Gründungsentscheidungsphase: Die zentrale Herausforderung in PhaseZwei bilden die aus Phase Eins resultierenden Gelegenheiten für eineUnternehmensgründung. Die Interviewten stehen vor der Frage, ob siesich für oder gegen eine Unternehmensgründung entscheiden. Hierdurchkommt es erneut dazu, dass sie in einzelnen oder mehreren Bedeutungs-perspektiven ihres beruflichen Selbstverständnisses desorientiert werden.Die Herausforderung der Desorientierung bewältigen die Interviewten,indem sie im Rahmen der Entscheidungsprozesse Reflexionen durchführenund Personen aus ihrem beruflichen und privaten Umfeld konsultieren.Auf diese Weise gelangen sie zu ihrer Entscheidung, ihre Unternehmenzu gründen. Die Entscheidung stellt das Ergebnis von Phase Zwei dar.

3. Gründungsphase: Durch die Gründung in Phase Drei werden die Inter-viewten in ihren verschiedenen Bedeutungsperspektiven des beruflichenSelbstverständnisses desorientiert. Da ihnen unternehmerische Wissensbe-stände und Fähigkeiten fehlen, ist die Desorientierung der Interviewtenin ihren Bedeutungsperspektiven des beruflichen Selbstverständnissesgrundlegender und umfassender, als dies bei den vorangegangenen Des-orientierungen in Phase Eins und Zwei der Fall war. Die Interviewtenbewältigen die Desorientierung, indem sie sich an ihren bestehenden Be-deutungsperspektiven festhalten und Strategien entwickeln, mit denensie die vier Bedeutungsperspektiven des beruflichen Selbstverständnissesum eine unternehmerische Perspektive erweitern. Die sich neu entwickeln-den Bedeutungsperspektiven des unternehmerischen Selbstverständnissesstehen somit zunächst neben denjenigen des bestehenden beruflichenSelbstverständnisses.

4. Phase des erlernten Unternehmerinnen-Seins: Phase Vier bezieht sich aufErgebnisse der Unternehmensgründung und damit zusammenhängende,über die berufliche Sphäre hinausgehende Elemente wie z.B. gesellschaftli-che Auswirkungen der Unternehmung. In Phase Vier entsteht aus den inPhase Drei noch nebeneinanderstehenden beruflichen und unternehmeri-schen Selbstverständnissen ein umfassendes unternehmerisches Selbstver-ständnis. Teile des ursprünglichen beruflichen Selbstverständnisses sinddarin integriert. Das im Rahmen einer Transformation entstandene unter-nehmerische Selbstverständnis bedingt veränderte Weltsichten und führtzu veränderten Handlungsweisen der Unternehmerinnen. Die Interview-ten entwickeln ein umfassendes Verständnis ihrer Unternehmerinnenrolle,das auch bürgerschaftliche Verantwortung beinhaltet. Es wird deutlich,dass sie sich mit Fragestellungen befassen, die über rein berufliche und

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111

ökonomische Themen hinausgehen. Die Frauen bringen dadurch ihrebiografischen Vorerfahrungen und Ideale zur Geltung.

Im Folgenden lege ich ausführlich die Genese des Lernmodells dar. Dazubeschreibe ich die Auswertung von 11 Interviews, die ich mit Unternehme-rinnen mit Migrationsgeschichte geführt habe.

Zum besseren Verständnis der Ergebnisdarstellung weise ich an dieserStelle darauf hin, dass bei der Entwicklung einer Grounded Theory Kon-zepte gebildet werden, die in Kernkategorien zusammengefasst werden. DieKernkategorien des von mir entwickelten Lernmodells sind die Bedeutungs-strukturen berufliches und unternehmerisches Selbstverständnis. Sie stellendie abstraktesten Kategorien oder auch die „higher level concepts” (Corbin/Strauss 32008: 159) meines Modells dar. Die beiden Bedeutungsstruktu-ren berufliches und unternehmerisches Selbstverständnis werden jeweils invier verschiedene Unterkategorien (Selbstbewusstsein, (Eigen-)Anspruch,(Eigen-)Verantwortung und Arbeitsverständnis) unterteilt, die ich in meinerDarstellung als Bedeutungsperspektiven bezeichne. Die Bedeutungsperspek-tiven zeigen sich in den Daten anhand verschiedener Dimensionen. ZurVerteilung der Daten auf die verschiedenen Dimensionen halten Corbin undStrauss (32008: 316) folgendes fest:

„[T]he sampling procedures are desinged to look at how con-cepts vary along a dimensional range, rather than measuringthe distribution of persons along some dimensions of a concept.”

Daher wird in der Ergebnisdarstellung nicht darauf eingegangen, in wie vielenInterviews sich die verschiedenen Dimensionen der Kategorien aufweisenlassen. Wenn ich in der Darstellung von „den Interviewten57” spreche, dannist mehr als eine Interviewte gemeint, aber es wird nicht unbedingt von allenInterviewten gesprochen.

Im Anhang befindet sich eine Übersicht, in der die verschiedenen Lern-phasen zusammengefasst sind (siehe Tabellen auf Seite 347 ff.). Für dasLesen der nun folgenden ausführlichen Darstellung der vier Lernphasen bietetsie Orientierung.

57 Synonym spreche ich von den Frauen und den Unternehmerinnen.

6 Lernprozesse von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte

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112 6 Lernprozesse von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte

6.1 Lernphase Eins:Gründungsvorbereitungsphase

In der ersten Lernphase, der Gründungsvorbereitungsphase, bereiten sich dieInterviewten – überwiegend unbewusst – auf ihre Unternehmensgründungvor. Dieses Vorbereiten beinhaltet ein aktives Handeln, das jedoch nichtzielgerichtet auf die später folgende Unternehmensgründung ausgerichtetist. Bei der rekonstruktiven Betrachtung der Lernprozesse fällt auf, dass inder Gründungsvorbereitungsphase zum ersten Mal Handlungen vollzogenund Erfahrungen gemacht werden, die die Interviewten – von außen be-trachtet – auf ihre Unternehmen „vorbereiten”. Daher habe ich mich für dieBezeichnung „Gründungsvorbereitungsphase” entschieden, auch wenn in dervorliegenden Verwendung von „vorbereiten” keine von den Unternehmerinnenintentional auf ihre Unternehmen ausgerichtete Handlung gemeint ist. DieGründungsvorbereitungsphase setzt sich aus zwei Stufen zusammen:

In Stufe Eins (6.1.1) sehen sich die Interviewten von ihrer aktuellenberuflichen Situation herausgefordert, die für sie eine grundlegende Des-orientierung darstellt. Die berufliche Situation irritiert die Interviewten ineinzelnen oder mehreren Bedeutungsperspektiven ihres beruflichen Selbst-verständnisses. Ergebnis ist, dass die berufliche Situation mit einzelnen odermehreren der vier Bedeutungsperspektiven des beruflichen Selbstverständ-nisses nicht mehr interpretiert werden kann.

In Stufe Zwei (6.1.2) wird diese Herausforderung bewältigt und dieInterviewten werden in ihren Bedeutungsperspektiven wieder bestärkt. Diesgeschieht, indem die Interviewten bewusst oder beiläufig von unterschied-lichen Ressourcen Gebrauch machen. So wird z.B. das berufliche Selbstbe-wusstsein aktiviert und bestärkt, indem sie sich ein neues soziales Umfeldschaffen und sich an berufliche Erfolge aus der Vergangenheit oder zufriedeneKund_innen erinnern.

Die Orientierung an bestärkenden Ressourcen hilft ihnen dabei, sichGründungsgelegenheiten zu schaffen, womit sie in die zweite Phase desLernens, Unternehmerinnen zu werden, übergehen. Beide Stufen der ers-ten Lernphase beschreibe ich im Folgenden anhand der von mir geführtenInterviews.

6.1.1 Stufe Eins: HerausforderungAls ersten Auslöser für den Lernprozess des Unternehmerin-Werdens be-nennen alle Interviewten berufliche Situationen, die sie als desorientierend

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6.1 Lernphase Eins: Gründungsvorbereitungsphase 113

erleben. Die beruflichen Ausgangslagen der Frauen, in denen sie die Desori-entierungen erfahren, sind unterschiedlich. So gibt es sowohl Frauen, die sichauf (erfolgloser) Arbeitsstellensuche befinden bzw. ohne feste Anstellungsind, als auch Frauen, die eine feste Anstellung haben oder bereits schoneinmal unternehmerisch selbstständig waren.

Als desorientierend beschreiben die Interviewten Erfahrungen, welche sienicht im Rahmen ihrer bestehenden Bedeutungsperspektiven deuten können.Somit bieten die bestehenden Bedeutungsperspektiven den Interviewtenkeine ausreichende Orientierung, um ihre Erfahrungen zu interpretieren.Dafür, dass die Interviewten in ihren Bedeutungsperspektiven desorientiertwerden, gibt es unterschiedliche Gründe. Zum einen stehen die desorientie-renden Erfahrungen mit externen Rahmenbedingungen oder Einflüssen inVerbindung. Das ist z.B. der Fall, wenn Qualifikationen aus dem Auslandnicht anerkannt werden oder wenn eine Desorientierung durch Dritte, wiez.B. Kund_innen, ausgelöst wird. Zum anderen kann es passieren, dasssich die Frauen in ihrer beruflichen Situation selbst nicht mehr wohl fühlenund individuelle Überlegungen anstellen, welche sie an die Grenzen ihrerbestehenden Orientierungen führen.

Im Folgenden beschreibe ich die Desorientierungen der einzelnen Bedeu-tungsperspektiven anhand von Beispielen aus den Interviews.

Berufliches SelbstbewusstseinDas hohe berufliche Selbstbewusstsein umfasst die positive Selbsteinschät-zung, über welche die Interviewten hinsichtlich ihres beruflichen Könnensund ihrer gesamten beruflichen Situation aufgrund von beruflichen Vorerfah-rungen verfügen. Die Interviewten haben es in der Vergangenheit entwederin Deutschland oder in einem anderen Land ausgebildet. Das hohe berufli-che Selbstbewusstsein wird durch Aspekte wie eine erfolgreich absolvierteberufliche Ausbildung, den (ehemaligen) beruflichen Status sowie durchBestätigung und Anerkennung aus dem beruflichen Umfeld gefestigt.

Eine Desorientierung der Interviewten in ihrem hohen beruflichen Selbst-bewusstsein entsteht, wenn die aktuelle berufliche Situation irritierende Im-pulse gibt. Eine solche Erfahrung machen nicht alle Interviewten, sondernnur diejenigen, bei denen das Selbstbewusstsein dadurch in Frage gestelltwird, dass sie sich auf erfolgloser Arbeitsstellensuche befinden.

So wird die Desorientierung der Interviewten in ihrem hohen beruflichenSelbstbewusstseins extern ausgelöst – durch Dritte aus dem beruflichenUmfeld bzw. exkludierende Strukturen. Beispielhaft zeigt sich das an I2. Siewird in ihrem hohen beruflichen Selbstbewusstsein in dem Moment irritiert,

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114 6 Lernprozesse von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte

in dem sich ihre Arbeitsplatzsuche aufgrund von exkludierenden Strukturenals schwierig erweist:

I2, 2: „habe: in rUssland an der pädagOgischen hOchschule* an der fakultät für frEmdsprachen dEutsch unterrIchtet ichbin eine deutsch dozEntin * an der universität, *2* Ich habedort Auch als: * chefdolmetscherin nEbenbei gejObbt * äh: fürden bErgbaubereich * für die dEutschen firmen die dort tÄtigsind das sind über 150 deutsche fIrmen die dOrt sich Ansässiggemacht haben (...) wOllte natÜrlich eine: einen: jOb finden *kEiner wollte mich hAben * mEin diplOm ist nicht h hier ähhier ist nicht Anerkannt, *2* mEine qualifikation einschließlichAuch, * Überall wo ich mich bewOrben habe * ähm: war eineabsage, ich bin keine deutsche muttersprachlerin”

I2 war in Russland als Deutschdozentin an der Universität sowie als Dolmet-scherin für deutsche Firmen tätig. Sie findet in Deutschland keine Arbeits-stelle, die ihren Qualifikationen entspricht, da ihr ausländischer Abschlussnicht anerkannt wird. Sowohl ihr Können als auch ihre Qualifikation werdenaus ihrer Sicht nicht akzeptiert. Es wird deutlich, dass ihre Exklusionserfah-rung durch ihre Migration bedingt wird. Ihr berufliches Selbstbewusstseinsteht in einem Gegensatz zu dieser Erfahrung. I2 verdeutlicht das, wennsie von der Verwendung der Vergangenheitsform – „habe in Russland58” –in die Gegenwart wechselt und sagt „ich bin eine Deutschdozentin an derUniversität”. Sie hält noch an Vergangenem fest, und gibt Hinweise auf ihrenberuflichen Erfolg in ihrem Herkunftsland. So unterstreicht sie ihren hohenberuflichen Status in ihrem Herkunftsland. Der Status bezieht sich allerdingsnicht ausschließlich auf ihr Herkunftsland, sondern besonders auch auf diedortigen deutschen Firmen im Bergbaubereich. Durch ihre Tätigkeit leistetesie in Russland Beiträge für den Prozess des Ansässig-Werdens deutscherFirmen. Für die Firmen scheint sie eine zentrale Verbindung zu Russlanddargestellt zu haben, was sich daran zeigt, dass sie sich selbst als deren„Chefdolmetscherin” bezeichnet. Der Übersetzungstätigkeit ging sie als Ne-bentätigkeit, die sie zusätzlich zu ihrer Vollzeitbeschäftigung ausübte, nach.Sie sagt, sie habe in den Firmen „nebenbei gejobbt”.

Die Erfahrungen als Arbeitssuchende in Deutschland stehen in einem Ge-gensatz zu ihrem vergangenen beruflichen Status. Mit der Nicht-Anerkennungihres Abschlusses geht eine Abwertung ihrer Qualifikationen einher. Abschlie-ßend spitzt sie die Umschreibung ihrer Dequalifizierung dadurch zu, dass sie58In der Ergebnisdarstellung verzichte ich für eine bessere Lesbarkeit auf die Transkrip-

tionszeichen, wenn ich Teile der Interviewzitate wiederhole.

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6.1 Lernphase Eins: Gründungsvorbereitungsphase 115

ihre Migration als Bedingung der Exklusion nennt („Überall (...) war eine Ab-sage ich bin keine deutsche Muttersprachlerin”). Dabei thematisiert sie zweiHürden, eine besteht aufgrund ihrer in Deutschland nicht anerkannten Qua-lifikation. Diese Hürde kann jedoch durch den Erwerb eines in Deutschlandanerkannten Abschlusses überwunden werden. Eine zweite Hürde bestehthinsichtlich der Tatsache, dass I2 keine deutsche Muttersprachlerin ist. DieseHürde kann sie nicht überwinden, auch nicht durch den Erwerb eines inDeutschland anerkannten Abschlusses59. Daran zeigt sich, dass I2 einendirekten Zusammenhang zwischen ihrer erfahrenen Dequalifizierung und un-überwindbaren Aspekten herstellt, welche mit ihrer Migration einhergehen.Die Exklusionserfahrungen, die I2 hier beschreibt, sind ein Beispiel dafür,wie es zu einer Desorientierung der von mir interviewten Frauen in ihrerBedeutungsperspektive hohes berufliches Selbstbewusstsein kommen kann.Zentral ist, dass die erfolglose Suche nach einer Arbeitsstelle dazu führt, dassdas hohe berufliche Selbstbewusstsein in Frage gestellt wird.

Beruflicher EigenanspruchDer berufliche Eigenanspruch bezieht sich auf die Ansprüche und Erwartun-gen, die die Interviewten an sich selbst bzgl. der inhaltlichen Ausrichtungihrer beruflichen Tätigkeit haben. Es geht somit um ihre Idealvorstellung,welcher beruflichen Tätigkeit sie nachgehen möchten. Die Desorientierungbesteht darin, dass die aktuelle berufliche Situation nicht zum bestehendenEigenanspruch passt. Sie wird entweder durch Dritte aus dem beruflichenUmfeld initiiert oder sie entsteht durch Reflexionen im Hinblick auf aktuelleErfahrungen.

Eine Desorientierung in ihrem beruflichen Eigenanspruch ist eine sehrverbreitete Erfahrung unter den Interviewten. Eine solche Desorientierungerleben sowohl Frauen in unsicheren als auch Frauen in festen Beschäfti-gungsverhältnissen.

Das folgende Beispiel zeigt, dass die Desorientierung der Interviewtenin ihrem beruflichen Eigenanspruch sowohl durch die Frauen selbst als auchdurch externe Einflüsse ausgelöst werden kann. I4 hat im Vorfeld ihrerUnternehmensgründung die Erfahrung gemacht, dass ihre aktuelle beruflicheTätigkeit nicht in Einklang mit ihrem beruflichen Eigenanspruch steht.

I4, 2: „und dAnn gabs sozusagen äh: ne länger phase vonberUfstätigkeit und kInderkriegen und dann: * kamen zusätzli-che anfragen von meinen klienten nach supervision und dann

59Hier muss allerdings einschränkend eingefügt werden, dass sie sich als Sprachlehrerinin Deutschland bewirbt, um Deutsch zu unterrichten. Damit kann zusammenhängen,dass potenzielle Arbeitgebende besonderen Wert auf Deutsch als Muttersprache legen.

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bin ich nochmal studieren gegangen hab (...) abschluss gemachtin supervisiOn, * und hatte dann mein zwEites unternehmengegründet * aber das war so: * [räuspert sich] * (...)* fürs zwEi-te studium auch noch Ausschlag gebend war dass ich einfachdAchte man: * ich: hab mein potentiAl noch nicht ganz entfaltet* so *3* ähm: ich denke die zwEite: * wUrzel von diesem unter-nEhmerturn, tUm * ähm: liegt dadrin dass: ähm: ich aus nerfamIlie komme in der es schon rElativ vie:l * sElbstständigkeitgegeben hat, also: mbeide grOßväter wAren selbsständig alsoder * spAnische großvater war sElbstständig: * ähm: * Auch:aus der nOt heraus, also: einfach spAren musste zu dEr zeitin der Er gelebt hatte * spAnien bItterarm gewesen * ähm: *sElbstständigkeit ist für mich von Anfang an was ganz normAlesgewesen”

Zu Beginn ihrer Beschreibung stellt I4 die „Phasen” der Berufstätigkeitund des Kinderkriegens nebeneinander („Phase von Berufstätigkeit undKinderkriegen”). Dann nimmt sie darauf Bezug, wie sie in ihrem berufli-chen Eigenanspruch desorientiert wurde. Dazu beschreibt sie zunächst, wiesie durch externe Einflüsse angeregt wird, ihren beruflichen Eigenanspruchweiter zu entwickeln („kamen zusätzliche Anfragen von meinen Klientennach Supervision”). Hierfür ausschlaggebend ist, dass sie innerhalb ihrerberuflichen Lebenswelt von Klienten Anfragen für Supervisionen erhält. Sowird die Idee zur neuen unternehmerischen Aktivität erstmalig an sie her-angetragen. Auf die externe Desorientierung reagiert I4 prompt, indem sieein zusätzliches Studium aufnimmt („bin ich nochmal studieren gegangen”).Sie fügt hinzu, dass die direkte Reaktion auch mit einer Desorientierungihrerseits zusammenhängt. Darauf weist sie hin, indem sie sagt: „[Ich] dachteman, ich hab’ mein Potential noch nicht ganz entfaltet”. Daran zeigt sich,dass I4 in ihrem beruflichen Eigenanspruch sowohl durch externe als auchdurch Faktoren, die in ihrer Person selbst liegen, desorientiert wird. Damiteinhergehend setzt sie sich damit auseinander, dass ihre aktuelle beruflicheSituation nicht mit ihrem bestehenden Eigenanspruch in Einklang steht. Sierahmt das Thema unternehmerische Selbstständigkeit, indem sie auf ihreFamilie Bezug nimmt. Unternehmerische Selbstständigkeit ist eine „normale”Option für sie, die sie von ihrer Familie her kennt. Sie hebt hervor, dass fürden ausländischen Teil der Familie, den spanischen Großvater, die unter-nehmerische Selbstständigkeit keine Selbstverwirklichung darstellte, sondernvielmehr aus Not und Armut heraus entstand.

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6.1 Lernphase Eins: Gründungsvorbereitungsphase 117

Ein weiteres Beispiel für die in der Person selbst ausgelöste Erfahrungder Desorientierung des beruflichen Eigenanspruchs beschreibt I3. Sie wirdin ihrem Eigenanspruch dadurch desorientiert, dass sie sich in ihrer vor-angegangenen beruflichen Tätigkeit einseitig auf ihre Migrationsgeschichtereduziert fühlte, was nicht mit ihrem Eigenanspruch interpretierbar war.

I3, 37: „Eigentlich * Ich bin: * ich hab im migratiOnsbereichgearbEitet und das war sEhr schön, war sEhr sehr hm: wiekann man sagen ja, berÜhrend Auch ne, * (...) diese typ vonArbeit ist eine nIsche * man kEnnt eine sprAche sehr gut,meine ursprUngliche sprAche, und ich benUtze diese kEnntnisseum mir eine nIsche ne, zu: äh: zu gestAlten die nIsche in dermIgrationsbereich * und dAs: mÖchte und wOllte ich nicht *ich bin in dEutschland und ich gehÖre zu der gesEllschaft dazUes Ist eine gesEllschaft wo die migratiOn eine sEhr wichtigerOlle spielt, das auf jeden fAll, und wO plAtz gibt für mIchin diesem berEich * aber ich möchte, * mIt dem * dEutschearbEite Auch mit meine akzEnt”

Bevor I3 ihre unternehmerische Selbstständigkeit geplant hat, hat sie inDeutschland mit Migrant_innen gearbeitet („Migrationsbereich”). Das nimmtsie zunächst positiv wahr („das war sehr schön”). Allerdings wird sie durchdiese Tätigkeit in ihrem Eigenanspruch irritiert. Sie will nicht länger in einer„Nische” tätig bleiben. Es bringe zwar den Vorteil mit sich, dass sie in ihrerMuttersprache kommunizieren kann, hat jedoch auch einen gravierendenNachteil. Er besteht darin, dass sie sich im Rahmen der beruflichen „Nische”auf genau diese Nische beschränkt wahrnimmt („eine Nische zu gestaltenin der Migrationsbereich, (...) das möchte und wollte ich nicht”). Um ihreDesorientierung in ihrem Eigenanspruch differenzierter darzulegen, rekurriertsie auf die Mehrheitsgesellschaft. Als Migrantin, die in Deutschland lebt,fühlt sie sich als Teil der deutschen Gesellschaft („ich bin in Deutschlandund ich gehöre zu der Gesellschaft dazu”). Sie unterstreicht und fundiertdas, indem sie darauf eingeht, dass das Thema Migration in Deutschlandeine hohe Relevanz besitzt („ist eine Gesellschaft, wo die Migration eine sehrwichtige Rolle spielt”). Allerdings – und das hebt ihre Desorientierung hervor– begreift sie ihre Tätigkeit in einer Nische als eine Tätigkeit, die sie vonder für sie so relevanten Teilhabe fernhält („wo Platz gibt für mich, (...) ichmöchte (...) mit dem Deutsche arbeite”).

Die Desorientierung von I3 in ihrem beruflichen Eigenanspruch steht ineinem direkten Zusammenhang mit ihrer Migrationsgeschichte. Sie deutetihre Vorstellungen von einem partizipativen Zusammenleben an, welche

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jedoch nicht mit ihrer beruflichen Tätigkeit vereinbar sind. Demzufolgeentsteht die Desorientierung des beruflichen Eigenanspruchs von I3, indemsie über ihre individuellen beruflichen Erfahrungen reflektiert. Dabei realisiertsie, dass sie innerhalb der „Mehrheitsgesellschaft‘” tätig sein und sich beruflichnicht ausschließlich auf ihre Migrationsgeschichte reduzieren möchte.

Die Desorientierung der Frauen in ihrem beruflichen Eigenanspruch, diedurch sie selbst hervorgerufen wird, ist nicht nur in beruflichen Zusammen-hängen verortet, sondern kann sich auch innerhalb privater Zusammenhängeereignen. Das wird am folgenden Beispiel von I1 deutlich. Sie hat ihr ers-tes Unternehmen gemeinsam mit ihrem Mann während dessen Studienzeitaufgebaut und unterbricht ihre unternehmerische Aktivität, als ihre beidenKinder klein sind und ihr Mann sein Studium beendet. Ihre zweite unter-nehmerische Aktivität – diesmal unabhängig von ihrem Mann, da er einereigenen beruflichen Karriere nachgeht – entsteht durch eine desorientierendeErfahrung, die mit ihrer Gesundheit zusammenhängt:

I1, 5: „dIe aktivität mit den lebensmiTTE:L mit ähm: mit hmdem wEI:n und mit den äh: * dem fEI:nkost * is sO entstandendass ich äh: 2003: eine hmm * eine krankheit gehabt ha:be daswar eine hm *2* eine blöde: entzÜndung die ich im rachenbereichgehabt habe die ich mich fast zum tode geführt hä:tte weil dieärzte das nicht erkannt ha:ben *2* und wirklich die meineoperation verschoben haben Au:ch * äh: *2* u:nd äh: hm diena:cht nach der operatio:n hab ich mich WIrklich: ähm * beimsterben gseh:n u:nd dann: * als ich alles überstanden wa:r weilich: habe mich: wieder: wiedergeborn gefÜHLt (...) ich brauchtwirklich was nEues”

I1 begründet ihre Desorientierung des Eigenanspruchs mit einem Aspektihrer privaten Lebenswelt, der zunächst gar nicht mit der beruflichen Sphärein Verbindung steht: Ihre Krankheitserfahrung. Sie durchlebt eine Nahto-derfahrung und fühlt sich in der Folge wiedergeboren. Das führt dazu, dasssie beruflich etwas „Neues” braucht, was sie als Anspruch an sich selbstformuliert. Die Ausdrucksweise, dass sie „was Neues” brauchte, ist sehr allge-mein gefasst. Allerdings wird klar, dass eine Desorientierung besteht, da dieaktuelle berufliche Situation nicht mit ihrem Eigenanspruch vereinbar ist.

Zusammenfassend wird deutlich, dass die Interviewten durch die Des-orientierung ihres beruflichen Eigenanspruchs – welcher extern oder durchsie selbst ausgelöst wird – realisieren, dass sie ihr berufliches Potenzial nochnicht entfaltet haben und dass ihre aktuelle berufliche Situation nicht zuihrem beruflichen Eigenanspruch passt. Der Wunsch nach einer (neuen)

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unternehmerischen Selbstständigkeit als Zukunftsvision ist unterschiedlichstark ausgeprägt. Während I4 schon eine konkrete Vision bezüglich ihrerunternehmerischen Selbstständigkeit formuliert – sie strebt nach einer unter-nehmerischen Selbstständigkeit in einem für sie neuen beruflichen Bereich– steht bei I3 und I1 eher die Kritik an der aktuellen beruflichen Situationim Zentrum. I3 möchte nicht mehr im Migrationsbereich arbeiten und I1sagt, dass sie beruflich etwas Neues braucht. Daneben variiert auch dasAusmaß, in dem die Frauen auf ihre Migrationsgeschichte Bezug nehmen:I3 bettet die gesamte Erfahrung der Desorientierung ihres beruflichen Ei-genanspruchs in ihre Migrationsgeschichte ein, während I4 lediglich Bezügezur unternehmerischen Selbstständigkeit innerhalb ihrer Familie herstellt.Die ausführliche Darlegung der Desorientierung der Interviewten in ihremberuflichen Eigenanspruch weist darauf hin, dass die Desorientierung einenzentralen Aspekt im Lernprozess der Unternehmerinnen darstellt.

Berufliche EigenverantwortungDie dritte Bedeutungsperspektive, in der die Interviewten im Rahmen derGründungsvorbereitungsphase desorientiert werden können, bildet die be-rufliche Eigenverantwortung. Zentral für die Eigenverantwortung ist diefinanzielle Unabhängigkeit: Die Interviewten möchten ihren eigenen Lebens-unterhalt verdienen und verfügen dadurch über eine hohe Erwerbsmotivation.Eine andere Absicherung des Lebensunterhaltes, z.B. durch den Partneroder den Staat, kommt für sie nicht in Frage60. Über eine finanzielle Un-abhängigkeit verfügen diejenigen Interviewten, die sich in sicheren Beschäf-tigungsverhältnissen befinden, sie werden in ihrer BedeutungsperspektiveEigenverantwortung nicht desorientiert.

Demgegenüber kommt es bei denjenigen zu Desorientierungen in ihrerEigenverantwortung, die sich in unsicheren beruflichen Situationen, also ent-weder auf Arbeitssuche oder möglicherweise bald auf Arbeitssuche befinden.Ihre berufliche Situation führt dazu, dass sie ihrem Wunsch nach finanziellerUnabhängigkeit nicht entsprechen können.

Die Erfahrung der Desorientierung der beruflichen Eigenverantwortungwird extern ausgelöst: Zum einen können Exklusionserfahrungen, die mit Kri-terien wie Alter, Mutterschaft und nicht anerkannten Abschlüssen zusammen-hängen, eine Rolle spielen. Zum anderen können betriebliche Bedingungenursächlich für die Erfahrung der Desorientierung sein.

Die Erfahrung einer Desorientierung der beruflichen Eigenverantwor-tung verursacht durch Exklusion zeigt sich besonders gut bei I2. Sie hat

60Zu einem späteren Zeitpunkt im Gründungsverlauf kommt eine Unterstützung durchden Partner nur in Form von Unterstützung der unternehmerischen Tätigkeit vor.

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die Verknüpfung der Faktoren Einkommen und Arbeit in ihr eigenes Selbst-verständnis integriert und verfügt somit über eine hohe Erwerbsmotivation.Allerdings ist ihre Arbeitssuche in Deutschland erfolglos, da ihr im Auslanderworbener Abschluss nicht anerkannt ist.

I2, 2: „wOllte natÜrlich eine: einen: jOb finden * kEinerwollte mich hAben * mEin diplOm ist nicht hier äh hier istnicht Anerkannt”

I2 bewirbt sich zunächst auf verschiedene Arbeitsstellen. Für sie ist es selbst-verständlich, dass sie eine Arbeitsstelle finden möchte („wollte natürlich einenJob finden”). Allerdings ist die Suche nach einem geeigneten Arbeitsplatzerfolglos („keiner wollte mich haben”). Die Exklusionserfahrungen im neuenHeimatland, die I2 auf ihre ausländische Herkunft zurückführt, irritieren siein ihrer beruflichen Eigenverantwortung. Sie möchte für sich selbst finanziellVerantwortung übernehmen, was ihr jedoch ohne geeignete Arbeitsstellenicht möglich ist.

Zudem werden einige Frauen auch durch betriebliche Bedingungen inihrer Eigenverantwortung irritiert. Dies zeigt sich am folgenden Interview-ausschnitt von I5. Für sie werden einerseits betriebliche Strukturen relevantund andererseits ihre Mutterrolle:

I5, 28: „2008 im: glaub ich dezEmber erfAhren dass ich mÖgli-cherweise meine Arbeit verlier, (...) verstEhen sie also so psYchdAs is:t fü für einen mEnschen eine psYchische belAstung weil *sie sind hIer Ich ähm: * dAnn wUsste ich nicht also * ich verlIerdie Arbeit, * ich hab äh: jEtzt äh: bin ich allEin erzIehend alsoich hab die verAntwortung eine rIesige verAntwortung”

Der Ausschnitt zeigt, dass I5 in ihrer Eigenverantwortung durch externeAuslöser desorientiert wird. Sie erfährt, dass sie aufgrund betrieblicherUmstrukturierungen eventuell ihren Arbeitsplatz verlieren wird. Dadurch istunklar, inwiefern sie weiterhin in der Lage sein wird, für sich selbst finanziellVerantwortung zu übernehmen. Die Tatsache, dass sie alleinerziehend ist,erhöht I3s Verantwortung sowie ihre psychische Belastung, die mit derDesorientierung einhergeht.

Zusammenfassend fällt auf, dass unsichere berufliche Situationen zuIrritationen in der Eigenverantwortung führen können, wenn durch externeAuslöser die finanzielle Unabhängigkeit der Interviewten in Frage gestelltwird. Exemplarisch habe ich aufgezeigt, dass die unsichere Situation der Frau-en sowohl durch die Unzufriedenheit mit bestehenden Arbeitsverhältnissen

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als auch durch die erfolglose Suche nach einer Arbeitsstelle entstehen kann.Die Migrationsgeschichte kann zu desorientierenden Erfahrungen führen (I2)und die Mutterrolle kann diese verstärken (I5).

Berufliches ArbeitsverständnisDie vierte Bedeutungsperspektive, in der die Interviewten in Lernstufe Einsdesorientiert werden können, ist das Arbeitsverständnis. Die zukünftigenUnternehmerinnen haben Idealvorstellungen hinsichtlich der Arbeitszusam-menhänge, in denen sie tätig sein möchten. Hierbei geht es überwiegend umdie Zusammenarbeit mit Kolleg_innen und Chef_innen, aber auch um Ar-beitsbelastung und Anerkennung. Ein Vergleich ihrer Idealvorstellungen mitihren aktuellen Arbeitssituationen kann dazu führen, dass die Interviewten inihrem Arbeitsverständnis desorientiert werden. Einen solchen Vergleich neh-men die Interviewten vor, die in ihren bestehenden Arbeitszusammenhängenunglücklich sind. Diese Frauen grenzen sich von ihrer aktuellen beruflichenSituation ab. Auf diese Weise machen sie deutlich, wie aus ihrer Sicht idealeArbeitsbedingungen aussehen sollten.

Die Interviewten werden in ihrem Arbeitsverständnis durch externeAuslöser desorientiert, und zwar durch Kolleg_innen und/ oder durch Vor-gesetzte. Eine Desorientierung im Arbeitsverständnis – ausgelöst durch dieZusammenarbeit mit den Kolleg_innen – wird besonders von I6 artikuliert:

I6, 14: „weil ich in dem Einen betrIeb * Unglücklich wA:r *äh: wIe es gelAufen ist * (...) 104: also es war ja sO dass ich wIegesagt ich war nicht mehr glÜcklich in dem betrIeb wo ich war *weil da: also die tEamarbeit gefEhlt hat * und Ohne tEamarbeitgEht das einfach nicht man muss haben hAnd in hand, * meinechEfin war auch recht jUng * ich hAb Ich persönlich kEineproblEme damit gehab Aber * Also es * kam Eins zum Anderenwo ich Eigentlich am sAmstag mIttag wusste am mOntag geheich da nIcht mehr hin das war sEhr Unüberlegt von mir, dAswar meine spontAne entschEidung”

I6 beschreibt hier, dass sie in dem Betrieb, in dem sie als Angestelltearbeitete, unglücklich war. Als Begründung dafür stellt sie Bezüge zu denKolleg_innen sowie zu ihrer Chefin her („weil da also die Teamarbeit gefehlthat und ohne Teamarbeit geht das einfach nicht. (...) meine Chefin warauch recht jung”). Ihre berufliche Situation steht in einem Gegensatz zuihrem Arbeitsverständnis („ohne Teamarbeit geht das einfach nicht”). I6 wirddurch ihr direktes Arbeitsumfeld in ihrem Arbeitsverständnis irritiert. Wietiefgreifend die Irritationen sind, zeigt sich daran, dass sie in einer spontanen

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Reaktion ihre Arbeitsstelle kündigt („am Samstagmittag wusste, am Montaggehe ich da nicht mehr hin, das war sehr unüberlegt von mir, das war meinespontane Entscheidung”). Rückblickend bewertet sie die Entscheidung als„sehr unüberlegt”.

Ein Beispiel dafür, wie die Interviewten in ihrem Arbeitsverständnisdurch die_den Vorgesetzte_n irritiert werden können, liefert I3:

I3, 49: „ich hab eine eine: klEine wEile (...) in einer klInikgearbEitet, * wo lEider hab ich die erfAhrung gemacht dassjEmand der wEnig ausgebIldet * fast * äh: nIcht war, * wurdemir vOrgesetzt (...) das problEm war dass diese persOn (...)kEine große sElbstbewUsstheit hatte (...) ich nEhme an dassEr äh: Angst hatte vor mEine: mein diplOm (...) und dAs hatschwIerigkeiten * äh: verursAcht (...) und des war eine AHA-erlEbnis wozu ich gesagt habe Aber warUm soll ich mir dasANtun * ne, erst äh: wEnn ich als * wenn ich selbststÄndig bIn:* ich hab das problEm nIcht * muss ich nicht mit mit * nIchtmit der neurOse der Andere kÄmpfe * @kAnn: meine * meineEigene lEben@”

I3 beschreibt ihre Arbeitserfahrungen in einer Klinik. Ihr dortiger Vorge-setzter hatte ein niedrigeres Ausbildungsniveau als sie selbst, weshalb eranscheinend nicht wusste, wie er ihr begegnen soll („hatte Angst vor meine(...) Diplom (...) und das hat Schwierigkeiten verursacht”). Hierdurch wirdI3 in ihrem Arbeitsverständnis irritiert. Sie bezeichnet die Situation als„Aha-Erlebnis” und gibt an dieser Stelle bereits Hinweise auf eine unterneh-merische Selbstständigkeit. Wie weitreichend I3 in ihrem Arbeitsverständnisdurch die Erfahrungen in der Klinik desorientiert wird, zeigt sich darin, dasssie zunächst darauf hinweist, dass sie „nicht mit der Neurose der anderenkämpfen” möchte. Die Verwendung der Ausdrucksweisen „Neurose” und„kämpfen” deutet darauf hin, wie belastend sie die Herausforderungen erlebthat. Abschließend thematisiert sie eine mögliche unternehmerische Selbst-ständigkeit, in der sie unabhängig von Vorgesetzten tätig wäre und sagt, dasssie erst dann ihr eigenes Leben leben könne („kann meine eigene Leben”).Mit dieser Ausdrucksweise stellt sie Bezüge her, die die berufliche Sphäre desUnternehmerischen überschreiten. Das weite Ausmaß ihrer Desorientierungwird hierdurch deutlich.

Auch I11 wird durch ihre_n Vorgesetzte_n in ihrem Arbeitsverständnisdesorientiert. Sie schildert belastende Arbeitszusammenhänge, die mit fehlen-der Anerkennung einhergehen und macht dafür ihren ehemaligen Arbeitgeberverantwortlich:

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I11, 3: „njAhr hab ichs dOrt in dem brUchladen dUrchge-halten, dUrchgehalten heißt dann Immer, ähm: also bei beitÜrkischen betrIeben heißt es immer wir sind ne schÖne kleinefamIlie wir halten zusAmmen und die mItarbeiter schUftenund tUn und mAchen, * Is:t bestImmt nicht bei Allen so abermIch hats halt dOrt getroffen, * ähm da haben wir auch anwOchenenden geArbeitet Und und und und Irgenwann ma:l istdie pfÖrtnerin explodIert wEi:l es gab keine bezAhlungen fürdie Überstunden * dann bIn ich Eigentlich gedAnkenlos Einfachmal da rAusgestürmt * aber nach drEi tAgen hatte ichs dannauch schon berEut, wo ich gedAcht habe oh gOtt wAs habe ichda getan, weil kÜndigen sOll man ja nicht”

I11 geht auf ihre ehemalige Arbeitsstelle ein, wo sie ein Jahr tätig war.Sie wertet ihre ehemalige Arbeitsstelle ab, indem sie den Betrieb als einen„Bruchladen” bezeichnet, in dem es hauptsächlich um ein „Durchhalten” derArbeitstätigkeit geht. Ihre türkische Migrationsgeschichte wird dadurch re-levant, dass es sich um einen Betrieb handelt, der von einem türkischenInhaber geführt wird. Sie beschreibt ironisierend, dass ein starker Zusam-menhalt im Betrieb bestand („heißt es immer wir sind ’ne schöne kleineFamilie, wir halten zusammen”). Aus Sicht von I11 führt der starke Zu-sammenhalt zu Nachteilen für die Mitarbeitenden. Diese bestehen in einerhohen Arbeitsbelastung und fehlender finanzieller Anerkennung („und dieMitarbeiter schuften und tun und machen”). Die von I11 benannten Nach-teile führen dazu, dass sie in ihrem Arbeitsverständnis irritiert wird. DieseDesorientierung wird entscheidend verstärkt, als sie erlebt, wie eine ihrerKolleginnen stark impulsiv auf die Umstände im Betrieb reagiert („ist diePförtnerin explodiert, weil es gab keine Bezahlung für die Überstunden”).Dieses Erlebnis führt dazu, dass I11 spontan kündigt („eigentlich gedankenloseinfach mal da rausgestürmt”). Bei der Bewertung ihrer Kündigung referiertsie auf eine gesellschaftliche Norm, gegen die sie verstoßen hat („kündigensoll man ja nicht”), signalisiert durch die Verwendung von „man” allerdingseine gewisse Distanz zu ihrer Aussage.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Interviewten durchverschiedene Personen aus ihrem Arbeitsumfeld in ihrem Arbeitsverständnisirritiert werden. Zum einen benennen die Interviewten ihre Kolleg_innenund zum anderen ihre Vorgesetzten und Chef_innen als bedeutsam. DieIrritationen sind zum Teil mit starken Emotionen verbunden. Für diejenigen,die in ihrem Arbeitsverständnis intensiv desorientiert werden, kann die Erfah-rung so unvereinbar mit ihrer bestehenden Bedeutungsperspektive sein, dass

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sie spontan ihre Arbeitsstelle kündigen. Sie bewältigen dann die Erfahrungder Desorientierung, indem sie den dafür ursächlichen Bedingungen spontanentgehen. Während die spontane Entscheidung rückblickend von einigenFrauen als unüberlegt bewertet wird (z.B. I6 und I11) bringen andere diesemit ihrem hohen Selbstbewusstsein in Verbindung (z.B. I11).

ZusammenfassungWährend der ersten Stufe der Gründungsvorbereitungsphase werden dieInterviewten in einzelnen oder mehreren ihrer beruflichen Bedeutungsper-spektiven, die das berufliche Selbstverständnis kennzeichnen, irritiert. DieIrritationen werden entweder extern ausgelöst, etwa durch bestehende Rah-menbedingungen wie z.B. nicht anerkannte Schul- oder Ausbildungsabschlüs-se oder sie werden vorwiegend durch das Individuum bedingt, das, ohnedafür explizit einen Auslöser zu nennen, damit beginnt, über die eigeneberufliche Situation zu reflektieren. Die Interviewten machen Erfahrungen,die sie nicht mit ihren bestehenden Bedeutungsperspektiven interpretierenkönnen, wodurch es zu Desorientierungen kommt.

In der obigen Darstellung habe ich die jeweils unterschiedlichen Aus-prägungen der Desorientierungen aufgezeigt. Die Migrationsgeschichte sowiedas Frau-Sein und die Mutterrolle bilden die zentralen Strukturkategoriender ersten Lernstufe innerhalb der ersten Phase des Lernmodells. Die Be-grifflichkeit Strukturkategorie verwende ich in Anlehnung an Smykalla (2006:5f.) und Nakano Glenn (vgl. Bednarz-Braun 2004: 60 ff.) für Kategorien,die Strukturen in der Gesellschaft prägen und Ungleichheit bedingen (kön-nen). In der vorliegenden Ergebnisdarstellung wird die StrukturkategorieGeschlecht in die Aspekte Frau-Sein und Mutterrolle aufgeteilt.

Die Interviewten werden in ihrem hohen beruflichen Selbstbewusst-sein durch externe Einflüsse desorientiert. Das geschieht, indem die aktuelleberufliche Situation als widersprüchlich zum eigenen hohen beruflichen Selbst-bewusstsein erfahren wird.

Bei der Irritation im Eigenanspruch geht es darum, dass die Frauensowohl auf dem Wege von Selbstreflexionen als auch durch externe Einflüssevon Dritten realisieren, dass ihre aktuelle berufliche Situation nicht ihremAnspruch gerecht wird. Dabei steht die inhaltliche Ausrichtung der Berufs-tätigkeit im Vordergrund. Rückblickend kann die Irritation einen zentralenAuslöser für die spätere Unternehmensgründung darstellen.

Auch in ihrer Eigenverantwortung werden die Interviewten durch externeEinflüsse irritiert. Zu den Irritationen kommt es entweder durch Exklusi-onserfahrungen oder aufgrund betrieblicher Strukturen. So wird z.B. durch

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längere Arbeitslosigkeit oder durch drohenden Verlust des Arbeitsplatzesdie finanzielle Unabhängigkeit der Frauen in Frage gestellt.

Darüber hinaus werden die Frauen auch in ihrem Arbeitsverständnisirritiert. Die Irritationen entstehen durch das Verhalten von Vorgesetztenoder Kolleg_innen, das nicht dem eigenen Arbeitsverständnis entspricht.Die Irritationen sind ab einem gewissen Maß für die Frauen nicht mehrerträglich und es kann zu spontanen Reaktionen – wie z.B. der Kündigungder Arbeitsstelle – kommen, welche von den Frauen im Nachhinein zum Teilals unüberlegte Bewältigungsversuche beschrieben werden.

In der Gründungsvorbereitungsphase sind die Desorientierungserfah-rungen der Interviewten in ihren verschiedenen Ausprägungen sehr aufindividualistische Fragestellungen bezogen und konzentrieren sich auf einzel-ne oder mehrere Bedeutungsperspektiven. In der zweiten Stufe entwickelndie Frauen hierfür Bewältigungsstrategien. Den Begriff der Bewältigungs-strategie habe ich selbst entwickelt, um zu beschreiben, wie die Interviewtenmit Herausforderungen umgehen.

6.1.2 Stufe Zwei: Bewältigung und ErgebnisGegenstand der ersten Lernstufe der Gründungsvorbereitungsphase war, dassdie Interviewten in einzelnen oder mehreren der Bedeutungsperspektiven,die das berufliche Selbstverständnis ausmachen, irritiert werden. Die beste-henden Bedeutungsperspektiven bieten den Interviewten keine ausreichendeOrientierung mehr, um mit aktuellen Erfahrungen umzugehen. Dennochkommt es in der zweiten Lernstufe nicht zu einer vollständigen Neuorientie-rung der Bedeutungsperspektiven. Vielmehr entwickeln die Frauen in derzweiten Lernstufe eine Bewältigungsstrategie, die dazu führt, dass sie in ihrenbestehenden Bedeutungsperspektiven wieder bestärkt werden. Die Strategiebesteht darin, die Bedeutungsperspektiven zu erweitern und anzupassen.Dazu nehmen sie auf Ressourcen aus ihrer Lebenswelt Bezug und vergegen-wärtigen sich bestärkende Erfahrungen aus der Vergangenheit. Sie schaffensich ein Umfeld, in dem sie bestärkende Erfahrungen erleben. Die Frauentreten dann z.B. in Gespräche mit Familienmitgliedern oder Freund_innenein, oder finden Selbstbestätigung dadurch, dass sie an berufliche Erfolgeerinnert werden, die sie sich in der Vergangenheit erarbeitet haben.

Die Strategie der Interviewten, sich in ihren Bedeutungsperspektivenzu bestärken ist zukunftsorientiert. Das Erweitern und Anpassen der Be-deutungsperspektiven erfolgt entweder ganz bewusst oder es ereignet sichbeiläufig. Im Folgenden lege ich anhand der verschiedenen Bedeutungsper-spektiven dar, in welchen Formen sich die Strategie in den Daten zeigt.

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Aktivierung des beruflichen SelbstbewusstseinsEs gibt zwei unterschiedliche Wege, wie die Interviewten ihr hohes beruflichesSelbstbewusstsein aktivieren: Zur Aktivierung kommt es entweder durch einNachdenken über bestärkende/ positive Erfahrungen oder durch positiveBestätigungen Dritter, die aus dem beruflichen oder privaten Umfeld derInterviewten stammen.

Wie das hohe berufliche Selbstbewusstsein durch ein Besinnen aufpositive Erfahrungen aus der Vergangenheit aktiviert wird, beschreibt I2. Sienimmt dazu auf ihre im Herkunftsland erworbenen Qualifikationen Bezug,die in Deutschland nicht anerkannt werden.

I2, 2: „die: begrÜndung ich kann deutsch besser unterrichtenals jeder dEutsche, * hat nIx gebracht * Ich war verzwEIfelt *und ich hab gesagt ich: wErde: * dEutschland noch bewEisen *mEine qualifikation sind wErt * und ich kann hIer erfolg haben* und dAs was ich kann * das was ich studIert habe * kannich tatsächlich * da spIelt diese: bestÄtigung von mEinem oderAnerkennung von mEinem diplom hier gar keine große rolle”

I2 ist zunächst verzweifelt, da sie keinen Arbeitsplatz findet. Die Verzweiflungführt zu einer Art Trotzreaktion, die sie motiviert („ich werde Deutschlandnoch beweisen”). Sie akzeptiert die Dequalifizierung durch die Arbeitsmarkt-strukturen in Deutschland nicht („meine Qualifikationen sind wert, (...) daspielt diese (...) Anerkennung von (...) meinem Diplom hier gar keine großeRolle”). Vielmehr bestärkt sie sich in ihrem beruflichen Selbstbewusstsein, in-dem sie auf ihre im Herkunftsland erworbenen Qualifikationen Bezug nimmt(„das, was ich studiert habe, kann ich tatsächlich”), und sie auf den deutschenKontext überträgt („und ich kann hier Erfolg haben”). Mit dieser Strategiewertet sie die Dequalifizierung in Deutschland ab, die sie aufgrund ihres nichtanerkannten Abschlusses erfährt („spielt (...) hier gar keine große Rolle”).

Zudem kann das hohe berufliche Selbstbewusstsein der Frauen auchdurch Dritte aktiviert werden. Ein solches Vorgehen schildert I2. Auf derSuche nach einem sozialen Netzwerk orientiert sie sich an einer Chorgruppe,die sich aus Personen aus ihrem Herkunftsland zusammensetzt.

I2, 16: „ähm: weil ich hier gAr keinen kannte * in A-stadtin dEutschland * ähm: hab ich einfach nach den kontAktengesucht * bin ich bei dem rUssischen chOr gelandet, bei dIesemchor klar die leute haben * mItgekriegt das warn die rUssen, *das warn die rUssischen jUden oder die: spÄtaussiedle:r oder dieau-pAIr-mädchen ode:r also das warn gAnz verschiedene lEute:

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6.1 Lernphase Eins: Gründungsvorbereitungsphase 127

* mit gAnz unterschiedlichem soziAlen status * bIldungsstandäh: Alter und so weiter * klAr sie haben mitgekriegt Ich: bindie deutschdozentin von der uni”

I2 ist aus Russland nach Deutschland immigriert, da ihr Ehemann deutschist. In der Passage wird zunächst ihre Unabhängigkeit deutlich, wenn sie ausder Ich-Perspektive berichtet, dass sie kein soziales Netzwerk hatte („weilich hier gar keinen kannte”). Die Suche nach einem sozialen Netzwerk endetbei einer russischen Chorgruppe. Das Beiläufige und nicht Zielgerichtete inihrer Handlung wird dadurch signalisiert, dass sie sagt, sie sei bei dem Chor„gelandet” („bin ich bei dem russischen Chor gelandet”). Mit dem Chor orien-tiert sie sich an einer Gruppe, deren Mitglieder ebenfalls über eine russischeMigrationsgeschichte verfügen. Die Mitglieder der Chorgruppe bestärken I2sberufliches Selbstbewusstsein, indem sie ihren beruflichen Status des Her-kunftslandes sowie ihre Qualifikationen anerkennen („klar, die Leute habenmitgekriegt, (...) klar, sie haben mitgekriegt, ich bin die Deutschdozentin vonder Uni”). Bei der Beschreibung der Bestärkung geht sie in einem Einschubgenauer auf die Mitglieder der Chorgruppe ein und beschreibt sie hinsichtlichihres Status in Deutschland unter Bezugnahme auf Religionszugehörigkeit,Zuwanderungsstatus, sozialen Status und Bildungsstand („das waren dierussischen Juden oder die Spätaussiedler oder die Au-pair-Mädchen (...) mitganz unterschiedlichen sozialen Status Bildungsstand”). Demgegenüber istihre Selbstbeschreibung ausschließlich an ihrem hohen beruflichen Status,den sie im Herkunftsland innehatte, orientiert und nicht auf ihren Statusin Deutschland bezogen („ich bin die Deutschdozentin von der Uni”). Sieverwendet für ihre Selbstbeschreibung andere Kategorien als für die Be-schreibung der Gruppenmitglieder und überträgt so ihr hohes beruflichesSelbstbewusstsein aus der Vergangenheit auf die Gegenwart. Damit einher-gehend blendet sie erfolgreich die herausfordernde berufliche Situation derGegenwart aus. Zu dem Zeitpunkt, zu dem sie den Chor aufsucht, ist sie ar-beitslos und verfügt über keine in Deutschland anerkannte Berufsausbildung.Sie schafft sich mit der Chorgruppe ein soziales Umfeld, das einen Gegenpolzu den exkludierenden Erfahrungen in Deutschland darstellt. Auf diese Weisevergewissert sie sich ihres hohen beruflichen Selbstbewusstseins. Das ist ihreBewältigungsstrategie, mit der sie die irritierenden Exklusionserfahrungen inDeutschland abwertet. Ihre Migrationsgeschichte stellt dafür einen zentralenBezugspunkt dar.

Ein weiteres Beispiel dafür, dass es zur Aktivierung des hohen beruflichenSelbstbewusstseins sowohl durch die Rückbesinnung auf den vergangenen

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128 6 Lernprozesse von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte

beruflichen Erfolg als auch durch die Bestätigung von Dritten kommen kann,beschreibt I6:

I6, 22: „dEs waren glAub ich: mEhrere klEInigkeiten undzwar EIgentlich mEhr oder wEniger die bestÄtigung von mei-nen kUnden * weil ich gesEhen habe: ich hab kUnden die ichmitlerwEIle: äh: über jAhre hInwEg egAl in welchem betrIebich auch wAr * (...)* ich Auch: Eigentlich für mIch gemErkthabe, * ich kÖnnte es auch * weil ich ja auch zum tEil des einegeschÄft (...) fast sElber geleitet hab * un:d von dAher wardes: * kOnnt ichs mir vOrstelln * und natÜrlich * dAs war inErster linie sIcherlich die bestÄtigung von meinem kUnden *dA braucht man ja Auch gewisse: * hm: * ja: dieses: * frisEu:rkUnde verhÄltnis ja, * und dEs war Eigentlich so genAu”

I6 beschreibt – hier bereits im Hinblick auf ihre spätere Unternehmensgrün-dung – wie sie ihr hohes berufliches Selbstbewusstsein aktiviert hat. Zunächstsagt sie, dass ihr dabei „mehrere Kleinigkeiten” geholfen haben. Sie nimmtzunächst unter Verwendung von Einschränkungen darauf Bezug, dass sie vonihren Kund_innen „mehr oder weniger” positive Rückmeldungen erhaltenhat. Sie steigert das jedoch zum Ende der Passage deutlich, indem sie daraufverweist, dass es „in erster Linie sicherlich die Bestätigung von meinen Kun-den” war. In ihrer Beschreibung der Selbstbestätigung durch Bezugnahmeauf Rückmeldungen von Kund_innen, artikuliert sie in einem Einschubihre Überlegungen zu ihrer beruflichen Vergangenheit. Sie beschreibt, dasssie in ihrer ehemaligen Arbeitsstelle in einer Position tätig war, in der sieAufgaben ihrer Chefin übernommen hat. Allerdings hat sie das anscheinendnur Übergangsweise bzw. teilweise getan, was sich dadurch andeutet, dasssie bei der Umschreibung davon die Einschränkungen „zum Teil” und „fast”verwendet. Durch die Erinnerung an die leitenden Tätigkeiten aktiviertsie zusätzlich ihr hohes berufliches Selbstbewusstsein („eigentlich für michgemerkt habe, ich könnte es auch, weil ich ja zum Teil des eine Geschäft (...)fast selber geleitet hab”). In ihrer rekonstruktiven Beschreibung stellt siedirekte Bezüge zwischen der Aktivierung ihres Selbstbewusstseins und ihrerspäteren unternehmerischen Selbstständigkeit her („ich könnte es auch”).

Die Beispiele zeigen, dass sich die Interviewten auf vielfältige Art undWeise in ihrem hohen beruflichen Selbstbewusstsein bestärken. Dafür wer-den vor allem der ehemalige berufliche Status und Erfolg herangezogen.Exemplarisch habe ich das unter Bezugnahme auf I2 und I6 dargelegt, diefür zwei unterschiedliche Wege stehen, wie sich die Frauen in ihrem hohenberufliche Selbstbewusstsein bestärken: Ein Weg (dem I6 und I2 nachgehen)

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6.1 Lernphase Eins: Gründungsvorbereitungsphase 129

ist, sich vergangenen beruflichen Erfolg zu vergegenwärtigen und dadurchdas einmal erarbeitete berufliche Selbstbewusstsein wieder zu aktivieren.Ein anderer Weg besteht darin, sich ein Umfeld zu schaffen, in dem mandurch Dritte bestärkt wird. Diesem geht I2 nach, indem sie sich ein neuessoziales Umfeld schafft, in welchem sie an vergangenem beruflichen Sta-tus und Erfolg anschließen kann. Die Migrationsgeschichte kann bei denBewältigungsstrategien eine zentrale Bezugsgröße darstellen.

Aktivierung des beruflichen EigenanspruchsEine weitere Bewältigungsstrategie, wie mit den Irritationen aus Stufe Einsumgegangen wird, ist die Aktivierung des beruflichen Eigenanspruchs. Hier-bei orientieren sich die Interviewten an inhaltlichen Ansprüchen, die siehinsichtlich ihrer beruflichen Tätigkeit an sich selbst stellen. Die Aktivierungdes Eigenanspruchs ist auf die Zukunft ausgerichtet, was damit einhergeht,dass es bereits in der ersten Lernphase zu Andeutungen hinsichtlich einerunternehmerischen Selbstständigkeit kommen kann. Aufgrund von Refle-xionen bestärken sich die Interviewten in ihrem beruflichen Eigenanspruch.Sie tun das entweder durch Abgrenzung von der oder unter Einbezug derinhaltlichen Ausrichtung ihrer aktuellen beruflichen Situationen.

Ein Beispiel dafür, dass sich die Frauen in ihrem beruflichen Eigenan-spruch bestärken, indem sie sich von der aktuellen beruflichen Situationabgrenzen, liefert I2. Ihre aktuelle Berufstätigkeit entspricht nicht ihremEigenanspruch:

I2, 50: „ ja natÜrlich habe ich sehrsehrsehr viel bewErbungengeschrieben ich habe tAtsächlich * gut ich habe auch als dOlmet-scherin gearbeitet (...) äh: klAr ich habe noch die übersetzungengemacht * wEiterhin am compUter *abe:r aber ich wollte nichtmit dem compUter arbeiten * ja, * ich wollte Irgendwo arbeiten:äh: wo ich: wo ich mEine: meine qualifikatiOnen äh: zEigenkonnte *2* ja:”

I2 bewirbt sich intensiv um Arbeitsstellen, die ihren Ansprüchen entsprechen.Das intensive Schreiben von Bewerbungen, scheint für sie auf der einen Seiteselbstverständlich zu sein („natürlich”), auf der anderen Seite hebt sie esjedoch sehr deutlich hervor („sehr sehr sehr viel Bewerbungen geschrieben”).Währenddessen ist sie als Dolmetscherin tätig und geht somit einer Tätigkeitnach, die teilweise ihren – als ehemalige Dolmetscherin und Deutschlehrerin– Qualifikationen entspricht. Sie berichtet von ihrer Bewerbungsphase undspricht von der Dolmetscherinnen- und Deutschlehrerinnentätigkeit ledig-lich in einem Einschub. Bereits in der Einleitung des Einschubs deutet sie

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130 6 Lernprozesse von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte

durch die einschränkende Verwendung von „gut” an („gut, ich habe auch alsDolmetscherin gearbeitet”), dass die Tätigkeit nicht ihrem Eigenanspruchgerecht wird. Danach führt sie dies weiter aus. Sie beschreibt, dass ihr bei derTätigkeit die Interaktion mit Menschen fehlte („aber ich wollte nicht mit demComputer arbeiten”). Insgesamt bestärkt sich I2 in ihrem Eigenanspruch,indem sie klar auf ihre Vorstellungen hinsichtlich der Inhalte ihrer Berufstä-tigkeit Bezug nimmt und diese von den Inhalten ihrer aktuellen Tätigkeitabgrenzt („wollte irgendwo arbeiten, wo ich (...) meine Qualifikationen zeigenkonnte”).

Ein Beispiel für die Strategie, den beruflichen Eigenanspruch durchdie explizite Bezugnahme auf die inhaltliche Ausrichtung der vergangenenberuflichen Tätigkeit zu aktivieren, beschreibt I6:

I6, 22: „weil ich gesEhen habe: ich hab kUnden die ich mitt-lerwEIle: äh: über jAhre hInwEg egAl in welchem betrIeb ichauch wAr * aber dAmals fIng es eigentlich An, * wo ich gesEhnhab äh: * ich will wIrklich den berUf auch wEiterhin mAchen”

I6 blickt auf ihren Erfolg in der Vergangenheit zurück („ich habe Kunden,(...) mittlerweile (...) über Jahre hinweg, egal in welchem Betrieb ich auchwar”). Von der inhaltlichen Ausrichtung her entspricht ihre vergangeneBerufstätigkeit genau ihren Eigenansprüchen. Sie unterstreicht ihre Aussagedurch die Verwendung von „wirklich” („ich will wirklich den Beruf auchweiterhin machen”). Als Reaktion auf die erfahrenen Irritationen bestärkt I6sich in ihrem Eigenanspruch. Sie tut das, indem sie sich inhaltlich an ihrervergangenen Berufstätigkeit orientiert.

Während I2 ihren Eigenanspruch aktiviert, indem sie eine Abgrenzungvon ihrer aktuellen Tätigkeit formuliert, wählt I6 einen gegenteiligen Weg.Sie orientiert sich an ihrer vergangenen beruflichen Tätigkeit und bestärktsich auf diesem Weg in ihrem beruflichen Eigenanspruch. Einen Mittelwegzwischen Abgrenzung und Orientierung beschreibt I7. Bei ihr bildet dievergangene Berufstätigkeit die Grundlage für den neuen Beruf, dem siezukünftig nachgehen möchte:

I7, 5: „ich war also berEit es waren Ungefähr zEhn jahre *berUfserfAhrung als flUgbegleiterin und trAinerin, * dass ichgesAgt hab ich möcht sElber knIgge-trAinerin werden”

I7 sagt, sie fühlt sich inhaltlich auf ihre neue Tätigkeit als Knigge-Trainerinvorbereitet, da sie über eine zehnjährige Berufserfahrung in Bereichen verfügt,die eine Überschneidung mit ihrer angestrebten Berufstätigkeit aufweisen.

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6.1 Lernphase Eins: Gründungsvorbereitungsphase 131

Ihre berufliche Vergangenheit bildet die Basis für ihren neuen beruflichenWeg. Indem I7 Bezüge zu ihrer beruflichen Vergangenheit herstellt, aktiviertsie ihren beruflichen Eigenanspruch. Sie artikuliert das, indem sie sagt,dass sie sich für den neuen beruflichen Weg „bereit” fühlt. Die Betonungvon „möchte selber Knigge-Trainerin werden” kann als Hinweis auf ihreunternehmerische Selbstständigkeit angesehen werden.

Insgesamt ist die Aktivierung des Eigenanspruchs auf individualistischeFragestellungen bezogen und wird nur begrenzt von Dritten beeinflusst. Sieerfolgt sowohl durch Bezüge auf die aktuelle als auch auf die vergangeneBerufstätigkeit. Die Strategien der Aktivierung des Eigenanspruchs, welchedie Interviewten beschreiben, variieren zwischen Abgrenzung von Aktuellemoder Vergangenem und Orientierung an Aktuellem oder Vergangenem.

Aktivierung der beruflichen EigenverantwortungEine weitere Bewältigungsstrategie in Lernstufe Zwei besteht darin, dasssich die Frauen in ihrer Verantwortung für sich selbst bestärken. Sie tun dies,indem sie unterschiedliche Wege in Richtung einer (möglichen) finanziellenUnabhängigkeit erschließen. Hierbei spielen entweder Dritte – wie z.B. dieFamilie – eine entscheidende Rolle, oder die Interviewten bestärken sich inihrer Eigenverantwortung aufgrund von Reflexionen.

Ein Beispiel dafür, wie die Frauen Dritte einbinden, um sich in derWahrnehmung ihrer Eigenverantwortung zu bestärken, formuliert I5. Siebezieht sich auf ihre Familie und generiert auf diesem Weg Optionen, wie sietrotz der erfahrenen Irritationen ihrer Eigenverantwortung gerecht werdenkann.

I5, 32: „also 2009 natÜrlich meine famIlie hat Auch ähm:mItgekrIegt dass ich hm: wEnn ich meine Arbeit verlIer dannIst es wIrklich nicht so: Optimal für mIch haben auch versUchtmir zu helfen und da kam mein brUder dazU, hat gemEint ichsoll äh: viellEich versUchen seine prodUkte zu vertrEiben, *dAs war die äh idEe”

Ihre Familie möchte I5 in ihrer unsicheren beruflichen Situation unterstützen(„haben auch versucht, mir zu helfen”). Eine konkrete Idee hat ihr Bruder,der ihr vorschlägt, sich mit den Produkten, die er in Polen vertreibt, inDeutschland selbstständig zu machen („hat gemeint ich soll (...) vielleichtversuchen, seine Produkte zu vertreiben”). Hierdurch eröffnet sich für I5 einmöglicher Weg, wie sie weiterhin finanziell unabhängig bleiben kann.

Reflexionen zur finanziellen Unabhängigkeit stellen eine weitere Strategiedar, die Eigenverantwortung zu aktivieren. Beispielhaft zeigt sie sich bei I1:

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I1, 7: „ich habe dieses geld ganz einfach äh: in meine schubla:degeha:bt [lacht] * und ich habe das äh: so: hmm ab und zu: von:ich habe: *2* fast die ganze zei:t ähm: ähm: ab und zu einestunde italienisch äh: oder eine stunde konversation geGEben,*2* UND ich habe dieses GE:ld äh: so: ma:l 10 mal 20 mal 50eu:ro * nach eine:m * (...) fast schon zwei JAHre * und dashab ich gemA:cht * weil sich kurz davOr eine freu:ndIN die* ähm: sich SCHEIden ließ von dem MA:nn un: wir konntennicht Ahnen so viele schlechte geschIchten * dann paSSIERenwü:rden dass er so viele schwierigkeiten ihr machen würde, *und sie hatte mir dann gesagt weißt du ich kenne viele frauen diehEImlich *. "immer so ein kleines bisschen geld gespart haben"und dann die frauen sind am ENde * immer * die LEIden * sindfinanziell imme:r SCHLECHTER gestellt”

I1 berichtet über Einkommen, das sie über zwei Jahre hinweg für ihre privateUnabhängigkeit angespart hat („ich habe dieses Geld ganz einfach (...) inmeine Schublade gehabt”). Sie konnte es ansparen, da sie in der Vergangenheiteiner sporadischen Tätigkeit nachgegangen ist, bei der sie auf Potenzialezurückgegriffen hat, die mit ihrer Migrationsgeschichte in Verbindung stehen:Sie gab Unterrichtsstunden in ihrer Muttersprache Italienisch. Auslösend fürihr Bedürfnis, Einkommen anzusparen, war eine Freundin, die eine schwierigeScheidung hinter sich gebracht hat („wir konnten nicht ahnen (...), dass erso viele Schwierigkeiten ihr machen würde”) und ihr als Folge dazu rät,heimlich - ohne Kenntnis ihres Ehemanns – Geld anzusparen („hatte mirdann gesagt weißt du, ich kenne viele Frauen die heimlich (...) gesparthaben”). Die Kategorie Geschlecht konstruiert I1 als zentral („Frauen sindam Ende immer die leiden, sind finanziell immer schlechter gestellt”). Daranzeigt sich, dass sie sich in Zeiten einer beruflichen Desorientierung auf ihrenWillen besinnt, finanziell unabhängig zu bleiben, und auf diese Weise ihreEigenverantwortung stärkt.

Ein weiteres Beispiel dafür, wie sich die Frauen in der Wahrnehmungihrer Verantwortung für sich selbst bestärken, liefert I2. Bei ihr hat dieVerantwortungsübernahme für den eigenen Lebensunterhalt Vorrang vor denAnsprüchen, die sie an eine Erwerbstätigkeit formuliert:

I2, 55: „äh: klAr ich habe noch die übersetzungen gemacht *wEiterhin am compUter * abe:r aber ich wollte nicht mit demcompUter arbeiten”

I2 geht weiterhin einer beruflichen Tätigkeit nach, welche sie bereits imHeimatland als Nebentätigkeit ausgeübt hat. Hierbei handelt es sich um eine

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6.1 Lernphase Eins: Gründungsvorbereitungsphase 133

Übersetzungstätigkeit, die sie nun am Computer ausübt. Für sie scheint esselbstverständlich zu sein, der Tätigkeit weiter nachzugehen. Sie signalisiertdies durch die Verwendung des Begriffs „klar” („klar, ich habe noch dieÜbersetzungen gemacht”). Die Weiterführung ihrer Übersetzungstätigkeit istihr Weg, finanziell unabhängig zu bleiben. Zudem trägt die Berufstätigkeitdazu bei, dass sie darin bestärkt wird, für sich selbst Verantwortung zuübernehmen, was ihr dabei hilft, irritierende Erfahrungen zu überwinden.

Insgesamt wenden die Interviewten verschiedene Strategien an, um sichin ihrer Eigenverantwortung zu bestärken. Gemeinsam ist allen, dass siesich dadurch Wege in eine (mögliche) finanzielle Unabhängigkeit erschlie-ßen. Das Erschließen der Wege kann durch Dritte angestoßen werden (I5).Eine andere Strategie besteht darin, sich auf den schon immer vorhande-nen Willen, finanziell unabhängig zu sein, zurückzubesinnen (I1). Das kanndamit einhergehen, dass die Interviewten sich selbst bewusst machen undbetonen, dass sie die Bereitschaft mitbringen, auch längerfristig Tätigkeitennachzugehen, die nicht dem Niveau der eigenen Fähigkeiten entsprechen (I2).Bei allen Strategien zeigen sich Bezüge auf das Frau-Sein und/ oder auf dieMigrationsgeschichte. Diese beiden Strukturkategorien scheinen entscheiden-den Einfluss darauf zu haben, wie sich die Frauen Wege in eine möglichefinanzielle Unabhängigkeit erschließen.

Aktivierung des beruflichen ArbeitsverständnissesWährend die Interviewten in Stufe Eins der ersten Lernphase beschreiben,was sie an ihren ehemaligen beruflichen Situationen auszusetzen haben, be-ginnen sie in der zweiten Stufe damit, in positiver Hinsicht zu beschreiben,wie für sie eine ideale Erwerbstätigkeit aussieht. Schon zu diesem Zeitpunktim Lernprozess geben die Frauen erste Hinweise darauf, dass sie eine un-ternehmerische Selbstständigkeit anstreben. Auf diese Weise aktivieren dieInterviewten ihr Arbeitsverständnis und bestimmen ausgehend von Reflexio-nen, wie sie sich die Arbeitszusammenhänge vorstellen, in denen sie gernetätig wären.

Besonders deutlich zeigt sich das am Beispiel von I5. Sie orientiert sichmit ihren Zukunftsvisionen bereits an einer unternehmerischen Selbststän-digkeit:

I5, 8: „also dA und dAdurch dass * Ich aus einer famIlie kommewo mein vAter sElbst@ständig war@ dAs ist natürlich derhIntergrund glAub ich * also die erzIehung also ich hab immermein vAter gesehn (...) also ich habe mir nIe vorgestEllt dass ichähm: Unselbstständig Arbeiten kann s Als äh: Angestellte oder

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134 6 Lernprozesse von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte

sOwas das: äh jA vorÜbergEhend oder sOwas * Aber sOnstähm war Immer der trAum da:”

I5 berichtet, dass ihr Vater ein Unternehmer war („mein Vater selbstständigwar”). Das stellt für sie einen klaren Bezugspunkt für ihre eigene möglicheunternehmerische Selbstständigkeit dar, welcher ihre Zukunftsvisionen be-einflusst („ich hab immer mein Vater gesehen (...) also ich habe mir nievorgestellt, dass ich (...) unselbstständig arbeiten kann”). In Stufe Zwei derGründungsvorbereitungsphase nimmt sie auf die unternehmerische Selbst-ständigkeit ihres Vaters Bezug und erschließt so, was sie von einer Erwerbs-arbeit erwartet und wie sie gestaltet sein sollte. Vor diesem Hintergrundwertet sie ihre vergangene berufliche Tätigkeit ab, bei der sie in einemabhängigen Beschäftigungsverhältnis stand („hab mir nie vorgestellt, dassich (...) unselbstständig arbeiten kann (...) ja vorübergehend oder sowas”).Sie endet, indem sie ihre Idealvorstellung thematisiert, welche sie in einerunternehmerischen Selbstständigkeit realisiert sieht („war immer der Traumda”). Mit der Strategie der Abwertung der vergangenen Berufstätigkeit undder Idealisierung der Zukunft bestärkt sie sich in ihrem Arbeitsverständnis.

Ein weiteres Beispiel für die Aktivierung des Arbeitsverständnissesdurch individuelle Reflexionen zeigt sich bei I3.

I3, 7: „Absolut gewohnt * kÖnigin über meine zEit über meinegedAnken um meine um meine sAche zu sein.”

Obwohl I3 ebenfalls Erfahrungen in abhängigen Beschäftigungsverhältnissengesammelt hat, stellt sie fest, dass sie es „absolut gewohnt” ist, selbstständigund unabhängig zu arbeiten. Sie idealisiert die formalen Aspekte einerunternehmerischen Selbstständigkeit, indem sie eine Verbindung zwischeneinem Unternehmerinnen-Sein und einem Königinnen-Sein herstellt („Königinüber meine Zeit und meine Gedanken, um meine (...) Sache zu sein”). AlsFolge der erfahrenen Desorientierung besinnt sie sich auf dieses, durch ihreFamilie vermittelte, positiv konnotierte Arbeitsverständnis.

Zusammenfassend fällt auf, dass es bei der Aktivierung des Arbeitsver-ständnisses um Reflexionen zu formalen Aspekten der Arbeit, und damiteinhergehend um Reflexionen zur Selbstständigkeit als Arbeitsform mit u.a.freier Zeiteinteilung, geht. Während die Frauen in ihrem Arbeitsverständnisdurch negative Erfahrungen mit Kolleg_innen und Vorgesetzten irritiertwurden, erfolgt nun eine Hinwendung zu idealisierten Zukunftsvisionen, dieeine unternehmerische Selbstständigkeit beinhalten. Dadurch wird das Ar-beitsverständnis der Interviewten aktiviert. Die berufliche Vergangenheitwird entweder nicht thematisiert oder abgewertet.

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6.2 Lernphase Zwei: Gründungsentscheidungsphase 135

ZusammenfassungIn Stufe Zwei der Gründungsvorbereitungsphase aktivieren die Interviewtenihre Bedeutungsperspektiven. Sie beginnen, sich gedanklich Zukunftsperspek-tiven zu erarbeiten. Die Interviewten versuchen, ihre berufliche Desorientie-rung, die in Stufe Eins zum Tragen kam, zu überwinden. In den Interviewsbeschreiben die Frauen aus ihrer Erfahrung heraus, wie sie mit den Desorien-tierungen umgegangen sind. Sie haben bestehende Ressourcen und Potenzialeaktiviert, indem sie sich z.B. ihre eigenen Stärken vergegenwärtigt – durchdas Rekurrieren auf bestärkende biografische Vorerfahrungen – oder sichBestätigung von Dritten eingeholt haben; hierbei wird das direkte Umfeldrelevant. Die Aktivitäten tragen dazu bei, dass die Interviewten sich ihrerBedeutungsperspektiven, die ihr berufliches Selbstverständnis ausmachen,vergewissern können. Auf diese Weise bestärken sie sich in ihrem beruflichenSelbstverständnis und versetzen sich in die Lage, auftretende Irritationenzu überwinden. Welche Faktoren hier eine relevante Rolle einnehmen, kannvariieren; als Strukturkategorien können sowohl die Migrationsgeschichte alsauch das Frau-Sein relevant werden.

Insgesamt umfasst die Gründungsvorbereitungsphase Fragestellungen,die das Individuum und sein direktes Umfeld betreffen. Ein erweiterter Be-zugsrahmen kommt erst nach der Unternehmensgründung zum Tragen, wenndie Interviewten ihre eigenen Institutionen ausgestalten und sie sich dadurchu.a. über die Arbeitsplätze von anderen Menschen (mit Migrationsgeschichte)Gedanken machen.

Aus dem Aktivieren der verschiedenen Bedeutungsperspektiven in derGründungsvorbereitungsphase resultieren in der Gründungsentscheidungs-phase Gelegenheiten für eine mögliche unternehmerische Selbstständigkeit.

6.2 Lernphase Zwei:Gründungsentscheidungsphase

Während sich die erste Lernphase auf die (unbewusste) Gründungsvorberei-tung bezieht, konzentriert sich die darauf folgende zweite Lernphase auf dieGründungsentscheidung.

Aus den Aktivierungen der verschiedenen Bedeutungsperspektiven desberuflichen Selbstverständnisses in Lernphase Eins resultieren nun in derzweiten Lernphase beiläufige Gelegenheiten für eine Unternehmensgrün-dung und die Interviewten müssen sich entscheiden, ob sie ein Unternehmengründen wollen oder nicht. Die Entscheidung für eine Gründung ist dieHerausforderung der zweiten Lernphase, daher bezeichne ich die Phase als

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136 6 Lernprozesse von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte

Gründungsentscheidungsphase. Genauso wie die Gründungsvorbereitungs-phase besteht auch die Gründungsentscheidungsphase aus zwei Stufen:

In Stufe Eins (6.2.1) werden die aus Lernphase Eins resultierenden undbeiläufig erarbeiteten Gelegenheiten – die die Interviewten überwiegend alsZufälle beschreiben – für eine Unternehmensgründung deutlich. Die Frauenidentifizieren hier ihre Potenziale für eine unternehmerische Selbstständigkeit.Es wird deutlich, dass die Gründung eines Unternehmens bereits als konkreteZukunftsvision existiert.

In Stufe Zwei (6.2.2) wägen die Interviewten ab, ob die vier Bedeu-tungsperspektiven – hohes berufliches Selbstbewusstsein, beruflicher Eigen-anspruch, berufliche Eigenverantwortung und berufliches Arbeitsverständnis– ihres beruflichen Selbstverständnisses mit einer Unternehmensgründungvereinbar sind. Hierzu setzen sie sich mit der Frage auseinander, inwieferndie bestehenden Bedeutungsperspektiven ihres beruflichen Selbstverständnis-ses einen Orientierungsrahmen für eine Gründung darstellen können. Dazutreten sie in Reflexionsprozesse ein und konsultieren verschiedene Personenaus ihrem direkten Umfeld (z.B. ihre Familie). Auf diese Weise vergewissernsie sich ihrer Bedeutungsperspektiven und überprüfen, ob diese mit demVorhaben einer Unternehmensgründung vereinbar sind. Sie kommen zu demErgebnis, dass eine Unternehmensgründung nicht im Gegensatz zu ihrenBedeutungsperspektiven steht.

6.2.1 Stufe Eins: GründungsgelegenheitenIn Stufe Eins der zweiten Lernphase haben die Interviewten sich – resultierendaus Lernphase Eins – beiläufig Gelegenheiten generiert, die sie nachträglichals Zufälle für eine mögliche Unternehmensgründung interpretieren. In ihrenBeschreibungen legen die Frauen dar, wie sie die beiläufigen Gelegenheitenfür eine mögliche unternehmerische Selbstständigkeit identifiziert haben.Sie werden als externe Auslösereize, z.B. über Dritte – Personen aus demprivaten oder beruflichen Umfeld – an sie herangetragen.

Ein Beispiel dafür, wie Gelegenheiten für eine Unternehmensgründungim Anschluss an die Desorientierung aus Lernphase Eins mithilfe sozialerKontakte erarbeitet werden können, liefert I1. Für sie ergeben sich dieGelegenheiten, während sie einer beruflichen Tätigkeit nachgeht:

I1, 5: „ich war zufä:llig äh: eingela:den: kurz * auf der inter-nationalen messe ende septe:mber, und dann war i:ch anfang* november * zu: eine weinprobe eingela:den * u:nd habe wieImmer wie das jahr davOR auch die leute: ein bisschen geHolfen

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6.2 Lernphase Zwei: Gründungsentscheidungsphase 137

mit überSEtzungen: das ja: hmm die produkte zu beschreibenmache, * und dann so: * scherzhaft hat eine: *2* der aus italiengekommen war: um die Weine zu präsentieren gesagt @ hah dukannst des do HIER verkau:fen du kannst es * , und ich habeihm gesagt OK: das mach ich:”

Zunächst betont I1, dass sie „zufällig” auf einer internationalen Messe ein-geladen war. Die einleitende Beschreibung mit dem Wort „zufällig” beziehtsich allerdings auf ihre unternehmerische Selbstständigkeit und nicht auf dieBeschreibung der Einladung. Darauf weist sie hin, indem sie betont: „habewie immer, wie das Jahr davor, (...) geholfen”. So unterstreicht sie, dass dieEinladung kein Zufall, sondern absehbar war. Dadurch, dass sie den Zufallihrer Teilnahme („zufällig eingeladen”) ihrer regelmäßigen Tätigkeit bei derMesse gegenüberstellt („wie immer”) wird deutlich, dass sie hinsichtlich ihrerfolgenden unternehmerischen Selbstständigkeit nicht intentional gehandelthat und daher ihre Teilnahme an der Messe als zufällig konstruiert. Durchihre Übersetzungstätigkeit bei der internationalen Messe („ein bisschen ge-holfen mit Übersetzungen”) – bei der sie auf ihre aus dem Herkunftslandmitgebrachten Fähigkeiten zurückgreift – ergeben sich ihre unternehmeri-schen Gelegenheiten. Die Identifizierung ihres unternehmerischen Potenzialswird zunächst von einer dritten Person „scherzhaft” an sie herangetragen(„und dann so scherzhaft hat eine (...) gesagt hah du kannst des do hierverkaufen”). I1 verlässt sodann die scherzhafte Ebene der Kommunikationund konkretisiert das scherzhaft und beiläufig identifizierte Potenzial, indemsie spontan und entschieden reagiert und sagt „ok, das mach ich”. Nun hatsie ihr Potenzial für eine unternehmerische Aktivität erkannt und wägt inder folgenden Stufe Zwei ab, ob sie es entfalten möchte.

Es wird deutlich, dass I1 beiläufig und über Dritte mit Gelegenheiten füreine berufliche Selbstständigkeit in Kontakt kommt. Das geschieht, währendsie einer beruflichen Tätigkeit nachgeht. Ein weiteres Beispiel dafür, wie sichdie unternehmerischen Gelegenheiten beiläufig durch Dritte ergeben können,zeigt I5: Auch ihr helfen Dritte bei der Identifikation ihres unternehmerischenPotenzials weiter. In ihrem Fall stammen die Hinweise jedoch aus der Familie– vom Bruder – und nicht wie bei I1 von bereits bestehenden beruflichenKontakten.

I5, 2: „ jEtzt hat sich die: idEe also die IdEe hm: * kAm durchzufAll, * mein brUder hat mich gefragt ob Ich eh: seine prodUktevermArkten kann und * dUrch diese [hustet] tEchnologischeentwIcklung und durch meine Ausbildung * kAm es einfach

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dazu dass Ich jetzt [hustet] InternethAndel * ähm betreibenmÖchte:”

I5 legt dar, dass die Idee für ihre unternehmerische Aktivität „durch Zufall”an sie herangetragen wurde. Den „Zufall” nennt sie als erstes Argument,darauf folgen noch zum einen die „technologische Entwicklung” und zum an-deren ihre „Ausbildung”. Während also ihr Bruder scheinbar durch Zufall ihrunternehmerisches Potenzial identifiziert, geht sie auf den Vorschlag ein, in-dem sie zusätzlich das Zusammenspiel zwischen technologischer Entwicklungund ihrer Ausbildung thematisiert.

Neben der Relevanz, die Dritten in den Zufallsbeschreibungen zugespro-chen wird, kann sich ein Ereignis, das als Zufall für eine unternehmerischeAktivität interpretiert wird, auch ohne den direkten Einfluss Dritter durchandere externe Auslösereize ergeben. Eine solche Erfahrung beschreibt I6:

I6, 104: „lIef zUfällig hIer * vorbei, stand gAnz groß zu ver-mIeten * hab dann Angerufen, * un:d * dAnn zwei tage spÄter,Eben wArs dann sO dass: die vermIeterin gesagt hat gErne *kann sich auch gUt vOrstellen dass hier ein frisEurgeschäft drInist”

I6 beschreibt, wie sie „zufällig” an ihrem zukünftigen Friseurgeschäft vorbei-gelaufen ist. So hat sich für sie die Möglichkeit für eine unternehmerischeAktivität „zufällig” ergeben. Sie scheint ebenfalls beiläufig ihr unternehmeri-sches Potenzial zu identifizieren, allerdings ist danach ihre Reaktion gefragt.Im Vergleich zu den anderen exemplarisch dargestellten Beispielen wird diepotenzielle Selbstständigkeit in I6’ Fall nicht durch Dritte an sie herange-tragen. Dadurch ist von ihr zunächst ein höheres Maß an Eigeninitiativegefragt als von den anderen Frauen. Sie kann den Zufall nicht direkt ergreifen,sondern muss zunächst mit den Vermieter_innen des Ladens sprechen. Dastut sie („hab dann angerufen”), und erhält eine positive Rückmeldung („kannsich (...) gut vorstellen, dass hier ein Friseurgeschäft drin ist”). Somit stehtsie im Anschluss an die Identifikation ihres unternehmerischen Potenzialsvor der Entscheidung, ob sie es auch nutzt.

Insgesamt zeigt sich, dass die Frauen in der Gründungsentscheidungs-phase einer unternehmerischen Selbstständigkeit positiv gegenüberstehen.Dies führt dazu, dass sie Ereignisse, die sie während dieser Phase erleben,als Zufälle interpretieren, durch die sie mit dem Gedanken an eine Un-ternehmensgründung in Kontakt kommen. Dadurch bestätigt sich, dassbei den Frauen bereits im Vorfeld der Gründungsentscheidungsphase einepositive Einstellung gegenüber einer unternehmerischen Selbstständigkeit

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6.2 Lernphase Zwei: Gründungsentscheidungsphase 139

vorhanden war, welcher sie sich allerdings erst im Rahmen der Gründungs-entscheidungsphase bewusst werden. Es zeigt sich, dass Lernphase Eins, dieGründungsvorbereitungsphase, eine vorbereitende Funktion für LernphaseZwei, die Gründungsentscheidungsphase, einnimmt.

6.2.2 Stufe Zwei: EntscheidungsprozesseIn Lernstufe Eins der zweiten Lernphase haben die zukünftigen Unter-nehmerinnen zufällig bzw. beiläufig ihre Gelegenheiten für eine möglicheunternehmerische Selbstständigkeit identifiziert. Die Gründungsentscheidungbildet nun die zentrale Herausforderung. In der zweiten Lernstufe handelndie Interviewten die Entscheidung mit sich selbst aus.

Die Voraussetzung für eine positive Gründungsentscheidung ist, dass dieFrauen die Gelegenheit erhalten, sich in ihren Bedeutungsperspektiven, dieihr berufliches Selbstverständnis ausmachen, zu bestärken. Die Bestärkunggenerieren die Interviewten auf unterschiedlichen Wegen: Sie greifen auf ihreRessourcen zurück und vergegenwärtigen sich z.B. vergangene beruflicheErfolge, oder sie begeben sich in Reflexionsprozesse und reflektieren darüber,inwiefern einzelne berufliche und private Kontexte – wie z.B. fehlendes Start-kapital und ihre Mutterrolle – sie in ihrer Entscheidung für eine Gründungbestärken oder nicht. Zudem setzen sie sich mit anderen auseinander. Das pri-vate Lebensumfeld – wie z.B. die Familie – wird von den Interviewten immerals unterstützend wahrgenommen. Gleichzeitig werten sie Erfahrungen, diesie nicht in ihren Bedeutungsperspektiven bestärken, ab. Die Entscheidungfür eine Unternehmensgründung bildet das Resultat von Lernstufe Zwei.

Im Folgenden stelle ich anhand der vier Bedeutungsperspektiven dieStrategien dar, mit denen die Interviewten zu ihrer Gründungsentscheidunggelangen. Zusammenfassend können die Frauen sich in ihren vier Bedeutungs-perspektiven so weit bestärken, dass ihnen die Gründung eines Unternehmensrealisierbar erscheint. Sie legen in dieser Lernstufe den Grundstein für dieErweiterung ihrer Bedeutungsperspektiven um einen unternehmerischenAspekt.

Entscheidungsprozess: Berufliches SelbstbewusstseinDie Interviewten fragen sich, ob sie die nötigen Fähigkeiten besitzen, umein Unternehmen zu führen. Sie beraten sich mit Dritten, denken nach undkommen zu dem Ergebnis, dass sie über die erforderlichen Kompetenzenverfügen.

Innerhalb des Entscheidungsprozesses vergegenwärtigen sie sich vergan-gene Erfahrungen und setzen sich mit Meinungen Dritter auseinander. Hierbei

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werden berufliche sowie private Zusammenhänge relevant. Die Interviewtenorientieren sich an positiven Einflüssen, die ihr berufliches Selbstbewusstseinim Hinblick auf eine Unternehmensgründung bestärken (z.B. Unterstützungdurch die Kinder, den Partner, vergangenen beruflichen Erfolg). NegativeEinflüsse auf ihr berufliches Selbstbewusstsein werten sie ab (z.B. keineUnterstützung durch die Agentur für Arbeit).

Es fällt auf, dass die bestärkenden Einflüsse aus dem privaten undauch aus dem beruflichen Umfeld stammen, während die negativen – dieabgewertet werden – lediglich in das berufliche Umfeld eingeordnet werdenkönnen. Das kann ein Hinweis darauf sein, dass die Unterstützung durch dasprivate Umfeld eine Determinante für die Gründungsentscheidung darstelltund die Interviewten sich folglich nur für eine Gründung entscheiden, wennihr privates Umfeld die Entscheidung mitträgt.

Ein Beispiel für die Bezugnahme auf das berufliche Umfeld artikuliertI7. Sie kann sich mit ihrer neuen Unternehmung an den Kund_innenstammihrer vergangenen beruflichen Tätigkeit richten:

I7, 5: „ich hatte auch so einen gewIssen kUndenstamm, inähm: in der schwEiz schon ich konnt also dIrekt begInnen OhneIrgendwie so an kapitAl und so zu dEnken, * und hab dAnnAngefangen mich in dEutschland bekAnnt zu machen mit denerste vOrträgen, also ich hab tatsÄchlich dort gekÜndigt, * undäh 2006 mich als ähm: knIgge-trAinerin sElbstständig gemachthier in A-Stadt (...) gegrÜndet”

I7 verfügtdurch ihre vergangene Berufstätigkeit über einen Kund_innenstamm,für den auch ihr neues Unternehmensprodukt interessant ist. Damit ein-hergehend benötigt sie kein Startkapital für ihre neue Unternehmensidee(„direkt beginnen, ohne irgendwie an Kapital und so zu denken”). Der bereitsvorhandene Kundenstamm trägt dazu bei, dass sich I7 in ihrem beruflichenSelbstbewusstsein bestärken kann, was dazu führt, dass ihr eine Unterneh-mensgründung realisierbar erscheint. Sie kündigt ihre zu dem Zeitpunktaktuelle Berufstätigkeit und entscheidet sich für ihre Selbstständigkeit.

Ein weiteres Beispiel dafür, dass berufliche Kontakte dazu beitragen, dassdie Frauen sich in ihrem beruflichen Selbstbewusstsein bestärken und ihnendaraufhin eine unternehmerische Selbstständigkeit realisierbar erscheint,liefert I1.

I1, 5: „du kannst des do HIER verkau:fen du kannst es * , undich habe ihm gesagt OK: das mach ich:”

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6.2 Lernphase Zwei: Gründungsentscheidungsphase 141

I1 nimmt an einer internationalen Messe teil. Ein Weinhändler trägt dieMöglichkeit einer unternehmerischen Aktivität an sie heran und bestärkt siedamit einhergehend in ihrem beruflichen Selbstbewusstsein. Er sagt zu I1 „dukannst des do hier verkaufen” und verleiht seiner Aussage, dass sie über dienotwendigen Fähigkeiten für eine solche unternehmerische Selbstständigkeitverfüge, Nachdruck, indem er sie nochmal wiederholt („du kannst es”). Dasträgt entscheidend dazu bei, dass sich I1 in ihrem beruflichen Selbstbewusst-sein gestärkt fühlt. Sie trifft daraufhin intuitiv ihre Gründungsentscheidungund stimmt der vorgeschlagenen unternehmerischen Aktivität zu („ich habihm gesagt ok, das mach ich”).

Wie eingangs erwähnt, werten die Interviewten innerhalb der LernstufeZwei aus ihrem beruflichen Kontext stammende negative und somit nicht-bestärkende Einflüsse ab. Ein Beispiel hierfür zeigt sich bei I6. Sie wertetdie mangelnde Unterstützung durch die Agentur für Arbeit ab, anstelle sichdavon irritieren zu lassen:

I6, 48: „ich war natÜrlich beim Arbeitsamt, * und wOlltedas auch beAntragen, * un:d die hAben mir * insOfern hat sIegesagt in mEinem berEich hat man * sie sIeht da überhAuptkeine chAnce für mIch * in C-Stadt seien zU vIel frisEUre, *sie sieht nUr noch rO:t * un:d äh: sie wÜrde mIch son * wIehIeß so’n Unternehm bUsiness: wOs: wO Ich getEstet werdeob ich geEignet bIn: Oder nicht ob ich überhAupt ein geschäftführen kAnn, des wollte auch Arbeitsamt übernehmen * deshIeß: wOchenlang äh: Irgendwelche Tests machen und so wEiter,(...) ich hat ja keine zEit mehr, *2* dAnn entschIeden hab ichkAnns nicht machen weil * bis ich diesen kUrs mach ob desüberhAupt genEhmigt wird wUsste ich nicht * und dann habich gesagt Ok ich * mAch des jetzt fAng bei Null an * Aber essah Eher so Aus als hätten sie bei mir keine chAnce gesehn”

Nachdem sich für I6 Möglichkeiten einer unternehmerischen Aktivität erge-ben, wendet sie sich zwecks Unterstützung an die Arbeitsagentur. Somit suchtsie nach Unterstützung von offizieller Seite, erfährt allerdings das kompletteGegenteil: Zunächst wird ihre Unternehmensidee stark kritisiert („sie sieht daüberhaupt keine Chance für mich, in C-Stadt seien zu viel Friseure, sie siehtnur noch rot”). Außerdem wird ihre Eignung als Unternehmerin in Fragegestellt („es sah eher so aus als hätten sie bei mir keine Chance geseh’n”).So macht sie auf der Suche nach Unterstützung eine negative Erfahrung,die nicht zu ihrem bestehenden beruflichen Selbstbewusstsein passt. DieUnterstützung durch die Arbeitsagentur wird ihr nicht in der Form gewährt,

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in der sie sich das vorgestellt hatte („unternehm businees (...), wo ich getestetwerde, ob ich geeignet bin (...), des wollte auch Arbeitsamt übernehmen”).Ihre Eignung als Unternehmerin scheint allerdings für I6 selbst nicht inFrage zu stehen, da sie über das entsprechende berufliche Selbstbewusstseinverfügt. Die Rückmeldung von Seiten der Agentur für Arbeit berücksichtigtsie für ihre Entscheidung nicht, weshalb diese Irritation auch nicht dazuführt, dass sie in ihrem beruflichen Selbstbewusstsein geschwächt wird. ImGegenteil: Sie trifft – unbeeinflusst von der Agentur für Arbeit – die Ent-scheidung für ihre Unternehmensgründung, übernimmt Verantwortung fürihre Unternehmung und ist bereit, das Risiko eigenverantwortlich einzugehen(„hab ich gesagt, ok ich mach des jetzt fang’ bei Null an”). Die Erfahrungenmit den Mitarbeitenden der Arbeitsagentur scheinen sie in ihrer Absichtnicht zu irritieren; sie weist abschließend erneut auf deren negative Haltunghinsichtlich ihrer Unternehmensgründung hin („sah eher so aus, als hättensie bei mir keine Chance geseh’n”).

Neben der Variante, dass berufliche Lebenszusammenhänge den Anstoßdafür geben, dass die Frauen sich in ihrem beruflichen Selbstbewusstseinbestärken, besteht auch die Möglichkeit, dass private Lebenszusammenhängesich bestärkend auswirken können.

Innerhalb der privaten Lebenszusammenhänge kann bspw. die Unter-stützung des Partners dazu führen, dass die Frauen sich in ihrem beruflichenSelbstbewusstsein bestärken können. I1 führt das im Folgenden aus.

I1, 17: „aber ich habe ein wu:nderbaren ma:nn u:nd äh *2*ich habe das GLÜck * bis jetzt gehabt dass er * ja Immerunterstützt hat AUch mit alle meine idEE: die ich hatte * ichmöchte DIes mal machen oder JENes machen JA: * FANG A:Nkein problE:m *2* ja:”

Die Unterstützung durch ihren Partner sieht I1 nicht als eine garantierteSelbstverständlichkeit an, was dadurch deutlich wird, dass sie seine Unter-stützung als „Glück” bezeichnet („ich habe das Glück bis jetzt gehabt”). AlsReaktion auf ihre Ideen bestärkt ihr Partner sie in ihrem Selbstbewusstsein,indem er keine Zweifel formuliert, sondern sie geradezu dazu auffordert, ihreIdeen umzusetzen („fang’ an kein Problem”).

Neben dem Partner kann die Familie dazu beitragen, dass die Frauensich in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt fühlen und sich für die Unterneh-mensgründung entscheiden. I6 konsultiert ihre Familie für ihre Entschei-dungsfindung.

I6, 106: „was heißt hier berAten * ich habe meine famIliegefragt wir sind eine recht grOße familie * ich hab noch vier

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6.2 Lernphase Zwei: Gründungsentscheidungsphase 143

wEItere geschwIster mit dEnen ich eigentlich auch sie sElber imberUfsleben sind jEde in einer anderen brAnche * aber dEnenihr rAtschlag ist mir auch immer wIchtig, * als ich sie EigentlichAuch äh: gefrAgt hab * Ist es das rIchtige was ich mAch sagtIhr’s mir bItte ich hab jetzt nIcht * noch die mÖ klAr der Einesagt überlegs dir gUt der Andere sagt mAchs * also ich wa:r ichwar mEhr dass ich das mache”

Während der herausfordernden Phase der Gründungsentscheidung konsultiertI6 ihre Familie. Sie fragt ihre Geschwister, was sie von ihrer Unternehmens-idee halten („ich habe meine Familie gefragt”). Die positive Unterstützungihrer Unternehmensidee durch die Familie scheint für I6 relevant für ihreGründungsentscheidung zu sein („denen ihr Ratschlag ist mir auch immerwichtig”). Aufgrund der Rückmeldungen ihrer Geschwister wird I6 in ihrerAbsicht, ein Unternehmen zu gründen, gestärkt, und sie stellt sich demVorhaben positiv gegenüber („also ich war (...) mehr, dass ich das mache”).

Neben den Geschwistern können in die Entscheidungsfindung auch dieeigenen Kinder einbezogen werden. Einen solchen innerfamiliären Aushand-lungsprozess beschreibt beispielhaft I6.

I6, 106: „ ja, aber ich hab noch ein bIsschen * äh so nenschUb gebraucht Einfach ob ich wIrklich des kann in Ersterlinie meinen kIndern * wie sIe des finden weil * sIe äh spÜren’sam mEisten * dass die mAma nicht mehr so oft dA ist, *aber die fanden es wie gesagt bis hEute wIrklich gut * dEswar Eigentlich des Einzige was ich gebrAucht hab für meineentschEidung ansOnsten gArnicht”

I6 beschreibt, dass sie sich während der Gründungsentscheidungsphase inihrem beruflichen Selbstbewusstsein zunächst nicht bestätigt fühlte und sienicht wusste, ob sie „wirklich des kann”. Bezüglich des erwähnten Könnensscheint für sie die Vereinbarkeit von Mutter- und Unternehmerinnenrollerelevant zu sein („’nen Schub gebraucht (...) in erster Linie meinen Kindernwie sie des finden”). Ein Hinweis auf die Relevanz, die hier vor allem ihre Mut-terrolle für sie einnimmt, kann darin gesehen werden, dass sie die Perspektiveihrer Kinder einnimmt und von sich in der dritten Person spricht („dassdie Mama nicht mehr so oft da ist”). Die zentrale Funktion der Beratenden,die sie hier ihren Kindern zuschreibt, kann damit zusammenhängen, dassI6 alleinerziehend ist und somit nicht noch zusätzlich auf einen Partnerrekurriert. Die Kinder von I6 unterstützen ihre Gründungsidee und bestär-ken sie in ihrem beruflichen Selbstbewusstsein. Bestärkt durch ihre Kinder

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entscheidet sich I6 für die Gründung ihres Unternehmens („des Einzige, wasich gebraucht hab’ für meine Entscheidung”).

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Interviewten wäh-rend der zweiten Lernstufe der Gründungsentscheidungsphase – in der esum die Entscheidung für eine Gründung geht – die Frage für sich positivbeantworten, ob ihre positive Selbsteinschätzung hinsichtlich ihrer berufli-chen Kenntnisse und Fähigkeiten für eine Unternehmensgründung ausreicht.Damit einhergehend entscheiden sie sich für die Unternehmensgründung.

Für den Entscheidungsprozess werden sowohl berufliche als auch pri-vate Lebenszusammenhänge relevant, die die Frauen in ihrem beruflichenSelbstbewusstsein entsprechend bestärken. Hinsichtlich ihrer beruflichenLebenszusammenhänge vergegenwärtigen sich die Interviewten ihren vergan-genen beruflichen Erfolg und aktivieren ihr berufliches Netzwerk. NegativeEinflüsse – wie bspw. eine mangelnde Unterstützung durch die Arbeits-agentur – berücksichtigen sie bei ihrer Entscheidungsfindung nicht. Einenentscheidenden Einfluss auf die Gründungsentscheidung hat die positiveUnterstützung, die sie im Rahmen privater Lebenszusammenhänge erfahren.Hier nehmen die nächsten Familienmitglieder (Geschwister, Partner, Kinder)eine zentrale Rolle ein. Zudem rückt die Frage nach der Vereinbarkeit vonMutter- und Unternehmerinnenrolle in den Vordergrund.

Dadurch, dass die Frauen in ihrem beruflichen Selbstbewusstsein ge-stärkt werden, werden sie in die Lage versetzt, sich für die Unternehmensgrün-dung zu entscheiden. Der Grundstein für die Erweiterung ihrer Bedeutungs-perspektive hohes berufliches Selbstbewusstsein um einen unternehmerischenAspekt ist damit gelegt.

Entscheidungsprozess: EigenanspruchHinsichtlich ihres Eigenanspruchs setzen sich die Interviewten in der zweitenStufe der Gründungsentscheidungsphase mit der Frage auseinander, ob eineunternehmerische Selbstständigkeit mit dem Anspruch vereinbar ist, den siean ihre berufliche Tätigkeit haben. Hierbei stehen nun nicht mehr – wie inLernphase Eins – die inhaltlichen Aspekte der Berufstätigkeit im Vorder-grund. Es geht vielmehr um die Frage, ob die über die ökonomische Sphärehinausgehenden Herausforderungen, die mit einer Unternehmensgründungeinhergehen würden – wie z.B. keine festen Arbeitszeiten – mit dem privatenEigenanspruch der Frauen in Einklang gebracht werden können. Es geht alsoum die mögliche Vereinbarkeit von privatem und beruflichem Eigenanspruch.Für den privaten Eigenanspruch stehen die Ansprüche, die sie an sich selbstin ihrer Mutterrolle haben, im Vordergrund.

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6.2 Lernphase Zwei: Gründungsentscheidungsphase 145

Es zeigen sich unterschiedliche Muster dafür, wie die Interviewten ihrPrivat- und Berufsleben miteinander vereinbaren. Neben den mit einerUnternehmensgründung einhergehenden formalen Aspekten (z.B. flexibleArbeitszeiten) nehmen die Interviewten auf ihre Partner sowie auf das Alterihrer Kinder Bezug. Auf diesem Weg begründen sie jeweils unterschied-lich, dass eine unternehmerische Selbstständigkeit mit ihrem Eigenanspruchvereinbar ist. Sie gehen darauf ein, wie sie ihre Mutter- und Unternehmerin-nenrolle miteinander in Einklang bringen. So bestärken sie ihren beruflichenEigenanspruch hinsichtlich einer Unternehmensgründung und entscheidensich für letztere.

Die Vereinbarkeit von Mutter- und Berufsrolle kann aufgrund der forma-len Aspekte einer unternehmerischen Selbstständigkeit gewährleistet werden.Den Vorteil der unregelmäßigen Arbeitszeiten thematisiert z.B. I5.

I5, 6: „es ist natÜrlich i:n die situatiOn in der ich jEtzt binfamiliÄr also ich bin allEin erzIehend und des ist für michoptimAl dass ich flexIbel Arbeiten kann * Orts- und zEitlichUnabhängig * ja”

I5 stellt heraus, dass ihr die selbstständige unternehmerische Tätigkeit dieMöglichkeit bietet, ihrer Mutterrolle gerecht zu werden. Sie ist alleiner-ziehend und schätzt die flexiblen Arbeitsbedingungen („optimal, dass ichflexibel arbeiten kann orts- und zeitlich unabhängig”). Ihre bestehendenAnsprüche an sich als Mutter ergänzen sich mit den Anforderungen, diean sie durch die Unternehmensgründung herangetragen werden. Durch diemögliche Vereinbarkeit der beiden Rollen kann sie sich für eine Gründungentscheiden.

Daneben können Mutter- und Berufsrolle durch die Unterstützung desPartners miteinander vereinbart werden. Eine solche Unterstützung wird z.B.von I4 beschrieben. Sie setzt sich mit den Herausforderungen auseinander,die durch unregelmäßige Arbeitszeiten entstehen.

I4, 29: „das ist halt nicht nine to five ja sO selbst wenn sienOptimalen kIndergarten haben * wird dIese zeit nicht Abgedeckt* ähm: * ich hab glÜck weil ich nen mAnn hab de:r diese lInieabsolut mItträgt ja: also * sonst wär sonst * Effektiv nichtgegAngen”

Bei I4 geht es nicht wie bei I5 darum, dass sie gerade durch die unterneh-merische Selbstständigkeit ihrer Mutterrolle gerecht werden kann. Vielmehreruiert sie, wie sie ihre Mutterrolle trotz Unternehmen erfüllen kann. Sie

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berichtet, dass es sich bei ihrer Selbstständigkeit nicht um eine Tätigkeit mitfesten Arbeitszeiten handelt („ist halt nicht nine to five”). Das bringt Her-ausforderungen für die Kinderbetreuung und somit für die Vereinbarkeit vonMutter- und Unternehmerinnenrolle mit sich („selbst wenn sie’n optimalenKindergarten haben wird diese Zeit nicht abgedeckt”). Mithilfe der Unterstüt-zung ihres Partners – welche sie nicht als selbstverständlich ansieht – kannsie die Vereinbarkeit von Mutter- und Unternehmerinnenrolle für sich positivausdeuten („weil ich ’nen Mann hab’ der diese Linie absolut mitträgt”). Daherkann sie sich für eine unternehmerische Selbstständigkeit entscheiden („wärsonst effektiv nicht gegangen”). Dadurch, dass ihr Partner sie bei den mitder Mutterrolle einhergehenden Aufgaben (Kinderbetreuung) unterstützt,kann sie ihre Ansprüche hinsichtlich Mutter- und Unternehmerinnenrolle inEinklang bringen.

In einem weiteren Begründungsmuster für die Vereinbarkeit von Mutter-und Berufsrolle gehen die Interviewten auf das Alter ihrer Kinder ein. Einesolche Argumentation formuliert z.B. I6, die ebenfalls auf die Relevanz derVereinbarkeit von Mutter- und Unternehmerinnenrolle für ihre Gründungs-entscheidung eingeht:

I6, 8: „also Ich hatte ja Eigentlich je: Immer mit dem gedAnkengespielt mich sElbstständig zu machen, * aber da ich zwei Kinderhabe * ähm: hat mir so’n bIsschen * ich musste entschEidenob karriE:re, * oder die erzIehung meiner kinder und des hAtteich: zu der dAmaligen zeit auch bevOrzugt, un:d dann hat sichdes so ergEben jetzt sind mitlerwEile meine kinder auch 21 und13, * und ich gedAcht hab jEtzt kAnn ich * auch durch meineberUfserfahrung die ich gemAcht habe * un:d ähm: sO entstAnddes eigentlich * des war Immer auch mein zIel”

I6 berichtet, dass sie keinen konkreten Zeitpunkt benennen kann, zu dem siebegonnen hat, über eine unternehmerische Selbstständigkeit nachzudenken(„immer mit dem Gedanken gespielt”). In der Begründung dafür, warum siesich lange nicht mit der Umsetzung dieses Plans befasst hat, benennt sieihre Kinder („aber da ich zwei Kinder habe”). Das Geschlechtsverständnisvon I6 bedingt, dass sie sich für die Erziehung ihrer Kinder die Verantwor-tung zuschreibt. Zum Zeitpunkt, da ihre Kinder klein waren, sieht sie eineklare Dichotomie von Karriere und Kindererziehung („ich musste entschei-den ob Karriere oder die Erziehung meiner Kinder”). Sie entspricht einemtraditionellen Frauenbild, da sie sich für die Kindererziehung entscheidet(„hatte ich zu der damaligen Zeit auch bevorzugt”). Zum Zeitpunkt derGründungsentscheidungsphase sieht sie aufgrund des Alters ihrer Kinder die

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6.2 Lernphase Zwei: Gründungsentscheidungsphase 147

Möglichkeit gegeben, Mutter- und Unternehmerinnenrolle miteinander zuvereinbaren („ jetzt sind mittlerweile meine Kinder auch 21 und 13 und ichgedacht, jetzt kann ich”). Dadurch kann sie sich für die Unternehmensgrün-dung entscheiden und ihre beruflichen Eigenansprüche realisieren („des warimmer auch mein Ziel”). Die Verwendung von „auch” kann ein Hinweis aufbereits länger bestehende berufliche Ansprüche an sich selbst, neben ihremprivaten Eigenanspruch an sich als Mutter, sein.

Ein weiteres Beispiel, in dem auf das Alter der Kinder für die Verein-barkeit von Mutter- und Unternehmerinnenrolle eingegangen wird, zeigtI1:

I1, 3: „nach A-Stadt gezogen sind, im Jahr 2000 dann hab ichein bisschen wieder angefangen * aba: seit ein paar jahre richtIg* ich habe seit jetz is meine kinder grOß un ich will wiede:r *wieder anfangen in ferienhäuser zu * n: zu vermIeten ich möchtedas äh mich vergrÖßern ich möchte * äh: ähm ich habe so vieleidee:n”

I1 hatte ihre erste unternehmerische Tätigkeit nach der Geburt ihres erstenKindes beendet. So war sie nach ihrem Rollen- und Geschlechtsverständnis –wie I6 – für die Kindererziehung verantwortlich. Die Dichotomie von Kar-riere und Kindererziehung bewertet I1 nicht. Die Vereinbarkeit von Mutter-und Unternehmerinnenrolle ist für sie zentral und war ihr anscheinend zudem Zeitpunkt, da ihre Kinder noch klein waren, nicht möglich. Mit fort-schreitendem Alter ihrer Kinder hat sie zunächst im kleinen Rahmen wiederangefangen, unternehmerisch aktiv zu werden („dann hab ich ein bisschenwieder angefangen”). Während der Gründungsentscheidungsphase sieht sie –genauso wie I6 – die Möglichkeit der Vereinbarkeit von Unternehmerinnen-und Mutterrolle („ jetzt is meine Kinder groß und ich will wieder wiederanfangen”). Dadurch kann sie sich für eine Gründung entscheiden. Sie verfügtüber Energie, die sie in ihre Unternehmung stecken möchte („ich möchte (...)mich vergrößern (...) habe so viele Ideen”).

Zusammenfassend besteht in Lernphase Zwei, wie auch schon in Lern-phase Eins, ein hoher Eigenanspruch an Berufliches. Allerdings ist für dieGründungsentscheidungsphase relevant, inwiefern der berufliche Eigenan-spruch vereinbar ist mit dem Eigenanspruch an Privates – hier steht dieMutterrolle im Vordergrund. Die Interviewten setzen sich mit der möglichenVereinbarkeit von Mutter- und Unternehmerinnenrolle auseinander. Dazunehmen die Interviewten auf ihre Kinder, ihre Partner sowie die Arbeitsbedin-gungen, die eine unternehmerische Selbstständigkeit mit sich bringt, Bezug.

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So gelangen sie zu dem Entschluss, dass es ihnen als Unternehmerinnenmöglich sein wird, ihre verschiedenen Rollen miteinander zu vereinbaren.

Entscheidungsprozess: EigenverantwortungInsgesamt ist der Entscheidungsprozess in der Gründungsentscheidungspha-se davon geprägt, dass die Interviewten sich damit auseinandersetzen, obihre Bedeutungsperspektive Eigenverantwortung mit dem Vorhaben einerUnternehmensgründung vereinbar ist.

Die Frauen begründen ihre Entscheidungen für eine Unternehmens-gründung, indem sie auf verschiedene Themen eingehen. Diese sind ihreFrauen- und Mutterrolle, ihre Lebensgefährten und die mögliche finanzielleUnabhängigkeit, die mit einer Unternehmensgründung einhergehen kann.

Im folgenden Beispiel begründet I4 ihre Entscheidung für die Unterneh-mensgründung, indem sie auf ihre Mutterrolle und die mögliche finanzielleUnabhängigkeit eingeht. Sie legt dar, wie ihre Bedeutungsperspektive Eigen-verantwortung mit einer möglichen unternehmerischen Eigenverantwortungin Einklang steht.

I4, 35: „Einerseits wars sehr schwEr Andererseit wars auchdie einzige mÖglichkeit wieder an Arbeit zu kommen * ja, * desund dAs ist Auch was was sie bei sElbstständigen sehr hÄufigtreffen also gerade bei mÜttern”

I4 beschreibt, dass eine unternehmerische Selbstständigkeit für sie „die einzigeMöglichkeit [war], wieder an Arbeit zu kommen”. Als Begründung hierfür the-matisiert sie ihre Mutterrolle, die sie als zentrales Kriterium benennt, warumihr der Einstieg in den Beschäftigtenarbeitsmarkt verwehrt ist. Um ihrer Be-gründung Nachdruck zu verleihen, macht sie verallgemeinernde Aussagen zuunternehmerisch selbstständigen Müttern („was sie bei Selbstständigen sehrhäufig treffen, also gerade bei Müttern”). Für I4 ist eine unternehmerischeSelbstständigkeit mit ihrer Eigenverantwortung vereinbar und sie entscheidetsich folglich für die Gründung, da sie hierin die einzige Möglichkeit sieht, anArbeit zu gelangen und somit ihrer Eigenverantwortung gerecht zu werden.

Ein weiteres Beispiel dafür, wie die Interviewten eruieren, ob eineUnternehmensgründung zu ihrer Eigenverantwortung passt, zeigt sich bei I1.Zur Begründung ihrer Entscheidung nimmt sie auf ihre Frauenrolle Bezug.Sie verfügt über Startkapital, welches jedoch nicht als solches vorgesehenwar.

I1, 5: „sie [Freundin, die eine schwierige Scheidung hatte Anm.AL] hatte mir dann gesagt weißt du ich kenne viele frauen die

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6.2 Lernphase Zwei: Gründungsentscheidungsphase 149

hEImlich * . "immer so ein kleines bisschen geld gespart haben"und dann die frauen sind am ENde * immer * die LEIden * sindfinanziell imme:r SCHLECHTER gestellt * und DANN sollteman falls etwas passIErt immer was * HABEN * das die anderegeschichte * ich habe * diesen * ähm: * schU:ld * geFÜHLEgehabt weil ich: meinem mann wir haben * überhaupt keingeheimnis * also ich habe eine * TOlle beziehung mit meinemmann * "und dann sah er mich im (?) aber ich SOLL das nichterzäh:len aber" * OK ich hab gesagt die anderen frauen habenauch die anderen männer ve: vertrau:t u:nd und TROTZdemwerden sie am ende dann enttäuscht von diese *2* dann *bescha:det nIcht unsere familie wenn ich dieses geld beiSEItelege hm: * und deswegen hab ich das gemAcht, * und äh: * undähm: * und das war AUch sO: ein paar monate davo:r ha:bn:*2* ich habe eine geige gesehn für meine TO:chter und ich habegesagt ja: vielleicht wenn wir die GEI:ge * kAUfen mein mAnnhat gesagt ja: aber eine geige kostet sehr viel GE:ld ich hab esnI:cht und ich hab gesagt JA ein BISschen hab ich abgespA:rthab ich gesagt ich wollte was haben was tun ein bisschen * under war also auch nicht sau:er mit mir also: * er hat das nichtals SCHlimm empfunden und so is es nicht dass ich ein riesenvermögen * @versteckt hätte das waren nur 1800 euro circadeswegen@”

Eine Freundin von I1 hat eine schwierige Scheidungsphase durchgemacht. Sierät ihr dazu, heimlich Geld anzusparen. („dann sollte man, falls etwas passiert,immer was haben”). I1 befolgt den Rat mit einem schlechten Gewissengegenüber ihrem Partner („ich habe diese (...) Schuldgefühle gehabt, weilich meinem Mann wir haben überhaupt kein Geheimnis”). Ihr Frauenbildist davon geprägt, dass es im Falle einer Scheidung zur Benachteiligungvon Frauen kommt. Um für den Fall einer Scheidung gewappnet zu sein,beginnt sie bereits lange vor der Unternehmensgründung damit, heimlichGeld anzusparen. Die Vorstellung, dass Frauen im Fall einer Scheidungfinanziell benachteiligt werden, führt hier zu einer eigenverantwortlichenHandlung durch I1. Für ihre eigene Unabhängigkeit spart I1 heimlich Geldan. Als sie in der Familie überlegen, für die Tochter eine Geige zu kaufen,berichtet sie ihrem Partner erstmals von dem Ersparten („ich wollte washaben was tun ein bisschen”). Entgegen ihrer Befürchtung reagiert ihr Partnernicht negativ auf ihr heimlich gespartes Geld.

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Das angesparte Geld legt den Grundstein für ihre Unternehmensgrün-dung, da es ihr Startkapital bildet. Das ursprünglich für ihre private Unab-hängigkeit angesparte Geld kann sie nun für ihre berufliche Unabhängigkeitverwenden. So arbeitet sie ihrem Frauenbild, dem der abhängigen Frau,entgegen. Auch ihr Partner nimmt eine zentrale Rolle für ihre Gründungs-entscheidung ein.

I1, 7: „hab ich gesagt OK ich riskIEre ich investIere aber ichhabe ALLES mit meinem mann ge * besprochen das war meinmann ist ähm: mein beste:r berA:Ter und das war * abgesehendavon dass e:r rechtsanwalt ist hat mich Immer * AUch äh: mitverTRÄGe: ode:r hmm: * wie soll ich jetzt i:ch verkaufe”

Sie berät sich mit ihrem Partner und entscheidet sich, ihr Geld zu investierenund ihr Unternehmen zu gründen. Die Aussage, dass ihr Ehemann ihr „besterBerater” ist, zeigt auf, wie sich hier die Berufs- und Privatsphäre vermischen.

Ein weiteres Beispiel dafür, wie sich die Frauen damit Auseinandersetzen,ob ihre Eigenverantwortung zu ihrem Vorhaben der Unternehmensgründungpasst, beschreibt I6. Sie begründet ihre Entscheidung für das Unternehmen,indem sie auf das Thema finanzielle Unabhängigkeit eingeht, welches siedazu motiviert, ihr Friseurgeschäft möglichst schnell zu eröffnen.

I6, 104: „Aber ich musste Alles ja noch klären, finanziellich hatte ja nIchts * und dann hab ich gesagt gEben sie mirzEit sie hat gesagt eine wOche weil da noch jEmand sei, * siewürds lieber mIr geben (...) und die wOche eben * und diesechs wochen (bis zur Eröffnung, Anm. AL) dEshalb weil ichvon nIrgends mehr gEld bekommen hatte * ich mUsste gEldverdienen * dAher kOnnte ich nicht mehr wArten”

Nachdem für I6 die Möglichkeit besteht, ein Unternehmen zu eröffnen,muss sie für sich entscheiden, ob eine Unternehmensgründung mit ihrerEigenverantwortung und dem damit in Verbindung stehenden Streben nachfinanzieller Unabhängigkeit vereinbar ist. Zunächst berichtet sie, dass sievor ihrer Entscheidung finanzielle Fragen klären musste („musste alles janoch klären, finanziell, ich hatte ja nichts”). Die zukünftige Vermieterin ihresLadenlokals gibt ihr dafür eine Woche Zeit. I6 hat für ihre Unternehmenser-öffnung kein Kapital und kann auch keines von anderen Seiten generieren(„weil ich von nirgends mehr Geld bekommen hatte”). Sie entscheidet sichfür eine Gründung, da sie davon ausgeht, dass ihre Vorstellungen zur Eigen-verantwortung damit vereinbar sind. Das fehlende Kapital motiviert sie, ihr

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6.2 Lernphase Zwei: Gründungsentscheidungsphase 151

Friseurgeschäft innerhalb von sechs Wochen zu eröffnen, damit sie ihr eigenesGeld verdienen kann („ich musste Geld verdienen daher konnte ich nichtmehr warten”). I6 ist zuversichtlich, dass ihre Unternehmensidee funktioniert.Ähnlich wie I4 entscheidet sich auch I6 für die Gründung, um dadurch ihreVorstellungen nach finanzieller Unabhängigkeit zu realisieren. Während beiI4 im Vordergrund steht, dass eine unternehmerische Selbstständigkeit ihreeinzige Arbeitsmöglichkeit darstellt, ist für I6 die Entscheidung für ihreUnternehmensidee zentral.

Zusammenfassend ist für die Eigenverantwortung die Verbindung vonArbeit und Einkommen zentral. Letzteres ist ein entscheidender Faktor fürdie Gründungsentscheidung, wobei hier nicht nur isoliert auf die beruflicheSphäre geblickt wird. Es werden weitere, mit dem Geschlecht zusammen-hängende Aspekte zentral, die Interviewten streben nach Unabhängigkeit.Das Thema Unabhängigkeit wird über die privaten Kontexte Frauenrolle,Mutterrolle und Partner bearbeitet. Ergebnis der Entscheidungsprozesse hin-sichtlich einer möglichen Unternehmensgründung ist, dass die Interviewtensich für eine Gründung entscheiden, da sie in der unternehmerischen Selbst-ständigkeit Möglichkeiten zur Realisierung sowohl ihrer Unabhängigkeit alsauch ihrer Eigenverantwortung sehen.

Entscheidungsprozess: ArbeitsverständnisAllgemein ist Lernphase Zwei davon geprägt, dass sich die Frauen in einenProzess begeben, der dazu führt, dass sie in den im Vorangegangenen be-schriebenen Bedeutungsperspektiven (hohes berufliches Selbstbewusstsein,beruflicher Eigenanspruch, berufliche Eigenverantwortung) bestärkt werden.Von diesem Muster weicht der Umgang mit der BedeutungsperspektiveArbeitsverständnis ab. Da eine unternehmerische Selbstständigkeit als Ideal-vorstellung des Arbeitsverständnisses bereits in Lernphase Eins beschriebenwurde, ist hier kein Aushandlungsprozess, in dem geprüft wird, ob das Ar-beitsverständnis der Frauen zu einer unternehmerischen Selbstständigkeitpasst, nötig. So ist die Frage, ob das Arbeitsverständnis zu einer möglichenunternehmerischen Selbstständigkeit passt, bereits entschieden. Die Bedeu-tungsperspektive Arbeitsverständnis wird in der zweiten Lernphase nichtgeändert.

ZusammenfassungLernphase Zwei konzentriert sich genauso wie Lernphase Eins noch sehrauf Fragestellungen, die die Interviewten als Individuen sowie ihr direktesUmfeld betreffen. Während das Unternehmen in Lernphase Eins eine ab-strakte Zukunftsvision darstellt, wird es nun in Lernphase Zwei zu einerkonkreten Zukunftsvision. Die Interviewten haben die Möglichkeiten für eine

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Unternehmensgründung identifiziert und stehen nun vor der Frage, ob siedie Möglichkeiten ergreifen.

Für den Entscheidungsprozess setzen sich die Frauen mit einzelnen odermehreren ihrer Bedeutungsperspektiven, die ihr berufliches Selbstverständ-nis bilden, auseinander. So eruieren sie, inwiefern eine unternehmerischeSelbstständigkeit mit ihren Bedeutungsperspektiven vereinbar wäre, alsoinwiefern ihre Bedeutungsperspektiven für eine unternehmerische Selbststän-digkeit einen Orientierungsrahmen bieten können. Sie tun das, indem sie sichmit der Vereinbarkeit eines Unternehmens mit ihren verschiedenen privatenRollen – z.B. Mutter- und Frauenrolle – auseinandersetzen und ihr direktesUmfeld (Familie, Partner, Kinder) in ihre Überlegungen mit einbeziehen.Die Entscheidungsprozesse, die mit den einzelnen Bedeutungsperspektiveneinhergehen, habe ich nacheinander dargestellt.

Die umfangreichste Auseinandersetzung findet hinsichtlich des berufli-chen Selbstbewusstseins statt, innerhalb derer die Frauen eruieren, ob ihrhohes berufliches Selbstbewusstsein – also die positive Selbsteinschätzunghinsichtlich ihrer beruflichen Kenntnisse und Fähigkeiten – für eine Unter-nehmensgründung ausreicht. Hierfür konsultieren sie verschiedene Personenaus ihrem beruflichen und privaten Umfeld und reflektieren über vergangeneErfahrungen.

Für die Frage, ob ihr beruflicher Eigenanspruch zu einer Unternehmens-gründung passt, steht die Vereinbarkeit von Mutter- und Unternehmerin-nenrolle und nicht der Anspruch an Berufliches im Vordergrund. So wird dieberufliche Sphäre überschritten und die Privatsphäre wird relevant.

Hinsichtlich ihrer Bedeutungsperspektive berufliche Eigenverantwortungmüssen die Interviewten entscheiden, ob eine unternehmerische Selbststän-digkeit hierzu passt. Zentral für ihre Eigenverantwortung ist der Wunschnach finanzieller Unabhängigkeit. Nun in Lernphase Zwei vermeiden es dieInterviewten, sich damit auseinanderzusetzen, dass eine finanzielle Unab-hängigkeit mit einer Unternehmensgründung nicht automatisch gegebenist. Dies tun sie, indem sie die Themen Geld (verdienen/ investieren) undUnternehmensgründung kausal miteinander in Verbindung bringen und soihre Entscheidung, unternehmerisch selbstständig zu werden, begründen.Auf diese Weise gelingt es ihnen, sich für eine Gründung zu entscheiden,obwohl sie noch nicht wissen, ob sie damit ihrem Wunsch nach finanziellerUnabhängigkeit und damit ihrer Bedeutungsperspektive Eigenverantwortunggerecht werden können.

Mit Blick auf die Bedeutungsperspektive Arbeitsverständnis kommtes in der zweiten Lernphase zu keinen Aushandlungsprozessen. Da eineunternehmerische Selbstständigkeit als Idealversion des Arbeitsverständnisses

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6.3 Lernphase Drei: Gründungsphase 153

herausgestellt wird, ist die Frage, ob das berufliche Arbeitsverständnis miteiner Unternehmensgründung vereinbar wäre, bereits geklärt. Es sind alsokeine Entscheidungsprozesse nötig, um die Frage zu beantworten, ob eineUnternehmensgründung mit dem beruflichen Arbeitsverständnis vereinbarist.

Insgesamt begründen die Interviewten in Lernphase Zwei, dass eineUnternehmensgründung zu ihrer Bedeutungsstruktur berufliches Selbstver-ständnis passt. Die verschiedenen Bedeutungsperspektiven – hohes beruflichesSelbstbewusstsein, beruflicher Eigenanspruch, berufliche Eigenverantwortungund berufliches Arbeitsverständnis, die diese Struktur ausmachen, stelleneinen Orientierungsrahmen für eine Unternehmensgründung dar. Die Frauen,die nun hinsichtlich der Unternehmensgründung in ihren Bedeutungsper-spektiven gestärkt sind, gehen in Lernphase Drei – die Gründungsphase –über.

6.3 Lernphase Drei: GründungsphaseIn den vorangegangenen beiden Phasen des Lernmodells haben die Inter-viewten zunächst ihre Unternehmensgründung (unbewusst) vorbereitet undsich anschließend dazu entschieden, tatsächlich ein Unternehmen zu gründen.Daraufhin kommt es dann zur Unternehmensgründung, die das zentraleLernfeld der dritten Lernphase darstellt.

Durch ihre neue Tätigkeit werden die Unternehmerinnen mit Anforde-rungen konfrontiert, die sie vorher so nicht kannten oder wahrgenommenhaben; es wird deutlich, dass ihnen unternehmerische Wissensbestände undFähigkeiten fehlen. Davon ausgehend kommt es durch die neu hinzukommen-de Kategorie des Unternehmens zu einer Ausdifferenzierung und Erweiterungder Bedeutungsstruktur berufliches Selbstverständnis um eine neu entstehen-de unternehmerische Dimension. Damit einhergehend ist Phase Drei nichtmehr – wie die vorangegangenen Phasen – hauptsächlich auf individualisti-sche Fragestellungen konzentriert.

6.3.1 SelbstbewusstseinIm Zuge der Unternehmensgründung wird das bereits bestehende hoheberufliche Selbstbewusstsein um eine unternehmerische Dimension erwei-tert; die Interviewten beginnen damit, ein umfassendes unternehmerischesSelbstbewusstsein zu entwickeln. Damit einhergehend kommt es in der Grün-

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dungsphase zu einer Zweiteilung des Selbstbewusstseins in berufliches undunternehmerisches Selbstbewusstsein.

Ähnlich wie in den vorangegangenen Phasen bestärken sich die Inter-viewten auch in dieser dritten Phase in ihrem beruflichen Selbstbewusstsein.Dies geschieht, indem sie sich mit Kontakten aus ihrem bisherigen Berufs-leben auseinandersetzen. Innerhalb ihrer privaten Kontexte werden ihreFamilien und hier besonders ihre Mutterrolle relevant.

Daneben entwickeln die Interviewten drei Strategien für die Erarbeitungihres neuen unternehmerischen Selbstbewusstseins:

Eine erste Strategie, ein neues unternehmerisches Selbstbewusstsein aus-zubilden, besteht darin, sich auf ihr hohes berufliches Selbstbewusstsein zubesinnen. In diesem Prozess stellen die Frauen fest, dass ihr bisheriges berufli-ches Selbstbewusstsein im Hinblick auf die Unternehmensgründung Grenzenaufweist. Das vorhandene berufsspezifische Wissen reicht nicht mehr aus,und es entsteht ein Bedarf an neuen unternehmerischen Wissensbeständenund Fähigkeiten. Ausgehend von diesem Bedarf kommt es zur Irritation derUnternehmerinnen in ihrem unternehmerischen Selbstbewusstsein. Zudemmachen die Frauen von einer zweiten Strategie Gebrauch, um ihr unterneh-merisches Selbstbewusstsein auszubilden. Dazu treten sie in Kontakt mitverschiedenen Personen aus ihrem privaten und beruflichen Umfeld. Hinzukommt eine dritte Strategie, die die Interviewten anwenden, um trotz fehlen-den unternehmerischen Wissensbeständen und Fähigkeiten handlungsfähigzu bleiben. Obwohl ihnen die nötigen unternehmerischen Kenntnisse undFähigkeiten fehlen, stellen sie sich den neuen Herausforderungen und lernenin der Handlung. Mögliche Fehler, die dabei zwangsläufig auftreten, rahmensie positiv. Zu dieser Strategie gehört auch, dass sie fehlende unternehme-rische Kenntnisse und Fähigkeiten, vor die sie die Unternehmensgründungstellt, in ihrer eigenen Biografie verorten. So werden Unsicherheiten z.B. mitder Bevormundung durch den Vater begründet, statt auf fehlendes unter-nehmerisches Wissen zurückgeführt. Zudem delegieren sie Tätigkeiten anFachpersonen.

Unter Anwendung der drei Strategien erarbeiten sich die Interviewten ihrunternehmerisches Selbstbewusstsein und erwerben so die unternehmerischenKenntnisse und Fähigkeiten, die ihnen zu Beginn der Lernphase fehlten.

Hohes berufliches SelbstbewusstseinIn der zweiten Lernphase haben die Interviewten erkannt, dass ihre berufli-chen Kenntnisse und Fähigkeiten für eine Unternehmensgründung sprechen.Nun, während der Gründungsphase, bestärken sie sich in ihrem beruflichenSelbstbewusstsein, indem sie mit Personen aus ihrem vergangenen berufli-

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6.3 Lernphase Drei: Gründungsphase 155

chen Umfeld sowie mit ihren Familien in Kontakt treten. Auf diese Weiselegen sie bereits den Grundstein führ ihr neu entstehendes unternehmerischesSelbstbewusstsein. Da es hier bereits zur Gründung gekommen ist, lässt sichdas berufliche Selbstbewusstsein nicht klar getrennt von einem (möglichenund neu zu entwickelnden) unternehmerischen Selbstbewusstsein darlegen.

Ein Beispiel dafür, wie die Interviewten durch den Kontakt mit Personenaus ihrem ehemaligen beruflichen Umfeld in ihrem beruflichen Selbstbewusst-sein bestärkt werden, liefert I6. Die Friseurin macht die Erfahrung, dassKund_innen, die sie in ihrem vormals abhängigen Arbeitsverhältnis betreute,sie in ihrem neuen Geschäft aufsuchen, und sich weiterhin von ihr die Haareschneiden lassen wollen. Durch die Kontakte mit den Kund_innen wird siein ihrem beruflichen Selbstbewusstsein gestärkt.

I6, 32: „tOll war für mIch * dass ich in diesem zEitraumdie sechs wOchen wo ich hier Aufgebau C-Stadt ist ja nIchtgrad grOß, und * hab wirklich auch vIele dann getrOffen * die:kUnden zum tEil die wUssten: äh wo ich wOhne oder meinnAchname mussten mich übe:r *2* v verschIedene äh persOnenüber drItte vierte per persOnen mIch dann: gefUnden haben ja,* sOlche dInge, hm”

I6 beschreibt hier die Vorbereitung auf die Eröffnung ihres Friseurladens.Sie bezeichnet es als „toll”, wie ihre ehemaligen Kund_innen, die sie alsangestellte Frisörin hatte, sie gefunden haben. Zum Teil begegnet sie ihrenehemaligen Kund_innen zufällig („C-Stadt ist ja nicht grad groß (...) habwirklich viele dann getroffen”). Andere Kund_innen suchen nach ihr, entwe-der aufgrund ihrer Privatadresse und ihres Nachnamens oder aber über drittePersonen („wussten wo ich wohne oder mein Nachname. Mussten mich überverschiedene Personen dritte vierte [suchen, bis sie mich] (...) dann gefundenhaben”). Dadurch wird sie während der Zeit, in der sie die Eröffnung ihresUnternehmens vorbereitet, in ihrem beruflichen Selbstbewusstsein gefestigt,was dazu beiträgt, dass sie ein neues unternehmerisches Selbstbewusstseinausbilden kann.

Ein weiteres Beispiel dafür, wie die Frauen in ihrem beruflichen Selbstbe-wusstsein durch Kontakte aus ihrem ehemaligen beruflichen Umfeld bestärktwerden, zeigt sich bei I7. Sie orientiert sich mit ihrer Unternehmensgrün-dung direkt an ihrem ehemaligen, aus ihrer Zeit als Angestellte bestehenden,Kundenstamm.

I7, 5: „das gIng von Anfang an * sEhr erfOlgreich also die:kUnden aus der schwEiz haben gesagt frAu C hIeß ich dAmals

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noch * wir wollen unbedingt bei Ihnen auch wenn sie jetzt nichtmehr bei der fIrma sind wir buchen sie wEiter, und des hatmich sehr gefrEut auch das so die sElbstbestätigung”

Im Gegensatz zu I6 scheint I7 ihren ehemaligen Kund_innen ihren bevor-stehenden Wechsel in die unternehmerische Selbstständigkeit mitgeteilt zuhaben. Sie macht die Erfahrung, dass ihre Kund_innen sie von Anfang an indiesem Vorhaben unterstützen („Das ging von Anfang an sehr erfolgreich”).Für I7 wird deutlich, dass die Kund_innen hinter ihr und nicht hinter derFirma stehen, für die sie in der Vergangenheit tätig war („wir wollen unbe-dingt bei ihnen, auch wenn sie jetzt mehr bei der Firma sind, wir buchen sieweiter”). Diese Erfahrung bestärkt sie in ihrem beruflichen Selbstbewusstsein,und trägt dazu bei, dass sie es um eine unternehmerische Dimension erweiternkann („des hat mich sehr gefreut, auch das so die Selbstbestätigung”).

Neben den Kontakten aus ihrem ehemaligen beruflichen Umfeld konsul-tieren die Interviewten auch ihre Familien. Ein solches Vorgehen schildertz.B. I6, die die Unterstützung ihrer Familie hervorhebt.

I6, 34: „gEnau das wars tOlle Eigentlich wo ich denk jA:sUper ich glAub ich bin auf dem rIchtigen wEg, wEil ich hAbnatÜrlich Auch: die Eine wOche die entschEidung ja, wo ichgesAgt hatte äh: Ob die mir wIrklich dann Ausreicht oder nIchtwUsst ich dann nicht in dEm momEnt ob ich das rIchtige mache* wIe ich dann Eigentlich so: hier Angefangen habe und des ähoffiziEll geworden ist * der * äh: erÖffnungstag das wa:r ja *der lAden war vOll und dann dacht ich OK * dAs war jetztwIrklich ähm: wO ich: gemEint hab für mIch * Ich hab dierIchtige entschEIdung getrOffen das war das schÖnste meinefamIlie stand hinter mir meine f: kInder fanden das gAnz tollwas die mAma macht”

I6 musste die Entscheidung für ihre Gründung unter Zeitdruck treffen, siehatte dafür lediglich eine Woche Zeit. Während der Vorbereitung ihrer Un-ternehmenseröffnung beginnt sie, an ihrer Entscheidung zu zweifeln („wusst’ich dann nicht in dem Moment, ob ich das Richtige mache”). Die Eröffnungihres Friseurladens verläuft jedoch sehr erfolgreich, was dazu führt, dass siein ihrem beruflichen Selbstbewusstsein gestärkt wird und den Grundsteinfür ihr unternehmerisches Selbstbewusstsein legt („Eröffnungstag (...) derLaden war voll und dann dacht’ ich ok, (...) ich hab die richtige Entschei-dung getroffen”). Zudem zeigt sie auf, dass ihre Familie einen großen Anteildaran hatte, dass sie sich in ihrem beruflichen Selbstbewusstsein bestätigt

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6.3 Lernphase Drei: Gründungsphase 157

fühlte. Sie hebt den Zuspruch ihrer Familie hervor, indem sie die Beschrei-bung mit Superlativen ausschmückt („das was das Schönste”). Die positiveBestärkung durch ihre Kinder hilft ihr dabei, ihre Rolle als Mutter undPrivatperson mit ihrer Unternehmerinnenrolle zu vereinbaren. Sie sprichtvon sich als Mutter in der dritten Person, was ein Hinweis darauf sein kann,dass sie hier die Perspektive ihrer Kinder einnimmt („meine Kinder fandendas ganz toll was die Mama macht”). Während in Lernphase Zwei zunächstausgehandelt werden musste, inwiefern die Mutterrolle mit einer Gründungvereinbar wäre, sind für I6 ihre Kinder nun in Phase Drei ein entscheidenderUnterstützungsfaktor. Sowohl die Bestätigung ihrer Kund_innen als auchdie ihrer Kinder bestärken I6 in ihrem neu entstehenden unternehmerischenSelbstbewusstsein.

Zusammenfassend wird deutlich, dass die Interviewten zu Beginn vonLernphase Drei auf verschiedene Arten in ihrem beruflichen Selbstbewusstseingefestigt und bestärkt werden. Es zeigt sich, dass insbesondere der Kontaktzu Kund_innen aus ihrem ehemaligen beruflichen Umfeld dazu beiträgt,dass die Frauen sich in ihrem beruflichen Selbstbewusstsein bestärkt fühlen.Zudem rücken private Kontakte, z.B. zur Familie in den Fokus, die sichebenfalls unterstützend auf den Prozess der Unternehmensgründung und dieHerausbildung eines unternehmerischen Selbstbewusstseins auswirken.

Im Folgenden stelle ich die verschiedenen Strategien vor, mit denen dieInterviewten ihr neu zu entwickelndes unternehmerisches Selbstbewusstseinaufbauen.

Erarbeitung des unternehmerischen Selbstbewusstseins –Strategie EinsIn einer ersten Strategie orientieren sich die Interviewten an ihrem beste-henden beruflichen Selbstbewusstsein und beginnen so, ihr unternehmeri-sches Selbstbewusstsein zu entwickeln. Die Strategie stößt in Situationen anGrenzen, in denen ihnen unternehmerisches Wissen und unternehmerischeFähigkeiten fehlen. Dies führt dazu, dass die Interviewten in ihrem neu entste-henden unternehmerischen Selbstbewusstsein irritiert werden. Sie versuchen,diese Irritationen zu bewältigen, indem sie eine Verbindung zwischen ihrerPrivat- und Unternehmerinnenperson herstellen. Sie setzen sich mit demfehlenden unternehmerischen Wissen und den fehlenden unternehmerischenFähigkeiten auseinander, indem sie neu auftretende unternehmerische Her-ausforderungen mit biografischen Herausforderungen in Verbindung bringen.So werden Unsicherheiten z.B. durch die erfahrene Bevormundung durchden Vater erklärt. Gerade dadurch, dass die Interviewten sich aufgrund derHerausforderungen, die mit der Unternehmensgründung einhergehen, mit der

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eigenen Biografie und sich selbst als Person auseinandersetzen, erwerben sieein biografisches Wissen, das ihnen dabei hilft, ihr Unternehmen zu führen.Ein weiterer Weg, wie die Frauen mit unternehmerischen Herausforderungenumgehen, besteht darin, dass sie diese direkt auf fehlende unternehmerischeKenntnisse und Fähigkeiten zurückführen.

Ein Beispiel dafür, wie das unternehmerische Selbstbewusstsein durchOrientierung am beruflichen Selbstbewusstsein aufgebaut wird, zeigt I6.Sie beschreibt, wie sie sich bei unternehmerischen Fragestellungen an ihrenberuflichen Fähigkeiten und Kenntnissen orientiert.

I6, 50 Interviewerin: „wOher hatten sie dann des ganze unter-nEhmerische wIssen, als sie Angefangen haben”

I6, 51: „ich hab Eigentlich dUrch meine berUfserfahrung ei-gentlich *2* ich hab dA jetzt ähm: unterstÜtzung wie: zumbEispiel vom finAnzberAter oder sOnst irgendwas * wOllte ichnicht * ich wUsste was ich brAuche * wievIel ich brauche dassich das * den lAden auch halten kann, * un:d ähm: * ja: dAswar eigentlich Alles: mEine entschEidung wo ich sag * [hustet]sO dass mir jEmand nebendrAn und äh: gesAgt hat Ich: * dumusst es sO mAchen, dIes machen jEnes * nE des war Eigentlichvon meiner berUfserfAhrung herAus hab ich des sO für michentschIeden”

Bei der Frage danach, wie sie ihr unternehmerisches Wissen erworben hat,weist I6 auf ihre Berufserfahrung und somit auch auf ihr berufliches Selbstbe-wusstsein hin („ich hab eigentlich durch meine Berufserfahrung eigentlich”).Ihre Aussage schränkt sie allerdings viermalig durch die Verwendung von„eigentlich” ein. Die Einschränkungen weisen darauf hin, dass der Orientie-rungswert der bisherigen Berufserfahrungen im Hinblick auf die Ausbildungeines unternehmerischen Selbstbewusstseins begrenzt ist. Die Limitiertheitwird dadurch bedingt, dass die Interviewten in ihren bisherigen Tätigkeitenkaum unternehmerische Kenntnisse und Fähigkeiten unter Beweis stellenmussten.

Abschließend weist I6 erneut auf die Relevanz ihrer Berufserfahrunghin. Diese zieht sie heran, um das Argument zu stützen, dass sie keine Un-terstützung von außen benötigte, sondern eigenständig ihre Entscheidungengetroffen hat („alles meine Entscheidung (...) so dass mir jemand nebendran(...) gesagt hat (...), du musst es so machen (...) ne (...) des war eigentlichvon meiner Berufserfahrung heraus hab ich des so für mich entschieden”).Insgesamt zeigt sich, dass sich I6 zunächst in ihrem entstehenden unterneh-merischen Selbstbewusstsein bestärkt, indem sie sich an ihrem vorhandenen

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6.3 Lernphase Drei: Gründungsphase 159

beruflichen Selbstbewusstsein und ihren bisherigen beruflichen Erfahrungenorientiert.

Wenn die Orientierung am hohen beruflichen Selbstbewusstsein aufgrundvon fehlendem unternehmensspezifischen Wissen an Grenzen stößt, kommtes zu desorientierenden Erfahrungen. Ein Beispiel dafür, wie die Interviewtenmit der für sie irritierenden Situation umgehen, dass der Orientierungswertihrer bisherigen Berufserfahrungen im Zuge der Unternehmensgründung anGrenzen stößt, liefert I6:

I6, 92: „also: ich war natÜrlich Auch trotz Allem * Auch woich erwÄhnt hab ich hab die berUfserfahrung aber es warengAnz ganz viele neue sAchen was dazU gekommen ist * klArm mEin * Arbeitsleben insofern kUnden und ähm schnEidenfArbe etc ja, des sInd ja das is ja alles normal, nUr das wassich für mIch dann Eigentlich hm geÄndert hatte Ist dieses *rIngsherum ja, * dAss ich dann sag hm: * es ging IrgendwieImmer immer auch trotz Allem wEiter auch im kOpf weiter jades warn mEhr die Ängste des wAr * des hatte nUr was mit mIrpersönlich was zu tun also nIcht Irgendwie * die: mItmenschendie ich in dEm moment mit denen ich zu tUn habe oder sOnstirgendwas (...) des ist jetzt ein banAle bEispiel aber, wie zumbeispIel wErbung machen (...) wIE kann ich mich noch mEhrpräsentIern und dIes und jEnes * un:d jA und der rEst warEigentlich so kOpfsache * man hat Eigentlich mehr Ängste amAnfang * und wEnn maln rUhiger tAg war dachte man * dannst stAnd ich hier ich war nicht entspAnnt gArnichts was istjEtzt los was hab ich fAlsch gemacht ja, des ist das Erste wasman sich fragt * un:d ja: des waren sOlche dInge * also mEhrmit mIr persÖnlich was zu tun”

I6 betont erneut, dass sie sich an ihrer bisherigen Berufserfahrung orientierthat („ich hab die Berufserfahrung”). Sie stellt zwar heraus, dass sie sichhinsichtlich der inhaltlichen Schwerpunktsetzung ihrer Tätigkeit auf ihreberuflichen Erfahrungen beziehen konnte („Arbeitsleben insofern Kundenund schneiden, Farbe etc. ja, des sind ja das is’ ja alles normal”), schränktaber gleichzeitig deren Orientierungswirksamkeit ein („ich war natürlich auchtrotz allem (...) es waren ganz ganz viele neue Sachen”). Das hohe beruflicheSelbstbewusstsein und damit einhergehend auch die Berufserfahrung leisteneinen Beitrag für das Erlernen des unternehmerischen Wissens, sie stoßenallerdings an Grenzen („was sich für mich dann eigentlich geändert hatteist dieses ringsherum”). Als Unternehmerin steht I6 in ihrem Beruf vor

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Herausforderungen, die über das Wissen, welches sie im Rahmen ihrerbisherigen beruflichen Erfahrungen erworben hat, hinausgehen („dass ichdann sag es ging irgendwie immer immer auch trotz Allem Weiter, auchim Kopf weiter, ja, des war’n mehr die Ängste”). Dadurch wird I6 in ihremunternehmerischen Selbstbewusstsein irritiert. Als größte Herausforderungbeschreibt sie ihre Ängste. Diese sie irritierenden Ängste führt I6 allerdingsnicht darauf zurück, dass ihr die nötigen unternehmerischen Kenntnisseund Fähigkeiten fehlen, um anstehende Herausforderungen zu bewältigen.Stattdessen bringt sie diese mit ihrer Persönlichkeit in Verbindung. („deshatte nur was mit mir persönlich was zu tun, also nicht irgendwie dieMitmenschen, die ich in dem Moment, mit denen ich zu tun habe odersonst irgendwas”). Dadurch, dass I6 die Herausforderungen personalisiert,setzt sie sich damit auseinander, dass ihr unternehmerische Kenntnisse undFähigkeiten fehlen.

Als Beispiel nennt sie das Thema Werbung, das sie vor viele offene Fragenstellte („wie kann ich mich noch mehr präsentieren und dies und jenes”). Nebenden inhaltlichen Aspekten, die sich auf konkretes unternehmerisches Wissenbeziehen, beschreibt sie Aspekte, die sie personalisiert und als „Kopfsache”darlegt („ ja und der Rest war eigentlich so Kopfsache. Man hat eigentlichmehr Ängste am Anfang”). Damit einhergehend beschreibt sie, dass auchTage, die für sie eigentlich ruhig verlaufen sind, da wenige Kund_innenihr Geschäft aufsuchten, für sie herausfordernd waren. Dies unterstreichtsie mit den wechselnden Personalpronomen „man” und „ich” („dachte mandann stand ich hier, ich war nicht entspannt gar nichts, was ist jetzt los,was hab ich falsch gemacht, ja, des ist das Erste, was man sich fragt”).Es wird deutlich, dass I6 zwar über Berufserfahrung als Friseurin verfügt,ihr jedoch die Erfahrung als Unternehmerin fehlt. Die Erfahrung, dass imGeschäft wenig los ist, hat sie wahrscheinlich als Angestellte schon gemacht,hat diese jedoch anscheinend zum damaligen Zeitpunkt anders gerahmt.Nun, da sie Unternehmerin ist, bezieht sie eine solche Situation auf sichund schreibt sich selbst Defizite zu („was hab ich falsch gemacht”). Hierwird ihr noch nicht abgeschlossener Perspektivwechsel von der angestelltTätigen zur Unternehmerin deutlich. Sie macht sich über einen Tag mit wenigKundschaft Sorgen, was sie vorher als Arbeitnehmerin anscheinend nichtgetan hat. Die Ängste, das unbekannte Unternehmerische, scheinen hier ihrePerspektive zu verschieben. Für I6 scheint innerhalb des unternehmerischenWissens die persönliche Entwicklung (Selbstentwicklung) von besondererBedeutung zu sein. Sie signalisiert das, indem sie den Erwerb von fachlichenFähigkeiten eher nebenbei beschreibt, während sie ihre Ängste mehrfacherwähnt. Die von ihr beschriebenen Ängste können ein Hinweis auf ihre

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Unsicherheit im Umgang mit fehlenden unternehmerischen Wissensbeständenund Fähigkeiten sein.

Ein weiteres Beispiel für eine Orientierung am beruflichen Selbstbe-wusstsein, die zu Irritationen im unternehmerischen Selbstbewusstsein führt,zeigt sich bei I1. Auch bei I1 steht auf der einen Seite das gestärkte beruflicheSelbstbewusstsein, dem auf der anderen Seite das neue noch auszubildendeunternehmerische Selbstbewusstsein gegenübersteht. Die Irritation von I1zeigt sich in der folgenden Passage:

I1, 6: „ich kann: sehr viel organisIeren ich bin sehr kreatIVich habe * ein paar gANz tolle [Ideen Anm. AL] bei der a-messegehabt, * und ich habe ALLES aLLEINE: ähm * in meinemkopf kreiert und ähm: und er (der Ehemann, Anm. AL) istimmer überrascht * a:uch wie ich * auch schwierige situatiOnenlö:se praktisch aber * Alles was mit der bürokratie zu tun hatpapierkram ist für mich ein bisschen ein qua:l *2* ja *5*”

I1, 7 Interviewerin: „was waren das * zum beispiel für schwie-rige situatiOnen *2* die sie lösen mussten *5*”

I1, 8: „hmm: *8* das WAR im grunde nicht schwierige situa-tion aber irgendwie: ich habe mich u:nSICHer gefühlt DAS istdann * mein problem gewesen ich habe mich unSIcher gefühltweil ich nie: konfrontiert wurde * äh ich bin in ja: in einerfamIlie erzogen worden wo mein vater ALLES gemacht hat (...)@wie das resultAT dass ich nichts gelErnt ha:be oder wenig,* also diese ANgst von vom: äh vom: ä:mter is mir * aus der* kI:nder und juge:ndlicherzEIt geblieben weil ich: NIE solchesachen machen DU:Rfte (...) er hat gesagt ICH mach das *2*und desWEgen * dAher meine Angst im grUnde * (...) ZOLL-amt zum beispiel ich war ein paar mAl ja da: un weil * ich äh:wenn ich wein importIERt ha:be: musste immer n STEmpelauf die papie:re *2* es war überhaupt kein proBLEM, aber dieerste MA:l (...) find ich die richtigen leu:te * ich habe sogar, *ähm: *2* herzklopfen bekOmmen wenn ich an die falsche tür@geklopft habe@ [lacht] * weil ich aber das ist äh das ist UNsi-cherheit das ist totA:l also: nicht weil es besonders schwIErigist”

I1 geht zunächst darauf ein, dass sie sich in ihrem beruflichen Selbstbewusst-sein gestärkt fühlt („ich kann sehr viel organisieren, ich bin sehr kreativ, ichhabe ein paar ganz tolle [Ideen] bei der a-messe gehabt”). Sie beschreibtsich als eigenständig und unabhängig („ich habe alles alleine (...) in meinem

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Kopf kreiert und (...) er [ihr Ehemann, Anm. AL] ist immer überrascht, wieich auch schwierige Situationen löse”). Das neue unternehmerische Selbst-bewusstsein scheint hierzu einen Gegenhorizont darzustellen. Die mit demfehlenden unternehmerischen Wissen einhergehenden Herausforderungenbeschreibt sie als große Anstrengung („alles, was mit der Bürokratie zu tunhat, Papierkram, ist für mich ein bisschen ein Qual”). Es wird deutlich, dasssie in ihrem neu auszubildenden unternehmerischen Selbstbewusstsein durchfehlende unternehmerische Kenntnisse und Fähigkeiten irritiert wird. AlsReaktion darauf relativiert I1 zunächst die Herausforderung („das war imGrunde nicht schwierige Situation”). Dass es sich für sie zum damaligenZeitpunkt jedoch sehr wohl um eine große Herausforderung handelte, zeigtihre Verwendung des Begriffs „Qual”.

Anschließend personalisiert I1 die Herausforderungen, die mit den feh-lenden unternehmerischen Wissensbeständen und Fähigkeiten einhergehen(„ich habe mich unsicher gefühlt, das ist dann mein Problem gewesen”). Siespitzt das Sich-Selbst-Zuschreiben des Problems noch weiter zu, indem siein der Beschreibung von ihrer Unternehmung abstrahiert und die Begrün-dung für die Herausforderungen in ihrer Sozialisation und somit in ihrerBiografie verortet; eine Trennung zwischen Unternehmer_innenperson undPrivatperson ist hier nicht gegeben („ich habe mich unsicher gefühlt, weil ichnie konfrontiert wurde (...) ich bin in einer Familie erzogen worden, wo meinVater alles gemacht hat (...) also diese Angst von (...) Ämter ist mir aus derKinder und Jugendlicherzeit geblieben”). Sie bewältigt ihre Irritationen inihrem unternehmerischen Selbstbewusstsein, indem sie sich unternehmerischeKenntnisse und Fähigkeiten durch ein Lernen in der Handlung erarbeitet(siehe dazu Strategie Drei) und bemerkt, dass ihre Angst unbegründet ist(„es war überhaupt kein Problem”).

Hauptsächlich reagieren die Interviewten auf Herausforderungen, diesie in ihrem in der Entwicklung befindlichen unternehmerischen Selbstbe-wusstsein irritieren, indem sie diese personalisieren und mit bereits erlebtenbiografischen Herausforderungen in Verbindung bringen. Es gibt jedoch auchdie Variante, dass einzelne Frauen die irritierenden Herausforderungen direktauf ihre fehlenden unternehmerischen Kenntnisse und Fähigkeiten zurück-führen. Dies zeigt z.B. I6 anhand ihrer Ausführungen zu sich als Chefin. Siegeht darauf ein, dass sie ihre Rolle als Chefin erst noch erlernen musste, wasaus ihrer Sicht z.B. bedeutet, dass sie ihren Mitarbeitenden ihre Ansprücheklar kommuniziert.

I6, 112: „ich wEiß es nIcht mein ich mUsste natÜrlich auch *ähm: lErnen chEf zu we sEin * zu wErden * (...) ich hAb am

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Anfang nIchtmal registrIert dass der lAden Eigentlich ja mIrgehört, * so diese kasse Aufmachen zUmachen, bei den AnderengeschÄften Immer, [räuspert sich] * mIt äh frAgen oder dIesund jenes ja, * Aber ich hab am Anfang wIrklich nicht gewUsstdass dass Ich * gAb mein bEstes, ich musste gUcken dass derlAden lÄuft, * aber dass das mEins ist * hAb ich am AnfangnIcht * Und des mUsst ich aber auch lErnen so zu sAgen OKes ist mEins, * so gewIsse diese entschEidungen wo ich auch* vOrhin gesp gesAgt habe * un:d ähm * ich glAub insOfernwUrde ich * von mAnchen nicht Ernst genommen * ich warviellEicht * jetzt übertrIeben mal gesagt vielleicht dOch zu* nEtt oder zu kOllegiAl * zu frEundschaftlich (...) 124: Ahdes war T-shirt genau ich hab Ih:n hm: [einem Mitarbeitenden,Anm. AL] T-shirt äh für hIer * un:d er hats nIcht angezogenund ich dann dArauf gesagt habe Ich hab dir das gemAcht dasist pflIcht, * und Er mir gesagt hat dU machst es ja Auch nichtIch mUss es nicht machen (...) ja un:d * ab dA fing es eigentlichso für mIch an dA war der schnItt”61

Das mangelnde, noch auszubildende unternehmerische Selbstbewusstseinvon I6 konkretisiert sich darin, dass sie zu Beginn ihrer Unternehmung zwarformal Chefin ist, sie diese Rolle aber noch nicht erlernt hat („ich musstenatürlich (...) lernen, Chef zu we sein zu werden”). Ausgehend von ihrenfehlenden unternehmerischen Kenntnissen und Fähigkeiten orientiert siesich zunächst an ihren bisherigen beruflichen Erfahrungen und verhält sichwie eine Arbeitnehmerin („so diese Kasse aufmachen zumachen, bei denanderen Geschäften immer”). Hiermit stößt sie allerdings an Grenzen, da aneine Chefin andere Erwartungen herangetragen werden als an eine Kollegin.Ihre gewohnten Verhaltensweisen helfen ihr nicht, ihren Platz als Chefinin ihrem Unternehmen zu finden („von manchen nicht ernst genommen ichwar vielleicht jetzt übertrieben mal gesagt vielleicht doch zu nett oder zukollegial zu freundschaftlich”). Ein Schlüsselerlebnis mit einem Mitarbeiter,der ihre Vorgaben nicht akzeptiert, führt dazu, dass ein Perspektivwechselweg von der Angestellten und hin zur Unternehmerin und Chefin ausgelöstwird („das ist Pflicht und er mir gesagt hat, du machst es ja auch nicht, ichmuss es nicht machen (...) da war der Schnitt”).61In dieser Passage kommen verschiedene Aspekte des beruflichen/ unternehmerischen

Selbstverständnisses zur Sprache. Die Themen Verantwortung, Eigenanspruch undArbeitsverständnis werden neben dem Selbstbewusstsein thematisiert. Dadurch wirdunterstrichen, dass es sich bei der Trennung der Bedeutungsperspektiven um eineanalytische Trennung handelt.

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Ein weiteres Beispiel dafür, dass einzelne Frauen die unternehmerischenHerausforderungen, die sie in ihrem unternehmerischen Selbstbewusstseinirritieren, direkt auf fehlende unternehmerische Kenntnisse und Fähigkeitenzurückführen, liefert I6:

I6, 34: „Aber nAtürlich auch die vOrbereitung diese gAnzenpapIersachen und so das is:t des war mein tOd was die alleswOllten von mir ja, * sOlche dInge * ja”

Als ihre größte Herausforderung beschreibt I6 die mit ihrer Unternehmens-gründung einhergehenden formalen Angelegenheiten („diese ganzen Papier-sachen”). Sie führen dazu, dass sie in ihrem unternehmerischen Selbstbe-wusstsein desorientiert wird, was sie als sehr anstrengend wahrnimmt. Sieverdeutlicht dies durch ihre Verwendung der Redewendung „das ist, des warmein Tod”. Dass sie diese für sie so enorme Herausforderungen mittlerweilebewältigt hat, signalisiert sie, indem sie den Ausdruck „das ist” durch „daswar” korrigiert.

Zusammenfassend zeigt sich, dass die Interviewten sich zunächst selbstbestärken, indem sie sich an ihrem bestehenden und gefestigten berufli-chen Selbstbewusstsein sowie an ihrer beruflichen Erfahrung orientieren.Allerdings führen das fehlende unternehmerische Wissen sowie fehlende un-ternehmerische Fähigkeiten zu Irritationen. Diese können sie allein dadurch,dass sie sich in ihrem bestehenden beruflichen Selbstbewusstsein bestärken,indem sie sich auf ihre beruflichen Erfahrungen besinnen, nicht bewältigen.Es wird deutlich, dass sie ihre Perspektiven ändern müssen, damit sie diemit dem Unternehmerinnen-Sein einhergehenden neuen Herausforderungenbewältigen können.

Erarbeitung des unternehmerischen Selbstbewusstseins –Strategie ZweiDie zweite Strategie der Unternehmerinnen, mit der sie sich ihr neues un-ternehmerisches Selbstbewusstsein erarbeiten und so die mit dem fehlendenunternehmerischen Wissen einhergehenden Desorientierungen bewältigen,besteht darin, Personen aus privaten sowie beruflichen Netzwerken zu kon-sultieren. Die Personen, die sie kontaktieren, zeichnen sich dadurch aus, dasssie Fachkompetenzen aufweisen, und/ oder in einem Vertrauensverhältnis zuden Interviewten stehen.

Kontakt mit dem privaten Lebensumfeld nimmt z.B. I1 auf. Sie erhältmentale und praktische Unterstützung durch ihren Partner:

I1, 7: „ich habe ALLES mit meinem mann ge * besprochendas war mein mann ist ähm: mein beste:r berA:Ter und das war

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6.3 Lernphase Drei: Gründungsphase 165

* abgesehen davon dass e:r rechtsanwalt ist hat mich Immer *AUch äh: mit verTRÄGe: ode:r hmm: *(...) er hat mich immer *gehOlfen diese diese: amts äh amts * gÄnge * glaub @ich heißendie@ * äh zu durchstehn, weil ich Auch mit der bürokratie ganzviel zu TUN haben musste”

I1 bezeichnet ihren Partner als ihren wichtigsten Berater („mein Mann ist(...) mein bester Berater”). Neben der fachlichen Hilfestellung unterstützter sie auch mental („abgesehen davon, dass er Rechtsanwalt ist, hat michimmer (...) geholfen diese (...) Amtsgänge (...) zu durchstehen”). Wie enormdie Herausforderungen für sie sind, die die „Amtsgänge” mit sich bringen,signalisiert sie durch die Verwendung der Umschreibung „durchstehen”. LautI1 kann ihr Partner sie vor allem dadurch, dass er Rechtsanwalt ist, ingewissen fachlichen Fragestellungen kompetent unterstützen. So zeichnetsich seine Unterstützung durch Fachkompetenz und persönliches Vertrauenaus.

Neben dem Kontakt zum privaten Lebensumfeld wird für die Interview-ten auch der Kontakt zu Personen aus dem beruflichen Lebensumfeld – wiez.B. zu Produktproduzierenden – relevant. I1 beschreibt beispielhaft, welchePersonen sie – neben privaten Kontakten – konsultiert, wenn sie praktischeUnterstützung bei unternehmerischen Fragestellungen benötigt:

I1, 29: „mAnchmal hab ich: * wenn ich wirklich schwierigkeitenhabe dann frage ich meinen ma:nn *2* ja: *3* ja:*3* NE hab ich* ab und zu hab ich auch mit frEU:nde gesprOche aber sE:lten *äh: * E:her si:nd die produzEnten * die selber verkÄufer si:nd”

Neben privaten Kontakten – dem Partner sowie Freund_innen – werdenfür I1 auch Dritte relevant, die mit dem Unternehmen in Verbindung ste-hen („dann frag ich meinen Mann (...) mit Freunde gesprochen aber selten(...) eher sind die Produzenten”). Private Kontakte, die nicht explizit überrelevantes Fachwissen verfügen, konsultiert sie eher selten. Durch die Um-schreibung von „eher” kann davon ausgegangen werden, dass sie bei gewissenunternehmerischen Fragestellungen für sie erreichbare und als fachkompe-tent eingeschätzte Ansprechpartner_innen – hier ihre Produzent_innen –konsultiert. Aufgrund der Gemeinsamkeit des „Verkäufer_in-Seins” scheintsie sich mit ihren Produzent_innen zu identifizieren („die Produzenten, dieselber Verkäufer sind”). Da es sich bei den beruflichen Kontakten um ihreProduzent_innen handelt, kann auch hier davon ausgegangen werden, dassein gewisses Vertrauensverhältnis besteht.

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Insgesamt zeigt sich, dass I1 verschiedene Ansprechpartner_innen hat,die in unterschiedlichem Ausmaß Fachkompetenz und Vertrauensbasis mit-einander vereinbaren und die sie dabei unterstützen, ihr fehlendes unterneh-merisches Wissen zu kompensieren.

Ein weiteres Beispiel für das Konsultieren von Personen aus dem be-ruflichen Lebensumfeld schildert I6. Sie geht darauf ein, dass sie die vonihr konsultierte Person für fachkompetent hält und dass sie zu ihr in einemVertrauensverhältnis steht.

I6, 168: „un:d ich dann gesAgt hab ich brauch nen stEuer-berater, kEnnst du jEmanden er ist auch sElbstständig, * unddAnn hat er mir eben ein:s empfOhlen, * und so hab ich dAEigentlich auch * wAr ich dort * ich wOllte nicht Irgendwievon den gElben sEiten jEmand da brAuch ich jEmand wo mirsagt ich bIn dort, ich bin zufrIeden * da bIst in gUten hÄnden* und sO hab ich des dann gemAcht”

I6 beschreibt, wie sie ein Bekannter, der ebenfalls unternehmerisch selbst-ständig ist, bei der Suche nach einer_m Steuerberater_in unterstützt („ichbrauch’ ’nen Steuerberater, kennst Du jemanden, er ist auch selbstständig”).Der von ihr konsultierten Person schreibt sie Fachkompetenz zu, weil sieebenfalls unternehmerisch selbstständig ist. Für I6 wäre es nicht in Fragegekommen, auf einem anderen – anonymen – Weg eine_n Steuerberater_inzu suchen („ich wollte nicht irgendwie von den Gelben Seiten jemand”). Indiesem Zusammenhang betont sie die Relevanz der Auseinandersetzung mitPersonen, auf deren Kompetenz sie vertraut („da brauch’ ich jemand, womir sagt, ich bin dort, ich bin zufrieden, da bist du in guten Händen”).

Zusammenfassend wird deutlich, dass die Interviewten durch die Aus-einandersetzung mit Dritten unternehmerisches Wissen generieren und siesich so in ihrem unternehmerischen Selbstbewusstsein bestärken. Die kon-sultierten Personen sind Vertraute, die über unternehmerisches Fachwissenverfügen. Sie stammen sowohl aus dem privaten als auch aus dem beruflichenUmfeld der Interviewten.

Erarbeiten des unternehmerischen Selbstbewusstseins –Strategie DreiDie dritte Strategie, wie die Unternehmerinnen sich ihr unternehmerischesSelbstbewusstsein erarbeiten, kann mit dem in-vivo-Code „learning by doing”zusammengefasst werden. Dies ist der erste Code, den ich als in-vivo-Codeverwende, da die Formulierung in mehreren Interviews auftaucht. Bei derBeschreibung davon, wie die Frauen unternehmerische Kenntnisse und Fä-

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6.3 Lernphase Drei: Gründungsphase 167

higkeiten erworben haben, kommt auf verschiedene Weisen ein Lernen in derHandlung zur Sprache. Hierbei planen die Interviewten nicht differenziert,was sie alles neu erlernen müssen, sondern bewältigen Situationen, die sieherausfordern, intuitiv.

Den intuitiven Wissenserwerb beschreibt z.B. I2. In der folgenden Pas-sage wird deutlich, wie sie sich neue Kompetenzen selbst aneignet:

I2, 10: „durch mEine sElbstständigkeit hab ich natÜrlich mitvIelen sachen zu tUn, * die Eigentlich zu mEin qualifikatiOnendAmals garnicht geführt haben * ja * ähm: * oder: oder mA-nagement oder: äh:: fIrmenführung und äh personAlführungdas sind sEhr viele sAchen die ich mir sElbst bEigebracht habe*2* ja ähm * learning by dOing heißt es * stOlpern * hInfallnaufstEhn * dUrch die wand wIeder dUrchsetzen und: un unddirEkt zum zIel gehn * ähm: das sind die sAchen * die sindähm: die sind nOtwendig aber, * äh: die brIngt äh: mAn nicht@sofOrt mit@ * ähm: als * als dEutschdozent ja: das sind diesAchen * die wahrscheinlich Irgendwo drinnen sEtzen aber die:die hat man sich entwIckelt * bei de bei bei sich sElbst ja”

I2 beschreibt, dass einhergehend mit ihrer Selbstständigkeit unternehmerischeKompetenzen erforderlich sind, über die sie aufgrund ihrer Berufserfahrungsowie Ausbildung nicht verfügt („mit vielen Sachen zu tun, die eigentlich zumein Qualifikationen damals gar nicht geführt haben”). Zunächst fehlen ihrsomit unternehmerische Wissensbestände und Fähigkeiten („Managementoder Firmenführung und Personalführung”). Sie bewältigt die damit ein-hergehenden Herausforderungen, indem sie sich das fehlende Wissen selbstaneignet. Hierfür verwendet sie die Umschreibung „learning by doing“. BeiAnwendung der Strategie rahmt I2 Fehler positiv. Dass ihr Kenntnisse undFähigkeiten fehlen, schreibt sie sich nicht als Mangel zu. Vielmehr sieht sieeine Grundlage für ihren Erfolg darin, dass sie selbst für ihren Wissens- undFähigkeitserwerb verantwortlich ist („das sind sehr viele Sachen die ich mirselbst beigebracht habe”). Es wird deutlich, dass sie sich im Rahmen des Wis-senserwerbs Fehler erlaubt („learning by doing heißt es stolpern hinfall’n”).Allerdings führen Fehler und Herausforderungen nicht dazu, dass sie aufgibt.Stattdessen generiert sie sich durch ihren Umgang mit Fehlern zusätzlichMotivation, was letztendlich zum Erfolg führt („aufsteh’n, durch die Wandwieder durchsetzen und direkt zum Ziel gehen”). Im Sinne I2s stellen Fehlerim Rahmen der Strategie des „learning by doing” eine Lernchance dar.

Ein weiteres Beispiel für das Lernen in der Handlung beschreibt I4.Auch sie verwendet die Umschreibung „learning by doing”.

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I4, 62: „[Ihr Weg, sich unternehmerisches Wissen zu erarbeitenkann beschrieben werden als, Anm. AL] leArning by dOing[lacht] * das ist wIrklich ähm: * [räuspert sich] * ja * einfachausprobiert *2* einfach Ausprobiert und ähm: schOn dann auchlEute also mal gefrAgt klAr stEuerberater gefragt ähm: *2*abe:r auch viel pI-mal-dAumen kAlkulation”

I4 beschreibt, wie sie unternehmerisches Wissen erworben hat. Sie nenntzunächst das Lernen in der Handlung und konkretisiert es als „einfach auspro-biert” („learning by doing (...) einfach ausprobiert einfach ausprobiert”). Diezweifache Verwendung von „ausprobiert” unterstreicht, dass sie in der Hand-lung gelernt hat. Sie verwendet die Beschreibung unter der Einschränkung„einfach”, was auf ein geringes Reflexionsniveau hinweisen kann. Anschließendweist I4 zusätzlich auf die Relevanz der Interaktion mit anderen hin („auchLeute also mal gefragt klar Steuerberater gefragt”). Den Einbezug von Fach-personen („klar Steuerberater gefragt”) beschreibt sie als selbstverständlich62.Abschließend geht sie erneut auf das Lernen in der Handlung ein. Wiedergibt sie in der Darlegung ihres Vorgehens Hinweise auf ein intuitives Handeln(„viel Pi-mal-Daumen Kalkulation”).

Zusammenfassend wird deutlich, dass die Interviewten innerhalb der drit-ten Strategie Herausforderungen intuitiv angehen und Fehler als Lernchancenrahmen. Hinsichtlich der gesamten Bedeutungsperspektive berufliches bzw.unternehmerisches Selbstbewusstsein wird das Ausmaß neuer Herausforde-rungen deutlich, die mit einer Unternehmensgründung einhergehen und fürderen Bewältigung ein hohes berufliches Selbstbewusstsein nicht ausreichendist. Die Interviewten entwickeln drei Strategien, um sich fehlende unter-nehmerische Wissensbestände und Fähigkeiten zu erarbeiten. Neben derStrategie, sich in ihrem beruflichen Selbstbewusstsein zu bestärken und sichan ihren beruflichen Erfahrungen zu orientieren (Strategie Eins) nehmensie auf Dritte Bezug, die sie als Fachpersonen sowie als Vertrauensperso-nen wahrnehmen (Strategie Zwei) und die ihnen dabei helfen, mit für sieirritierenden Herausforderungen umzugehen. Dort, wo die Orientierung anihrem hohen beruflichen Selbstbewusstsein und die Auseinandersetzung mitDritten an ihre Grenzen stoßen, entwickeln die Interviewten eine weitereStrategie, bei der sie Herausforderungen intuitiv bewältigen, indem sie inder Handlung lernen (Strategie Drei).

62Der Einbezug von Fachpersonen kann auch der Strategie Zwei zugeordnet werden,bei der für den Erwerb unternehmerischen Wissens Personen konsultiert werden, dieFachkompetenz und Vertrauensbasis miteinander vereinen.

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6.3 Lernphase Drei: Gründungsphase 169

6.3.2 Eigenanspruch und unternehmerischer AnspruchIn der dritten Lernphase, der Gründungsphase, wird die Bedeutungsper-spektive Eigenanspruch um die Kategorie des Unternehmens erweitert. DerEigenanspruch verlagert sich zunehmend vom Individuum auf das Unterneh-men, das Unternehmensprodukt und die Mitarbeitenden. Im Vordergrundsteht nun nicht mehr die Frage, welchem Beruf sie nachgehen möchten,sondern der Anspruch an die konkrete Ausgestaltung des Unternehmens.Hierbei geht es um die Art des Arbeitens und um Fragen danach, wie dasProdukt sein soll und wie die Mitarbeitenden ihre Arbeit ausführen sollen.

Daneben stehen die Interviewten vor der Herausforderung, eine Balancezwischen ihrem hohen Eigenanspruch und den unternehmerischen Wissens-beständen und Fähigkeiten, die ihnen noch fehlen, herzustellen. Hierfürentwickeln sie verschiedene Abgrenzungsstrategien, mit Hilfe derer sie ihreAnspruchshaltung hinsichtlich der unternehmerischen Wissensbestände undFähigkeiten, die ihnen noch fehlen – z.B. eine fehlerfreie Buchführung odereine Chefin zu sein, die Anweisungen geben kann – sowie ihrer begrenz-ten (zeitlichen) Ressourcen relativieren: Sie rahmen Fehler positiv, setzenPrioritäten und delegieren Tätigkeiten.

Anspruch an Unternehmensprodukt und MitarbeitendeDer aus den zwei vorangegangenen Phasen bestehende Anspruch an inhalt-liche Aspekte der beruflichen Tätigkeit zeigt sich in der Gründungsphaseanhand eines hohen Anspruchs an das Unternehmen, welcher mit einemhohen Anspruch an das Unternehmensprodukt und an Mitarbeitende einher-geht.

Ein Beispiel für den hohen Anspruch an das Unternehmensproduktformuliert I6:

I6, 54: „für mIch zählt * äh: mEin hAndwerk * ja natÜrlichmuss des ja nach was Aussehen ja, * Aber ich hab nIchts davonwenn: da tAusend Euro stUh:l da ist und die hAarschnitte nichtstimmen * un:d äh ich hab insOfern auch ähm: wirklich klEinAngefangen, * un:d von dAher wUsste ich eigentlich auch äh:wAs ich da brAuch”

I6 legt dar, dass für sie die Qualität ihres Unternehmensproduktes vonbesonders hoher Bedeutung ist („für mich zählt mein Handwerk”). Eine teureAusstattung ihres Ladens ist für sie weniger relevant („ich hab nichts davonwenn da tausend Euro Stuhl da ist und die Haarschnitte nicht stimmen”).Daher stellt das fehlende Startkapital für sie keine Schwierigkeit dar, siekonnte „klein” anfangen („hab insofern auch wirklich klein angefangen”). I6

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schließt mit ihrem Eigenanspruch hinsichtlich ihres Unternehmensproduktesan ihr hohes berufliches Selbstbewusstsein an – sie weiß, dass sie in ihremHandwerk gut ist. So gelingt es ihr, die Tatsache abzuwerten, dass sie nichtüber Startkapital verfügt.

Ein weiteres Beispiel für einen hohen Anspruch an ihr Unternehmens-produkt liefert I1.

I1, 5: „dann hab ich halt so wein geKAUf:t, dann hab ich:ähm: * nach dem wein dann auch andere produkte: äh die: hamgema:cht * u:nd die eine sehr hohe qualitÄt, hatten * und immernoch hA:ben. * und so hat es angefangen: und ich habe dann:WEInprobe * () statio:nen organisIert * bei mir zuHAU:se *gäste eingela:den * alle mögliche leu:te * ich kenne * Viele *viele me:nschen: (...) ich habe salA:mi äh: blutwurst aus ( ) und* das war SCHÖ:N die leute sind zu MIR geko:mmen und diehaben: * (...) und die leute haben äh: probIE:rt die haben netteA:bend verbra:cht äh: natürlich mit viel viel Arbeit verbu:ndenu:nd ich habe die ganze famIlie involvie:rt * meine tOchte:r *mein sO:hn [lacht] @mein, MA:NN * frEUnde ab und zu:@ dieauch * mitgeholfen haben”

I1 legt hier den Anfang ihrer unternehmerischen Tätigkeit – den Verkaufimportierter italienischer Produkte – dar. Zu Beginn der Passage geht sieeher unspezifisch auf ihre Produkte ein („hab ich halt so Wein gekauft”).Das einzige Kriterium, was sie hier für die Beschreibung ihrer Produkteverwendet, ist deren hohe Qualität („auch andere Produkte (...) die einesehr hohe Qualität hatten und immer noch haben”). Hierdurch wird ihrhoher Qualitätsanspruch an ihre Unternehmensprodukte deutlich, welcherder wesentliche Anspruch an ihre Unternehmensprodukte zu sein scheint.Eine genauere Beschreibung der Produkte, die sie verkauft, leistet sie jedochnicht. Darüber hinaus beschreibt sie, dass ihre ersten Weinproben bei ihrzuhause stattfanden. So verbindet sie ihr privates mit ihrem geschäftlichenUmfeld. I1 hat einen hohen Anspruch an die von ihr organisierten Weinproben(„die Leute haben (...) nette Abend verbracht, natürlich mit viel viel Arbeitverbunden”). Durch die Unterstützung, die sie aus ihrem privaten Umfelderhält, kann sie diesem hohen Anspruch gerecht werden („ich habe die ganzeFamilie involviert, meine Tochter, mein Sohn, mein Mann, Freunde ab undzu, die auch mitgeholfen haben”).

Zur Bedeutungsperspektive Eigenanspruch kommt in der dritten Lern-phase neben dem Anspruch an das Unternehmensprodukt auch der Anspruchan Mitarbeitende hinzu. Hier zeigt sich beispielhaft, wie der Orientierungsrah-

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6.3 Lernphase Drei: Gründungsphase 171

men einer Bedeutungsperspektive ausgeweitet wird. Hatten die Interviewtendie Bedeutungsperspektive Eigenanspruch zuvor nur gebraucht, um übersich selbst zu reflektieren, so wenden sie diese nun auch auf andere – ihreMitarbeitenden – an.

Das konkretisiert sich bei I6, die auf die Arbeitseinstellung ihrer Mitar-beitenden eingeht:

I6, 114: „ich * gIb hier mein bEstes ja, * un:d des erwArte ichaber auch * ich hab vOrher Auch immer so geArbeitet * es istnIcht so dass ich jetzt hIer * tAusend prozEnt gebe und wo ichim Anderen betrieb ich dEnk ich hab Immer für mich gesagtdA verdien ich mein gEld, * un:d es steht ihnen zU dass ichauch äh dass sie von mir auch gUte Arbeit und des hatte ichEigentlich auch * von mEinen erwartet * und dEs musste ichaber mIr auch wIrklich lernen zu sAgen, * ähm: dU sAgs einfach* so diese: * dU entschEidest wIeder diese ganze entschEidungwieder * zu sagen du machst dAs jEnes ich hab jA sIcherlichwar auch Irgendwo mein fEhler wo ich gesAgt hab die mÜssendas doch eigentlich sehen wenn da ne tAsse liegt oder was weißIch wenn da was gemAcht werden muss * aber ich hab gemErktnEin ich: ich mUss: * ich muss Anweisungen geben * ja”

I6 hat einen hohen Selbstanspruch und überträgt diesen auch auf ihreMitarbeitenden („ich gib hier mein Bestes (...) und des erwarte ich aberauch”). Sie beschreibt, dass ihr hoher Selbstanspruch auch schon bereits vorder Unternehmensgründung, als sie noch in einem Angestelltenverhältnisstand, sehr hoch war, weshalb sie auch von ihren Mitarbeitenden einen hohenEigenanspruch erwartet („hab immer für mich gesagt da verdien ich meinGeld und es steht ihnen zu, dass (...) sie von mir auch gute Arbeit und deshatte ich eigentlich auch von meinen erwartet”). In dieser Erwartung wird I6allerdings von ihren Angestellten enttäuscht. Sie realisiert, dass sie lernenmuss, ihre Erwartungen den Angestellten zu kommunizieren, damit dieseihre Erwartungen kennen und ihnen entsprechen können („des musste ichaber mir auch wirklich lernen zu sagen ähm du sag’s einfach”). Rückblickendbezieht I6 diese anfänglichen Schwierigkeiten auf sich selbst und darauf, dasssie noch nicht über die Fähigkeiten verfügt, als Chefin aufzutreten. Aufdiese Weise verbindet sie den hohen Anspruch an ihre Mitarbeitenden engmit ihrem Eigenanspruch: Sie sieht sich dafür verantwortlich, dass sie ihrenhohen Anspruch, ihren Mitarbeitenden auch kommuniziert („irgendwo meinFehler, wo ich gesagt hab’, die müssen das doch eigentlich sehen, wenn da

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’ne Tasse liegt (...), aber ich hab’ gemerkt, nein, (. . . ) ich muss Anweisungengeben”).

Neben der Arbeitseinstellung können auch inhaltliche Aspekte der Tä-tigkeit den hohen Anspruch an Mitarbeitende begründen. Besonders deutlichzeigt sich das bei I2:

I2, 16: „standen bei mir vor der tür fast 40 personen, * allewollten bei mir dEutsch lernen * das hat sich sO schnell rum-gesprochen * Alle wollten zu I2 kommen und bei mir deutschlernen * ich hab gesagt ok: * jEtzt mach ich noch zwei weiteregruppen, * dann kamen noch mEhr und dann kamen nOchmEhr und kamen noch mEhr, * und auf sOlche weise habe ichschon zum Ersten mal annoncIert * hab die sprAchschule ge-gründet hab gesagt * dEr der jetzt bei mir beginnt, * soll bitte:dassElbe tun was Ich gemacht habe: das soll mEiner vorstellungentsprechen”

Nachdem ihre erste unternehmerische Aktivität erfolgreich war, entschließtsich I2 zur Gründung und sucht Mitarbeitende. Nun weitet sie ihren Eigen-anspruch auf potenzielle Mitarbeitende aus. I2 hat eine neue Lehrmethodeentwickelt, die ihre Angestellten nun anwenden sollen. Die Tatsache, dass sieselbst etwas entwickelt hat, das alle ihre Mitarbeitenden anwenden sollen,unterstreicht ihr hohes unternehmerisches Selbstbewusstsein („der, der jetztbei mir beginnt, soll bitte dasselbe tun, was ich gemacht habe”).

Zusammenfassend wird deutlich, dass sich der Eigenanspruch der In-terviewten durch die Unternehmensgründung entscheidend verlagert: Sieübertragen ihn auf ihr Unternehmen und damit einhergehend auf ihr Un-ternehmensprodukt sowie ihre Angestellten. Zum Teil zeigt sich, dass dieFrauen anfänglich noch nicht über die nötige Führungsfähigkeit verfügen. EinBeispiel dafür liefert I6, die darlegt, wie ihre Mitarbeitenden ihren Ansprü-chen zunächst nicht gerecht werden. Auf der Suche nach einer Begründungrekurriert sie darauf, dass sie zu Beginn ihrer Unternehmung noch nicht inder Lage war, ihre Mitarbeitenden so zu führen, dass diese ihren Ansprüchengerecht werden konnten.

Relativierter Anspruch an UnternehmerischesZu Beginn des Kapitels habe ich dargelegt, wie die Unternehmerinnen in derGründungsphase zunächst ihren hohen Anspruch auf ihr Unternehmenspro-dukt sowie ihre Mitarbeitenden ausweiten. Zudem ist die Gründungsphaseauch davon geprägt, dass die Frauen mit ihrem hohen Eigenanspruch anGrenzen geraten. Sie können ihren Anspruch nicht vollständig einlösen, weil

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6.3 Lernphase Drei: Gründungsphase 173

ihnen unternehmerisches Wissen fehlt und weil ihre zeitlichen Ressourcenbegrenzt sind. Aufgrund dessen beginnen sie, Strategien zu entwickeln, dieihnen dabei helfen, ihren hohen Eigenanspruch zu relativieren. Die Strategienbestehen im positiven Rahmen von Fehlern, im Setzen von Prioritäten sowieim Delegieren von Tätigkeiten.

Eine Strategie, wie die Interviewten ihren hohen Eigenanspruch relati-vieren, besteht darin, Fehler positiv zu rahmen. Beispielhaft zeigt sich dieStrategie bei I2, die auf ihren Umgang mit Fehlern Bezug nimmt und sichdabei von arbeitslosen „Migranten” abgrenzt:

I2, 12: „ich kAnn jetzt nach All diesen jahren vielleicht sElbstdie vorträge halten wie man sich selbstständig macht * wIE man:äh: den wEg geht * äh: wie man die: äh: die * bUchführung ähohne fEhler macht ich habe vIele fehler gemacht * ähm: aberletztendlich äh: *der TUT * DER fehler der was tut oder, *2*ja: äh: man: kAnn: * auf dem sOfa sItzen: und äh: * mEckernu:nd * Unzufrieden mit dem leben sein: und dabei nichts tUn, *und keine fEhler tun * gibts natürlich auch * so eine tYpischegeschichte bei unseren migrAnten, * ähm: *2* klAr ich habeviele fehler gemacht aber über meine fEhler möchte ich nichtUnbedingt erzÄhlen, * ähm: *3* wIchtig ist ich hAbe aus diesenfehlern wirklich viel gelernt *3* vIel gelErnt * ja:”

Hier wird I2s Eigenanspruch hinsichtlich des unternehmerischen Wissensdeutlich. Zunächst schildert sie, dass sie bezogen auf das unternehmerischeWissen (hier: die Buchführung) viele Fehler gemacht hat. Im folgenden Satzrelativiert sie die Fehler jedoch, indem sie diese als dazugehörig beschreibt(„ich habe viele Fehler gemacht aber letztendlich, der tut der Fehler, der wastut”). I2 steigert ihre Darstellung, indem sie auf eine ethnische AttribuierungBezug nimmt und gleichzeitig auf Arbeitslose rekurriert. So grenzt sie sich von„Migranten” ab. Sie scheint hier an den öffentlichen Diskurs anzuschließen,in dem arbeitslose Menschen mit Migrationsgeschichte abgewertet werden(„man kann auf dem Sofa sitzen und meckern und unzufrieden mit dem Lebensein und dabei nichts tun, und keine Fehler tun, gibt’s natürlich auch, so einetypische Geschichte bei unseren Migranten”). Arbeitslose Migrant_innenfungieren für I2 als negative Abgrenzungsdefinition. Damit einhergehenddeutet sie in ihrer retrospektiven Konstruktion ihre Fehler positiv. Da Fehlergemäß ihrer Deutung zum Handeln dazugehören, hat ihr bewusster Umgangmit Fehlern zu ihrer Integration beigetragen. Keine Fehler begehen setzt siemit „Nichtstun” und „Meckern” und „Unzufrieden-Sein” gleich.

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Eine andere Strategie, den hohen Eigenanspruch zu relativieren bestehtdarin, Prioritäten zu setzen. Ein Beispiel dafür liefert I6, die ihren Eigen-anspruch an Unternehmerisches relativiert, da sie sich bewusst ist, dass sieüber begrenzte zeitliche Ressourcen verfügt.

I6, 36: „ich mUsste Eigentlich für mIch son weg suchen nurich sAg OK, * Eins nach dem Andern * ich kAnn mich nichtAufteiln * weil in dEm moment hätt ich mich halt in zehnaufgeteilt hätts viellEicht Irgendwann nicht mehr gerEicht ja,* ich mUsste für mich Abwiegen was ist hEute wIchtig, * wasmuss erlEdigt werden * und rEst musste eigentlich wArten *und dEs hab ich dann eigentlich schrItt für schrItt gemacht *und sO hab ich aber auch für mIch ne routIne gefUnden * un:d* Irgendwo auch nschAlter im kOpf eingebaut ja, [lacht] @hÖrtsich jetzt totAl aber,@ mUss, mUss ich machen”

I6 legt hier ihre Strategie dar, wie sie mit ihren hohen Ansprüchen ansich selbst und ihren gleichzeitig begrenzten Zeitressourcen umgegangen ist(„musste (...) für mich so’n Weg suchen, (...) eins nach dem Andern, ichkann mich nicht aufteilen”). Ihren hohen Eigenanspruch relativiert sie, indemsie sich klare Prioritäten setzt („abwiegen, was ist heute wichtig, was musserledigt werden”). Rückblickend stellt sie dies als einen geeigneten Weg dar,der sie zum Erfolg geführt hat („so hab ich aber auch für mich ’ne routinegefunden, (...) irgendwie auch’n schalter im Kopf eingebaut”). Abschließendweist sie darauf hin, dass es aus ihrer Sicht zwingend erforderlich ist, sichPrioritäten zu setzen („muss muss ich machen”).

Eine weitere Strategie, den hohen Eigenanspruch zu relativieren, bestehtim Delegieren von Tätigkeiten: Die Interviewten entlasten sich in ihremEigenanspruch, indem sie Aufgaben an Fachpersonen übertragen. Um diesan einem Beispiel zu veranschaulichen, nehme ich auf I2 Bezug, die dasDelegieren von Tätigkeiten zu ihrer „Leitstrategie” erklärt:

I2, 26: „u:nd äh: die mItArbeiter die ich geholt habe habenmir nOch zusätzlich qualifikatIonen * gebracht die ich vielleichtAuch nicht selbst g äh: hatte * ja: * DA ist irgendwo eineergÄnzung da: * ich muss nicht Alles sElbst kÖnnen * es gibtauch die fAchkrÄfte, * die dAs vielleicht besser können als Ich* ja: * dAfür muss ich eine: eine: diese: lEitstrategie im kopfbehalten und sagen * äh: * dass dass dU es bitte tUSt äh: äh:es ist garnicht mein berEich”

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6.3 Lernphase Drei: Gründungsphase 175

I2 legt dar, dass sie sich der Tatsache bewusst ist, dass ihre Mitarbeitendenzusätzliche Qualifikationen mit in ihr Unternehmen gebracht haben („dieMitarbeiter, die ich geholt habe, haben mir noch zusätzliche Qualifikationengebracht”). Hierbei handelt es sich um Qualifikationen, über die sie zumTeil selbst nicht verfügt („die ich vielleicht auch nicht selbst hatte”). I2 haterkannt, dass das Delegieren eine Strategie darstellt, mithilfe derer sie ihrenhohen Eigenanspruch relativieren kann („ich muss nicht alles selbst können”).Dadurch, dass sie anderen deren Kompetenzen zugesteht, kann sie sich selbstentlasten („es gibt auch Fachkräfte, die das vielleicht besser können alsich ja”). Sie steigert ihre Beschreibung, indem sie das Delegieren als ihre„Leitstrategie” ausweist („diese Leitstrategie im Kopf behalten und sagen,dass du es bitte tust”). Abschließend grenzt sie sich von den delegiertenTätigkeiten ab, da sie nicht mehr in ihrem Aufgabenbereich liegen („es istgar nicht mein Bereich”).

Ein weiteres Beispiel für das Delegieren zeigt sich bei I6. Sie delegiertTätigkeiten, deren Erarbeitung einen Zeitrahmen erfordern würden, der ihrnicht zur Verfügung steht.

I6, 170: „des kAnn ich nicht also ich kAnns schOn, * aberich hab * ich hab da: hIer hInzusitzen die ganzen formulAreauszufÜllen und dIes und jEnes * dAs: eben: was dEs AnbelangtwIrklich also: * mir hAt ja auch die zEit gefEhlt, * nEnE des: deswAr mir gAnz wIchtig dass ich jEmanden von Anfang an dAfür* dass wir des auch rIch * dass das rIchtig gemacht wird *2* na:ich will ja nIcht Irgendwann mal mit finAnzamt Irgendwie: *Oder * ähm: dass der stEuerberater sagt * ja: dIe mOnat warschlEcht, nÄchste monat passt du mir Auf, und hier sind dieAusgaben Einnahmen * ich hab jA: so im grOben wUsst ichdas ja ja, * aber wO mir einer wIrklich die zAhlen hier auf dentIsch legt und sagt jetzt * ja: ist OK oder nIcht OK * nE desbrAuch ich * auf jEden fall”

I6 legt hier dar, wie sie für sich die Strategie entwickelt hat, Tätigkeiten zudelegieren. Zunächst nimmt sie ihre Aussage, dass sie eine Steuererklärungnicht selbst erstellen kann, zurück und relativiert sie dahingehend, dassihr die Zeit dazu nicht zur Verfügung steht („das kann ich nicht, also ichkann’s schon, aber (...) mir hat ja auch die Zeit gefehlt”). Aus verschiedenenGründen ist es ihr wichtig, hinsichtlich finanzieller Fragestellungen eineunterstützende Fachperson hinzuzuziehen („wichtig, (...) dass das richtiggemacht wird (...) wo mir einer wirklich die Zahlen hier auf den Tisch legt”).Die Fachperson übernimmt für sie eine entlastende Funktion.

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Mit den dargelegten Strategien bringen die Interviewten ihren aus denvergangenen Lernphasen bestärkten hohen Eigenanspruch mit ihren begrenz-ten Ressourcen in Einklang. Die Eigenansprüche haben sich prinzipiell nichtverändert, jedoch aber die Anforderungen, denen sie nun als Unternehmerin-nen gegenüberstehen.

Zusammenfassend wird in der dritten Lernphase deutlich, dass der Ei-genanspruch durch die neu hinzukommende Kategorie des Unternehmensausdifferenziert wird. Die Anspruchshaltung verschiebt sich auf das Unter-nehmensprodukt und die Mitarbeitenden.

6.3.3 Unternehmens- und FremdverantwortungDie ursprüngliche Bedeutungsperspektive Eigenverantwortung ist für dieInterpretation der neuen, mit dem Unternehmen einhergehenden, Anforde-rungen nicht ausreichend. Dies löst einen Transformationsprozess aus. Diein den vorangegangenen Phasen gestärkte Bedeutungsperspektive Eigen-verantwortung verändert sich durch das neu hinzukommende Unternehmengrundlegend.

In den vorangegangenen Phasen bauen sich die Interviewten eine hoheErwerbsmotivation auf, indem sie sich ihrer Eigenverantwortung vergewissernund sich in dieser Bedeutungsperspektive bestärken. Sie stellen z.B. heraus,dass eine Erwerbstätigkeit eine Möglichkeit darstellt, finanziell unabhängigzu sein. Nun, nachdem sie ihr Unternehmen gegründet haben, ändert sichjedoch ihr Umgang mit der Bedeutungsperspektive Eigenverantwortung.Die ursprünglich überwiegend auf finanzielle Aspekte und individualisti-sche Fragestellungen fokussierte Eigenverantwortung wird durch die neuhinzukommende Kategorie Unternehmen ausgeweitet und in die Unterneh-mensverantwortung umgewandelt.

Die Unternehmensverantwortung zeigt sich zum einen auf einer persönli-chen Ebene, die durch die Identifikation mit dem Unternehmen konkretisiertwird. Zum anderen bezieht sie sich auf finanzielle Aspekte des Unternehmens.Nach der Gründung stehen die Interviewten zunächst einem finanziellen Eng-pass gegenüber: Sie „erschaffen” sich durch die Unternehmensgründung ihreneigenen Arbeitsplatz und können damit ihrer Erwerbsmotivation gerechtwerden; es ist allerdings fraglich, inwiefern sie durch ihren neuen Arbeitsplatzfinanziell unabhängig werden. So führt die Gründung selbst nicht direktzu dem ursprünglichen Ziel, Einkommen zu generieren, sondern verursachtzunächst einen finanziellen Engpass. Die aus den vorangegangenen Pha-sen gefestigte Bedeutungsperspektive Eigenverantwortung, die eine hoheErwerbsmotivation begründete, hilft bei der Bewältigung des finanziellen

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6.3 Lernphase Drei: Gründungsphase 177

Engpasses. Die Interviewten wenden hierbei verschiedene Strategien an,zuversichtlich zu bleiben und bewältigen so die Situation des finanziellenEngpasses.

Darüber hinaus geht mit der Unternehmensverantwortung eine Verant-wortung für Mitarbeitende und somit eine Fremdverantwortung, die sich aufden beruflichen Kontext bezieht, einher 63.

Unternehmensverantwortung und IdentifikationWährend sich in den vorangegangenen Phasen die Eigenverantwortung aufdie finanzielle Unabhängigkeit des Individuums bezieht und damit eine hoheErwerbsmotivation einhergeht, findet nun in der dritten Lernphase eineVerschiebung der Verantwortung auf das Unternehmen statt. Die Verant-wortung für das Unternehmen zeigt sich an einer starken Identifikation derInterviewten mit ihren Unternehmen.

Ein Beispiel hierfür formuliert I2, indem sie auf eine persönliche Verant-wortung für ihr Unternehmen eingeht:

I2, 23: I: „wOher hatten sie dann am Anfang: * das ganzeunternehmerische wIssen was sie benÖtigt haben”

I2, 24: „wEiß ich nicht * also ich: glAube * das EInzige wasich wOllte: ich wollte Arbeiten *2* ICH wollte arbeiten * ja:u:nd * und bei der Arbeit kOmmt es * wEnn du weißt dasist dEins * und du stEhst für dEInen nAmen und für dEinefirma *2* rEst kommt automAtisch entwEder, * to bE or notto be entweder bIst du oder bist du es nIcht *2* ich kAnn nicht* Irgendwelchen lEhrer nehmen der mEine vorstellung nIchtentsprIcht, * da ist natürlich auch das unternehmerische *2*und dAs ist das ist EinfAch: entwEder hast du Einnahmen oderhast du die Ausgaben * oder bEIdes * und dann muss es * musses stImmen * was mInus und was plUs ist * ich kann nicht mehrAusgEben als ich EInnehme das ist doch klAr oder, *3* undwenn ich mEhr einnehme * damit ich mich entlAste, * kann ichmir jemanden nOch leisten * als unterstützung * und ich se:hees ist eine tendenz dA * man wächst wEiter * das heißt * manschafft nicht Alles allein, * jemand muss rAn * an die Arbeit”

Zunächst wird die stark ausgeprägte Eigenverantwortung von I2 deutlich, diesie als zentral für den Erwerb ihres unternehmerischen Wissens konstruiert63In Lernphase Zwei setzten sich die Interviewten mit dem Thema Fremdverantwortung

lediglich im Rahmen ihres Eigenanspruchs an ihre Mutterrolle auseinander. Dadurchthematisierten sie eine Fremdverantwortung, die sich ausschließlich auf den privatenKontext bezog.

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(„das einzige was ich wollte, ich wollte arbeiten, ich wollte arbeiten”). Sieverleiht ihrer Aussage durch Wiederholungen Nachdruck, und sie verstärktsie zusätzlich, indem sie betont, dass unternehmerisches Wissen einfach zuerwerben sei („da ist natürlich auch das Unternehmerische und das ist das isteinfach”). Als weiteres zentrales Element für den Erwerb des unternehmeri-schen Wissens beschreibt I2 ihre Identifikation mit ihrem Unternehmen („beider Arbeit kommt es, wenn du weißt das ist deins”). In drei verschiedenenAusführungen verwendet sie das Possessivpronomen „deins” („wenn du weißtdas ist deins und du stehst für deinen Namen und für deine Firma”). DieFirma und die Unternehmer_innenperson verschwimmen in ihrer Beschrei-bung zu einem Ganzen und ein hohes Maß an Identifikation mit ihremUnternehmen wird deutlich.

Ein weiteres Beispiel für die Unternehmensverantwortung und die damiteinhergehende Identifikation mit dem Unternehmen schildert I6.

I6, 114: „ich mUsste wIrklich sAgen OK, * äh: des ist hiermEins ich muss gUcken * wie: wie der laden läuft, ich”

I6 identifiziert sich mit ihrem Unternehmen und verortet die damit ein-hergehende Verantwortung deutlich bei sich selbst. Sie unterstreicht ihreAussage, indem sie verschiedene Ausdrucksweisen mehrfach verwendet: Zwei-mal nimmt sie darauf, dass sie die Verantwortung übernehmen „muss”, Bezug(„musste wirklich sagen, ok, (...) muss gucken”). Außerdem unterstreichtsie ihre Identifikation mit ihrem Unternehmen unter Bezugnahme auf dasPersonalpronomen „ich” („ich musste (...) meins (...) ich muss gucken (...),ich”).

Zusammenfassend wird ein hohes Maß an Identifikation der Interviewtenmit ihren Unternehmen deutlich, was für sie mit der Übernahme der Ver-antwortung für ihre Unternehmen einher zu gehen scheint. Die Interviewtenüberbrücken Unsicherheiten, die entstehen, weil ihnen unternehmerischeWissensbestände und Fähigkeiten fehlen, durch klare Überzeugungen, die sieim Hinblick auf ihre Unternehmen ausgebildet haben. Zu den Überzeugungengehört eine starke Identifikation mit ihren Unternehmen und dass sie dafüralleinig die Verantwortung übernehmen.

Unternehmensverantwortung und finanzieller EngpassZusätzlich zur Identifikation der Interviewten mit ihren Unternehmen zeigtsich ihre ausgeprägte Verantwortung für ihre Unternehmungen auch an derArt und Weise, wie sie mit finanziellen Engpässen umgehen. Der finanzielleEngpass, der im Zuge der Unternehmensgründung entsteht, widerspricht ihrerausgeprägten Eigenverantwortung im Hinblick auf finanzielle Fragen. Um mit

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diesem Widerspruch umzugehen, entwickeln die Interviewten verschiedeneBewältigungsstrategien, die es ihnen ermöglichen, ihren finanziellen Engpasspositiv zu rahmen.

In der dritten Lernphase, in der das Unternehmen gegründet wurde,nimmt finanzielle Unabhängigkeit, genau wie in den vorangegangenen Phasen,eine zentrale Stellung ein. Allerdings geraten die Interviewten im Zuge derGründung in einen finanziellen Engpass. Keine von ihnen verfügt über einhohes Startkapital. Der finanzielle Engpass zu Gründungsbeginn basiertdarauf, dass die Unternehmen noch nicht konsolidiert sind und es somit nochkeine finanzielle Sicherheit gibt bzw. geben kann.

Einen Weg, wie mit dem finanziellen Engpass umgangen werden kann,zeigt I5 auf, die ihr Unternehmen aus diesem Grund zunächst nebenberuflichführt:

I5, 14: „dAdurch dass ich das Unbedingt nEbenberuflich ma-chen mÖchte ich möchte nicht auf die Arbeit bei Firma R. alsverzIchten weil * ähm: dAs ist Einfach für mich zU risikAntalso von finAnziellen her”

I5 bleibt zunächst in ihrem abhängigen Beschäftigungsverhältnis tätig, damitsie sich nicht mit einem finanziellen Engpass auseinandersetzen muss („dasist einfach für mich zu riskant also von finanziellen her”).

Auch die Frauen, die von Beginn an hauptberufliche in ihren Unter-nehmen tätig sind, entwickeln Strategien, um mit dem finanziellen Engpassumzugehen. Zu nennen sind hier verschiedene Zuversichtsstrategien sowie dieStrategie des Lernens in der Handlung („learning by doing”). Die Zuversichtss-trategien bestehen darin, dass Zweifel abgewertet werden und Rückbezügeauf bestärkende Kontexte erfolgen. Die Rückbezüge können z.B. eine Orien-tierung am bestehenden hohen Selbstbewusstsein beinhalten oder sie könnenso aussehen, dass die Interviewten sich mit Dritten aus ihrem privatenUmfeld, wie z.B. dem Partner, beraten. Mit Hilfe der Zuversichtsstrategi-en sowie der Strategie des Lernens in der Handlung bestärken die Frauensich in ihrer sich in der Entwicklung befindlichen BedeutungsperspektiveUnternehmensverantwortung und bewältigen so den finanziellen Engpass.

Die Zuversichtsstrategie, mit der Zweifel hinsichtlich des finanziellenEngpasses abgewertet werden, findet sich z.B. bei I6.

I6, 54: „natÜrlich die finanziElle unterstützung ist ja daswIchtigste die hatte ich natürlich nIcht bekommen * dA hatteich Auch * äh: ich dachte wEnn das jetzt nicht lÄuft dann: sItzich auf den schUlden wobEi ich dAnn für mIch gedacht hab *

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des war jetzt nicht sO hoch, * weil ich wIrklich klein Angefangenhab * nIcht irgendwie Über mein verhÄltnis dass ich sag ichmuss hie:r *desIgner-möbel oder sOnst irgendwas”

Kurz nach der Gründung ihres Unternehmens befindet sich I6 in einemfinanziellen Engpass, da sie keine finanzielle Unterstützung für ihre Unter-nehmensgründung erhalten hat. Aufgrund dieses Umstandes kommen beiihr Zweifel auf („finanzielle Unterstützung (...) hatte ich natürlich nichtbekommen (...) ich dachte, wenn das jetzt nicht läuft, dann sitz’ ich aufden Schulden”). Sie bewältigt die Zweifel, indem sie sich zuversichtlich zeigt(„wobei ich dann für mich gedacht hab’, des war jetzt nicht so hoch weil ichwirklich klein angefangen hab’ ”). Unter Bezugnahme darauf, dass sie keineübermäßig teure Einrichtung für ihr Ladenlokal angeschafft hat, bewältigtsie ihre Zweifel hinsichtlich ihres finanziellen Engpasses. Ein Scheitern ihresFriseurgeschäftes würde sie nicht in einen finanziellen Ruin stürzen. Sie hältnicht an der Unsicherheit der aktuellen Situation fest, sondern rahmt die mitder Unternehmensgründung einhergehenden Ausgaben – sowie das damiteinhergehende Risiko – als notwendiges Übel und bestärkt sich selbst, indemsie unterstreicht, dass sie ihre Ausgaben gering gehalten hat („wirklich kleinangefangen (...) nicht irgendwie über mein Verhältnis (...) Designermöbeloder sonst irgendwas”).

Eine weitere Zuversichtsstrategie, bei der bestärkende Kontexte, wie z.B.das hohe Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein eine Orientierung darstellen,beschreibt I7. Sie führt aus, dass es schwierig ist, finanziell zu planen, wennman unternehmerisch selbstständig ist.

I7, 35: „schwIerig wa:r das äh: Umgeh:n [räuspert sich] vonnem honorArsatz was rEgelmäßig auf mein kOnto kam zEhnjAhre lang, * in der Angstelltenposition, auf Einmal nIcht kal-kulIeren zu können wAs: wAnn kommt wElches gEld (...) alsodAmit Umzugehn * nIcht mit gEld kalkulIeren zu können wasEben noch nIcht dA ist * dAs war des schwIerigste, * aberdieses lErnen äh: Ohne gEld Auch sich sIcher zu fühlen, wasnoch nicht dA ist * dran zu glAuben dass Anfragen kOmmenwerden”

I7 beschreibt es als eine Herausforderung, sich auch ohne regelmäßiges Gehalt,also in einem gefühlten finanziellen Engpass, sicher zu fühlen („schwierig wardas äh umgehen von ’nem Honorarsatz (...) in der Angestelltenposition aufeinmal nicht kalkulieren zu können, was wann kommt welches Geld”). Sieunterstreicht die Herausforderung durch die Verwendung eines Superlativs

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(„das war des Schwierigste”) und beschreibt sodann, dass sie den Umgangmit der Herausforderung erst erlernen musste („dieses Lernen ohne Geld sichsicher zu fühlen”). Im Rahmen ihrer Bewältigungsstrategie orientiert sie sichan ihrem bestärkten Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen und generiertdadurch Zuversicht und Sicherheit („dran zu glauben, dass Anfragen kommenwerden”).

Eine weitere Zuversichtsstrategie für die Bewältigung des finanziellenEngpasses besteht in der Auseinandersetzung mit Dritten aus dem privatenUmfeld, wie z.B. dem Partner. I7 beschreibt diese Strategie, indem sie denfinanziellen Engpass als irritierenden Schlüsselmoment darlegt, der fast zumScheitern ihres Unternehmens geführt hätte:

I7, 37: „ ja: ein ganz lUstiger momEnt und zwar hab ich äh:Eben diese: 2006 hab ich Angefangen und ich hab dann nengAnz tEuren strAfzettel gekrIegt * weil ich äh: vorm hAltepapverbOt gepArkt hab und des warn gleich drEißig Euro, * unddAnn kam ich wEinend heim, * es war am mOrgen ich hab nUrbrÖtchen geholt es war ne minUte oder so und dacht des gIebtsja gArnicht * und des war grad son Engpass * und dAnn hatmein mann gesagt schA:tz des ist doch nicht @schlImm@ * alsodes wAr son emotionAler moment, äh: wos grA:d so hIngehauenhÄtte und diese drEißig Euro schOn zu vIel warn (...) sO mUtigzu sein wenn es sO knApp war mit dem ge:ld, und wEiter zumachen des war der Einzige momEnt * wo ich so in ein konflIktkam wO diese drEißig Euro zu vIel waren Einfach * des fandich vOll süß also des: find ich noch sEhr emotionAl und binstOlz dass ich da nicht Abgebrochen hab”

I7 beschreibt, wie unerwartete Ausgaben ihr noch junges Unternehmenzusätzlich belasten („hab dann nen ganz teuren Strafzettel gekriegt (...)des war’n gleich dreißig Euro”). Die Kosten kommen auf sie während einesfinanziellen Engpasses zu („des war grad so’n Engpass”). Bei der Bewältigungdieses Engpasses scheint sie folgende Aussage ihres Partners mental zuunterstützen: „Schatz, des ist doch nicht schlimm [lachend gesprochen]”. I7expliziert nicht genau, was dazu geführt hat, dass sie ihr Unternehmen nichtaufgegeben hat. Dadurch, dass sie ihren Partner erwähnt, wird deutlich, dassdieser eine zentrale Rolle dabei zu spielen scheint, dass sie den finanziellenEngpass für sich relativieren kann. Sie hält an ihrer Unternehmensidee festund stellt sich so den aufkommenden Herausforderungen („so mutig zu sein,wenn es so knapp war mit dem Geld”). I7 hat rückblickend ein hohes Maßan Zuversicht entwickelt, mit dem sie den finanziellen Engpass bewältigt hat,

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sie unterstreicht das durch die doppelte Verwendung der Steigerung „so”: „somutig zu sein wenn es so knapp war”.

Neben den Zuversichtsstrategien stellt das Lernen in der Handlung eineweitere wichtige Komponente für die Bewältigung des finanziellen Engpassesdar. I8 konkretisiert das, indem sie das „Vorausverdienen” als wichtigesElement in der Selbstständigkeit beschreibt.

I8, 28: „man muss lErnen in der sElbstständigkeit, ähm: *vorAuszuverdienen, also nicht @nAchzuverdienen sondern@ vor-Auszuverdienen, äh: um dAnn die frEie zEit die man hAt zufinanzIeren * ähm aber des lErnt man Eigentlich recht schnellspÄtestens dAnn wenn mans einmal nIcht gemacht hat, unddAnn in die mIese rutscht, dAnn mErkt man des dA muss manhalt Einfach äh: Umstellen und sagen oK, ich muss mehr vOr-arbeiten lEisten damit ich dAnn meine frEizei genIeßen kannaber man ver genIeßt dann auch seine frEizeit ganz Anders”

I8 geht in ihrer Beschreibung auf ihre Bewältigung des finanziellen Eng-passes ein, der nach der Gründung bestand. Sie beschreibt, dass sie lernenmusste, im Voraus zu verdienen („man muss lernen, in der Selbstständigkeitvorauszuverdienen”). Hierbei verweist sie auf ein Lernen in der Handlung(„lernt man eigentlich recht schnell, spätestens dann, wenn man’s einmalnicht gemacht hat und dann in die Miese rutscht”). Für die Umschreibungdes „recht schnellen” Lernens verwendet sie die Einschränkung „eigentlich”.Es fällt auf, dass sie ihre Fehler nicht bewertet, sondern als Lernchancerahmt und so als Möglichkeit nutzt („da muss man halt einfach umstellenund sagen, ok, ich muss mehr vorarbeiten leisten, damit ich dann meineFreizeit genießen kann”). Das Lernen beschreibt I8 als unkompliziert, was siedadurch unterstreicht, dass sie sagt „da muss man halt einfach umstellen”.

Zusammenfassend wird deutlich, dass bei allen Strategien zum Umgangmit dem finanziellen Engpass der Fokus auf der Zuversicht und dem Vertrauenin das Unternehmen sowie dem Lernen in der Handlung liegt. Rückblickendrahmen die Interviewten den finanziellen Engpass als eine Herausforderung,die zu bewältigen ist.

Unternehmensverantwortung und FremdverantwortungEinhergehend mit der Verantwortung für ihr Unternehmen entwickeln dieInterviewten auch eine Fremdverantwortung für ihre (potenziellen) Ange-stellten. Die in den ersten Lernphasen gefestigte Eigenverantwortung wirdum eine Fremdverantwortung erweitert. Hier fließen eigene vergangene Er-fahrungen der Interviewten mit ein und sie reflektieren den öffentlichen

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Defizitdiskurs zu Menschen mit Migrationsgeschichte. So werden für dieFremdverantwortung die Strukturkategorien Migrantin-Sein, Frau-Sein undMutter-Sein relevant.

Ein Beispiel dafür, welche Rolle das Migrantin-Sein für die Fremdver-antwortung spielen kann, schildert beispielhaft I2. Ihre ersten Erfahrungenals potenzielle Arbeitgeberin irritieren sie.

I2, 52: „nachdEm dass ich dann die ersten 60 bewErbungenbei mir auf dem tIsch hatte dann hab ich verstAnden * ja, *und wenn: wEnn du natürlich als: ArbeitgEber * ähm: * diesebewErbungen auf dem tIsch hast, * und dazwIschen liegen einpAAr * tÜrkische: arAbische: slowAkische: dEutschlehrer, *dann sortierst du schOn Automa:tisch durch und du sagst OKwenn ich die chAnce habe * unter den deutschen mUttersprach-lern: äh: zu wÄhlen, * wieso muss ich denn dA: dAhin greifen *ja, * dAnn müssen sie wirklich sO gut sein dass ich überzEugtbin sie zu nEhmen * dann müssen sie mich tatsÄchlich überzEu-gen aber wenn ich dEnen noch von Anfang an gar keine chAncegegeben hAbe * mich überzEugen zu lassen, * dann sind siegleich ähm: * in der Anderen stapel * zum Abschicken *3* alsoIch nehme wIrklich gerne nIcht muttersprachliche deutschlehrerbei mir arbeiten sOwohl, * dEutsche muttersprAchliche lehrer,* als auch nIcht muttersprachliche lehrer *2* und ich sEh wiesie einander äh: ähm: äh: ergÄnzen * sEhr positiv”

I2s Eigenverantwortung wird dadurch erweitert, dass sie als Arbeitgeberineinen neuen Aspekt – den der Fremdverantwortung – ausbildet. In der Ver-gangenheit hat I2 als Arbeitssuchende exkludierende Erfahrungen gemacht,da ihre Qualifikationen und ihr Können in Deutschland nicht anerkannt wur-den (siehe Lernphase Eins). Auf diese Erfahrungen scheint sie zu rekurrieren,als sie die ersten Bewerbungen von Arbeitssuchenden erhält. Sie scheint ihreeigenen Exklusionserfahrungen in die neue Erfahrung einzuordnen („nachdemich dann die ersten 60 Bewerbungen bei mir auf dem Tisch hatte, dann habich verstanden”). Durch ihr Unternehmen hat sich ihre Perspektive von einerArbeitssuchenden zu der einer Arbeitgeberin gewandelt. In der Umschrei-bung ihrer ersten Erfahrungen als Arbeitgeberin scheint sie ihre Erfahrungenals Arbeitssuchende zu reflektieren. Sie scheint hier bis zu einem gewissenGrad einzugestehen, dass sie ihre eigenen Exklusionserfahrungen nun, dasie Arbeitgeberin ist, nachvollziehen kann. Darauf weist ihre Verwendungvon „automatisch” hin („wenn du (...) als Arbeitgeber diese Bewerbungen aufdem Tisch hast, dann sortierst du schon automatisch durch und du sagst

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ok, wenn ich die Chance habe, unter den deutschen Muttersprachlern zuwählen, wieso muss ich dann dahin greifen”). Allerdings – und hier stellt siesich gegen das, was ihr durch ihre Exklusionserfahrungen vermittelt wurde –zieht sie nun für die Auswahl ihrer Mitarbeitenden nicht die Migrationsge-schichte als Ausschlusskriterium heran. Vielmehr konzentriert sie sich auf dieQualifikation und das Können potenzieller Mitarbeitender („dann müssensie mich tatsächlich überzeugen”). Beide Aspekte wurden bei ihr verkannt,als sie die Erfahrung machte, dass ihre Qualifikationen und ihr Könnengar nicht wahrgenommen wurden – ihre Migrationsgeschichte fungierte alsAusschlusskriterium. Im Gegensatz dazu betont sie für ihr eigenes Unterneh-men die Relevanz von nichtdeutschen Muttersprachler_innen („ich nehmewirklich gerne nicht muttersprachliche Deutschlehrer (...) ich seh’ wie sieeinander (...) ergänzen sehr positiv”). Indem sie Menschen mit Migrationsge-schichte einstellt, ermöglicht sie ihnen, was ihr selbst in der Vergangenheitverwehrt blieb. Ihre Mitarbeitenden erhalten unabhängig von ihrer Herkunftdie Chance, ihre Qualifikationen und ihr Können unter Beweis zu stellen.

Bis hierher rekonstruiert I2 ihre eigenen Erfahrungen als Arbeitssuchen-de. Sie hatte die Erfahrung gemacht, dass sie aufgrund ihrer nichtdeutschenMuttersprache keine Arbeitsstellenangebote bekommen hatte. Allerdingsentwickelt sie ein zu ihren eigenen Erfahrungen konträres Verhalten, da sienichtdeutschen Muttersprachler_innen eine Chance gibt („dann müssen siewirklich so gut sein, dass ich überzeugt bin sie zu nehmen, dann müssen siemich tatsächlich überzeugen”). Die Chance, Arbeitgeber_innen von ihrenFähigkeiten zu überzeugen, hatte sie während ihrer Arbeitsstellensuche nichterhalten. Ihre vergangenen negativen Erfahrungen scheinen ihr aktuellespositives Verhalten gegenüber anderen zu beeinflussen („also ich nehme wirk-lich gerne nicht muttersprachliche Deutschlehrer”). Diejenigen Menschen mitMigrationsgeschichte, die sich bei I2 bewerben, erfahren nicht die Exklusion,die sie als Arbeitssuchende erfahren hatte. Hier zeigt sich ihre Verantwortung,die sie für ihre potenziellen Angestellten unter Bezugnahme auf die KategorieMigration übernimmt. So weitet sie ihre Verantwortung für sich selbst in eineVerantwortung für andere aus. Es kommt zu einem Wechsel der Perspektive,von der Arbeitslosen zur Arbeitgeberin. In diesen Kontext kann auch ihreanfängliche Aussage „dann habe ich verstanden” eingeordnet werden; sie hatnicht nur ihre eigenen Erfahrungen verstanden, sondern darüber hinaus hatsie auch verstanden, über welche Möglichkeiten Arbeitgebende verfügen, umPartizipation zu ermöglichen.

Neben dem Migrantin-Sein können auch das Frau-Sein sowie das Mutter-Sein eine Rolle für die Fremdverantwortung einnehmen. Ein Beispiel für daskombinierte Auftreten der Kategorien liefert I6:

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I6, 62: „auf jEden fall, * auf jEden fall * ich mö wOllte es[das Ausbilden, Anm. AL] Auch * ähm: aus dEm grund weil ichEigentlich auch vIele problEme * bei vIele jUgendliche gesEhnhab ich hab sElber * tEenager tochter und * ähm: * wo ichgedAcht hab * es ist wIrklich schwIerig * nen Ausbildungsplatzzu fInden * und des hat sich dann auch dAdurch ergeben dawaren: * ich bIn ja auch mein Ursprung Ist ja: * äh: türkEi* un:d da wAr auch ne tÜrkin die dann kAm sie Eigentlich *nAch der schUle nicht wUsste was sie mAcht, sie wOllte gernefrisEurin aber * Irgendwie nIchts gefUnden hatn soziAles jahrgemacht Also sie hing rUm sie wUsste nicht ja, * und es war mirgAnz ganz wIchtig dass sie * grAd als türkische frAu * äh: fürspÄter * un:d dEs war auch für mIch so ne motivatiOn wo ichdann: * wo ich gedAcht hab ich mUss auf jEden fall versUchendA Auch Auszubilden * wEil ich kEnn die erzIehung, bin jasElber so groß geworden wobEi ich sAgen muss * meine Elternhaben: des war gAnz wichtig ne Ausbildung * Aber ich sEhevIele viele problEme noch * bei vIelen * ja”

Während I6 die Hintergründe ihrer Tätigkeit als Ausbilderin darlegt, nimmtsie sowohl auf ihre eigene Familie als auch auf die Situation junger türkischerFrauen in Deutschland Bezug. Die Themen Migration und Geschlecht tretenhier in einem Wechselverhältnis auf und konzentrieren sich zunächst aufdie eigene individuelle Situation. Darüber hinaus sind beide Themen auchauf Personen bezogen, die über ähnliche Kategorien wie I6 (Frau-Sein undtürkische Migrantin in Deutschland) verfügen. Zunächst setzt I6 ihre Tätig-keit als Ausbilderin in Bezug zu ihrer Mutterrolle und geht anschließend aufden Aspekt der Migration ein („weil ich eigentlich auch viele Probleme beiviele Jugendliche gesehen hab’, ich hab’ selber Teenager Tochter”). Ihre ersteAuszubildende, die sie kennenlernte, bevor sie die Befähigung zur Ausbilderinhatte, verfügt wie sie selbst über eine türkische Migrationsgeschichte. I6 stelltzunächst ethnische Attribuierungen in den Mittelpunkt („mein Ursprung istja Türkei (...) und da war auch ’ne Türkin”). In der weiteren Argumentationkombiniert sie die Aspekte Geschlecht und Migration und stellt das Frau-Seinund das Türkisch-Sein als zentrale Kategorien heraus. Beide Kategorienbettet sie in kulturelle bzw. sozialisationsbedingte Zusammenhänge ein undbeendet ihre Argumentation, indem sie auf ihre türkische HerkunftsfamilieBezug nimmt („bin ja selber so groß geworden”). Dabei stellt sie heraus, dassihre Eltern großen Wert auf ihre Ausbildung gelegt haben, was sie allerdingsmit der einschränkenden Formulierung „wobei ich sagen muss”, rahmt. Dies

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kann ein Hinweis darauf sein, dass es sich ihrer Ansicht nach bei der elterli-chen Fokussierung auf Ausbildung nicht um einen selbstverständlichen Teilder „türkischen” Erziehung handelt. Die hohe Relevanz einer Ausbildungist etwas, was sie in der Folge nicht nur für ihre eigene Tochter als rele-vant betrachtet, sondern darüber hinaus generell für Frauen aus der Türkei.Durch ihr Unternehmen erfährt sie auch, wie schwierig es für Frauen mitMigrationsgeschichte ist, einen Ausbildungsplatz zu finden („aber irgendwienichts gefunden”). Sie fasst den Entschluss, in ihrem Betrieb auszubilden,was eine Übernahme von Fremdverantwortung mit sich bringt. Dabei legt siebesonderen Wert auf die Einstellung von Frauen mit türkischem Hintergrund.Bei der Auswahl ihrer Auszubildenden sind somit die Kategorien Geschlechtund Migration zentral. Ihr Unternehmen gibt ihr die Möglichkeit, in einemerweiterten – d.h. über individualistische Fragestellungen hinausgehenden –Rahmen aktiv zu werden und an einer partizipativen Realität mitzuwirken.Sie lebt ihre Überzeugung, bildet selbst aus und stellt junge türkische Frauenein (siehe dazu auch Laros 2013).

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich in der drittenLernphase zeigt, wie es zu einer Transformation der BedeutungsperspektiveEigenverantwortung kommt. In dieser Phase treten durch das neu gegründeteUnternehmen Herausforderungen auf, die mit der bestehenden Bedeutungs-perspektive Eigenverantwortung nicht mehr interpretiert werden können.Durch ihr Unternehmen werden die Frauen herausgefordert, nicht nur fürsich selbst, sondern auch für ihr Unternehmen und für andere, mit denensie im beruflichen Kontext zu tun haben, Verantwortung zu übernehmen.Ihre ursprüngliche Bedeutungsperspektive Eigenverantwortung wird dadurchum eine Fremdverantwortung erweitert und in die Bedeutungsperspekti-ve unternehmerische Verantwortung transformiert. Wie umfassend die nunausgelöste Transformation der Perspektive ist, zeigt sich daran, dass dieunternehmerische Verantwortung sowohl die Verantwortung für das eigeneUnternehmen und dessen Produkte umfasst, als auch die Verantwortungfür die Menschen, die mit dem Unternehmen in Verbindung stehen – diepotenziellen Angestellten. Besonders hinsichtlich des neu hinzugekommenenAspektes der beruflichen Fremdverantwortung zeigen sich Verhaltensweisender Interviewten, in denen ihre von den Kategorien Geschlecht und Migrationbeeinflussten Ideale deutlich werden.

6.3.4 ArbeitsverständnisIn den vorangegangenen Phasen skizzieren die Interviewten eine Idealvorstel-lung von Arbeit: Sie wollen sich in ihren Arbeitszusammenhängen wohlfühlen.

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Eine unternehmerische Selbstständigkeit scheint mit dieser Idealvorstellungübereinzustimmen. Die Bedeutungsperspektive Arbeitsverständnis hat al-so einen entscheidenden Einfluss auf die Gründungsentscheidung. Mit derNeugründung des Unternehmens erfahren die Interviewten eine erhöhteArbeitsbelastung, was ihre Idealvorstellung von Arbeit herausfordert. Sieerkennen, dass das Unternehmerinnen-Sein mit ihrem Anspruch, sich bei derArbeit wohl zu fühlen, nicht vollständig übereinstimmt. In der ersten Lern-phase war eine hohe Arbeitsbelastung noch ausschließlich negativ besetzt.Das ändert sich in der dritten Lernphase: Trotz der hohen Arbeitsbelastungbewerten die Frauen diese nicht ausschließlich negativ. Sie entwickeln dieStrategie, die Belastung positiv zu rahmen. Zudem fällt auf, dass die Inter-viewten in Phase Drei sehr mit dem Start ihrer Unternehmung und demdamit einhergehenden Arbeitsaufwand beschäftigt sind. Die Interviewtenbehandeln ausschließlich Aufgaben und Fragestellungen, die mit der Grün-dung ihres Unternehmens in Verbindung stehen. Aspekte, die sie noch inPhase Eins als relevant für ein Unternehmen antizipiert haben, wie z.B. dieAusgestaltung der Arbeitszusammenhänge, werden nachrangig behandeltbzw. vollständig ausgeblendet. Im Folgenden stelle ich dar, wie die Unter-nehmerinnen die mit der Gründung einhergehende erhöhte Arbeitsbelastungbeschreiben und wie sie diese bewältigen, indem sie sie positiv rahmen.

Ein Beispiel dafür zeigt sich bei I6:

I6, 34: „und Ich äh: das schwIerige ist ähm: * wAr * dassich Eigentlich *2* natÜrlich für mIch hats von grUnd auf sichvIeles verändert * privAt hier * ich musste dAstehn ob ob ichjetzt äh: viellEicht ntag vOrher gArnicht geschlafen hab odernen schlechten tAg hatte oder sONst irgendwas * will ich auchmeinen kUnden gArnicht geben weil s man frEut sich auf denbesUch, frisEurbesuch des ist ja: * ja dA: so ein bIsschen * zusAgen OK: heut gehts mir sUper gu:t obwOhls vielleicht ne,sOlche dInge * Aber nAtürlich auch die vOrbereitung diesegAnzen papIersachen und so das is:t des war mein tOd was diealles wOllten von mir ja, * sOlche dInge * ja”

Als große Herausforderungen benennt I6 die Veränderungen, denen sie alsUnternehmerin gegenübersteht („das schwierige is’ (...) von Grund auf vielesverändert”). Die Veränderungen legt I6 als selbstverständlich, grundlegendund umfassend dar („natürlich für mich hat’s von Grund auf sich vieles ver-ändert”). Die Anforderungen an ihre Professionalität scheinen sich geändertzu haben, sie beschreibt sie unter Bezugnahme auf sich als Privatperson(„vieles verändert privat hier”). In ihren weiteren Ausführungen geht sie auf

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die erhöhte Arbeitsbelastung ein („gar nicht geschlafen oder ’nen schlechtenTag hatte”), die sie ihren Kund_innen nicht spiegeln möchte („ich musstedasteh’n, ob ob ich jetzt vielleicht n’Tag vorher gar nicht geschlafen haboder ’nen schlechten Tag hatte oder sonst irgendwas will ich auch meinenKunden gar nicht geben”). Zum einen wird ihre Anspruchshaltung an dieinhaltliche Ausgestaltung ihrer Arbeitstätigkeit deutlich, wenn sie sagt, sie„musste” dastehen. Dieses „müssen” hat sie sich selbst auferlegt. Zum an-deren wird erkennbar, dass sie Belastungen positiv rahmt und sie dadurchbewältigt: Sie reagiert auf die Belastung, den erschwerenden Input, indemsie sich einen gegenteiligen Input vorstellt („zu sagen heut geht’s mir supergut obwohl vielleicht”). Diese Reaktion kann ein Hinweis darauf sein, dass I6erkennt, dass sie es ist, die für die Stimmung innerhalb ihres Unternehmensverantwortlich ist64.

Im Folgenden thematisiert sie in ihren Darlegungen der formalen Anfor-derungen erneut die große Belastung, indem sie die Redewendung „des warmein Tod” verwendet. Auch wenn in dieser metaphorischen Redewendungeine Wertung enthalten ist, so fällt dennoch auf, dass sie die Passage mitder Umschreibung „natürlich” einleitet, was als ein erneuter Hinweis auf ihrepositive Rahmung von Belastungen angesehen werden kann.

Ein weiteres Beispiel für den Umgang mit einer erhöhten Arbeitsbelas-tung, der darin besteht, diese positiv zu rahmen, liefert I4.

I4, 6: „Auch diese viele Arbeit war irgendwie tOll also ichhab am: Anfang teilweise 60 stunden geArbeitet weil ich beide:* berUfe hatte * es war auch nicht schlImm: * wenig gEld dannzu haben das war Alles nicht schlimm”

I4 bewertet ihre hohe Arbeitsbelastung positiv („viele Arbeit war irgendwietoll (...) teilweise 60 Stunden gearbeitet”). Sie unterstreicht, wie sie die mitder Unternehmensgründung einhergehenden Belastungen finanzieller sowiezeitlicher Art bewältigt hat, indem sie sie positiv rahmt („nicht schlimm (...),das war alles nicht schlimm”).

Zusammenfassend wird deutlich, dass die Interviewten auf unterschied-liche Weisen die erhöhten Belastungen beschreiben, denen sie als neue Un-ternehmerinnen gegenüberstehen. Die neuen Belastungen bewältigen sie,indem sie sie positiv rahmen. In dieser Anfangsphase des Unternehmenssind die Anforderungen, denen die Interviewten gegenüberstehen, so hoch,64Wie sich an der Interpretation zeigt, enthält der Interviewausschnitt sowohl Elemente

bezüglich des Eigenanspruchs, als auch bezüglich der Verantwortung. Hier wird be-sonders deutlich, dass es sich bei der Aufgliederung der verschiedenen Aspekte umeine analytische Trennung handelt.

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dass sie sich zunächst nicht auf die konkrete Ausgestaltung ihrer Arbeitszu-sammenhänge – die sie in Phase Eins als vorrangig relevant konstruierten –fokussieren können.

6.3.5 ZusammenfassungIn der dritten Phase, der Gründungsphase, irritiert das Unternehmen als neuhinzukommende Kategorie die Unternehmerinnen in ihrer Bedeutungsstruk-tur berufliches Selbstverständnis sowie in den dazugehörigen Bedeutungsper-spektiven (hohes berufliches Selbstbewusstsein, beruflicher Eigenanspruch,berufliche Eigenverantwortung und berufliches Arbeitsverständnis). Dadurchwird ein Prozess ausgelöst, in dem das bestehende berufliche Selbstver-ständnis um eine neu entstehende unternehmerische Perspektive erweitertwird. Auf der Ebene der Bedeutungsperspektiven zeigt sich die einsetzendeTransformation folgendermaßen:

Die Unternehmerinnen beginnen ihr berufliches Selbstbewusstsein zueinem unternehmerischen Selbstbewusstsein zu entwickeln. Es wird deutlich,dass das berufliche Selbstbewusstsein bereits gefestigt ist und das unterneh-merische Selbstbewusstsein eine Perspektive darstellt, welche sich die Unter-nehmerinnen erst erarbeiten müssen. Zum Teil wird das unternehmerischeSelbstbewusstsein durch Orientierung am hohen beruflichen Selbstbewusst-sein erworben. Diese Strategie stößt allerdings mangels unternehmerischerFähigkeiten und unternehmerischen Wissens an ihre Grenzen. Durch ei-ne Auseinandersetzung mit Personen, die Fachkompetenz und Vertrauenmiteinander vereinen sowie durch ein intuitives Lernen in der Handlung,beginnen die Frauen, sowohl die nötigen Fähigkeiten als auch das nötige Wis-sen zu erlernen und so ihre Perspektive um einen unternehmerischen Aspektzu erweitern. Das Resultat ist, dass die Bedeutungsperspektive beruflichesSelbstbewusstsein zum Ende der dritten Lernphase aus zwei Teilen besteht.Ein Teil umfasst das gefestigte berufliche Selbstbewusstsein und ein ande-rer Teil steht für das neu entstehende unternehmerische Selbstbewusstsein.Die Zweiteilung deutet an, dass der Übergang der Interviewten von einemberuflichen Selbstbewusstsein zu einem übergreifenden unternehmerischenSelbstbewusstsein noch nicht abgeschlossen ist.

Gleiches gilt für die Bedeutungsperspektive beruflicher Eigenanspruch.Ausgelöst durch mangelnde unternehmerische Kenntnisse und Fähigkeiten,beginnen die Frauen während der Gründungsphase, die Bedeutungsperspek-tive beruflicher Eigenanspruch zu transformieren. Der hohe Anspruch anberufliche Belange bleibt weiterhin bestehen und es kommt ein Anspruch andas Unternehmen hinzu, der den Anspruch an das Unternehmensprodukt, an

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potenzielle Mitarbeitende und sonstige Personen, die mit dem Unternehmenin Verbindung stehen, umfasst. Auf diese Weise wird der ursprünglich auf dasIndividuum und seine berufliche Tätigkeit bezogene Eigenanspruch ausgewei-tet und die konkrete Ausgestaltung des Unternehmens rückt zunehmend inden Fokus. Mit Blick auf den hohen Anspruch an ihre Unternehmen stellendie Interviewten fest, dass ihnen unternehmerische Kenntnisse und Fähigkei-ten fehlen. Dies, und die limitierten zeitlichen Ressourcen, die sie im Alltagzur Verfügung haben, führen dazu, dass die Frauen ihren hohen Anspruchim Hinblick auf unternehmerische Fragestellungen eingrenzen müssen. Damitsie trotz dieser Grenzen einen hohen Anspruch aufrechterhalten können,entwickeln sie verschiedene Strategien. Sie rahmen Fehler positiv, setzenklare Prioritäten und delegieren an Fachpersonen.

Die Bedeutungsperspektive berufliche Eigenverantwortung wird in derdritten Lernphase ebenfalls um einen unternehmerischen Aspekt erweitert.Auch hier zeigt sich die einsetzende Transformation. Zur Verantwortungfür sie selbst (Eigenverantwortung) kommt die Unternehmensverantwortunghinzu, welche die Frauen auf unterschiedliche Weise in den Interviews the-matisieren. Sie beginnen, sich mit ihren Unternehmen zu identifizieren undkonkretisieren so ihre Unternehmensverantwortung auf einer persönlichenEbene. Dies zeigt sich auch anhand ihres Umgangs mit finanziellen Engpäs-sen, die sich während der Gründung des Unternehmens einstellen. Gehört esbei den Interviewten zu ihrer beruflichen Eigenverantwortung, dass sie finan-ziell unabhängig sein möchten, so entwickeln sie nun Bewältigungsstrategien,um die finanziellen Engpässe positiv zu rahmen. Darüber hinaus beginnendie Interviewten durch ihre Unternehmen, Verantwortung für (potenziel-le) Mitarbeitende zu übernehmen. Dabei kommen die StrukturkategorienFrau-Sein, Mutter-Sein und Migrantin-Sein zur Geltung.

Auch innerhalb der Bedeutungsperspektive Arbeitsverständnis wirdwährend der Gründungsphase eine Transformation ausgelöst. Während dieFrauen vor der Gründung eine unternehmerische Selbstständigkeit als Ideal-vorstellung ihrer Arbeitszusammenhänge beschreiben, müssen sie nun wäh-rend der Gründung eine erhöhte Arbeitsbelastung bewältigen. Dies führt zurVeränderung ihres Arbeitsverständnisses. War in den vorangegangenen Lern-phasen eine erhöhte Arbeitsbelastung ausschließlich negativ konnotiert, sorahmen sie sie nun positiv. Während der Gründungsphase richten die Frauenihre Aufmerksamkeit vor allem auf Fragestellungen, die mit der Gründungeinhergehen. Die Ausgestaltung der Arbeitszusammenhänge, wie z.B. diekollegiale Zusammenarbeit, hatten sie als relevant für ein Unternehmen, indem sie sich selbst wohlfühlen, beschrieben. Aufgrund anderer Prioritätenwird dies in der Gründungsphase von den Frauen noch nicht behandelt.

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6.4 Lernphase Vier: Erlerntes Unternehmerinnen-Sein 191

Nachdem die Interviewten in der dritten Lernphase ihre Bedeutungs-struktur berufliches Selbstverständnis um eine unternehmerische Perspektiveergänzt haben und so vor einer komplexen Ausdifferenzierung dieser ur-sprünglichen Struktur stehen, gehen sie in Lernphase Vier, die Phase deserlernten Unternehmerinnen-Seins, über. In dieser Phase entsteht ein neuesumfassendes unternehmerisches Selbstverständnis, in welches das ursprüngli-che berufliche Selbstverständnis integriert wird.

6.4 Lernphase Vier: ErlerntesUnternehmerinnen-Sein

Die vierte Lernphase ist davon geprägt, dass die Interviewten in ihremUnternehmerinnen-Sein ankommen. Diese Lernphase zeichnet sich dadurchaus, dass die Teilung der Bedeutungsperspektiven in berufliche und unterneh-merische Perspektiven aufgehoben wird, da eine neue Bedeutungsstruktur,die ich nachfolgend als unternehmerisches Selbstverständnis bezeichne, ent-steht. Die Bedeutungsstruktur unternehmerisches Selbstverständnis setztsich aus folgenden Bedeutungsperspektiven zusammen: Einem hohen unter-nehmerischen Selbstbewusstsein, einem unternehmerischen Anspruch, einerunternehmerischen Verantwortung und einem unternehmerischen Arbeitsver-ständnis.

Mit der neuen Bedeutungsstruktur verfügen die Frauen über einenerweiterten Bezugsrahmen, der zu einer differenzierten Eigen- und Fremd-wahrnehmung führt und der die zuvor dominierenden individualistischenFragen in den Hintergrund treten lässt. Eigene Erfahrungen ordnen die Frau-en nun in einen größeren Kontext ein. Das „Unternehmen als Lebensschule”spielt für den Prozess die entscheidende Rolle. Die Unternehmerinnen lernenan und mit ihren Unternehmen und ihre veränderte Weltsicht spiegelt sich indiesen. Das unternehmerische Selbstverständnis steht nicht nur für den wirt-schaftlichen Erfolg und das Unternehmen als isolierte Institution, sondernbeschreibt einen erweiterten Bezugsrahmen, der deutlich über die beruflicheSphäre und ökonomische Belange hinausgeht und auch eine bürgerschaftlicheVerantwortung umfasst.

In diesem Kapitel lege ich dar, wie die Interviewten ihre vier Bedeu-tungsperspektiven, die gemeinsam das unternehmerische Selbstverständnisbilden, weiter ausdifferenzieren. Ich beschreibe, dass sich die Bedeutungs-perspektiven in den Daten anhand unterschiedlicher Dimensionen zeigen.Die Dimensionen verdeutlichen, inwiefern sich eine Bedeutungsperspektiveverändert hat. Sie beschreiben die Ergebnisse des Transformationsprozesses.

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192 6 Lernprozesse von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte

Einzelne Dimensionen sind umfassender als andere, und verlangen daher nacheiner differenzierteren Darstellung. In diesen Fällen werden die Dimensionenanhand von verschiedenen Facetten beschrieben.

6.4.1 Unternehmerisches SelbstbewusstseinIn der vierten Phase kommt es – ermöglicht durch das erfolgreiche Unter-nehmertum – zu einer Zusammenführung des zuvor getrennten beruflichenund unternehmerischen Selbstbewusstseins; beide werden in ein neues hohesunternehmerisches Selbstbewusstsein integriert. Die Verwandlung von einemberuflichen in ein unternehmerisches Selbstbewusstsein, zeigt sich anhandvon verschiedenen Dimensionen der Bedeutungsperspektive: Ein Ergebnis –bzw. in dem hier verwendeten Vokabular eine Dimension – dieser Transforma-tion ist, dass die Frauen ihre Unternehmen nun selbstbewusst führen. Einezweite Dimension besteht darin, dass die Frauen von einer Selbstsicherheitberichten, die sie sich durch das erfolgreiche Unternehmertum erarbeitethaben und die sich nicht nur auf ihr Berufs- sondern auch auf ihr Privatlebenauswirkt. Darüber hinaus zeigt sich die veränderte Bedeutungsperspektiveanhand einer dritten Dimension, die darin besteht, dass die Interviewtenihre Migrationsgeschichte als einen Beitrag zu ihrer hohen beruflichen undunternehmerischen Kompetenz deuten.

Selbstbewusste UnternehmensführungIn Phase Vier zeigen die Interviewten hinsichtlich ihrer Unternehmensführungein gefestigtes Selbstbewusstsein. Mit ihren Unternehmen haben sie ihreRolle als Unternehmerin erlernt und fühlen sich den Anforderungen, diediese mit sich bringt, gewachsen.

Die selbstbewusste Unternehmensführung stellt ein Teilergebnis desTransformationsprozesses dar, in dem die Bedeutungsperspektive berufli-ches Selbstbewusstsein reorganisiert wurde und sich in ein umfassendesunternehmerisches Selbstbewusstsein verwandelt hat. Die Frauen gehen inden Interviews sehr detailliert auf das Thema selbstbewusste Unterneh-mensführung ein. Die selbstbewusste Unternehmensführung zeigt sich inden Interviews anhand vier unterschiedlicher Facetten: Die Interviewtenhaben sich das noch fehlende unternehmerische Wissen erarbeitet und dieFähigkeit, als Chefinnen aufzutreten, erlernt. Zudem haben sie die Kom-petenz entwickelt, eine Distanz zu ihren Mitarbeitenden und Kund_innenaufrecht zu erhalten. Außerdem haben sie sich Wege erarbeitet, sich in ihremunternehmerischen Selbstbewusstsein weiter zu bestärken.

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6.4 Lernphase Vier: Erlerntes Unternehmerinnen-Sein 193

Eine erste Facette, anhand derer die selbstbewusste Unternehmensfüh-rung beschrieben wird, ist das neu erlernte unternehmerische Wissen. Dasssich die Frauen neues unternehmerisches Wissen angeeignet haben, zeigt sichan der kompetenten Behandlung unternehmensspezifischer Fragestellungen,wie z.B. Fragen zur Buchführung oder der Frage zum Umgang mit einerwechselnden Kund_innenanzahl.

Um dies an einem Beispiel zu explizieren, nehme ich im Folgenden aufdie Ausführungen von I2 Bezug. I2 hatte in den vorangegangenen Phasenmehrfach thematisiert, dass Fehler zum Lernen dazugehören. Nun legt siedar, dass sie das unternehmerische Wissen, welches ihr zu Beginn ihrerUnternehmung gefehlt hatte, erlernt hat:

I2, 12: „ich mache auch jEtzt vIEles selbst * äh: das heißtegAl in wElchem bereich man gEht, * äh: bei mir in der schulein jEdem bereich bin ich versiert * in jEdem * ich kAnn jetztnach All diesen jahren vielleicht sElbst die vorträge halten wieman sich selbstständig macht * wIE man: äh: den wEg geht *äh: wie man die: äh: die * bUchführung äh ohne fEhler macht”

I2 sagt, dass sie „in jedem Bereich” ihres Unternehmens versiert sei. Hierbeibezieht sie sich nicht nur auf fachliche, sondern explizit auch auf unternehme-rische Fragestellungen („ich kann jetzt nach all diesen Jahren vielleicht selbstdie Vorträge halten, wie man sich selbstständig macht”). Den Lernprozess,den sie durchlaufen hat, unterstreicht sie durch die Verwendung von: „ichkann jetzt nach all diesen Jahren”. Den Fehlern, deren Relevanz sie in PhaseDrei verschiedentlich begründet hat, scheint nun „die Buchführung ohneFehler” gegenüber zu stehen.

Ein weiteres Beispiel für die Facette des erworbenen unternehmerischenWissens liefert I6. Sie geht auf ihre geänderte Perspektive ein, über die sienun als Unternehmerin verfügt, indem sie ihr Verhalten zu Beginn ihrerUnternehmung mit ihrem Verhalten zum Interviewzeitpunkt vergleicht. An-hand der Erfahrungen mit ihrem Unternehmen hat sie unternehmerischesWissen erlernt, welches einen Perspektivwechsel bedingt.

I6, 94: „hm: wIe zum bEispiel nach wEihnachten, dass wEnnwEihnachten rUm ist des des wEiß man ja Eigentlich zumbEispiel ja, * aber ich war trOtzdem nicht entspAnnt es warenja die fIxkosten waren da * un: d Ob jetzt kUnden kommenAber * wEnn des mal sItzt sag ich mal so ja dann * man hatja natÜrlich auch nen pUffer wo: wO man das ja auch allesAusglei jEtzt bIn ich natürlich entspAnnter mit dem: gAnzen *

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ich genIeß das sogar zum tEil wo ich dann sag OK jetzt mAchich mein: mein äh bUchhaltung fErtig oder geh Einfach mal indie stAdt wo ich so sOlche dInge”

Zur Verdeutlichung ihres Perspektivwechsels beschreibt I6 die Weihnachtszeit,in der ihr Unternehmen aufgrund der Jahreszeit nicht stark frequentiert ist(„wenn Weihnachten rum ist, des des weiß man ja eigentlich”). Obwohl ihr derZusammenhang zwischen Weihnachtszeit und niedriger Kund_innenanzahlbekannt ist, fällt es ihr zunächst schwer, dies nicht nur als Individuum sondernauch als Unternehmerin zu verinnerlichen. Zu Beginn ihrer Unternehmungstellt der Umgang damit – auch aufgrund einer fehlenden finanziellen Absi-cherung – eine Herausforderung für sie dar („aber ich was trotzdem nichtentspannt, es waren ja die Fixkosten (...) da”). Sie muss ihn erst erlernen(„wenn das mal sitzt”). Hierbei helfen ihr finanzielle Rücklagen, die sie sichim Laufe der Zeit erarbeitet hat („man hat natürlich auch ’nen Puffer wo(...) man das auch alles ausglei[chen kann]”). Aufgrund der generierten fi-nanziellen Absicherung stellen potenzielle finanzielle Belastungen für ihrUnternehmen nun keine Gefahr mehr dar. Aus ihrer heutigen Perspektivehat sie diese anfängliche Herausforderung bewältigt; es ist für sie selbstver-ständlich geworden, damit umzugehen („ jetzt bin ich natürlich entspanntermit dem Ganzen”). Das geht so weit, dass sie Situationen, die sie zu Beginnihrer Unternehmung als herausfordernd empfand, heute genießen kann („ichgenieß’ das sogar zum Teil”). Ihre veränderte Perspektive und ihr erlerntesSelbstbewusstsein hinsichtlich der Unternehmensführung werden deutlich.

Zusammenfassend zeigt sich, dass die Interviewten sich das in PhaseDrei noch fehlende unternehmerische Wissen nun erarbeitet, und auf diesemWeg ihr Selbstbewusstsein hinsichtlich der Unternehmensführung bestärkthaben.

Zudem zeigt sich die selbstbewusste Unternehmensführung der Inter-viewten an einer weiteren Facette. Diese besteht darin, dass sich die Frauenihre neue Rolle als Chefin und die damit einhergehenden Fähigkeiten ange-eignet haben. Auf einen Perspektivwechsel von einer angestellt Beschäftigenzur Chefin gehen vor allem diejenigen Frauen ein, die in ihren UnternehmenAngestellte beschäftigen. I6 schildert beispielhaft, wie sich ihre Perspektiveals Chefin verändert hat:

I6, 126: „es gibt gewisse dInge wo Ich mir als chEf einfacherlAube ja, * sprich wEnn nicht viel lOs ist un:d ich mEineich kAnn um halb sechs nach hAuse gehen dann gEh ich auchnach hause, * dann kAnn der mItarbeiter nicht kOmmen undsagen dU * äh: wie kAnnst du nach hAuse: dann geh Ich auch,

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6.4 Lernphase Vier: Erlerntes Unternehmerinnen-Sein 195

* dAnn kann ich sagen Ich bin der chEf ich kAnns machen dUnicht * also hEut kann ichs machen * frÜher hätte ich gesagtOH ist ja Ungerecht stImmt ja * aber dIe werden bezAhlt diehaben ihre ArbeitszEiten und dann mAchen sOll mÜssen siesdann mAchen”

Hier beschreibt I6 den Perspektivwechsel von der Arbeitnehmerin zur Ar-beitgeberin und Unternehmerin. Heute sieht sie deutlich, dass sie als Chefinüber eine besondere Position in ihrem Unternehmen verfügt („es gibt gewisseDinge wo ich mir als Chefin einfach erlaube (...) sprich’, wenn nicht viel losist und ich meine, ich kann um halb sechs nach hause gehen, dann geh’ ichauch nach Hause”). Ihr ist klar, dass sich ihre Position von der ihrer Mitarbei-tenden abhebt („dann kann der Mitarbeiter nicht kommen und sagen du (...)wie kannst du nach Hause Gehen, dann geh’ ich auch”). Aus ihrer heutigenPerspektive hat sie keine Schwierigkeiten, diese hierarchische Struktur zuverteidigen („dann kann ich sagen, ich bin der Chef, ich kann’s machen, dunicht”). Allerdings musste sie diese Fähigkeit erst erlernen. Darauf weistsie hin, indem sie sagt: „also heute kann ich’s machen”. Zu Beginn ihrerunternehmerischen Selbstständigkeit musste sie sich zunächst in ihrer neuenRolle einfinden, was ihr gelungen ist, indem sie ihr Verständnis, dass sie einegute Teamkollegin sein möchte, hinterfragt und daraufhin ein Chefinnen-Selbstverständnis entwickelt („früher hätte ich gesagt oh, ist ja ungerecht”).Als Chefin, die ihr Chefinnen-Selbstverständnis verinnerlicht hat, nimmt siezum Interviewzeitpunkt nicht mehr die Perspektive ihrer Mitarbeitendenein. Sie kann ihre neue Haltung aus ihrer Chefinnen-Perspektive auch gutbegründen („die werden bezahlt, die haben ihre Arbeitszeiten, und dann (...)soll müssen sie’s dann machen”). Außerdem unterstreicht sie den Wechsel inihrer Perspektive, indem sie sich selbst korrigiert und anstelle von „soll” denBegriff „müssen” wählt. Wenn sie als Chefin eine Anweisung gibt, sollen dieMitarbeitenden sie nicht ausführen, sondern sie müssen es.

Eine dritte Facette, an der sich das Thema selbstbewusste Unterneh-mensführung in den Daten zeigt, ist das Distanz-Halten zu Kund_innenund Mitarbeitenden. Darauf geht z.B. I6 ein, indem sie ihren distanziertenUmgang mit ihren Mitarbeitenden darlegt.

I6, 112: „und hEute baue ich ne gewisse distAnz zu meinenmItarbeitern auf (. . . ) ich erwArte kein respekt also ich machsogAr von meinem lEhrling die hAare weg * wenn Ich zEit habeund sie ist am schneiden oder * wenn sie hIlfe braucht * dArumgEhts nicht aber dieses gewIsse respEkt *muss Oder distAnzmuss da sein”

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Der Satzbeginn „und heute” weist auf den zum Interviewzeitpunkt abge-schlossenen Perspektivwechsel hin. I6 berichtet von einer Distanz, die sie zuihren Mitarbeitenden aufbaut („und heute baue ich ’ne gewisse Distanz zumeinen Mitarbeitern auf”). Dass eine Distanz zu ihren Mitarbeitenden fürsie wichtig ist, scheint I6 erst im Zuge ihrer Unternehmensführung erlerntzu haben. Die Relevanz der Distanz betont sie dadurch, dass sie sie amAnfang und am Ende ihrer Aussage erwähnt („baue ich ’ne gewisse Distanzauf” und „Distanz muss da sein”). Sie legt ihre Auffassung einer inhaltlichenAusgestaltung von angemessener Distanz dar, indem sie darauf hinweist, dasses für sie dennoch legitim ist, ihre Mitarbeitenden auch als Chefin bei derenTätigkeiten zu unterstützen („ich mach’ sogar von meinem Lehrling die Haareweg, wenn ich Zeit habe”). Daran zeigt sich, dass sich I6’ Vorstellung vonDistanz nicht in erster Linie an einem Hierarchiedenken orientiert. Vielmehrgeht es ihr um „diese gewisse Respekt”, den sie auf die Rollenverteilung vonChefin und Mitarbeitenden im Unternehmen zu beziehen scheint.

Auch I1 geht darauf ein, dass für sie ein Distanz-Halten zur selbstbe-wussten Unternehmensführung dazugehört. Sie hat durch ihre potenziellenKund_innen gelernt, eine gewisse Distanz zu ihrem Unternehmensproduktaufzubauen, und so Desinteresse am Produkt nicht als Kritik an ihrer Personzu verstehen:

I1, 56: „Ich bin: *2* mein mann sagt du brauchst eine dIckehaut * ich: habe mich: verbEssert in letzter zeit ich lEIde nichtmehr, * wenn eine sagt *2* ich nehme das haus von Ihnen nicht* [lacht] * Aber früher habe ich schon gelItten”

Beim Aufbauen der Distanz wurde I1 von ihrem Partner unterstützt, der ihrsagte, dass sie „eine dicke Haut” brauche. Sie expliziert einen Perspektivwech-sel, indem sie den Beginn ihrer Unternehmung mit dem Interviewzeitpunktvergleicht („ich habe mich verbessert (...) ich leide nicht mehr (...) aber früherhabe ich schon gelitten”). Wurde sie zuvor durch Absagen von Kund_innenin ihrem Selbstbewusstsein irritiert, so hat sie nun eine selbstbewusste Un-ternehmensführung und einen selbstbewussten Umgang mit ihren Produktenerlernt.

Zusammenfassend scheint das Erarbeiten einer gewissen Distanz für dieUnternehmerinnen ein Weg zu sein, ihre neue Perspektive als Unternehmerinzu festigen und sich gegen irritierende Einflüsse abzugrenzen.

Das Thema selbstbewusste Unternehmensführung zeigt sich anhandeiner weiteren Facette, die dafür steht, dass die Frauen sich Wege erarbeitethaben, sich in ihrem unternehmerischen Selbstbewusstsein zu bestärken. Im

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Mittelpunkt stehen Kontakte und Verbindungen zu Personen und Netzwer-ken, die zwar aufgrund des neuen Status’ der Frauen als Unternehmerinnenentstanden sind, aber nicht primär mit ihren unternehmerischen Aktivitäten– z.B. des Verkaufs von Wein – in Verbindung stehen.

Ein Beispiel für diese Facette liefert I4. Sie beschreibt, wie sie einen Weggefunden hat, außerhalb ihres Unternehmens Anerkennung und Bestärkungihres unternehmerischen Selbstbewusstseins zu generieren. Zu Beginn ihrerunternehmerischen Selbstständigkeit hat ihr Unterstützung in Form vonAnerkennung für ihren beruflichen Weg und ihr Unternehmen gefehlt. Diedamit einhergehende Herausforderung hat sie als erfolgreiche Unternehmerinbewältigt, indem sie einem Unternehmerinnen-Netzwerk beigetreten ist, indem sie sich ehrenamtlich als Mentorin betätigt.

I4, 29: „Als ich jetzt mit diesen Mentoringprogramm * daserlEb ich also extrEm positiv * wEil * es nen Ort gibt wo Ich* des gefühl hab dass meine quAlifikation anerkannt ist *3*alle die sElbstständig sind das ist ja ganz schwIerig es gIbtja nIemand mehr der ihnen Anerkennung gibt *2* also ihrekUnden mit denen haben sie halt ein * kUndenverhältnis * dielOben mich natürlich schon Auch aber das Ist nunmal speziEll* also wenn da keine tEamkollegen oder kein chEf jA der * inirgendeiner fOrm ähm: * äh: lOBt * ja: [lacht] * das ist so diefrAge wo kriegt man die Anerkennung her * und * dA habendIe halt * da war so eine art frAuenschicht die jetzt nicht immerdie unsummen an gEld kriegt * die man dann gleich verdIentja: weil das braucht ja zEit * ist interessant wo kommt dieAnerkennung her ja, dAs: * find ich ist für mi dAs wär für michein wichtiges thEma gewesen also die bestÄtigung Anerkennung* ähm: * so gehAlten zu sein * dein wEg ist in Ordnung dumachst das gUt ja so: sOlche sachen”

Durch ihr Unternehmen erhält I4 die Möglichkeit, Mitglied in einem Un-ternehmerinnennetzwerk zu sein und eine Mentorinnenposition zu beklei-den. Die Mentorinnenposition beinhaltet, dass sie einer bzw. einem MenteeAnerkennung gibt, sie_ihn positiv bestärkt und ihren_seinen beruflichenWeg begleitet. Interessant ist hier, dass I4 nicht auf diese Seite des Men-tor_innenprogramms eingeht, sondern vielmehr darstellt, inwiefern ihreeigenen Qualifikationen innerhalb des Netzwerkes anerkannt und wertge-schätzt werden („das erleb’ ich extrem positiv weil es ’nen Ort gibt, wo ichdes Gefühl hab’, dass meine Qualifikation anerkannt ist”). Die gewissermaßenunabhängige Anerkennung – da sie nicht von der Seite ihrer Kund_innen

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kommt – scheint ihr sehr wichtig zu sein und scheint sie in ihrem unterneh-merischen Selbstbewusstsein entscheidend zu bestärken („also ihre Kunden,mit denen haben sie halt ein Kundenverhältnis, die loben mich natürlichschon auch, aber das ist nunmal speziell, also wenn da keine Teamkollegenoder kein Chef ja der in irgendeiner Form lobt, ja, das ist so die Frage wokriegt man die Anerkennung her”). Die Anerkennung, die I4 im Rahmen desMentor_innenprogrammes erfährt, überträgt sie direkt auf sich als Unter-nehmerin und somit auf ihr unternehmerisches Selbstbewusstsein („also dieBestätigung (...) dein Weg ist in Ordnung, du machst das gut so”). So hat siefür sich einen Weg gefunden, sich in ihrem unternehmerischen Selbstbewusst-sein und damit einhergehend in ihrer selbstbewussten Unternehmensführungzu bestärken.

Die vier Facetten verdeutlichen, dass die Interviewten ihre Unternehmenselbstbewusst führen. Das erlernte unternehmerische Wissen und die neuangeeignete Fähigkeit, als Chefin aufzutreten, tragen dazu bei, dass dieInterviewten einen Perspektivwechsel von einer angestellt Beschäftigten zueiner Unternehmerin vollziehen. Zudem wird der Wechsel der Perspektivedadurch gestützt, dass die Interviewten sich zunehmend kompetent darinzeigen, im unternehmerischen Umfeld eine Distanz zu ihren Kund_innenund Mitarbeitenden zu wahren – u.a. hilft ihnen das dabei, selbstbewusstmit Kritik umzugehen. Darüber hinaus eröffnet das Unternehmen neueMöglichkeiten, das bereits bestehende unternehmerische Selbstbewusstseinhinsichtlich der Unternehmensführung weiter zu bestärken.

Selbstsicherheit im Berufs- und PrivatlebenDie Interviewten thematisieren, dass sie im Prozess des Unternehmerinnen-Werdens eine generelle Selbstsicherheit entwickelt haben. Diese neue Selbst-sicherheit hat nicht nur Auswirkungen auf ihre berufliche Sphäre, sondernauch auf ihr Privatleben.

Beispielhaft zeigt sich dies bei I7. Auf die Frage hin, wie sie sich alsPerson durch ihr Unternehmen verändert hat, spricht sie von einer „grenzen-lose[n] Sicherheit”:

I7, 27: „also meine sElbstsicherheit Eben nOchmal um diefrAgen nOchmal zu beAntworten, * das glAuben an mIch * (. . . )also offensIchtlich hat das äh: tatsÄchlich so ne grEnzenlose: *sIcherheit in der sAche gegeben die: die: das fundamEnt steht Ehschon da kann gAr nicht mehr was: gAr nichts mehr passIern”

I7 beschreibt hier die große Selbstsicherheit, die sie durch ihre unternehmeri-sche Selbstständigkeit entwickelt hat („also offensichtlich hat das tatsächlich

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so ’ne grenzenlose Sicherheit in der Sache gegeben”). Sie unterstreicht ihrgefestigtes unternehmerisches Selbstbewusstsein, indem sie sagt: „da kanngar nicht mehr was gar nichts mehr passieren”. Außerdem signalisiert sie,dass sich ihre Sicherheit sowohl auf ihr Privat- als auch auf ihr Berufslebenbezieht, obwohl sie die Auswirkungen nicht weiter konkretisiert.

Ein weiteres Beispiel dafür, wie sich die generelle Selbstsicherheit aufdie berufliche und die Privatsphäre auswirkt, legt I1 dar. Im Folgendenbeschreibt sie ihre persönliche Entwicklung, die mit der Gründung ihresUnternehmens einherging und die bei ihr zu einer generellen Selbstsicherheitgeführt hat:

I1, 4: „mit meiner au:sbildung im grunde hätte ich GArnichtsma:chen können weil * es ist als ob ich nIchts hätte * und ich füh-le mi:ch äh ich habe mich lange jahre * wirklich schlecht gefü:hltalso: ich habe mich so aber * ähm: mit meiner selbst:ständigentätigkei:t habe ich mEhrmals Bewiesen bekOmmen dass ichmich trotzdem sehr gut entwickeln kö äh ko:nnte das ich: ich in-formie:re mi:ch ich frage: nach * u:nd * und dass ich wahnsinnigviel geLErnt ha:be * auch vom LE:ben und jetzt hab ich keineprobleme meh:r zu sagen ich hab mein studium nicht fertig”

I1 geht zunächst darauf ein, dass sie in ihrem Heimatland eine Ausbildungbegonnen hat, die sie nicht zu Ende führte („mit meiner Ausbildung, imGrunde hätte ich gar nichts machen Können, weil es ist als ob ich nichtshätte”). Aus diesem Grund betrachtete sie sich über einen längeren Zeit-raum hinweg als defizitär („ich habe mich lange Jahre wirklich schlechtgefühlt”). Erst durch ihr Unternehmen ist es ihr gelungen, die mit der nicht-abgeschlossenen Ausbildung einhergehende Herausforderung zu bewältigen.Das Unternehmerinnen-Sein hat dazu beigetragen, dass I1 in ihrem Selbst-bewusstsein gestärkt wurde und eine generelle Selbstsicherheit entwickelnkonnte. Das Selbstbewusstsein und die damit einhergehende Selbstsicherheitgehen weit über die berufliche Sphäre hinaus („mit meiner selbstständigenTätigkeit habe ich mehrmals bewiesen bekommen, dass ich mich trotzdemsehr gut entwickeln konnte”). I1 betont, dass sie nicht nur anhand und mitihrem Unternehmen gelernt hat, sondern dadurch initiiert auch „vom Leben”(„und dass ich wahnsinnig viel gelernt habe, auch vom Leben”). Abschließendlegt sie dar, wie sich ihre Perspektive auf ihre nicht abgeschlossene Ausbil-dung verändert hat: „und jetzt habe ich keine Probleme mehr zu sagen, ichhab’ mein Studium nicht fertig”. Aufgrund ihres erfolgreichen Unternehmensscheint sie ihre damaligen Erfahrungen neu zu interpretieren. So stellt die

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Erfahrung des abgebrochenen Studiums keine Herausforderung mehr für siedar.

Zudem führt die mit dem Unternehmen einhergehende Selbstsicherheitdazu, dass die Interviewten selbstsicherer im Umgang mit anderen Menschenwerden. Besonders gut zeigt sich das am Beispiel von I1:

I1, 8: „dIESe ARbeit die v v die viele: * trEffen mit einemFrauennetzwerk * ja * und ich habe: durch diese tREffen durchdiese veranstaltung auch sehr viel SICHerheit gewOnnen (...)I1, 123: ja: ich habe mich sEhr verändert * wie gesagt ich habemich sehr viel * sehr viel sIcherheit gewonnen: ich: habe keineangst mehr vor leute zu sprechen * [lacht] * egAl also: hmm:*2* ich bin ein schÜchterner mEnsch * aber ich habe das: äh:* i: irgendwie über:wInden können *2* (...) jEtzt ich habe äh:könnte jede angela merkel [zur Weinprobe Anm. AL] kommen* ich habe @jetzt keine@ schwierigkeit (...) also ich: finde, *eine Andere beziehung zu den mEnschen also: (...) * ich bingewAchsen in jEde richtung * in jede richtung *3* ja:”

Im Rahmen ihrer unternehmerischen Selbstständigkeit engagiert sich I1 ineinem Frauennetzwerk. Die damit in Verbindung stehenden Treffen führendazu, dass sie selbstsicherer wird („durch diese Veranstaltung [habe ich] sehrviel Sicherheit gewonnen (...), ich habe mich sehr verändert”). Dadurch, dassI1 die neu erlernte Sicherheit mehrfach betont, wird deutlich, dass diesefür sie sehr relevant zu sein scheint. Ihre neu gewonnene Selbstsicherheitim Umgang mit anderen Menschen zeigt sich daran, dass sie nun keineAngst mehr hat, vor Leuten zu sprechen. Da sie unter anderem Weinprobenorganisiert, ist das Sprechen vor Menschen ein elementarer Bestandteil ihrerTätigkeit. Ihr ist es gelungen, die unternehmerische Fähigkeit zu erlernen,vor anderen Menschen selbstsicher auftreten zu können („sehr viel Sicherheitgewonnen (...) ich bin ein schüchterner Mensch aber ich habe das (...)irgendwie überwinden können”). Weiter konkretisiert sie die Veränderungen,die über die Berufswelt bzw. das rein ökonomische hinausgehen. Indemsie sagt, „ich bin gewachsen in jede Richtung, jede Richtung”, deutet siedarauf hin, dass sie sich nun in allen ihren Lebenskontexten selbstsicherbewegt. Während sie ihre anfängliche unternehmerische Herausforderung als„Unsicherheit” umschreibt, betrachtet sie diese als erfolgreiche Unternehmerinals bewältigt. I1 hat nicht nur ihre Unsicherheit überwunden, sondern ihrfrüheres Defizit scheint sie aus ihrer aktuellen Perspektive in ein Potenzialgewandelt zu haben. Sie spitzt dies zu, indem sie ihrer früheren Angst dieBehauptung gegenüberstellt: „aber jetzt ich habe könnte jede Angela Merkel

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kommen”. Sie sagt, dass sie selbst ein Treffen mit der Bundeskanzlerin nichtmehr verunsichern würde. Abschließend fasst sie ihren Wandel zusammen,indem sie auf ihren positiv veränderten Interaktionsspielraum mit anderenMenschen hinweist („also ich finde eine andere Beziehung zu den Menschen”).Durch ihre Umschreibungen unterstreicht sie ihre große Sicherheit, die sieheute hat und die sich sowohl auf ihr Berufs- als auch auf ihr Privatlebenauswirkt.

Zusammenfassend zeigt sich die Selbstsicherheit der Unternehmerinnendarin, dass sie sich in ihrer neuen Rolle als gefestigt beschreiben, was sichsowohl auf die Interpretation ihrer eigenen Persönlichkeit als auch auf ihrVerhalten gegenüber anderen auswirkt.

Selbstbewusste Verortung der Migrationsgeschichte in derBerufskompetenzEine weitere Dimension der Bedeutungsperspektive hohes unternehmerischesSelbstbewusstsein besteht darin, dass die Interviewten ihre Migrationsge-schichte als ein Potenzial deuten, das ihre berufliche Kompetenz steigert.Ein Beispiel dafür liefert I4, die über ihre Biografie reflektiert und dabei zudem Ergebnis kommt, dass ihre beruflichen Kompetenzen in ihrer Migrati-onsgeschichte verankert sind.

I4, 8: „das (...) ist so: dass * bei bEiden berUfen [ihrer vorhe-rigen Berufstätigkeit und ihrer heutigen Tätigkeit Anm. AL], *das ist interessant hab noch nie drüber nAchgedacht, * ähm: ich* eigentlich Immer jemand gewesen bin der Angefangen hat überetwas Aufzuklärn * (...) den leuten erklÄrt * was Ist denn des *und des mAch ich jetzt bei der supervision wIeder obwohl desvIel viel bekAnnter ist * (...) *also so ne übersEtzungstätigkeitzu machen und (...) das hat ganz viel mit (. . . ) meinem bIkultu-rellen hintergrund zu tun * ähm: dieses: * äh: hinEinübersetzenirgendwohin ja so: * von der Einen kutlUr in die Andere alsdas ist @glaub ich@ * dA würd ich sagen * @hab ich noch nieüberlEgt vOrher glaub ich dass@ * kann ich so: das kAnn ichso sItzen lassen ja”

I4 geht auf ihre frühere und ihre heutige Berufstätigkeit ein und scheintüber den Zusammenhang zwischen beiden zum ersten Mal bewusst zureflektieren („interessant, hab’ noch nie drüber nachgedacht”). Sie beschreibt,dass die Übereinstimmung zwischen beiden Berufen darin besteht, dass sie„angefangen hat über etwas aufzuklär’n”. Sie stellt einen Bezug zu ihrerBiografie her, wenn sie das Aufklären als Übersetzungstätigkeit beschreibt

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(„also ’ne Übersetzungstätigkeit zu machen”). Das Übersetzen zwischen zweiverschiedenen Kulturen ist eine Fähigkeit, die sie im Laufe ihrer Sozialisationerworben hat („das hat ganz viel mit meinem (...) bikulturellen Hintergrundzu tun dieses hinein übersetzen irgendwohin, so von der einen Kultur in dieandere”). Während ihrer Kindheit spielt das Übersetzen – aufgrund ihrerMigrationsgeschichte – eine wichtige Rolle in ihrer Familie. Im Rahmen ihrerberuflichen Tätigkeit ist es weiterhin so, dass Übersetzungstätigkeiten einenzentralen Stellenwert einnehmen – auch wenn sie nun nicht mehr zwischenzwei Landessprachen übersetzt, sondern über etwas „aufklärt”. Durch dasHerausstellen der Verbindung zwischen der Übersetzungstätigkeit in ihrerKindheit und der in ihrem Berufsleben verknüpft I4 ihre Berufskompetenzeng mit ihrer Migrationsgeschichte. Abschließend betont sie erneut, dasssie über diese Verbindung so noch nie reflektiert hat („hab’ ich nie überlegtvorher glaub’ ich”).

Ein weiteres Beispiel dafür, dass die Frauen ihre Migrationsgeschichteals entscheidende Grundlage für ihre beruflichen Kompetenzen deuten, zeigtsich bei I8:

I8, 2: „[Es] sind sEhr viele überrAscht wEil ich doch rElativjUng bin in der brAnche, ähm: dass da dOch rEcht viel fAchwis-sen da ist, aber auch äh: eben lEbenserfahrung da: ist (...) ichdEnk auch dass des Auch zu meinem erfOlg im berUf bEiträgt *also dieser überrAschungseffekt, ähm: man erwArtet von jungenmEnschen eigentlich nicht gAnz so vIel ähm: erfAhrungsschAtzund und wÜrd ich jetzt mal sagen, und * viellEicht auch nIchtso viel tAffheit, man brAucht auch ein gewIsses: * äh: tAffesähm: kommunikationsverhAlten, wEnn man mit fÜhrungskräf-ten zu tUn hat die so um die fÜnzig sEchzig rum sind, und ähm:seit jahrzEhnten schon in unternEhmen sind * ähm: wenn mandEnen noch was bEibringen möchte muss man schOn wIssenwIe man mit denen * äh: kOmmuniziert wie man Argumentiertund halt Auch ähm: sich dArstellt und des wIssen auch * ver-mIttelt ja: Ohne dass sie sich auf den schlIps getreten fühlen* und ich hAb also d mein grOßes talEnt ist wÜrd ich jetztmal behAupten dIplomatie: * (...) also: zuge ich hab gelErnt, *wEnn verschIedene wErte * dA sind Erstmal die zu akzeptIeren,ähm: dAnn auch zu gUcken: mIch in den Anderen z hinEin zuversEtzen also ich hab ne sEhr hohe empathIe dAdurch * dAsist so ne stÄrke die ich entwIckelt hab dUrch diese sItuation* und ähm: dAnn auch mich diplomAtisch sO auszudrÜcken

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6.4 Lernphase Vier: Erlerntes Unternehmerinnen-Sein 203

dass ich jetzt nicht jEde mIene * in die lUft jag, [lacht] sOndernhalt auch erkEnne wO die mIenen lIegen also ich: dEnke dashat mich schOn * dA * hm: des hAb ich meiner hErkunft zuverdank oder der situatiOn dass wir nach dEutsch dass meineEltern nach dEutschland gekOmmen sind und dAss wir hierAufgewachsen sind”

I8 geht zunächst auf ihr Auftreten als Unternehmensberaterin ein („sind sehrviele überrascht, weil ich doch relativ jung bin”). Als Kompetenzen, die ihrenErfolg bedingen, benennt sie ihren Erfahrungsschatz, ihre „Taffheit”, ihr Kom-munikationsverhalten, sowie ihre Diplomatie. Das sind aus ihrer Perspektivegenau die Kompetenzen, mit denen sie sich entscheidend von Gleichaltrigenunterscheidet; sie spricht davon, dass sie einen „Überraschungseffekt” beiKund_innen auslöst („dieser Überraschungseffekt (...) man erwartet von jun-gen Menschen eigentlich nicht ganz so viel Erfahrungsschatz, (...) Taffheit”).Ihre Kompetenzen bringt sie mit ihrer Migrationsgeschichte in Verbindung.In ihre Tätigkeit als Unternehmensberaterin fließen Kompetenzen ein, die siewährend ihrer Sozialisation erworben hat, welche wiederum stark von ihrerMigrationsgeschichte geprägt war. („hab’ ich meiner Herkunft zu verdankenoder der Situation, dass (...) meine Eltern nach Deutschland gekommensind und dass wir hier aufgewachsen sind”). Somit kann zusammenfassendfestgehalten werden, dass I8 aus ihrer heutigen Perspektive als erfolgreicheUnternehmerin ihre Migrationsgeschichte als Ursprung dafür sieht, dasssie die entscheidenden Potenziale für ihre unternehmerische Selbstständig-keit entfalten konnte. Sie verankert ihre Berufskompetenz und den damiteinhergehenden Erfolg in ihrer Migrationsgeschichte.

Ein drittes Beispiel dafür, dass die Unternehmerinnen ihre eigene Mi-grationsgeschichte als Potenzial für ihre Unternehmen interpretieren, liefertI4. Sie macht die Erfahrung, dass ihr aufgrund ihrer MigrationsgeschichteKompetenzen zugesprochen werden:

I4, 41: „das [der Doppelnachname ohne Bindestrich Anm. AL]ist ein türöffner geworden (...) Erstmal sowas war (...) das vIeles* vIeles schwierig gemAcht hat, * und auch Immer noch ja (...)ich: kOmm zum Arzt ich geb denen kÄrtchen die kUcken unterFrau B. nach die fInden nIemand ja, * ähm: * dann kUcken siedann sag ich nE das ist ein dOppelname dann machen sie esmit bInderstrich dann finden sies Auch nicht weil der compUterdes halt * nicht lesen konnte also ich hab das tÄglich es istwIrklich ein tÄgliches geschÄft * (...) also das ist wIrklich ichhab Immerzu damit Ärger * Aber (...) ich: hab ein wEg gefunden

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wie des zum tÜröffner geworden ist und dAs * dA profitier ichvon ja: * fast wie die lEute sagen AH ihren namen hab ich schongehört * ähm: * dAs ist ganz gut [lacht] * und dAs ist auch mitmeiner hErkunft so * also ich glaube hEute ist es tatsächlich sodass * vIele leute es gUt finden dass ich: hAlb spAnierin bin * soja dass es interessAnt ist oder * mir Interkulturelle kompetEnzzugesprochen wird oder Irgendwie sowas glAubhaftigkei:t inbezUg auf solche frAgen oder so * dAs sind zusprEchungen dieähm: nÜtzlich sind hEute *2* die: äh: des gerAde auch wasmit dem gesEllschaftswandel auch zu tun hat * dAs war sicherfrüher anders also * ja des war ganz sIcher anders früher ja”

I4 geht hier zunächst darauf ein, dass ihr spanischer Doppelnachname, derohne Bindestrich geschrieben wird, in ihrem privaten Alltag häufig eineHerausforderung darstellt („erstmal sowas war (...) das vieles vieles schwieriggemacht hat”). Als Unternehmerin kann sie diese Herausforderung jedoch alsPotenzial für ihr Unternehmen nutzen, da gerade der schwierige Nachnameeinen Wiedererkennungseffekt hat („ein Türöffner geworden ist”). Danebenlegt I4 dar, dass sie ihre Migrationsgeschichte von Interaktionspartner_innenals positives Merkmal gespiegelt bekommt („viele Leute es gut finden, dassich halb Spanierin bin”). Aufgrund der nichtdeutschen Herkunft ihres Vaterswird ihr interkulturelle Kompetenz zugesprochen („mir interkulturelle Kom-petenz zugesprochen wird oder irgendwie sowas Glaubhaftigkeit in Bezugauf solche Fragen oder so”). Sie wertet diese Zusprechungen insofern kri-tisch, als dass sie hier einen gesellschaftlichen Wandel festmacht und davonausgeht, dass das „früher anders” gewesen ist. Die positive Interpretationihrer Migrationsgeschichte erfolgt hier gewissermaßen durch einen Spiegelder Gesellschaft.

Es zeigt sich zusammenfassend, wie die Interviewten ihre Migrationsge-schichte als entscheidendes Merkmal in ihrer Berufskompetenz verorten. Sieheben ihre Migrationsgeschichte einerseits selbst als positive Besonderheithervor und andererseits wird sie ihnen von anderen als Potenzial gespiegelt.So kommt es dazu, dass die Unternehmerinnen ihre Migrationsgeschichte imZusammenhang mit ihren unternehmerischen Tätigkeit positiv interpretieren.

6.4.2 Unternehmerischer AnspruchIn der Phase des erlernten Unternehmerinnen-Seins zeigt sich, dass sich derhohe Eigenanspruch zu einem umfassenden unternehmerischen Anspruchentwickelt hat. Anhand der Daten lässt sich der unternehmerische Anspruch

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in drei Dimensionen aufgliedern: Den Anspruch an das unternehmerischeSelbst, die Ansprüche an das Produkt und das Unternehmen sowie dieAnsprüche an (potenzielle) Mitarbeitende.

Anspruch an das unternehmerische SelbstIn den Interviews sind die Frauen sehr detailliert darauf eingegangen, wel-chen Anspruch sie an sich selbst als Unternehmerinnen stellen. Es ließensich zwei Facetten dafür identifizieren, wie die Interviewten ihren Eigenan-spruch behandeln. Die Frauen leiten ihren Eigenanspruch aus biografischenHerausforderungen ab, die sie bewältigt haben und bestimmen diesen auf-grund von Idealvorstellungen, die sie für die Zusammenarbeit mit anderenMenschen (Mitarbeitenden und Lieferant_innen) formulieren und die aufihren Geschlechtskonstruktionen zum Frau-Sein basieren.

Ein Beispiel für die erste Facette, den Eigenanspruch aufgrund vonbiografischen Herausforderungen zu bestimmen, die bereits bewältigt wurden,liefert I4. Sie hat die biografische Herausforderung bewältigt, dass sie überkeine privaten Netzwerke verfügte, die sie bei der Unternehmensgründungunterstützten. Daraufhin entwickelt sie den Anspruch, in professionellenNetzwerken aktiv zu sein.

I4, 14: „durch die migratiOn, * ähm: ein teil von: * vonwUrzel und stabilitÄt abge: * schnItten *2* ähm: * (...) ich weiß* Einfach da gibts ne rIesenfamilie und wEiß nicht wo die sind.* (...)* das ist wirklich durch migratiO:n * Aufgelöst (...) * dAdenk ich manchmal da fEhlt mir was * so: da gibts wEnig äh:stÜtze von den wUrzeln * und ähm: * das: * hab ich sozusagenübernOmmen * (...) immer mein gAnz @Eigenes zu machenso:@ * aber das macht das leben sehr Anstrengend ja, * und dabin ich sehr frOh dass ich das verändert habe *2* I4, 34: (...)ich hab mir eine kutlUrtechnik an also ich hab mir sozusagensolche E:rArbeitet ja diese wUrzeln * zu hAlten und und zunUtzen * "die wurzeln die mir ( )" * ähm: * "ja: kAnn man" *und Ich denke es hat wirk dAs glaub ich wIrklich hat * sEhrsehr viel mit migratiOn zu tun * ähm: * "dass ich das lAngezeit nicht hatte" * weil einfach dieses: Eingebettet sein in eine:* grUppe, * das fEhlt”

I4 fehlen zunächst private Netzwerke, was sie in einen direkten Zusam-menhang mit ihrer Migrationsgeschichte stellt und somit als biografischeHerausforderung ansieht („durch die Migration (...) Wurzel und Stabilitätabgeschnitten (...) da denk ich manchmal da fehlt mir was”). Diese biografi-

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sche Herausforderung hatte sie in ihr Selbstverständnis integriert und auchauf ihr Unternehmen übertragen. Zu Beginn ihrer Unternehmung war sieder Meinung, auch ohne Netzwerke auskommen zu können („das hab ichsozusagen übernommen (...) immer mein ganz Eigenes zu machen”). Siestellt allerdings recht bald fest, dass das Arbeiten ganz ohne Netzwerke „sehranstrengend” ist („aber das macht das Leben sehr anstrengend”). Darauf-hin beginnt sie, ihre Überzeugung, dass sie keine Netzwerke benötigt, zuhinterfragen. Rückblickend stellt sie fest, dass ihre ursprünglich bestehendeÜberzeugung, keine Netzwerke zu benötigen, nicht zu ihrem heutigen un-ternehmerischen Selbstverständnis passt („da bin ich sehr froh, dass ich dasverändert habe”). Sie hat diese Überzeugung geändert und sich durch ihrUnternehmen professionelle Netzwerke geschaffen. Es gehört zum Bestand-teil ihres Eigenanspruchs, diese Netzwerke zu erhalten („ich hab mir eineKulturtechnik (...) erarbeitet, ja, diese Wurzeln zu halten und zu nutzen”).Die veränderte unternehmerische Perspektive von I4 wird hier deutlich.

Ein Beispiel für die Facette, den Anspruch an das unternehmerischeSelbst anhand von eigenen Idealvorstellungen zu konkretisieren, liefert I2.Sie beschreibt ihre Idealvorstellungen für die Zusammenarbeit mit anderenMenschen.

I2, 62: „ist es nUr für mich eine abgeta:n die arbeit abgetansein sOll, * solang es compUter ist oder noch irgendwelchedokumEnte mUss es so sein [lacht] * Aber wenn ich mit denmEnschen arbeite muss es was Anderes sein * ich kenne jEden inder sch in mEiner schule JE:den * von jEdem kenn ich schIcksa:l”

Das Zitat zeigt, dass laut I2 die Zusammenarbeit mit Menschen zwischen-menschliche Fähigkeiten erfordert („solang’ es Computer ist oder noch ir-gendwelche Dokumente, muss es so sein, aber wenn ich mit den Menschenarbeite, muss es was Anderes sein”). Das ist ihre Überzeugung, in der ihrpersönliches Verhältnis zu allen ihren Mitarbeitenden begründet ist („vonjedem kenn’ ich Schicksal”). So tritt in ihrem unternehmerischen Anspruchan sich selbst das Zwischenmenschliche in den Vordergrund.

Ein weiteres Beispiel dafür, den Eigenanspruch aufgrund von eigenenIdealen zur Zusammenarbeit mit anderen Menschen zu beschreiben, zeigtsich bei I1:

I1, 68: „dass wir vIele menschen glÜcklich machen können[lacht] * DAS wäre mein wunsch * ja: *5* vom vom: arbeitsplÄt-ze * ja: * das wäre: * weil ich weiß gAnz genau dass das: * äh:* vIEle leute betreffen wü:rde * sowOhl meine frEunde die in

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itAlien si:nd * als auch hIEr: * leute die: * auf der suche vonArbeit sind viellEIcht auch Ausländer wie ICH”

Hier formuliert I1 ihre Ansprüche in einer Zukunftsvision; zunächst formuliertsie allgemein, dass sie „viele Menschen glücklich” machen möchte. Sie führtdies weiter aus, indem sie darauf eingeht, dass sie gerne Arbeitgeberin wäre(„das wäre meine Wunsch ja (...) Arbeitsplätze”). Die mögliche Schaffung vonArbeitsplätzen assoziiert sie nicht mit ihrem Erfolg in der beruflichen Sphäre,sondern im Vordergrund stehen hier für sie arbeitssuchende Menschen. Siegeht von einer allgemeinen („Leute, die auf der Suche von Arbeit sind”)zu einer personalisierten Beschreibung über, in der sie in erster Linie ihrsoziales Netzwerk in ihrem Herkunftsland Italien, sowie andere Ausländer inDeutschland erwähnt („Arbeitsplätze (...) viele Leute betreffen würde, sowohlmeine Freunde die in Italien sind als auch hier Leute, die auf der Suche nachArbeit sind, vielleicht Ausländer wie ich”). Als Arbeitgeberin würde sie an-deren Menschen die Möglichkeit eröffnen, eigenes Einkommen zu generieren,so wie sie sich dies in der ersten Lernphase für sich selbst gewünscht hat.Sie möchte ihre eigenen Erfahrungen nutzen und Möglichkeiten für andereMenschen schaffen. Insgesamt zeigt sich, dass für ihre neue unternehmerischePerspektive Reflexionen über ihre eigene Migrationsgeschichte sowie ihreHerkunft zentral sind.

Der Anspruch der Interviewten an ihr unternehmerisches Selbst wirdzudem auch durch Ideale zur Geschlechtskonstruktion zum Thema Frau-Seinbestimmt. Dies zeigt sich beispielhaft an dem unternehmerischen Eigen-anspruch, den I1 formuliert, der deutlich über unternehmerische Fragenhinausgeht. Sie berichtet von ihrer jährlichen Teilnahme an einer Demonstra-tion zur Gleichstellung von Frauen und Männern hinsichtlich der Gehälter.

I1, 8: „ ja: wisse sie ja dass [eine Frau, Anm. AL] EIgentlichja * durchschnittlich 30% weniger verdie:nt * als MÄnne:r inder gleiche: JOB, also: viele wissen das nicht also ich bin sehr *AUch wenn das EIgentlich * mich nicht kÜmmern würde weilich als selbstständige: * brauche ich kein geha:lt * aber ich * ichgeh fast Immer hI:n und das mAch ich weil: * weil ich denkedas: sind sache die, *2* die: die geHÖRen äh dazu ganz einfach*we:r die mÖglichkeit hat sollte das machen. * auch wenn sienicht * betrOffen sind”

Als Unternehmerin ist I1 von den niedrigeren Gehältern, die Frauen erhalten,eigentlich nicht betroffen („auch wenn das eigentlich mich nicht kümmernwürde, weil ich als Selbstständige, brauch’ ich kein Gehalt”). Dennoch ist es

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für sie selbstverständlich, am Frauentag teilzunehmen („ich geh’ fast immerhin (...), weil ich denke, das sind Sache die (...) gehören dazu, ganz einfach”).Abschließend betont sie, dass man sich bürgerschaftlich engagieren sollte,sofern man die Möglichkeit dazu hatsie nicht betroffen sind”). Daran, dass sichI1 auch für die Gehälter abhängig beschäftigter Frauen einsetzt, zeigt sich,dass für ihren unternehmerischen Eigenanspruch Geschlechtskonstruktionenzentral sind, die weit über berufliche Fragestellungen, die ihr Unternehmenbetreffen, hinausgehen.

Zusammenfassend wird deutlich, dass der unternehmerische Eigenan-spruch der Interviewten in Phase Vier eng mit daraus resultierenden Auswir-kungen auf andere Menschen verbunden ist. Die anderen Menschen stehenin direktem, entferntem oder gar keinem Zusammenhang mit dem Unter-nehmen und stammen nicht aus dem direkten Umfeld der Interviewten. Dieursprünglich sehr auf das individuelle berufliche Umfeld sowie das direkteprivate Umfeld (Phase Eins und Zwei) bezogene Perspektive hat sich ver-ändert und geweitet. Einhergehend damit, dass ursprüngliche Ansprüchean die inhaltliche Ausgestaltung des Beruflichen durch das Unternehmenerfüllt sind, erweitern die Interviewten ihre Perspektiven und nehmen andereMenschen mit in den Blick.

Ansprüche an das Produkt und das UnternehmenDie Dimension Ansprüche an das Unternehmensprodukt weist zwei unter-schiedliche Facetten auf. Zum einen thematisieren die Frauen Ansprüche andie Qualität ihrer Produkte und zum anderen sprechen sie über generelleAnsprüche, die sie an ihr Unternehmen stellen.

Für die Facette der hohen Ansprüche an die Produktqualität steht dasfolgende Beispiel von I1. Sie beschreibt ihren Anspruch an die Qualität ihrerUnternehmensprodukte, indem sie begründet, woran sie sich bei der Auswahlihrer Produzent_innen orientiert:

I1, 31: Interviewerin: „u:nd nach welchen kritErien haben siesich für ihre produzEnten entschieden”

I1, 32: „oh: qualität * qualitÄt, * ähm: mEnschliche ähm:* verbundenhEIt * also ich muss mich verstEhen könne, (...)also dass dass lEute, * wIrklich * sich bemÜH:e das beste *2*das bessere produkt zu: * zu gEben, * das beste produkt zugeben das * das hab ich Auch äh: * U:nd äh: ich habe Immerso ich habe verSCHIEdene produzEnten von * natürlich vonjEde: Art, * von jede WA:re und ähm *2* und selbst wenn ichmit eine zuFRIEden wa:r * hab ich Immer gesu:cht vielleichtgibt es nOch was besseres * ( ) * es gIbt * bestImmte * wAre

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die: * so: * äh: ja produzEnten gewEchselt habe weil ich Immereine bessere form gefUnden ha:be*2* ja:”

Auf die Frage hin, nach welchen Kriterien I1 ihre Produzent_innen auswählt,nennt sie die „Qualität” und die „menschliche Verbundenheit” mit ihrenProduzent_innen. Obwohl es hier hauptsächlich um die Qualität der Waregeht, thematisiert I1 auch, wie gemäß ihrer Idealvorstellung die Persönlichkeitihrer Produzent_innen beschaffen sein sollte („ich muss mich verstehenkönnen”). Allerdings führt sie das nicht weiter aus, sondern geht erneut aufdie Ware ein und führt so ihren Anspruch an ihre Unternehmensprodukteweiter aus („dass Leute wirklich sich bemühen, das beste, das bessere Produktzu geben, das beste Produkt zu geben”). Sie spricht in Superlativen, undmacht damit deutlich, dass sie das „beste” Produkt will. Obwohl sie einenmenschlichen Anspruch zu Beginn kurz erwähnt, resultiert für sie daraus nichtautomatisch eine dauerhafte Bindung an einzelne Produzent_innen („ichhabe immer (...) verschiedene Produzenten (...) und selbst wenn ich mit einezufrieden war, hab’ ich immer gesucht, vielleicht gibt es noch was besseres”).Dadurch unterstreicht sie ihren hohen Anspruch an die Produktqualität. AlsUnternehmerin weiß sie, wie wichtig ein hoher Qualitätsstandard ist undneben der erwähnten „menschlichen Verbundenheit” – die auf ihre Idealehinweist – scheint der Anspruch an die Qualität ihrer Produkte ihr Handelnentscheidend zu prägen („ ja Produzenten gewechselt habe, weil ich immereine bessere Form gefunden habe”).

Neben den hohen Ansprüchen an die Produktqualität besteht die zweiteFacette in generellen Ansprüchen an das Unternehmen. Ein Beispiel dafürliefert I1:

I1, 4: „Ein Unterschied sEtzen wo:llte ähm: mit der qualitÄt,* weil ich als italiEnerin finde ich dass: itAlien * sehr schlechtvertREten ist @manchmA:l@"

I1 betont auf spezifische Art und Weise die Qualität ihrer Produkte undformuliert damit einen generellen Anspruch an ihr Unternehmen, der überdie eigentliche Produktqualität hinausgeht („ein Unterschied setzen wolltemit der Qualität”). Bei ihren Produkten handelt es sich um Waren ausihrem Herkunftsland Italien. In der weiteren Erklärung unterstreicht sie ihreIdentifikation mit ihrem Herkunftsland („ich als Italienerin finde ich, dassItalien sehr schlecht vertreten ist”). Die wirtschaftlichen Aspekte rückendamit in den Hintergrund, im Vordergrund steht ihre Vorstellung, ihr Hei-matland mithilfe ihres Unternehmens gut zu vertreten. So integriert sie ihreMigrationsgeschichte in ihren Anspruch an ihr Unternehmen. Es geht I1

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also nicht nur um die hohe Qualität allgemein, sondern darum, dass sie mitihrem Unternehmen ihr Herkunftsland positiv repräsentiert. So sieht sie inihrem Unternehmen eine Art gesellschaftlichen Auftrag gegenüber ihremHerkunftsland, der mit ihrer Rolle als Unternehmerin einhergeht.

Ein weiteres Beispiel für einen generellen Anspruch an das Unternehmen,der über Qualitätsfragen hinsichtlich des Produktes hinausgeht, zeigt sichbei I1:

I1, 2: „ich möchte was GEben also: *2* und ich habe immermit sehr sehr viele idealen * gearbeitet * also jede gast von mirzum beispiel * bekommt sehr viel informatio:nen übe:r die häuich vermiete nicht nur das haus so und das ist äh: * natürlichwIchtig für mICH: aber * meine gäste haben * sehr viele Infosf über über das territO:rium un übe:r *3* über die:: alles wasda unten zu unterneh:men ist * an besichtigungen und ich *ich * jedes ja:hr wenn ich äh: in sardinien bin sAmmel ich auchmateriA:l und ich sage also ich bin touristenbüro: und ich habe* e also: die kennen mi:ch und ich lasse mi:r broschüre schickendamit ich die verteilen kann. * u:nd meine GÄste informierenkann”

Hinsichtlich ihres Unternehmens stellt I1 fest „ich möchte was geben”, wassie damit verbindet, dass sie „immer mit sehr sehr vielen Idealen gearbei-tet” hat. Sie beschreibt ihren generellen Anspruch an ihr Unternehmen undbringt diesen mit ihrem hohen Engagement in Verbindung. Bei ihrem Un-ternehmensprodukt handelt es sich um die Vermietung von Ferienhäusern,allerdings übersteigt ihr genereller Anspruch an ihr Unternehmen die bloßeVermietung („ich vermiete nicht nur das Haus”). Dies macht sie deutlich,indem sie darauf eingeht, dass sie ihre Kund_innen mit weitergehendenInformationen versorgt und ihr Unternehmen auch als „Touristenbüro” be-zeichnet. Da sich die Ferienhäuser in ihrem Herkunftsland befinden, kann dieAusdrucksweise „Touristenbüro” als Hinweis auf ihre Verbindung zu ihremHerkunftsland interpretiert werden. Dadurch, dass sie ihr Unternehmen alsTouristenbüro ausweist, rückt sie sich in die Rolle einer Expertin für ihr Her-kunftsland, die die Verantwortung für eine positive Darstellung des Landesübernimmt. Der wirtschaftliche Erfolg steht bei diesem hohen Engagementnicht im Vordergrund und ihre „Ideale”, die sich auf die Repräsentationihres Herkunftslandes beziehen, kommen in ihrer neuen unternehmerischenPerspektive zur Geltung.

Zusammenfassend wird deutlich, dass die Interviewten sowohl Ansprüchean ihr Produkt als auch generelle Ansprüche an ihr Unternehmen stellen, die

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weit über die Produktqualität hinausgehen. Sie reflektieren diese vor allemvor dem Hintergrund ihrer Migrationsgeschichte.

Ansprüche an (potenzielle) MitarbeitendeNeben den bereits genannten Dimensionen der Bedeutungsperspektive unter-nehmerischer Anspruch haben sich in der Phase des erlernten Unternehmer-innen-Seins auch die Ansprüche der Interviewten an ihre (potenziellen)Mitarbeitenden verändert. In den vorangegangenen Phasen waren die An-sprüche sehr nah am Unternehmen und am Unternehmensprodukt orientiert.Nun wirkt sich die erweiterte Perspektive der Interviewten auf die Ansprü-che an (potenzielle) Mitarbeitende dahingehend aus, dass sie von ihrenMitarbeitenden nicht nur erwarten, ihrer Arbeit gerecht zu werden. Darüberhinaus haben sie z.B. auch die Erwartung, dass die Mitarbeitenden ihnenMissstände in der zwischenmenschlichen Zusammenarbeit kommunizieren.Auf diese Weise gehen die Ansprüche an die Mitarbeitenden über derenreine Tätigkeitsausübung hinaus. In die Formulierung der Ansprüche fließenSelbstreflexionen der Interviewten mit ein.

Ein Beispiel für die Ansprüche an ihre Mitarbeitenden, die sich nichtnur auf die Ausübung der beruflichen Tätigkeit beziehen, beschreibt I6. Sieerwartet offene Rückmeldungen von ihren Mitarbeitenden:

I6, 118: „Auch kritik mIr zu äußern ich mach ja Auch fEhler* ist mir Auch wichtig dass sie mir sAgen ich fAnd des jetztgArnicht so toll, * und des dA versuch ich Eigentlich des schnellzu lÖsen * zu sagen OK * hIer gibts problEme was Ist es”

Das Fehlerbewusstsein von I6 bildet einen inhärenten Bestandteil ihres un-ternehmerischen Anspruchs („ich mach ja auch Fehler”). Darauf basierendformuliert I6 die Erwartung an ihre Mitarbeitenden, offen zu kommunizieren,wenn sie das Verhalten von ihr als fehlerhaft wahrnehmen („auch Kritik mirzu äußern (...) ist mir auch wichtig dass sie mir sagen ich fand des jetztgar nicht so toll”). I6 hat im Rahmen ihrer unternehmerischen Perspektiveeine Anspruchshaltung an ihre Mitarbeitenden entwickelt, die über derenreine berufliche Tätigkeit hinausgeht. Sie nimmt ihre Mitarbeitenden mitin die Verantwortung, die Arbeitsverhältnisse konstruktiv mitzugestalten,indem sie von ihnen erwartet, Kritik zu kommunizieren („und des da versuchich eigentlich des schnell zu lösen”). Der Einbezug der Mitarbeitenden indie Gestaltung der Arbeitsverhältnisse kann ein Hinweis darauf sein, dassdie Interviewten ihre bisherigen Erfahrungen aufgrund ihrer verändertenunternehmerischen Perspektive neu interpretieren: Die Interviewten, dieehemals abhängig beschäftigt waren, bringen die Erfahrung mit, dass ihnen

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in ihren ehemaligen Arbeitsverhältnissen keine Möglichkeiten zur Mitgestal-tung eingeräumt wurden, weshalb sie sich in diesen nicht wohlfühlten. Diesscheint sich nun in ihrem Anspruch an ihre Mitarbeitenden widerzuspiegeln.Sie erwarten von ihren Mitarbeitenden, dass diese sich konstruktiv an derGestaltung der Arbeitszusammenhänge beteiligen.

Ein weiteres Beispiel dafür, dass der Anspruch an potenzielle Mitarbei-tende über deren reine Tätigkeitsausübung hinausgeht, liefert I7. Anhandihrer Beschreibung ihrer Erwartungen an potenzielle Mitarbeitende zeigtsich – auf zugespitzte Weise – ihr unternehmerisches Selbstbewusstsein. Sienennt Erwartungen, die nicht erfüllbar sind, und begründet so, warum sieohne Mitarbeitende tätig ist:

I7, 31: „die [eine potenzielle Mitarbeiterin, Anm. AL] sollschOn ihren Eigenen weg * fInden und nIcht mIch kopIerensie soll Einfach sEhr korrEkt Arbeiten * sie soll dAs was siesprIcht auch sElber * zEigen wenn jEmand sie betrAchtet *Und ich bin auch überzEugt dass ich so mEnschen fInden werdedie sEhr sehr * jA: zIelstrebig auch dieser sAche nAchgehn, ichfänds sEltsam wenn diese persOn nicht Irgendwann * schlAugenUg ist * zu sagen * ich Arbeit nicht mehr für die I7 * ichmAch mich Irgendwann sElbstständig * also des: wÜrd ich: mirwÜnschen von der persOn sonst hät ich nicht die rIchtige ander hAnd * es müsst ne stArke person sein, und jEtzt kommtbei mIr der konflIkt dass ja dann nochmal von vOrne anfang nenEue persOn such, * äh: die wIeder Ausbilde und so wEiter ichsEh da kein lAnd * (. . . ) des ist mir zUviel Aufwand *4* unddes hat auch funktionIert also ich kOnnte mein honorArsatzfAst verdOppeln, * Innerhalb von sEchs jAhren und des fIndich beAchtlich also ndOppelten sAtz * des find ich gUt”

I7 scheint ihren Eigenanspruch sowie ihr unternehmerisches Selbstbewusstseingewissermaßen auf potenzielle Mitarbeitende zu übertragen. Ihre Begrün-dung, warum sie keine Mitarbeitenden beschäftigt beruht darauf, dass siedavon ausgeht, dass ihre „richtige” Mitarbeiterin an den Punkt kommenmüsste, sich ebenfalls selbstständig zu machen („schlau genug ist zu sagen,(...) ich mach mich irgendwann selbstständig”). Für I7 würde das bedeuten,dass sie sich wieder eine neue Mitarbeiterin suchen müsste („nochmal vonvorne anfang’, ’ne neue Person such’, die wieder ausbilde”). Obwohl die Ex-pansion ihres Unternehmens an ihrem Anspruch an potenzielle Mitarbeitendescheitert, nimmt sie ihn nicht als kritisch wahr. Vielmehr bestärkt sie sich inder neuen Perspektive ihres unternehmerischen Eigenanspruchs, indem sie

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abschließend auf ihren Erfolg eingeht („Honorarsatz fast verdoppeln”), densie auch ohne Mitarbeitende hat; so ist ihr unternehmerischer Eigenanspruchnur auf sie selbst bezogen.

Zusammenfassend zeigt sich, dass die Interviewten im Hinblick auf ihrenunternehmerischen Anspruch eine erweiterte Perspektive entwickelt haben,die die berufliche Sphäre übersteigt und in der ihre Ideale zur Geltungkommen. Die Ideale der Interviewten werden beispielhaft deutlich, wenn siesagen, dass sie Arbeitsplätze für Ausländer_innen schaffen möchten oderwenn sie sich für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern im Hinblickauf Gehälter einsetzen. Für die Ideale spielen sowohl die Migrationsgeschichteals auch das Frau-Sein eine Rolle.

6.4.3 Unternehmerische VerantwortungIn der Phase des erlernten Unternehmerinnen-Seins ist das zentrale Anliegender ursprünglichen beruflichen Eigenverantwortung, das darin bestand, dassdie Interviewten sich selbst finanzieren wollen, in den Hintergrund getreten.Durch ihre erfolgreichen Unternehmen ist die finanzielle Situation der Frauengesichert. Aufgrund dessen treten im Rahmen ihrer neu herausgebildetenunternehmerischen Verantwortung ihre eigenen Ideale in den Vordergrund.

Die neue Bedeutungsperspektive unternehmerische Verantwortung be-schreibe ich anhand von vier Dimensionen: Zunächst gehe ich auf die Ei-genverantwortung und damit einhergehende Reflexionen zu Deutschlandein. Dann lege ich die veränderte Rolle des Einkommens dar. Daraufhinillustriere ich die Fremdverantwortung für Mitarbeitende. Abschließend geheich darauf ein, dass die Frauen auch bürgerschaftliche Verantwortung über-nehmen, indem sie sich für die gesellschaftliche Teilhabe anderer Menschenin Deutschland sowie für einen gesellschaftlichen und kulturellen Wandel inihren Herkunftsländern einsetzen.

Eigenverantwortung – reflektierte Sichtweise auf das deutscheSystemWährend die Interviewten mit ihrer Eigenverantwortung in den vorange-gangenen Phasen sehr auf sich selbst und ihr direktes Umfeld fokussiertsind, nehmen sie nun den deutschen Staat in den Blick und reflektieren überMenschen, die einer Eigenverantwortung – die für sie persönlich eine hoheRelevanz besitzt – nicht nachkommen (können).

Ihre reflektierte Sichtweise auf das deutsche System weist zwei Facettenauf: Die Interviewten kritisieren zum einen das wohlfahrtsstaatliche System,

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und zum anderen kritisieren sie Personen, die sich weigern, für sich selbstVerantwortung zu übernehmen.

Eine Systemkritik äußert beispielhaft I1, indem sie über Konsequenzendes deutschen wohlfahrtsstaatlichen Systems reflektiert:

I1, 38: „es [das Gefühl des eingebunden-Seins in der deutschenGesellschaft Anm. AL] hat sich total verändert * ähm: *3* na-tÜrlich es ist auch eine verantwOrtung gewAchsen * es ist eineverantwOrtung gewachsen aber, * die mEnschEn mÜssen lernenverantwO:rtung zu übernehmen *(...) ich habe dAmals [als ichvor 25 Jahren nach D. kam Anm. AL] von diese WOh:ngeldgehö:rt * u:nd ähm: *2* soziAlhI:lfe: * Alle solche: * solche un-terstÜtzung die es itAlien überhAupt nicht * ga:b (. . . ) das warmein Erster geda:nke dass die mEnschen * weniger verantwOr-tung für sich sELBst, übernehmen * weil sie wISSen * ah: wirkönnen uns *2* verlASSEN, dass wenn wir in schwIERIgkeitekommen der staat uns hilft * auch wenn ihr sagt is GUT, * aufder andere seite bedeutet AUch * dass die menschen vielleichtwEniger kämpfen (. . . ) und das hat mir nIcht gefa:llen * dochich habe, * natÜrlich ist gU:t in einem sozialstaat zu leben wosI:cherheiten gibt aber man muss Immer sehn * äh dass auchwas anderes bedEutet *2* diese sicherheit es ist * nIcht nurpOsitiv, *3* es ist nicht nur positiv * sEhn wir jetzt * die lEutedie hartz vIEr in de:r drItte generatiOn sind *2* das ist trAurig* es ist sEhr trAurig * und sie werden nie * nIEmals rAuskommen * weil sie nUr DAS können *4* und deswegen denkeich dass äh: * noch mEHr jEtzt * diese verantwOrtungsgefühl *äh: hat sich entwIckelt * ich hoffe dass Ich: bIn für mich sElbstverantwortlich:”

Hinsichtlich ihrer eigenen Integration stellt I1 zunächst fest, dass ihre Ver-antwortung einhergehend mit ihrem Unternehmen gewachsen ist („natürliches ist auch eine Verantwortung gewachsen es ist eine Verantwortung gewach-sen”). Sie grenzt sich im Folgenden von anderen ab, die keine Verantwortungübernehmen, indem sie zusammenfasst „die Menschen müssen lernen, Verant-wortung zu übernehmen”. Mit dieser Aussage stellt I1 fest, dass andere nochvor der Herausforderung stehen, Verantwortung zu übernehmen. Sie führtdas weiter aus, indem sie auf den deutschen Sozialstaat eingeht. Sozialstaat-liche Strukturen kannte sie nicht, bevor sie nach Deutschland immigrierte.Sie stellt kritisch negative Auswirkungen des wohlfahrtsstaatlichen Systemsauf das Verantwortungsgefühl von Individuen heraus („das bringt (...), dass

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6.4 Lernphase Vier: Erlerntes Unternehmerinnen-Sein 215

die Menschen weniger Verantwortung für sich selbst übernehmen, (...) dieseSicherheit ist nicht nur positiv”). Durch ihre unternehmerische Selbstständig-keit ist es I1 möglich, für sich selbst finanzielle Verantwortung zu übernehmen.Sie grenzt sich von Menschen ab, die dazu nicht in der Lage sind und finan-zielle Unterstützung durch den Staat beziehen. Ihre kritische Einstellunggegenüber sozialstaatlichen Strukturen bedingt, dass sie ihr Verantwortungs-gefühl durch ihr Unternehmen weiterentwickelt hat („und deswegen denkeich, dass (...) noch mehr jetzt diese Verantwortungsgefühl hat sich entwickelt(...) ich hoffe, dass ich bin für mich selbst verantwortlich”). Das Beispiel vonI1 zeigt, dass die Frauen nicht nur für sich selbst verantwortlich sein wol-len, sondern dass mit ihrer neuen Bedeutungsperspektive unternehmerischeVerantwortung auch eine Systemkritik einhergeht.

Beide Facetten hinsichtlich der reflektierten Sichtweise auf das deutscheSystem, die sowohl eine Systemkritik als auch eine Kritik an Individuenbeinhalten, werden im nachfolgenden Beispiel deutlich:

I2, 38: „ich habe sEhr oft den leuten [ihren Kund_innen, Anm.AL] gesagt du: du: * du hattest in russland auch gar keine hartzvier oder in: der ukraIne oder in kAsachsta:n oder in der türkEi,* hast du doch nicht * hättest du dA gemacht * Da hätte ich dasgemacht hundert prozentig ich muss doch Auch leben *3* ja,* da Ist diese: * diese Absicherung * nImmt die eigeninitiativeweg *3* schrEcklich * eigentlich *2* das heißt, * Auf der waagesteht sehr oft, * die sIcherheit, * mit der deprimIerung unddepressiOnen, * oder kAltes wasser. * mit rIsiko aber vielleichtauch mit erfOlg * was wird gewählt, *4* klar”

Als Inhaberin einer Sprachschule geht I2 zunächst darauf ein, wie sie alsUnternehmerin versucht, ihre Kund_innen von einer finanziellen Eigenver-antwortung zu überzeugen, die diese ihrer Ansicht nach bereits aus ihremHerkunftsland mitgebracht haben müssten, da es dort nicht die Möglich-keit auf Unterstützung von Seiten des Staates gibt („ich habe sehr oft denLeuten gesagt, (...) du hattest in Russland auch gar keine Hartz vier oderin der Ukraine oder in Kasachstan oder in der Türkei”). I2 spricht hiervon Kund_innen ihrer Deutschkurse und hebt deren nicht-deutsche Her-kunft hervor. Sie appelliert regelrecht an deren Eigenverantwortungsgefühl(„hättest du da gemacht, da hätte ich das gemacht, hundertprozentig, ichmuss doch auch leben”). Da in den erwähnten Ländern kein wohlfahrts-staatliches System existiert, ist dort eine finanzielle Eigenverantwortungzum „Leben” essentiell, was demgegenüber in Deutschland nicht der Fallist. Daran anschließend verdeutlicht I2 ihre kritische Sichtweise auf das

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System des Wohlfahrtsstaates. Sie stellt die Absicherung des Staates als eine„Sicherheit”, die für das Individuum mit „Deprimierung und Depressionen”einhergeht, dem „kalte[n] Wasser” gegenüber, das „mit Risiko, aber vielleichtauch mit Erfolg” verbunden ist. Durch die Gegenüberstellung verdeutlichtI2, dass sie sich mit ihrer Unternehmensgründung gegen die „Sicherheit” –die Absicherung durch den Staat – und für ein „Risiko” entschieden hat.Mit der Unterscheidung geht eine Abgrenzung von Personen einher, die sichfür finanzielle Unterstützung durch den Staat entscheiden bzw. entschiedenhaben. Allerdings sieht I2 für diese Entscheidung das deutsche System alsverantwortlich an, da es Unterstützung und Sicherheit bereitstellt, was lautI2 negative Konsequenzen für die betreffenden Personen hat.

Auch I2 zeigt eine erweiterte Sichtweise hinsichtlich ihrer Eigenverant-wortung und den damit einhergehenden Reflexionen zur Verknüpfung vonEinkommen und Erwerbstätigkeit, die nun den individuellen Bezugsrah-men überschreiten, da andere Personen in die Überlegungen mit einbezogenwerden.

Zusammenfassend wird deutlich, dass die Unternehmerinnen sowohlvon sich selbst als auch von anderen erwarten, finanziell unabhängig zu sein.Sie übertragen ihre stark ausgeprägte Eigenverantwortung als Erwartungnun auch auf andere und formulieren vor diesem Hintergrund sowohl eineKritik an Individuen als auch eine Kritik am wohlfahrtsstaatlichen System.Insgesamt zeigt sich, dass die Interviewten eine kritische Sichtweise entwickelthaben, weil ihr Weg zum Erfolg im deutschen Arbeitsmarkt nicht immereinfach war, sie aber dennoch erfolgreiche Unternehmerinnen geworden sind.

Die Rolle des EinkommensIn den vorangegangenen Phasen war es für die Interviewten zentral, finanzi-ell für sich Verantwortung zu übernehmen, indem sie eigenes Einkommengenerieren. Nun in der vierten Phase ist ihre Perspektive auf Einkommenetwas verschoben; das Bedürfnis nach finanzieller Verantwortungsübernah-me wird durch das erfolgreiche Unternehmen befriedigt. Die Interviewtenhaben nun klare Vorstellungen hinsichtlich ihres Einkommens entwickelt undbeschreiben, dass das Einkommen nicht die im Vordergrund stehende Moti-vation für eine Berufstätigkeit darstellen sollte. Es wird deutlich, dass dieUnternehmerinnen vorrangig durch die Freude an der Arbeit oder religiöseVorstellungen für ihre unternehmerische Tätigkeit motiviert werden und sieder Meinung sind, wenn diese ihnen wichtigen Aspekte gegeben sind, sich derfinanzielle Erfolg automatisch einstellt. Nichtsdestotrotz führen sie aus, dassihre Arbeit einen Wert besitzt, welcher durch das Einkommen gespiegeltwird.

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Nachfolgend gehe ich auf zwei verschiedenen Facetten der Rolle desEinkommens ein. Zunächst zeige ich auf, welche Ideale die Interviewten alsprioritär gegenüber der Einkommensgenerierung benennen. Dann beschreibeich, wie die Interviewten ihr Einkommen heranziehen, um den Wert ihrerArbeit zu beschreiben.

Ein Beispiel für die Ideale, welche im Unternehmen zum Tragen kommen,zeigt sich bei I1:

I1, 4: „es ist alles eine ei * eine E:inheit * (...) wie philosophiemuss: äh das LEBE sein wie: weil der buddhismus ist MEhr alseine religion (...) das EInzige was ich: eh: hm * der MenschheitGEBen kann also: mein: mein BEstes * ich tue mein BEstesdamit * jede:r *2* äh nu:r * ein VORteil davon: bekommenkann. *3* und das ist äh: *2*, ja das ist für mich sehr wI:chtig* also Ich seh:e äh: ich habe nIcht die dollarschei:ne in meinenAU:gen * [lacht] @natürlich: * ich mU:ss * Geld verdie:ne weilich au:ch * weil meine arbeit auch honoriert werden mUss@ *2*u:nd ich DAS zum LEBEN brau:che (...) die handlungen si:ndoft (...) konsequent äh: * mein mein glau meines glau:bens * undnicht äh: *2* profIt *3* das ist äh MEIne a:rt äh: zu a:rbeiten”

In ihrer Hinführung zur Rolle, die ihr Einkommen für sie spielt, geht I1zunächst auf ihre religiöse Überzeugung ein („es ist alles eine Einheit, (...)wie Philosophie muss das Lebe sein, (. . . ) weil der Buddhismus ist mehrals eine Religion”), die ihr Leben bestimmt und auf der auch ihr Verhaltengegenüber anderen basiert („ich tue mein Bestes, damit jeder nur ein Vorteildavon bekommen kann”). Mit dieser Prioritätensetzung begründet sie dienachgeordnete Rolle, die sie ihrem Einkommen zuspricht: I1 beschreibtEinkommen als Mittel zum Zweck, es gehört dazu, aber ist nicht das imVordergrund stehende Ziel ihrer Arbeit. Das hebt sie hervor, indem sie sagt:„also ich sehe ich habe nicht die Dollarscheine in meinen Augen”. Ihr Handelnentsprechend ihrer Ideale ist für I1 von höherer Priorität als das Generierenvon Einkommen.

Ein weiteres Beispiel für die Facette, dass die Ideale der Interviewteneine wichtigere Rolle spielen als das Einkommen, formuliert I2. Sie legt dar,was für sie als Unternehmerin vor der Einkommensgenerierung Prioritätbesitzt:

I2, 14: „dass das geld zwar sEhr wichtig ist im business * injedem geschäft * aber dass es in gar kEinem fall das Erste zielist * ja: * äh: wenn zu mIr die Anderen migrAnten kommen

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mal einfach mich kEnnen zu lernen weil ich so erfOlgreich bin,* ähm: * stEllt man einfach im gesch: äh: im gesprÄch fest * anwas sie da: * da gerAde dEnken, * ja: und wEnn: wenn man nUrdie dOllarzeichen oder Eurozeichen in den augen sieht * (...) dasbringt schon zum nAchdenken * (...) *3* idEE: und begEisterteAUgen *3* U:nd pOwer und krAft und dUrchsetzungsvermögenund Erst dann kommt gEld * dAnn ist es ok * ja: das lErntman Alles aus dem: * ähm: aus dem learning by doing *2* daskAnn man wahrscheinlich studIern * ja: * aber ähm: diese: dieseEIgene geschichte bringt mEhr als die bücher”

I2 geht auf die Relevanz des finanziellen Gewinns für ihr Unternehmen ein,der allerdings nicht ihre oberste Priorität darstellt („Geld zwar sehr wichtigist im Business in jedem Geschäft aber dass es in gar keinem Fall das ersteZiel ist”). Danach nimmt sie auf den Aspekt der Migration Bezug („wenn zumir die anderen Migranten kommen mal einfach mich kennen zu lernen weilich so erfolgreich bin”). Durch die Verwendung von „anderen” wird deutlich,dass sie sich selbst einerseits als „Migrantin” bezeichnet und sich andererseitsjedoch von diesen anhand des Unterscheidungskriteriums „Erfolg” abgrenzt.Sie legt dar, dass sie bei denjenigen, die sie kennenlernen möchten, „nur dieDollarzeichen oder Eurozeichen in den Augen sieht”, was ihrer persönlichenWertung von Einkommen in ihrem Unternehmen widerspricht. Für ihr Un-ternehmen sind zunächst verschiedene Soft- bzw. Hardskills wichtiger alsGeld („Power und Kraft und Durchsetzungsvermögen und erst dann kommtGeld”). Das kann ein Hinweis auf ihren Lernprozess sein, innerhalb dessensie festgestellt hat, dass die genannten Fähigkeiten entscheidend zum Erfolgihres Unternehmens beigetragen haben. Im Folgenden geht sie darauf ein,dass „man” sich das aus dem „learning by doing”, also dem Lernen in derHandlung, generiert. Dadurch signalisiert I2, dass sie sich die nachgeordneteWertigkeit des Einkommens auch erst im Laufe ihres Lernprozesses zurUnternehmerin erarbeiten musste. Sie weist darauf hin, dass das Lernen inder Handlung den aus ihrer Sicht geeigneten Weg darstellt („das kann manwahrscheinlich studier’n ja aber (...) diese eigene Geschichte bringt mehr alsdie Bücher”).

Zusammenfassend wird deutlich, dass im Relevanzsystem der erfolgrei-chen Unternehmerinnen – die für sich ausreichend Einkommen generieren –das Interesse an Einkommen nicht die zentrale Motivation für ihre unterneh-merische Aktivität darstellt. Während Lernphase Eins noch auf eine solchePrioritätensetzung hingedeutet hat, scheint sich dies nun in der Phase deserlernten Unternehmerinnen-Seins verändert zu haben und die Interviewten

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setzen andere Prioritäten. Sobald die Interviewten ausreichend Einkommengenerieren, kommen ihre Ideale zur Geltung. Sie beschreiben, dass Erfolgnicht nur daraus resultiert, dass man motiviert ist, Einkommen zu generieren,sondern darüber hinaus weiterer Fähigkeiten und Motive bedarf.

Zudem zeigt sich sie reflektierte Sichtweise der Interviewten an einerzweiten Facette. Diese besteht darin, dass sich für die Unternehmerinnenin ihrem Einkommen der Wert ihrer Arbeit spiegelt. Beispielhaft wird dasvon I7 verdeutlicht. Sie legt den Prozess dar, wie sich für sie der Wert ihrerArbeitstätigkeit verändert hat, indem sie schildert, wie sie ihren heutigenHonorarsatz festgelegt hat:

I7, 33: „un:d dAnn Irgendwann hab ich gemerkt dass ichfür das gEld nIcht mehr so gerne rAusgeh * bezIehungsweiseich hatte mit nem trAiner der mich sEhr beEindruckt hat eingespräch, * und ich hab gesagt wEißt du ich mach das sO gErneich würd am lIebsten garkein geld verg verlAngen * und dAhat er gesagt dann wEißt du noch nicht was du wErt bist *schrEib den betrAg Auf auf ein blatt papIer wo du glAubst* dA würd ich rIchtig gern Arbeiten gehn * also rIchtig nenfrEchen betrAg drauf * wo du fAst Unverschämt findest des zuÄußern * und dAnn hab ich das gemAcht und des war wEg vonmeinem honorAr rIchtig weit weg, und dann dacht ich mEnschdEs ist ja ganz schön Unverschämt, und dann hAb ich diesenbetrAg ma:l * ähm: rAusgelassen gAnz experimentell, * undhAb ne zUsage gekriegt * und dann dAcht ich wOw”

I7 geht zunächst darauf ein, dass sie an einen Punkt gelangt ist, an demihre Arbeitsmotivation aufgrund ihres Einkommens gesunken ist; sie nimmtihren Honorarsatz, der für sie den Wert ihrer Arbeit darstellt, als zu niedrigwahr („hab’ ich gemerkt, dass ich für das Geld nicht mehr so gerne rausgeh’”). Das mindert jedoch nicht ihre generelle Motivation für ihren Beruf undbedeutet auch nicht, dass das Einkommen ihre primäre Arbeitsmotivationdarstellt („weißt Du ich mach das so gerne ich würd’ am liebsten gar keinGeld verlangen”). Hier macht sie einen gewissen Widerspruch auf. Einerseitserscheint I7 ihr Einkommen zu niedrig und andererseits sagt sie, dass sieihrer Tätigkeit so gerne nachgeht, dass sie sie am liebsten kostenlos anbietenwürde. Ein anderer Trainer stößt ihre Reflexion an, indem er ihr sagt, siesolle darüber nachdenken, was sie „wert” ist und motiviert sie dazu, seineFrage anhand eines imaginären Honorarsatzes zu beantworten („dann weißtdu noch nicht, was du wert bist. Schreib den Betrag auf ein Blatt Papier,wo du glaubst, da würd ich richtig gern arbeiten gehen (...), wo du fast

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unverschämt findest”). Daraufhin legt I7 einen neuen Honorarsatz fest, derihren alten bei weitem übersteigt. Sie sie erstaunt, als sie auf die nächsteKund_innenanfrage, auf die hin sie den neuen Honorarsatz angibt, sofort eineZusage erhält („dann dacht ich wow”). Dadurch, dass ihr neuer Honorarsatzangenommen wird, kann sie ihre Perspektive darauf, was ihre Arbeit „wert”ist, verändern und findet Bestätigung darin, dass ihr vormaliger Honorarsatzzu gering war.

Ein weiteres Beispiel dafür, wie der Wert der Arbeit anhand des Ein-kommens deutlich wird, liefert I2.

I2, 80: „vIel * der mensch kann vIel * wenn er wIll *2* wenner nIcht nur die dOllarzeichen in den Augen hat * kann er tAt-sächlich viel * und diese: diese dOllarzeichen oder Eurozeichen[lacht] * das ist eine schlUssfOlgerung für die gelEistete Arbeit *das mUss sein * das ist aber kein hAuptziel * Am Ende mUss esstImmen *2* dass was ich in rUssland getan hAbe: *2* als: ähm:dozEntin an der Uni [mit einem umgerechneten Studenlohnvon 10 D-Mark Anm.AL]: * das warn andere Umstände *2* dawarn wir Alle so * ich wEiß aber inzwi:schen * für die gelEisteteArbeit, * kann man gEld verdienen *3* und das ist normAl wiedas is:t das ist sElbstverstÄndlich: * das mUss so sein”

Genau wie I7 im vorangegangenen Zitat geht auch I2 darauf ein, dass dasEinkommen nicht das alleinige Ziel einer Erwerbstätigkeit sein sollte. I2nimmt zunächst auf ihr Arbeitsverständnis, welches sie in ihrem Heimatlanderlernt – und unkritisch angenommen – hat, Bezug, indem sie betont, dassdas Einkommen nicht die vordergründige und einzige Motivation für eineBerufstätigkeit sein sollte („der Mensch kann viel, (...) wenn er nicht nurdie Dollarzeichen in den Augen hat”). Allerdings stellt in ihrer heutigenPerspektive das Einkommen einen Spiegel des Wertes ihrer Arbeit dar undist somit inhärenter Bestandteil ihrer Berufstätigkeit („das ist eine Schluss-folgerung für die geleistete Arbeit”). Dass es sich bei ihrer Interpretationvon Einkommen um eine transformierte Perspektive handelt, wird durchdie Umschreibungen ihres vormaligen geringen Lohnes im HerkunftslandRussland unterstrichen. Nun, als erfolgreiche Unternehmerin, interpretiertsie ihre damalige Erfahrung neu („das war’n andere Umstände”). Die Be-wertung „andere” Umstände weist darauf hin, dass sich ihre Perspektiveausgehend von den neuen Erfahrungen als Unternehmerin in Deutschlandgeändert hat. Dass sie einen Lernprozess durchlaufen hat, signalisiert sie,indem sie sagt „ich weiß inzwischen”. Sie hat gelernt, dass die Höhe ihresheutigen Einkommens zu dem Kontext, in dem sie tätig ist, dazugehört („für

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die geleistete Arbeit kann man Geld verdienen. Das ist normal, (...) das istselbstverständlich, das muss so sein”). Sie steigert ihre Erzählung, anfänglichsagt sie, man „kann” Geld verdienen, dann legt sie das Geld-Verdienen als„selbstverständlich” und abschließend als ein „Muss” dar. Hier wird deutlich,dass die Migrationsgeschichte von hoher Relevanz für I2s Lernprozess ist.Aufgrund ihrer Migrationserfahrung ist es ihr gelungen, ihre ursprünglicheÜberzeugung, die nicht zu den in Deutschland vorgefundenen Bedingungenpasste, zu reorganisieren und zu verändern.

Ein weiteres Beispiel für die Facette, wie sich der Wert der Arbeitanhand des Einkommens spiegelt, liefert z.B. I2:

I2, 78: „dafür dass du in der nacht gUt schläfst, * und ruhigschläfst * und kEine verantwortung trAgen möchtest, [lacht]* musst du wahrscheinlich wEniger verdienen * @als de:r derkEine wochenenden hat@ [lacht] @und in der nacht nicht schlÄft* u:nd den Anderen Arbeitsplätze gibt oder,@ [lacht] *3* @istes nicht sO oder,@ * [lacht] *2* ja, * 2* so ist es”

I2 definiert den Wert ihrer Arbeit sowohl über den eigenen Aufwand, denihre Arbeit verursacht, als auch über den Mehrwert, der im Rahmen ihrerArbeit entsteht – sie schafft z.B. neue Arbeitsplätze.

Zusammenfassend fällt auf, dass die Unternehmerinnen in der Phasedes erlernten Unternehmerinnen-Seins über eine veränderte und reflektierteSichtweise auf ihr Einkommen verfügen. Ihre hohe Erwerbsmotivation bringensie nun nicht mehr primär mit dem Einkommen in Verbindung. Stattdessenrücken andere Aspekte in den Vordergrund, die sie motivieren, ihrer Arbeitnachzugehen. Für die Arbeitsmotivation werden neben Idealen, wie z.B. demSchaffen von Arbeitsplätzen für Ausländer_innen, auch Fähigkeiten relevant,die aus Sicht der Interviewten für die Unternehmen wichtiger sind als dasbloße Interesse am Generieren von Einkommen. Dennoch gehört es auchzu ihrer neuen transformierten Perspektive, dass das Einkommen für denWert ihrer Arbeit steht. Im Zuge des Transformationsprozesses haben siegelernt, welchen Wert sie ihrer Arbeit zuschreiben können – z.B. welchenHonorarsatz sie für angemessen halten.

Verantwortung für (potenzielle) MitarbeitendeNeben den dargelegten Dimensionen der unternehmerischen Verantwortung,die sich auf die Unternehmerinnen selbst beziehen, übernehmen die Interview-ten in Phase Vier auch Fremdverantwortung, nämlich für ihre (potenziellen)Mitarbeitenden. Die Verantwortung konkretisiert sich dadurch, dass dieInterviewten sich einen eher ganzheitlichen Eindruck von ihren (potenziel-

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len) Mitarbeitenden bilden. Dabei rücken nicht nur berufliche Fähigkeiten,sondern auch Herausforderungen in den Blick, vor denen (potenzielle) Mitar-beitende – z.B. arbeitssuchende Mütter mit türkischer Migrationsgeschichte– stehen. In ihre Reflexionen beziehen die Interviewten ihre eigenen Erfahrun-gen – die überwiegend mit den Themen Migrationsgeschichte und Geschlechtzusammenhängen – mit ein.

Auf welche Weise Reflexionen zu eigenen Erfahrungen in die Auswahl(potenzieller) Mitarbeitender einfließen, verdeutlicht z.B. I2, indem sie aufihre Überlegungen zur Relevanz einer Arbeitsstelle eingeht:

I2, 14: „da sind sEhr viele sAchen die auf dIch jeden tagzUkommen, die: * entschEidungen zu treffen * ähm: die rIchtige:lEhrkräfte zu wählen (...) ähm: die entschEIdungen ähm: wo duüberlegst * davon: davon * hängt eigentlich auch ähm: Ihr odersein schIcksal ab * ja: und da stehn die famIlien, *2* u:nd oderdie hOffnungen * ähm: * Auch nicht nur für die Anderen leutegUt ist sondern dann auch für sich sElbst, * ja: da dEnkt mannicht nU:r * in vIelen sachen dEnkt man nicht nU:r * an: andas gEld”

I2 führt aus, dass sie als Unternehmerin täglich vor zahlreichen Entschei-dungen steht. Bei der Auswahl ihrer Mitarbeitenden reflektiert I2 derenPosition und die Konsequenzen, die mit einer (Nicht-)Einstellung einherge-hen („Entscheidungen, wo du überlegst, davon hängt eigentlich auch ihr odersein Schicksal ab, ja, und da steh’n die Familien und oder die Hoffnungen”).I2 scheint sich ihrer weitreichenden Verantwortung als Unternehmerin undArbeitgeberin bewusst zu sein. Sie hat den Eindruck, dass sie über Schicksa-le entscheidet. Ihre Reflexion kann ein Hinweis darauf sein, dass hier ihreeigenen Exklusionserfahrungen, die sie in Deutschland erfahren hat, in ihreÜberlegungen zur Personalauswahl einfließen. Ihre Überlegungen sind davongekennzeichnet, dass ihr eigener wirtschaftlicher Erfolg zugunsten ethischerund sozialer Fragestellungen in den Hintergrund tritt („da denkt man nichtnur, in vielen Sachen denkt man nicht nur an das Geld”). Ihre verändertePerspektive, über die sie heute als erfolgreiche Unternehmerin verfügt, wirdvor allem dadurch deutlich, dass sie heute diejenige ist, die über Schicksaleentscheidet. Zu Beginn ihres Lernprozesses schien sie ihrem Schicksal ergebenund gegen die Exklusionserfahrungen zunächst machtlos zu sein.

Neben dieser allgemeinen Umschreibung von Reflexionen eigener Er-fahrungen, die in die Mitarbeitendenauswahl einfließen, thematisieren dieInterviewten auch explizit die Relevanz der Strukturkategorien Migrations-geschichte und Frau-Sein. I6 legt das besonders deutlich dar:

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I6, 66: „ jEtzt hab ich Eine: [Auszubildende Anm.AL] hm:sie is:t * kUrdin, * äh: kUrdin tÜrkin * wIe auch Immer *Un:d des war Auch son soziAler fall und zwAr * sie hat ihreAusbildung bis zum zwEiten lEhr äh: Ausbildungsjahr gemacht,hat gehEiratet sie hat auch sEhr jung gehEiratet * ich dEnk deskommt Auch: wEgen der ganzen kultUr * hat’n kInd bekommn,* aber sie ist sehr Ehrgeizig * ich kAnnte sie vOrher Auch nicht* und sie wOllte ihre Ausbildung beEnden hat sich ÜberallbewOrben, * abe:r es sieht Irgendwie: gEht nicht klEinkInd des:is:t rIecht nach Ärger sozusagen ja, * Irgendwie die chAnce nichtgegeben und mir war * dEs war mir gAnz wichtig * sie mAchtsjetzt sie ist im: auf tEilzeit, das macht ja Auch nicht jEderbetrIEb * dass sie Auch die mÖglichkeit hat auch mUtter zusein, * bevor sie gAnz aus dem berUf * und * sie ist sO talentIertja: u:nd und nÄchstes jahr macht sie ihre prÜfung *2* es zIehtsich natürlich um en jahr lÄnger weil sies auf tEilzeit macht,aber es fUnktioniert wIrklich rIchtig gut ja, *2* des waren jetztalles zUfälle Aber * äh zUfälle mit problEmen vOrher und Icheigentlich mEinte ich muss ihnen äh hElfen weil ich gesEhn hab* sie sInd geschIckt ja * sie kÖnnen es nur ma gIbt ihnen nichtdie mÖglichkeit * lEider”

I6 berichtet hier von ihrer neuen Auszubildenden. Dabei geht sie darauf ein,dass eine in ihrem Herkunftsland gebräuchliche Unterscheidung zwischenverschiedenen Menschengruppen für sie keine Relevanz besitzt („Kurdin,Türkin, wie auch immer”). Bei ihrer Auszubildenden handelt es sich umeine junge Frau, die aus I6’ Sicht Unterstützung benötigt („des war auchso’n sozialer Fall”). Die Verwendung von „auch” weist darauf hin, dass sienicht die einzige Angestellte ist, über die I6 so denkt. Die junge Frau hataufgrund ihrer Familienplanung – welche laut I6 eng mit der kulturellenHerkunft der Frau verknüpft ist – ihre Ausbildung unterbrochen, und fandanschließend keine neue Ausbildungsstelle. Als Mutter mit kleinen Kinderneine Arbeitsstelle zu finden, beschreibt I6 als herausfordernd („Kleinkind,des ist riecht nach Ärger”). Sie stellt die junge Frau als Auszubildendeein, wodurch ihre Verantwortung sowie ihre Beiträge zur Partizipation zurGeltung kommen. Ausschlaggebend für ihre Entscheidung scheinen sowohldas Geschlecht – und damit einhergehend die Mutterrolle – als auch dieMigrationsgeschichte zu sein („irgendwie die Chance nicht gegeben und mirwar des war mir ganz wichtig, (...) sie ist im auf Teilzeit, (...) dass sie auchdie Möglichkeit hat, auch Mutter zu sein”). Abschließend beschreibt I6 die

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Auswahl ihrer Auszubildenden als „Zufälle” und korrigiert sich dann, indemsie sie als „Zufälle mit Problemen” bezeichnet. Sie fühlt sich verantwortlich fürjunge Frauen aus ihrem Herkunftsland, die nicht die gleichen Chancen wie sieerhalten („ich eigentlich meinte, ich muss ihnen helfen, weil (...) sie können es,nur ma’ gibt ihnen nicht die Möglichkeit, leider”). I6 nutzt ihre Möglichkeiten,die ihr als Unternehmerin und Arbeitgeberin zur Verfügung stehen, umPartizipationsmöglichkeiten gerade für solche Menschen zu kreieren, die sienicht von anderen erhalten.

Zusammenfassend wird deutlich, dass auf unterschiedliche Weise Re-flexionen zu eigenen (negativen als auch positiven) Erfahrungen in dieMitarbeiter_innenauswahl – und somit in die Verantwortungsübernahmefür (potenzielle) Mitarbeitende – einfließen. Die Interviewten rücken denwirtschaftlichen Gewinn in den Hintergrund, und stellen Ideale in den Vor-dergrund – beispielsweise hinsichtlich der Frage, welche Mitarbeitenden nachwelchen Kriterien eingestellt werden. Die Vorstellungen der Unternehmerin-nen hinsichtlich ihrer Mitarbeitenden übersteigen die berufliche Sphäre undbringen eine darüber hinausgehende bürgerschaftliche Verantwortung zumAusdruck. Die Personalauswahl orientiert sich stark an sozialen Fragen –wie z.B. der Unterstützung von Benachteiligten – und nicht in erster Liniean der Wirtschaftlichkeit. Dadurch werden die erweiterte Perspektive derInterviewten und ihr abgeschlossener Perspektivwechsel zur Unternehmerinunterstrichen.

Bürgerschaftliche VerantwortungDen Interviewten wird es durch ihre Unternehmen möglich, bürgerschaftlicheVerantwortung zu übernehmen. Mit Hilfe ihrer Unternehmen können siesich für die Belange bestimmter Menschengruppen in Deutschland und inihrem Herkunftsland einsetzen, wobei das Ausmaß der Übernahme bürger-schaftlicher Verantwortung von der Art des Unternehmens abhängt. In diebürgerschaftliche Verantwortung der Unternehmerinnen fließen zum Teil ihreeigenen Erfahrungen, aber auch ihre Antizipationen zum öffentlichen Defizit-diskurs um Menschen mit Migrationsgeschichte ein. Sie zeigt sich darin, dassdie Frauen mithilfe ihrer Unternehmen Partizipationsmöglichkeiten für ande-re Menschen kreieren. Neben den Konstruktionen zur Migrationsgeschichtewerden auch solche zum Geschlecht relevant.

Die bürgerschaftliche Verantwortung konkretisiert sich anhand von zweiFacetten: Die erste Facette beschreibt das bürgerschaftliche Engagement derInterviewten in Deutschland und die zweite steht für ihre bürgerschaftlicheVerantwortung für ihr Herkunftsland.

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I2 beschreibt im Folgenden ein Beispiel für die erste Facette. Zentralist, dass es sich bei ihrem Unternehmen um eine Sprachschule handelt, inder Integrationskurse angeboten werden:

I2, 64: „es: es gibt einen: ähm: * nIgeriAnischen pAstor * einerwAchsener mann Eigentlich wie ein kleines kInd * mAcht hier* äh: * ähm: gOttesdIenste, * und kommt gar nicht in die schUle,* um dEutsch zu lernen * kOmmt und und äh: sItzt da undschlÄft * ich hab gesagt kOmm mal hIerher * da beschwErn sichdie lEhrer * und sie haben es nIcht geschafft mit ihm Irgendwiedas: äh: dUrchzusetzen * (...) du bist mit bestimmten trÄumennach deutschland gekommen * wOvon hast du geträumt * dannerzählt er ich habe dAvon geträumt und da: ich sag was hastdu jEtzt im moment, * nix: * wirst du wEiterhin als pUtzfrauarbeiten oder Aushilfe in der küche * bei einem restaurant *hast du dAvon geträumt als du in nigEria warst * ne: * wOvonhast du geträumt * JA aber Ohne dEutsch gEhst du garnicht dableibst wEIterhIn AushIlfe in nigeria da schreibst du die brIefedu schr du: du fährst ein mercEdes * in der wIrklichkeit ist esgrade ein fAhrrad * [lacht] * @hat dAgesessen und gehEult@[lacht] * ja: jEtzt jetzt kommt er jEden tAg in die schule *ich hab gesagt um neun beginnt der Unterricht um neun sItztdu dA * und damIt begInnt alles (. . . ) ein bisschen drUck einbisschen was mEnschliche: * und nicht * egAl gefÜhl”

I2 berichtet über einen Schüler ihrer Sprachschule, einen Pastor aus Nigeria.Durch seine negative Arbeitshaltung vergleicht sie ihn mit einem kleinenKind und verhält sich ihm gegenüber paternalistisch („ein erwachsener Mann,eigentlich wie ein kleines Kind, (...) kommt gar nicht in die Schule, umDeutsch zu lernen”). Ihre Mitarbeitenden sind mit dem Schüler an ihreGrenzen gekommen und schaffen es nicht, ihn zu einer aktiven Teilnahmezu motivieren, daher nimmt I2 sich der Sache selbst an („ich hab’ gesagt,komm’ mal hierher, da beschwer’n sich die Lehrer und sie haben es nichtgeschafft, mit ihm irgendwie das durchzusetzen”). Hier zeigt sich ihre bür-gerschaftliche Verantwortung, die sie für ihre Schüler_innen empfindet. Umden nigerianischen Schüler zu einer aktiven Teilnahme am Deutschkurs zumotivieren, erklärt sie ihm eindringlich, wofür er Deutschkenntnisse benötigt.Sie appelliert an seine Träume, die ihn zur Migration nach Deutschland be-wegt haben („du bist mit bestimmten Träumen nach Deutschland gekommen,wovon hast du geträumt”). Ihr paternalistisches Verhalten wird dadurchunterstrichen, dass sie mit ihm – aufgrund seiner Arbeitshaltung – wie mit

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einem Kind kommuniziert. („was hast du jetzt im Moment, nix”). Die Träumedes Schülers unterscheiden sich von seiner aktuellen Realität und I2 gehtdavon aus, dass Deutschkenntnisse für die Realisierung seiner beruflichenTräume notwendig sind („ohne Deutsch gehst du gar nicht, da bleibst duweiterhin Aushilfe”). Außerdem stellt sie die Realisierung seiner Träume ineinen Bezug zu seinem sozialen Umfeld im Herkunftsland („in [sie meint hier„nach”, Anm. AL] Nigeria schreibst du die Briefe (...) du fährst Mercedes,in der Wirklichkeit ist es gerade ein Fahrrad”). Durch den Appell an seineTräume appelliert sie auch an sein Verantwortungsgefühl sich selbst und sei-ner Familie gegenüber. Mit der Strategie, den Schüler auf einer emotionalenEbene hinsichtlich seiner Verantwortung anzusprechen, hat sie Erfolg („hatdagesessen und geheult (...), ja, jetzt kommt er jeden Tag in die Schule”).Zudem legt sie zum wiederholten Male mit ihrer Ausdrucksweise nahe, dasssie mit dem erwachsenen Schüler wie mit einem Kind kommuniziert („umneun beginnt der Unterricht, um neun sitzt du da”).

Die bürgerschaftliche Verantwortung, die I2 durch und in ihrem Unter-nehmen entwickelt hat, fasst sie abschließend zusammen („ein bisschen Druck,ein bisschen was menschliche und nicht egal-Gefühl”). Es wird deutlich, dasssie sich für Partizipationsmöglichkeiten derjenigen einsetzt, die nicht übereinen ausreichenden Eigenantrieb verfügen.

In einem weiteren Beispiel für die erste Facette kristallisiert sich heraus,wie die Unternehmerinnen ihren finanziellen Gewinn in den Hintergrund undihre bürgerschaftliche Verantwortung in den Vordergrund rücken:

I2, 66: „wir haben jetzt einen: einen jUngen mann aus gAmbia*3* er hAt * nU:r er hat korAn * auf arAbisch aUswe:ndiggelErnt Ohne zu verstEhn (...) er ist ein Analphabe:t * er hatnUr Abgeschrieben was äh: auf arAbisch stand * im korAn *in seinen sechs klAssen in gAmbia * er hat bei uns, * einenalphabetisIerungskurs gemacht, (...) der ist sO wAhnsinniglAngsam * der ist sO langsam die lEhrer saßen bei mir habengesagt, * bei der prüfung, * wird die zEit angegeben * wennwir für den mAnn, statt Anderthalb stunden FÜNF stundenha:ben * DANN schAfft er [lacht] * Er ist lAngsam * @er kanninzwischen lEsen und schrEiben@ * nur dAs was wir inzwischenschon äh: schon zwei äh: * äh: zwei sEiten gelesen haben hat ergrade ei:einen äh: * einen sAtz gelesen * ja, * und bei der prüfungAchtet keiner darauf *2* ich sag er lErnt wie verrückt, [lacht] *@ er sItzt zuhause und lErnt * er kann lErnen * ja,@ * ich habeihm erlAubt einfach dass: dass er einen monat kOstenlos im

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kurs ist (...) man hat auch eine gewIsse verAntwortung für die(...) ja, * wIchtig is:t * tja * wir Alle * lAchen und wEinen glEich* wir haben alle die sElben gründe zum lAchen und wEinen ja”

Im Interviewausschnitt wird die bürgerschaftliche Verantwortung deutlich, dieI2 für ihre Kund_innen, die Schüler_innen ihrer Sprachschule, übernimmt.Sie erzählt von einem Schüler aus Gambia, der den Koran auswendig aufArabisch schriftlich wiedergeben kann, aber ansonsten Analphabet ist. DieBeschreibung leitet sie unter Verwendung von „wir” ein, was ihre Identifikationmit ihrem Unternehmen unterstreicht („Wir haben jetzt einen (...) jungenMann aus Gambia, er hat nur Koran auf Arabisch auswendig gelernt ohnezu versteh’n (...), er ist Analphabet”). Der beschriebene Schüler hat einenAlphabetisierungskurs besucht, und steht während der Abschlussprüfung vorder Herausforderung, dass er zu langsam ist, um alle geforderten Aufgabenzu bearbeiten („der ist so wahnsinnig langsam, der ist so langsam. Die Lehrersaßen bei mir, haben gesagt, bei der Prüfung wird die Zeit angegeben, wennwir für den Mann statt anderthalb Stunden fünf Stunden haben, dann schaffter”). Dennoch verfügt der Schüler über ein hohes Maß an Motivation („ichsag’ er lernt wie verrückt”). In ihrer Beschreibung der Situation rückt I2den ökonomischen Gewinn ihres Unternehmens in den Hintergrund undihre bürgerschaftliche Verantwortung in den Vordergrund: Sie ermöglichtbesagtem Schüler für einen weiteren Monat die kostenlose Teilnahme amKurs („ich habe ihm erlaubt einfach, dass (...) er einen Monat kostenlos imKurs ist”). Dadurch exemplifiziert I2 ihr Verantwortungsgefühl gegenüberihren Kund_innen („man hat auch eine gewissen Verantwortung für die”).Auf gewisse Weise identifiziert sie sich abschließend mit ihren Kund_innen,indem sie auf eine grundlegende Gemeinsamkeit verweist („wichtig ist (...),wir alle lachen und weinen gleich, wir haben alle die selben Gründe zumLachen und Weinen, ja”).

Neben der dargelegten Facette der bürgerschaftlichen Verantwortung,die sich auf Menschen in Deutschland bezieht, besteht eine weitere Facettedarin, dass die Interviewten auch bürgerschaftliche Verantwortung in ih-rem Herkunftsland übernehmen. Auch hier hat die Art des Unternehmenseinen Einfluss darauf, wie die Übernahme bürgerschaftlicher Verantwortungrealisiert werden kann.

Im Folgenden zeige ich ein Beispiel für gesellschaftliche Verantwortungfür das Herkunftsland. Der Interviewausschnitt stammt von I1, die einenImporthandel mit italienischen Produkten betreibt:

I1, 72: „lEIder die ganze politische situation in italien wodurch:* ich schÄme mich: jetzt * für mein lAnd * ich schäme mich

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* wIrklich * (...) und ich könnte in sO einem land * nur * aufder straße sein und protestieren (...) und deswEgen * hätte ichkeine: * kein glückliches lEben * und sO unterstütze ich wieich kAnn die polizei mit dem hund (...) ich wErde jetzt äh:kontAkt aufnehmen mit eine * gruppe, in sizIlien * e:s ist glaubich eine kooperatIve die [verkaufen Anm. AL] (...) erzEugnissevon von grUndstücke die von der mafia befreit wurden *3* unddas höchste war dass ich sOwas ge: gesEHn habe weil ich habenUdeln gekauft, * die * ne gÄnsehaut bekommen *2* ich habgesagt * ja das ist das rIchtige was man unterstÜtzen sollte *3*nu:r sO kann ein verÄnderung stattfinden (...) ja des ist aucheine Art mein land zu hElfen”

I1 kritisiert die politische Situation in ihrem Herkunftsland. Ihre Identifi-kation mit ihrem Herkunftsland hebt sie durch ihre emotionale Reaktionauf aktuelle Entwicklungen hervor („ich schäme mich jetzt für mein Land,ich schäme mich wirklich”). Sie fühlt sich verantwortlich, sich gegen mafiöseStrukturen in Italien einzusetzen, was sie realisiert, indem sie die Polizei un-terstützt („so unterstütze ich wie ich kann die Polizei mit dem Hund”). I1 gehtder Unterstützung der Polizei innerhalb eines Rahmens nach, den sie sichdurch ihre unternehmerische Aktivität erarbeitet hat. In Deutschland ver-kauft sie importierte Produkte aus Italien, als neue Produzent_innen möchtesie eine Kooperative gewinnen, die auf ehemals von der Mafia besetztenGebieten tätig ist. Auf diesem Weg übernimmt sie bürgerschaftliche Verant-wortung für ihr Herkunftsland. Mit der Identifikation mit ihrem Heimatlandgeht auch ein hohes Maß an Emotionalität einher, exemplarisch wird das imRahmen ihrer Umschreibung der möglichen neuen Produzent_innen deutlich(„und das Höchste war, dass ich sowas geseh’n habe (...), ’ne Gänsehaut be-kommen”). Für die Umsetzung ihrer bürgerschaftlichen Verantwortung stelltI1 ihren ökonomischen Gewinn im Hintergrund („nur so kann ein Veränderungstattfinden (...), ja, des ist auch eine Art, mein Land zu helfen”).

Insgesamt weist die Art und Weise, wie die unternehmerische Eigen-und Fremdverantwortung durch die Interviewten ausgestaltet wird, auf denabgeschlossenen Perspektivwechsel hin. Die Ausgestaltung der Verantwor-tungsübernahme innerhalb ihrer Unternehmen zeigt auf, dass sie die Rolleder Unternehmerinnen, Chefinnen und Arbeitgeberinnen erlernt haben. Hier-bei haben sie sich durch ihre erfolgreichen Unternehmen einen erweiterten,über die berufliche Sphäre hinausgehenden, Handlungsspielraum erarbei-tet, der bis hin zum bürgerschaftlichen Engagement in Deutschland undim Herkunftsland reicht. Reflexionen zu eigenen Erfahrungen und somit

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Konstruktionen zu ihrem Geschlecht und ihrer Migrationsgeschichte spielenfür die Umsetzung ihrer Ideale eine zentrale Rolle.

6.4.4 Unternehmerisches ArbeitsverständnisIn Phase Vier, der Phase des erlernten Unternehmerinnen-Seins, hat sichein neues umfassendes unternehmerisches Arbeitsverständnis herausgebildet.In diesem ist das ursprüngliche Arbeitsverständnis, gemäß dem Arbeitszu-sammenhänge angenehm ausgestaltet sein sollten, nach wie vor vorhanden.Allerdings ist die frühere Idealvorstellung einer unternehmerischen Selbst-ständigkeit nun real geworden. So haben sich die Interviewten durch ihreUnternehmen Arbeitszusammenhänge kreiert, in denen sie gerne tätig sind.Dabei haben sie nicht nur Einfluss auf ihre eigenen Arbeitszusammenhänge,sondern diejenigen, die Mitarbeitende beschäftigen, verfügen auch über dieMöglichkeit, Arbeitszusammenhänge für andere zu gestalten.

Daneben hat die unternehmerische Selbstständigkeit Auswirkungen aufdas gesamte Leben der Interviewten und wird von ihnen als eine „Art zuleben” (In-vivo-Code I2) angesehen. Sowohl die hohen Arbeitsbelastungenals auch die Freiheiten, die mit der unternehmerischen Selbstständigkeiteinhergehen, spielen hierfür eine zentrale Rolle. Insgesamt fällt auf, dass auchdas unternehmerische Arbeitsverständnis – genauso wie die vorher eruiertenBedeutungsperspektiven des unternehmerischen Selbstverständnisses – dieberufliche Sphäre übersteigt.

Anhand folgender Dimensionen beschreibe ich nachfolgend die Bedeu-tungsperspektive unternehmerisches Arbeitsverständnis: Zunächst gehe ichauf die individuellen unternehmerischen Arbeitszusammenhänge der Inter-viewten ein. Danach beschreibe ich die Arbeitszusammenhänge, die sie fürandere gestalten. Daraufhin lege ich das Verständnis der Frauen von unter-nehmerischer Selbstständigkeit als Lebensart dar.

Individuelle ArbeitszusammenhängePhase Vier ist davon gekennzeichnet, dass sich die Interviewten Arbeits-zusammenhänge geschaffen haben, in denen sie sich wohlfühlen. Sie habenihre individuellen Vorstellungen hinsichtlich ihrer Arbeitszusammenhänge,aus denen ursprünglich die Motivation hervorging, ein Unternehmen zugründen, realisiert. Die Interviewten nennen in Zusammenhang mit ihrenunternehmerischen Arbeitszusammenhängen verschiedene Emotionen, mitdenen sie unterstreichen, dass ihre Berufstätigkeit die berufliche Sphäreübersteigt: In Verbindung mit ihren individuellen Arbeitszusammenhängennennen sie Emotionen wie Spaß, ein erhöhtes Maß an Energie sowie Liebe;

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alles Aspekte, die eine Assoziation mit privaten Lebenswelten nahelegen.Mit den unterschiedlichen positiven Akzentuierungen heben die Interviewtenihre Zufriedenheit mit ihren aktuellen Arbeitszusammenhängen hervor.

Eine positive Umschreibung ihrer individuellen Arbeitszusammenhängenimmt z.B. I6 vor. Sie betont den Spaß, den sie an ihrer Arbeit hat:

I6, 162: „aber ich mAchs gErne * ich glaub * wEnn mankein spAß dran hätte kÖnnte man es nIcht machen ich habwIrklich es macht mir spAß * es gab kEin tag wo ich gesAgthab * Oh: nEin ich sehs gArnicht so als Arbeit in dem sInne *gAbs wIrklich nicht Echt nicht * klAr wenn mal die sOnnesch:schEint * wÜrd mans viellEicht Eher mal bev bevOrzugen nedEcke und dann auf die wIese liegen klAr * aber des Ist nicht sodass ich jetzt sAgen kann ich hab keine lUst heut zu Arbeiten”

I6 stellt heraus, dass ihre Arbeit ihr Spaß bereitet. Aus ihrer Sicht ist daseine Grundvoraussetzung für ihre Tätigkeit als Unternehmerin, die, um ihreeigene Arbeitsfähigkeit aufrecht zu erhalten, Erfüllung erfahren muss („wennman kein Spaß daran hätte, könnte man es nicht machen”). Die Verwendungvon „man” signalisiert hier ihre Distanz zu ihrer Aussage, da sie ja mit derHerausforderung des Kein-Spaß-Habens nicht konfrontiert ist. Sie verwendetim Folgenden das Personalpronomen „ich” für die erneute Bestätigung ihrerZufriedenheit („ich hab’ wirklich, es macht mir Spaß. Es gab kein Tag, woich gesagt hab’, oh nein”). Die Aussage unterstreicht sie, indem sie ausführt,dass sie ihre Arbeit „gar nicht so” als Arbeit wahrnimmt („Ich seh’s garnicht so als Arbeit in dem Sinne”). Dennoch gibt es für I6 selbstverständlichSituationen, in denen sie lieber Freizeitaktivitäten nachgehen würde, wassie durch die doppelte Verwendung des Begriffs „klar” unterstreicht („klar,wenn mal die Sonnesch scheint, würd man’s (...) Bevorzugen, ’ne Deckeund dann auf die Wiese liegen, klar”). Die beispielhaften Situationen schil-dert I6 unter der Verwendung des distanzierten Personalpronomens „man”.Ihre Arbeitsmotivation ist dennoch hoch: Das hebt sie hervor, indem sieabschließend betont, dass es nicht vorkommt, dass sie keine „Lust” habe, zuarbeiten („ist nicht so, dass ich jetzt sagen kann, ich hab’ keine Lust, heut’zu arbeiten”). I6’ Ausführungen sind ein Hinweis darauf, dass sie durch ihreunternehmerische Selbstständigkeit ihre Idealvorstellungen hinsichtlich ihrerArbeitszusammenhänge realisiert hat.

Ein weiteres Beispiel für die positive Bewertung der individuellen Ar-beitszusammenhänge findet sich bei I7. Sie stellt das erhöhte Maß an Energieheraus, über das sie innerhalb ihrer selbstständigen Tätigkeit verfügt.

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I7, 21: „des darf mein dAmaliger chEf jetzt gArnicht hörn,wieviel mehr energIe: ich in ein unterhEhmen, * investIere zEitlIebe Aufwand, * wie wEnn ich als Angestellte alle drEi stundenne kAffepause mach und * viellEicht dOch mal länger sitzenblEib und so * also wAr ich sElber erstAunt dass noch sO vielIn mir steckt was ich berEit bin hErzugeben”

I7 stellt fest, dass sie im Vergleich zu ihrer Tätigkeit als Arbeitnehmerinnun als Unternehmerin über ein wesentlich höheres Maß an Energie verfügt.Der Unterschied zu vorher scheint sehr groß zu sein, darauf weist sie durchdie Einleitung „des darf mein damaliger Chef jetzt gar nicht hören”, hin.Sie benennt die Aspekte „Zeit, Liebe, Aufwand” als diejenigen, die sie nunin erhöhtem Maße investiert. Während „Zeit” und „Aufwand” klar mit derberuflichen Sphäre in Verbindung gebracht werden können, handelt es sich bei„Liebe” um eine Emotion, die auf eine Verbindung zwischen Unternehmens-und Privatperson hinweist, da sie eher in der Privatsphäre verortet ist.

Das Ausmaß von I7s erhöhtem Engagement, welches sie nun für ihrUnternehmen einbringt, hatte sie anscheinend so nicht erwartet („also ich warselber erstaunt, dass noch so viel in mir steckt, was ich bereit bin herzugeben”).Das ist ein Hinweis darauf, dass die intendierten Änderungen hinsichtlich derArbeitszusammenhänge innerhalb der unternehmerischen Selbstständigkeitnun in ihren Auswirkungen zu einer Art Selbstläufer werden, der so gar nichtplanbar war. I7 scheint vom Ausmaß ihrer veränderten Perspektive erstauntzu sein.

Ein weiteres Beispiel für die positive Akzentuierung der eigenen Ar-beitszusammenhänge formuliert I4. Sie stellt ebenfalls eine Verbindung ihresUnternehmens mit der Emotion „Liebe” heraus:

I4, 35: „ich ich lIebe meinen berUf sosEhr ja dass es [dieSituationen nach den Geburten ihrer Kinder, die sie jeweilsals ,Genickbrecher-Situationen’ für ihr unternehmen bezeichnet,Anm. AL] mir dann wIrklich wUrscht war aber”

I4 bezeichnet die Geburten ihrer Kinder als „Genickbrecher-Situationen” fürihr Unternehmen, was u.a. darauf zurückgeführt werden kann, dass sie ohneAngestellte tätig ist. Solche Situationen hat sie zweimal erlebt. Sie weistdarauf hin, dass sie vor der Herausforderung stand, wieder neu mit ihremUnternehmen beginnen zu müssen. Ihr gelingt es jedoch, dies positiv zurahmen. Aufgrund der „Liebe” zu ihrem Beruf, war es ihr „wurscht” („ichliebe meinen Beruf sosehr, ja, dass es mir dann wirklich wurscht war”).

Zudem zeigt sich, dass die positiven Emotionen, die die Interviewtenhinsichtlich ihrer individuellen Arbeitszusammenhänge benennen, auch mit

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ihrer Migrationsgeschichte in Verbindung stehen. Eine solche Verbindungschildert z.B. I1, indem sie bei der Umschreibung ihrer Arbeitszusammenhän-ge auf die Relevanz der inhaltlichen Ausgestaltung ihrer unternehmerischenTätigkeit eingeht und dabei die Verbindung zu ihrem Herkunftsland alszentral hervorhebt:

I1, 4: „es gibt viele: hmm viel liebe in diese: in diese berufbestImmt das war für mich auch eine gelegenheit * meine i:nseloft zu sehn weil ich oft sie durchfahren mu:sste: u:nd äh * u:nd*2* ich hAbe diese verbindung auch * gebrau:cht und gesucht *ja * sehr lange”

I1, 54: „diese verbindung zu itAlien * hm * äh: praktischich habe: wOllte diese brücke ha:ben * ich wollte diese brÜckehaben ich habe gesagt ja, * u:nd ähm: * diese brücke war fürmich: äh: Immer sehr wIchtig”

Einleitend geht I1 auf die „Liebe” in ihrem Beruf ein. Daran anschließendlegt sie dar, dass sie durch ihre unternehmerische Selbstständigkeit eineVerbindung zu ihrem Herkunftsland herstellen kann („war für mich aucheine Gelegenheit, meine Insel oft zu sehen”). Im Rahmen ihres Unterneh-mens scheint sie eine biografische Herausforderung zu bewältigen, die mitihrer Migrationsgeschichte zusammenhängt („ich habe diese Verbindungauch gebraucht und gesucht, ja, sehr lange”). Durch ihre unternehmerischeSelbstständigkeit stellt sie für sich eine „Brücke” zu ihrem Herkunftslandher („ich habe wollte diese Brücke haben. Ich wollte diese Brücke haben,ich habe gesagt, ja, (...) diese Brücke war für mich immer sehr wichtig”).Es wird deutlich, dass I1’ Arbeitszusammenhänge die berufliche Sphäreüberschreiten und Auswirkungen auf ihr gesamtes Leben haben; sie kanneine intensive Verbindung zu ihrer Heimat – einem Aspekt ihrer privatenLebenswelt – aufbauen, und die Verbindung durch ihre berufliche Tätigkeitaufrechterhalten.

Zusammenfassend wird deutlich, dass die Interviewten ihre unternehme-rischen Arbeitszusammenhänge als durchweg positiv rahmen. Sie verwendenfür ihre Umschreibungen positive Emotionen, die zum Teil nicht automatischmit beruflichen Zusammenhängen einhergehen (wie z.B. Spaß und Liebe)und somit darauf hinweisen, dass die berufliche Sphäre überschritten undprivate Aspekte in die Deutungen des eigenen Unternehmens mit einbezogenwerden. Die Ausführungen signalisieren außerdem, dass es den Interviewtengelungen ist, mithilfe ihrer Unternehmen ihre Idealvorstellungen hinsichtlichihrer Arbeitszusammenhänge zu verwirklichen.

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Arbeitszusammenhänge für MitarbeitendeIn der vierten Lernphase zeigt sich bei denjenigen Interviewten, die Mitar-beitende beschäftigen, eine weitere Dimension der Bedeutungsperspektiveunternehmerisches Arbeitsverständnis: Neben ihren eigenen Arbeitszusam-menhängen, sind sie auch verantwortlich dafür, Arbeitszusammenhänge fürandere zu gestalten.

In die Art und Weise, wie die Interviewten als Arbeitgeberinnen dieArbeitszusammenhänge ihrer Mitarbeitenden ausgestalten, fließen Reflexio-nen zu ihren eigenen Erfahrungen ein. Die Frauen scheinen Wert darauf zulegen, dass diejenigen Aspekte, die sie als Arbeitnehmende oder auch alsArbeitssuchende als negativ wahrgenommen haben, in ihren eigenen Unter-nehmen als positive Elemente zur Geltung kommen. Daran zeigt sich, dassdie Interviewten ihren Perspektivwechsel zur Unternehmerin abgeschlossenhaben.

Ein Beispiel dafür, wie Reflexionen zu eigenen (negativen) Erfahrungenin die Gestaltung von Arbeitszusammenhängen für andere einfließen, formu-liert I6. Sie konkretisiert dies anhand der offenen Kommunikationskultur,die sie in ihrem Unternehmen pflegen will:

I6, 118: „ich hab aber auch son kOtz ähm: kAsten gerIchtet* der Eine trAut sich viellEicht nicht dass sie: ich hAb gesagtkÖnnt anonYm * ja: über den Anderen oder jEnes oder waskönnen wir verÄndern und dIes und jEnes, * schmEißt desrein und wir sEtzen uns Ein Abend gehen wir mal Essen un:dmachen diese bOx mal auf was da rAus kommt ja, und dAnndass wi:r dArüber sprEchen * ja * Aber momentAn gOtt seidAnk läuft alles sUper sehr sElten”

I6 legt Wert darauf, dass in ihrem Unternehmen Missstände von Seiten derMitarbeitenden kommuniziert werden. Sie installiert eine Box, um ihnendie Möglichkeit für anonyme Rückmeldungen zu geben („ich hab’ aber auchson’n Kotzkasten gerichtet, (...) ich hab’ gesagt, könnt anonym, ja, über denAnderen oder jenes oder was können wir verändern und dies und jenes”).Bei I6 hatte die fehlende Teamarbeit in Lernphase Eins zu einer Desorientie-rung am ehemaligen Arbeitsplatz geführt. In ihrem eigenen Unternehmenlegt sie großen Wert auf funktionierende Teamarbeit („und dann, dass wirdarüber sprechen”) Ihr Anspruch besteht darin, das in der VergangenheitGelernte weiterzugeben. Sie übernimmt die Verantwortung dafür, dass ihreMitarbeitenden nicht die gleiche negative Erfahrung machen wie sie selbst.Ihr abgeschlossener Perspektivwechsel zur Unternehmerin wird dadurch un-terstrichen, dass sie nicht nur die Fähigkeit erlernt hat, eine Chefin zu sein,

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sondern dass sie in ihrer Chefinnen-Rolle auch kritikfähig und bereit ist, sichihrer Mitarbeitenden anzunehmen. Der „Kotzkasten” wird zum Zeitpunkt desInterviews nicht häufig gebraucht („läuft alles Super, sehr selten”), was einHinweis darauf sein kann, dass die Teamstrukturen in ihrem Unternehmengut funktionieren und ihre Angestellten die Möglichkeit der Meinungsäu-ßerung über den „Kotzkasten” gar nicht benötigen. Die Vorstellungen derInterviewten hinsichtlich ihrer eigenen Arbeitszusammenhänge haben Aus-wirkungen auf die Arbeitszusammenhänge, die sie für ihre Mitarbeitendengestalten.

Ein weiteres Beispiel dafür, wie die eigenen Erfahrungen der Unternehme-rinnen in die Ausgestaltung der Arbeitszusammenhänge ihrer Mitarbeitendeneinfließen, formuliert I2.

I2, 62: „ ja, bei 250 persOnen sind wir hIer wie eine famIlie(...) Eigentlich jeder der bei mir Arbeitet * jEder * wie gesagtwIrklich jeder der bei mIr arbeitet * jEder ist nIcht egal”

I2 bezeichnet die Belegschaft ihres Unternehmens als „eine Familie”. In diesemRahmen ist jede Person die bei ihr arbeitet relevant („ jeder, (...) wirklich jeder,der bei mir arbeitet, jeder ist nicht egal”). Durch die mehrmalige Verwendungvon „ jeder” verleiht sie ihrer Aussage Nachdruck. I2 hat auf der Suche nacheiner Arbeitsstelle Exklusionserfahrungen gemacht, also eine extreme Formdes Nicht-Relevant-Seins erfahren. Hinsichtlich ihres eigenen Unternehmenskehrt sie das in einer besonderen Art und Weise um, indem sie die in ihremUnternehmen Beschäftigten als „Familie” bezeichnet. Hierdurch assoziiert sieeine enge, über berufliche Fragestellungen hinausgehende Verbindung mitihren Beschäftigten.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich in der Ausge-staltung der Arbeitszusammenhänge der von den Interviewten durchlaufeneLernprozess spiegelt. Auf Grundlage ihrer eigenen reflektierten Erfahrungenagieren sie als Arbeitgebende. Die Frauen versuchen, ihre Mitarbeitendendavor zu bewahren, dass sie ähnliche negative Erfahrungen machen wiesie selbst, indem sie das Gelernte als einen Mehrwert in ihre Unternehmeneinbringen.

Selbstständigkeit als LebensartIn der im Folgenden dargestellten Dimension des unternehmerischen Arbeits-verständnisses wird in besonderem Maße die Veränderung in der Perspektiveder Interviewten im Vergleich zu Phase Drei deutlich. Während die In-terviewten in Phase Drei eine erhöhte Arbeitsbelastung positiv rahmenund sie so bewältigen, zeigt sich nun in Phase Vier, wie die Interviewten

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die mit dem Unternehmertum einhergehende hohe Arbeitsbelastung in ihrunternehmerisches Arbeitsverständnis integriert haben.

Die Unternehmerinnen bezeichnen ihre Selbstständigkeit als „Art zuleben”. Die erhöhte Arbeitsbelastung stellt einen Teil davon dar und wirddurch die Vorteile, die eine unternehmerische Selbstständigkeit mit sichbringt, ausgeglichen. Bei der Umschreibung „Art zu leben” handelt es sichum einen In-vivo-Code von I2 (I2, 147: „ist schon eine Art zu leben alsodie Selbstständigkeit”). Durch diese Ausdrucksweise wird bereits signalisiert,dass mit dem Unternehmertum die berufliche Sphäre überschritten wird.

Die Dimension Selbstständigkeit als „Art zu leben” zeigt sich anhanddrei unterschiedlicher Facetten; die erste bezieht sich auf das allgemeineVerständnis der Selbstständigkeit als Lebensart, in der zweiten Facettebeschreiben die Interviewten die mit der unternehmerischen Selbstständigkeiteinhergehenden Freiheiten, und in der dritten zeigt sich, dass die mit derunternehmerischen Selbstständigkeit einhergehende hohe Arbeitsbelastungeinen integralen Bestandteil des Arbeitsverständnisses der Interviewtendarstellt.

Zunächst gehe ich auf das Verständnis der unternehmerischen Tätigkeitals „Art zu leben” ein. Ein Beispiel hierfür liefert I2, die ihre Sprachschuleals ihre persönliche „Lebensschule” bezeichnet:

I2, 8: „ich sag mal * die schUle: * die ich äh: hier gegrÜndethabe ist die schUle: für mich * Das ist meine lEbensschuledas hat wIrklich vIele verändert (...) das ist tatsächlich einelEbensschule für mich * das hat wIrklich mein lEben totAlverändert”

Das Unternehmen von I2 ist eine Sprachschule. Sie beschreibt, dass siedie Schule als ihre persönliche „Lebensschule” ansieht („das Schule (...) istdie Schule für mich. Das ist meine Lebensschule”). Hiermit signalisiert sie,dass durch ihre unternehmerische Selbstständigkeit umfassende Lernprozesseinitiiert wurden, die sich auf ihr gesamtes Leben auswirken. I2 unterstreichtihre Aussage, indem sie sie wiederholt und durch die Verwendung von„tatsächlich” besonders betont („das ist tatsächlich eine Lebensschule fürmich”). Es wird deutlich, dass ihre Berufstätigkeit weit über die beruflicheSphäre hinausgeht („das hat wirklich mein Leben total verändert”), undsomit für sie eine besondere Art zu leben darstellt. Insgesamt betrachtetsteht das Verständnis des Unternehmerinnen-Seins als Lebensart für dieAuswirkungen, die das Unternehmerinnen-Sein auf das gesamte Leben – dasBerufs- und Privatleben – der Unternehmerinnen hat.

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Die zweite Facette der Selbstständigkeit als Lebensart bezieht sich aufdie Freiheiten, die die Art zu leben sowohl für das Berufs- als auch für dasPrivatleben der Interviewten mit sich bringt und die die Arbeitsverhältnisseder Frauen entscheidend bestimmen.

Die Freiheit, die eine unternehmerische Selbstständigkeit hinsichtlichder unternehmerischen Entscheidungen mit sich bringt, stellt z.B. I7 alszentral heraus:

I7, 35: „des gigAntischste was ich fAnd, und bis hEute findees Alles sElbst zu entscheiden wIe sieht mein lOgo aus * wAnnschrEib ich ne rEchnung wann schIck ich sie rAus”

I7 beschreibt es als „des Gigantischste”, dass sie in ihrem Unternehmen dieMöglichkeit hat, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen („alles selbst zuentscheiden, wie sieht mein Logo aus, wann schreib ich ’ne Rechnung, wannschick’ ich sie raus”). Sie betont, dass die Freiheit, eigene Entscheidungen zutreffen, für ihren gesamten Lernprozess relevant war, indem sie sagt „was ichfand und bis heute finde”. Neben den Auswirkungen auf das Berufsleben,haben die dargelegten Freiheiten, die mit der Arbeitsgestaltung der unter-nehmerischen Selbstständigkeit einhergehen, allerdings auch Auswirkungenauf das Privatleben. Hierauf nimmt beispielsweise I3 Bezug:

I3, 45: „frEiheit, * die frEiheit auf jeden fAll * und dAsgenIeße ich buchstäblich * die tatsAche dass ich äh: kAnn meinberIcht um zwölf uhr nAchts schreiben, * äh: ode:r fünf uhrvOrmittag ode:r ich kann plAnen meine: * meine termIne wieich gerne: mÖchte, * dAs ist mir sehr wIchtig * Auch wenndas äh: äh: äh: strEssig werden kann weil am Ende man istunterwegs vo:n sechs uhr vOrmittag bis äh: zwölf uhr nAcht* wei:l die kInder sind dA: mEine *2* meine hAUshalt ist dAmein mAnn äh: verlangt auch äh: aufmErksamkeit von mir *und dAnn manchmal es ist *[atmet laut aus] manchmAl sag ichOK wenn Ich sechs stunden am tAg * zu Arbeit wäre @hätteich mEine rUhe@ [lacht] und dAs ist *2* nein * nicht wAhr”

I3 benennt die „Freiheit” als positives Element ihrer unternehmerischenSelbstständigkeit, welches sie genießt. Sie unterstreicht das durch die doppel-te Verwendung sowie Betonung von „auf jeden Fall” („Freiheit, die Freiheitauf jeden Fall”). Die Freiheit verstärkt jedoch auch ihre Arbeitsbelastung,was zu Stress führen kann („stressig werden kann, weil am Ende man istunterwegs, von sechs Uhr Vormittag bis zwölf Uhr Nacht”). Allerdings scheint

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es ihr gerade durch die unternehmerische Selbstständigkeit zu gelingen, ihrPrivatleben mit ihrer Unternehmerinnenrolle zu vereinbaren: Sie kann gleich-zeitig Unternehmerin, Mutter, Ehefrau und Hausfrau sein („meine Kindersind da, (...) meine Haushalt, mein Mann”). Während sie als Unternehmerindie Freiheit der freien Zeiteinteilung genießt, bedeutet das für sie als Privat-person Stress. I3 führt aus, dass sie als Arbeitnehmerin ihre „Ruhe” hätte,was sie allerdings mit einem Lachen sagt und sodann revidiert. Im Inter-viewausschnitt gibt I3 bereits Hinweise auf die erhöhte (Arbeits-)Belastung,welche einen selbstverständlichen Teil ihres Unternehmerinnen-Seins bildetund was die dritte Facette der Selbstständigkeit als Lebensart darstellt.

Die dritte Facette beschreibt z.B. I2, indem sie herausstellt, dass ihrevollständige Identifikation mit ihrer Unternehmerinnenrolle darin besteht,dass sich das Unternehmerinnen-Sein erheblich auf ihr Privatleben auswirkt:

I2, 74: „ist schon: schon: eine art zu lEben also die sElbststän-digkEit * die kann man nicht abtrEnnen von dir und sagen OK,jetzt mach ich bei mir die tü:r zu: zuhAuse zu, * und damitblEiben die gedanken an dEine arbeit da drAußen *3* so Ist esnicht * ich bin dA glücklich: u:nd jEder sieht mich wie ich glück-lich äh: bIn * aber keine:r kEiner weiß wie: wieviel schlaflosenÄchte ich hAbe, *2* ich habe in der nacht zum beispiel diesesdi:diktIergerät neben mir * (...) ich habe: ich habe fEstgestelltbei mir in der nacht, * äh: * schAlt ich mich garnicht Ab, * (...)diese grEnze zwischen mIr und äh: mEinem äh: * meine fIrma* meinem geschÄft * ich sEh nicht mehr * ich weiß nicht objEmand das sieht ich glaub es nicht”

Das Zitat von I2 beinhaltet den In-vivo-Code für die unternehmerischeSelbstständigkeit als „Art zu leben”. I2 definiert die Umschreibung, indem sieauf die enge aber auch schwierige Verbindung zwischen sich als Privat- und alsUnternehmerinnenperson eingeht („die kann man nicht abtrennen von dir undsagen ok, jetzt mach ich bei mir die Tür (...) zuhause zu und damit bleibendie Gedanken an deine Arbeit da draußen”). Als Unternehmerin repräsentiertsie das Bild der glücklichen Geschäftsfrau („ich bin da glücklich und jedersieht mich, wie ich glücklich bin”). Als Privatperson ist sie nicht von sich alsUnternehmerinnenperson abgegrenzt und hat mit den Herausforderungenihres Unternehmens zu kämpfen („keiner weiß, wieviel schlaflose Nächte ichhabe”). So reicht die Arbeit weit in ihr Privatleben hinein, was dazu führt,dass sie sich auch nachts Gedanken über ihre Firma macht. Ihr Umgangdamit sieht so aus, dass sie sich ein Diktiergerät neben ihr Bett legt („ich hab’in der Nacht zum Beispiel dieses Diktiergerät neben mir”). Für I2 hat die

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unternehmerische Selbstständigkeit dazu geführt, dass sie nachts nicht mehrrichtig abschalten kann („ich habe festgestellt, (...) in der Nacht schalt’ ichmich gar nicht ab”). Damit geht einher, dass sie sich vollkommen mit ihremUnternehmen identifiziert. Sie sagt, dass für sie keine „Grenze” zwischen sichselbst und ihrem Unternehmen besteht. Hier deutet sich an, dass mit demUnternehmerinnen-Sein eine Arbeitsbelastung einhergeht, die die beruflicheSphäre übersteigt und Einfluss auf das gesamte Leben nimmt.

Ein weiteres Beispiel dafür, dass die hohe Arbeitsbelastung ein integrati-ver Bestandteil der unternehmerischen Selbstständigkeit der Interviewten ist,liefert I6. Sie vergleicht ihre Arbeitszeit mit einer Regelarbeitszeit. Sie hatfür sich einen Weg gefunden, wie sie sich, zumindest bis zu einem gewissenGrad, von der hohen Arbeitsbelastung abgrenzen kann.

I6, 108: „das hIeß, zehn bis zwölf stUnden * Arbeiten * daswAr äh am Anfang ja noch mEhr * und jEtzt gUck ich dass ichbei meinen zehn * stUnden bleib”

Es wird deutlich, dass der zeitliche Arbeitsaufwand von I6 nun weit größerist als in ihrem ehemaligen Angestelltenverhältnis. Sie vergleicht hier ihrezum Interviewzeitpunkt aktuelle Situation mit dem Beginn ihrer Unterneh-mensgründung. I6 hat gelernt, sich bis zu einem gewissen Grad von ihrerArbeit abzugrenzen. Dies tut sie, indem sie darauf achtet, nicht mehr alszehn Stunden täglich zu arbeiten („ jetzt guck’ ich, dass ich bei meinen zehnStunden bleib”).

Zusammenfassend werden hier die verschiedenen Facetten der Selbststän-digkeit als Lebensart deutlich. Die erste Facette bildet das Unternehmerinnen-Sein allgemein als eine bestimmte „Art zu leben” ab. Die zweite Facettebezieht sich auf die Freiheiten, die die Interviewten als Unternehmerinnengenießen und welche unterschiedliche Auswirkungen auf ihr Privatlebenhaben. In der dritten Facette thematisieren die Interviewten die erhöhteArbeitsbelastung als selbstverständlichen Teil ihres Unternehmerinnen-Seins.Die erhöhte Arbeitsbelastung wirkt sich ebenfalls auf das Privatleben derInterviewten aus. Insgesamt signalisiert bereits der In-vivo-Code „Art zuleben”, dass es sich bei den Ausführungen zu den Arbeitszusammenhängenum Aspekte handelt, die sich auf das gesamte Leben der Interviewten – undnicht nur auf ihr Berufsleben – beziehen.

6.4.5 Gesellschaftliche ReflexionenIn diesem Unterkapitel gehe ich darauf ein, dass sich die Frauen ausgehenddavon, dass sie ihr berufliches Selbstverständnis in ein unternehmerisches

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6.4 Lernphase Vier: Erlerntes Unternehmerinnen-Sein 239

transformiert haben, mit gesellschaftlichen Fragestellungen auseinanderset-zen, welche über das von mir entwickelte Modell zum unternehmerischenSelbstverständnis hinausgehen.

Auf einige der Reflexionen, die die Interviewten aufgrund ihrer verän-derten Perspektive vornehmen, bin ich schon im Rahmen der Darstellungder verschiedenen Bedeutungsperspektiven eingegangen.

Im Folgenden stelle ich nun diejenigen Reflexionen vor, die die be-rufliche Sphäre der Interviewten in einem Maße überschreiten, dass sienicht den vier Bedeutungsperspektiven des unternehmerischen Selbstver-ständnisses zugeordnet werden können. Dieses Nachdenken der Frauen übergesellschaftliche Themen und Fragestellungen beschreibe ich im Folgendenals gesellschaftliche Reflexionen. Diese Reflexionen gliedere ich in drei un-terschiedliche Facetten: Zum einen haben die Interviewten im Prozess desUnternehmerinnen-Werdens und als erfolgreiche Unternehmerinnen, eineveränderte Perspektive auf das Thema Integration in Deutschland und somitauch auf Deutschland als Einwanderungs- bzw. Migrationsland aufgebaut.Von dieser Facette, die allgemeine Fragestellungen zum Thema Integrationbehandelt, ist eine zweite Facette zu unterscheiden, in der die Interviewtenauf ihre eigene Partizipation und Integration in Deutschland eingehen. Ineiner dritten Facette beschreiben die Interviewten, wie sie die Erfahrungen,die mit ihrem Herkunftsland in Verbindung stehen, neu interpretieren.

Ein Beispiel für die erste Facette, in der es um allgemeine Fragestellungenzum Thema Integration geht, liefert I2, die die Integrationsbereitschaft derMehrheitsgesellschaft thematisiert.

I2, 30: „Ich habe sEhr viele migrAnten die tatsÄchlich berEits: sind sich zu integrIeren * ich bin mir aber nicht sicher ob diedeutsche gesellschaft das will”

Als Unternehmerin trifft I2 viele Migrant_innen, die eine große Integrati-onsbereitschaft mitbringen („die tatsächlich bereit sind, sich zu integrieren”).Hinderlich für deren Integrationsprozess ist aus ihrer Sicht eine bestimmteHaltung, die sie der Mehrheitsgesellschaft zuschreibt: Sie ist sich nicht sicher,„ob die deutsche Gesellschaft das will”. Bevor I2 zur Unternehmerin wur-de, war sie ebenfalls eine integrationsbereite Migrantin, die allerdings keineChance zur (beruflichen) Integration bekommen hatte. Diese Erfahrung fließtin ihre heutige Sichtweise ein. Einhergehend mit ihren Erfahrungen als Un-ternehmerin kann sie ihre Erfahrungen als Arbeitssuchende in einen größerendeutschen Kontext einordnen und aufgrund ihrer veränderten Perspektiveneu interpretieren.

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240 6 Lernprozesse von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte

In einem weiteren Beispiel für die erste Facette, die für allgemeineFragestellungen zum Thema Integration steht, werden auch strukturelle Be-dingungen, wie z.B. die Anerkennung bzw. Nicht-Anerkennung ausländischerAbschlüsse, relevant. Darauf geht I2 ein, die die Integration als einen wechsel-seitigen Prozess beschreibt, an dem sowohl die Aufnahmegesellschaft als auchdas Individuum ihren Anteil haben. Der Prozess der Integration beinhaltetfür sie eine Partizipation am Arbeitsmarkt und wird besonders dadurcherschwert, dass die Aufnahmegesellschaft ausländische Bildungsabschlüssezum Teil nicht anerkennt.

I2, 30: „es gibt vIele mEnschen, * die qualifikatiOnen mitge-bracht haben * die erfAhrung mitgebracht haben * die: berEitsind hier was gUtes zu tun *2* kÖnnen es aber nicht, * aus ver-schiedenen gründen, * das wIchtigste oder das grÖßte problemist die Anerkennung der ausländischen Abschlüsse, * ich hAbehIer in den integratiOnskursen (...) die führenden spezialistenfür atOmphysik * aus russland * hAuptdirigenten von von dernationAlorchester *2* die prOfessOren die einen internationA-len nAmen (...) haben, * die bis jEtzt noch an den kongrEssentEilnehmen deren Abschluss bis jetzt nicht anerkannt sind *2*dAs ist eine katasthrophAle geschichte * dEUtschland * also: *für mIch ist Eine frage * WEN braucht dEutschland * habenwir nicht genUg hier rEinigungskräfte, * [lacht] * mÜssen Un-bedingt die reinigungskräfte zwei Uniabschlüsse haben, *2* ichhAtte hier eine rEinigungsfrau gehabt äh: äh: die hatte zweiUniabschlüssen aus russland *2* (. . . ) wenn DIE lEute * fürsIch sElbst gar keine perspektIve hier sEhn, *3* dann habenwir wEIterhin arbeitslosengeld zwei empfänger. * deprimIerte *resignIerte * enttÄuschte * die Aber jetzt nicht mehr zurückgehn * kÖnnen oder mÖchten * sie werden von eigenen lEutenausgelacht * das ist eine schAnde [lacht] *2* wir hAben * wirhaben in dEutschland ein sEhr sehr sehr großes problem *2*man hat hier * Überqualifizierte kräfte *2* die in dIesem landhier nicht gebrAucht werden”

I2 führt aus, dass viele Menschen mit Migrationsgeschichte nicht nur dieBereitschaft und Motivation, sondern auch Qualifikationen mitbringen, dieeine Integration erleichtern sollten („die Qualifikationen mitgebracht haben,die Erfahrung mitgebracht haben, die bereit sind, hier was Gutes zu tun”).Dem stellt sie gegenüber, dass die Integration dieser Menschen erschwert wird,weil ihre ausländischen Abschlüsse nicht anerkannt werden. Auch I2 hat die

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6.4 Lernphase Vier: Erlerntes Unternehmerinnen-Sein 241

Erfahrung gemacht, dass ihr ausländischer Abschluss nicht anerkannt wurde.Sie bezeichnet es als eine „katastrophale Geschichte”, dass viele Menschen inDeutschland nicht für das anerkannt werden, was sie sind bzw. mitbringen.

I2 signalisiert ihre eigene Identifikation mit ihrem Einwanderungsland,indem sie von Deutschland in Wir-Form spricht („haben wir nicht genug hierReinigungskräfte”). Mit ihrer Integration in Deutschland geht eine Kritikdaran einher, dass ausländische Abschlüsse nicht anerkannt werden. IhreKritik führt sie weiter aus, indem sie darauf eingeht, dass viele Menschenmit Migrationsgeschichte, deren Abschlüsse nicht anerkannt sind, lediglichArbeitsstellen als Reinigungskräfte finden. Auch I2 hat eine Reinigungs-kraft mit zwei Universitätsabschlüssen eingestellt („müssen unbedingt dieReinigungskräfte zwei Universitätsabschlüsse haben, ich hatte hier eine Rei-nigungsfrau gehabt, (...) die hatte zwei Uniabschlüssen aus Russland”). DerPerspektivwechsel von I2 wird durch ihre Ausführung unterstrichen. Wennman den Beginn von I2s Zeit in Deutschland betrachtet, dann fällt auf,dass sie zunächst vor ähnlichen Herausforderungen wie ihre Reinigungskraftstand, da ihre aus Russland mitgebrachten Qualifikationen nicht anerkanntwurden.

Laut I2 führen die mangelhaften Zukunftsperspektiven für Menschenmit Migrationsgeschichte dazu, dass sie psychisch belastet und auf Sozial-leistungen vom Staat angewiesen sind („Arbeitslosengeld zwei Empfänger,Deprimierte, Resignierte, Enttäuschte”). I2 hatte anfangs ähnliche Exklu-sionserfahrungen gemacht und sich daraufhin durch die Gründung einesUnternehmens eine Zukunftsperspektive geschaffen. In ihrem Interviewver-halten spiegelt I2 sowohl ihre Perspektive als integrierte Unternehmerin alsauch ihre Exklusionserfahrungen. Die Perspektive einer integrierten Unter-nehmerin zeigt sich daran, dass sie in der Wir-Form spricht („wir habenin Deutschland ein sehr sehr sehr großes Problem”). Demgegenüber steht,dass sie im gleichen Zusammenhang mehrfach von der eher distanzierendenAusdrucksweise „man” Gebrauch macht, wenn sie feststellt: „man hat hierüberqualifizierte Kräfte, die in diesem Land hier nicht gebraucht werden”.Die Verwendung von „man” kann als ein Hinweis darauf gesehen werden,dass I2 ihre Exklusionserfahrungen weiterhin prägen.

Zusammenfassend wird deutlich, dass die Interviewten in der ersten Fa-cette, der allgemeinen Reflexionen zum Thema Integration, den (beruflichen)Integrations- bzw. Partizipationsprozess für Menschen mit Migrationsge-schichte als herausfordernd darlegen.

Im Rahmen der zweiten Facette steht die eigene (berufliche) Integrationund Partizipation der Interviewten im Zentrum. Durch ihre unternehmerischeSelbstständigkeit partizipieren die Interviewten auf besondere Weise am

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Arbeitsmarkt, in welchem ihre Integration beiläufig erfolgt. Beispielhaftumschreibt das I2:

I2, 28: „klAr man arbeitet doch nicht auf dem mOnd * [lacht]* ich Arbeite hier das heißt ich bin schon so ein ( ) ja ich habehIer * rings umhEr ein Umfeld aufgebaut * das heißt auch einnEtzwerk *(...) geschÄftspArtnern ich weiß nicht was * von denagentUrn von: * äh also was: integratiOns * bereich angeht jadas ist wirklich ein rIEsen netzwErk, * von den bIldungsträgernin A-stadt von den Arbeitsagentu:rn und äh: bUndesamt undAUsländerbehÖrde und verschiedene migratiOnsberAtungsstel-len * das heißt, * man ist Irgendwo mittendrInnen klAr ich kannnicht sagen: ich: stehe Abseits und äh: betrachte das von meinersEite * äh * kAnn ich nicht * du bist rIchtig mittendrInnen *ja * u:nd du bist * du bist dadurch ein tEil der gesellschaft *3*ja: * ähm: ich habe mich mit krAft und mit gewAlt in diesegesellschaft integriert auch wenn @die mEisten das garnichtwollten@ [lacht]”

Zunächst geht I2 darauf ein, dass sie durch ihr Unternehmen automatischam deutschen Arbeitsmarkt partizipiert („man arbeitet doch nicht auf demMond”). Durch ihr Unternehmen hat sie sich ein professionelles Netzwerkgeschaffen („ ja, ich habe hier rings umher ein Umfeld Aufgebaut, das heißtauch ein Netzwerk von den (...) Geschäftspartnern”). Dadurch sieht sie sichals Teil der deutschen Gesellschaft, was sie verdeutlicht, indem sie mehrfachbetont, dass sie als Unternehmerin „mittendrin” steht („man ist irgendwomittendrin, (...) du bist richtig mittendrin”). Ihre Integration als Unterneh-merin scheint somit beiläufig von statten zu gehen. Demgegenüber stellt ihreIntegration als Privatperson eine Herausforderung für sie dar. I2 verwen-det Umschreibungen wie „Kraft” und „Gewalt” („ich habe mich mit Kraftund mit Gewalt in diese Gesellschaft integriert”) und signalisiert so einenanstrengenden und intendierten Prozess. Im lachend gesprochene Schlussteilihrer Ausführungen („auch wenn die Meisten das gar nicht wollten” ) spitztsie die thematisierten Bemühungen hinsichtlich ihrer eigenen Integration zu.Während sie als Unternehmerin beiläufig zum Teil der Gesellschaft wird,muss sie sich als Privatperson gegen den Willen der Mehrheitsgesellschaftihren Platz in der Gesellschaft suchen. I2 hat sich unabhängig davon, dassdie Mehrheitsgesellschaft kein Interesse an ihrer Integration hat, dennocheigenaktiv integriert. So wird bei den Reflexionen zu Deutschland zum einendie berufliche und zum anderen die private Integration angesprochen.

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6.4 Lernphase Vier: Erlerntes Unternehmerinnen-Sein 243

Eine dritte Facette der Reflexion zur Gesellschaft besteht darin, dassdie Interviewten die Erfahrungen, die sie in und mit ihrem Herkunftslandgemacht haben, neu interpretieren. Ein Beispiel dafür liefert I2, die ihreErfahrungen mit ihrem Herkunftsland Russland beschreibt und diese in dendeutschen Kontext einordnet.

I2, 123: „verdienen in russland bis jEtzt noch gar kein rich-tiges geld * ja, * das ist so eher wie soziAlhilfeempfänger indEutschland, *2* Aber * was sIe da tUn für die kinder *3*da ham * haben wIr als kinder hatten wir als kinder glÜck *wirklich * mit welchem hErz sie für uns dA warn * das: das istdAs was mir in deutschland ein bisschen fEhlt * dass jetzt nichtnUr das gEld die rOlle spielt sondern Auch: ähm: * die fra:gedes hErzens * mit wElchem herz bIn ich denn dabei * ist esnUr für mich eine abgeta:n die arbeit abgetan sein sOll”

I2 führt aus, dass Lehrpersonen in Russland aus ihrer heutigen Perspektiveunterbezahlt sind („die Lehrer verdienen in Russland bis jetzt noch gar keinrichtiges Geld”). Sie vergleicht Lehrkräfte in Russland mit Arbeitslosen inDeutschland („das ist so eher wie Sozialhilfeempfänger in Deutschland”).Allerdings geht sie anschließend auf herausragende Aspekte in der russischenArbeitsmentalität ein, die unabhängig vom Einkommen bestehen. Sie legtdas große Engagement der Lehrer_innen dar („was sie da tun für die Kinder,(...) hatten wir als Kinder Glück, wirklich, mit welchem Herz sie für unsda war’n”). Auch wenn das Gehalt aus ihrer veränderten Perspektive ver-gleichsweise gering ist, so bringen russische Lehrer_innen ein Engagementfür ihre Berufstätigkeit mit, welches ihr in Deutschland heute fehlt („dasist das, was mir in Deutschland ein bisschen fehlt”). I2 geht weiter auf diezentrale Bedeutung des Einkommens ein, welche sie in Deutschland wahr-nimmt und wodurch ihres Erachtens nach das „Herz” in den Hintergrundrückt („dass jetzt nicht nur das Geld die Rolle spielt, sondern auch die Fragedes Herzens, mit welchem Herz bin ich denn dabei”). Abschließend geht sieauf die Arbeitseinstellung ein, die ihrer Ansicht nach von der prioritärenRolle des Einkommens negativ beeinflusst wird („ist es nur für mich eineabgetan, die Arbeit abgetan sein soll”). Durch ihre Unternehmensgründungund die Transformation ihres Arbeitsverständnisses ist es I2 möglich, dieBedingungen in Deutschland und in ihrem Heimatland einem kritischenVergleich zu unterziehen.

Insgesamt zeigt sich, dass die Interviewten eine kritische Perspektiveentwickelt haben, die ihre Reflexion über gesellschaftliche Fragen prägt. DieAusführungen zeigen, dass diese kritische Perspektive entscheidend von den

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Erfahrungen beeinflusst wird, die mit den Migrationsgeschichten der Frauenin Verbindung stehen. Einen weiteren Beitrag zu dieser kritischen Perspek-tive der Frauen leistet das eigene Unternehmen, das sie gegründet haben.Sie gehen darauf ein, dass ihre Partizipation und Integration erst durch dasUnternehmen ermöglicht wird. Darüber hinaus können die Interviewten ihreErfahrungen, die sie in ihrem Herkunftsland gemacht haben, neu einordnenvor dem Hintergrund dessen, was sie im deutschen Kontext erlernt haben.Gegebenheiten, die ihnen früher im Herkunftsland selbstverständlich erschie-nen – wie z.B. ein hohes Engagement bei niedrigem Lohn – bewerten sieaufgrund ihrer Erfahrungen als Unternehmerinnen in Deutschland neu.

6.4.6 ZusammenfassungWird der gesamte Lernprozess betrachtet, findet in Phase Vier die größtepersönliche Entwicklung der Interviewten statt und damit einhergehend wirdder Perspektivwechsel zur Unternehmerin abgeschlossen.

Während das berufliche Selbstverständnis auf die berufliche Sphärekonzentriert war und das Individuum mit seinem direkten Umfeld im Zentrumder Betrachtung stand, weitet sich in der vierten Phase die Perspektiveder Unternehmerinnen aus: Sie bezieht neben den Unternehmerinnen alsIndividuen auch andere Menschen mit ein und geht weit über die beruflicheSphäre hinaus, was sich daran zeigt, dass die Frauen sich bürgerschaftlichengagieren und ihre Rolle als Unternehmerin vor dem Hintergrund größerergesellschaftlicher Zusammenhänge reflektieren.

Die Sichtweise der Interviewten wird entscheidend durch die Tatsachegeprägt, dass sie als erfolgreiche Unternehmerinnen am deutschen Arbeits-markt partizipieren und sich dort beiläufig integrieren. Ihre Partizipationhaben sie sich „selbstständig” erarbeitet. Demgegenüber kann die Integrationals Privatperson herausfordernder ablaufen.

Der Prozess, in dem sich das unternehmerische Selbstverständnis ent-wickelt, wird durch die persönlichen Erfahrungen sowie Reflexionen derInterviewten entscheidend beeinflusst. Auf unterschiedliche Arten integrierendie Interviewten die Themen Migrationsgeschichte sowie Geschlechtskon-struktionen in ihre Perspektive, was sich in der konkreten Ausgestaltungihrer Unternehmen zeigt. So bietet z.B. eine der Interviewten ihre Ausbil-dungsplätze jungen Müttern und jungen Frauen mit Migrationsgeschichte anund eine andere Interviewte stellt mit ihrem Unternehmen einen besonderenKontakt zu ihrem Herkunftsland her. Mit den unterschiedlichen Branchen, indenen die Interviewten tätig sind, geht einher, dass die neue Perspektive derFrauen auf unterschiedliche Art und Weise zur Geltung kommt. Bei einigen

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6.5 Zusammenfassung des Lernmodells 245

Interviewten steht das mit der veränderten Perspektive einhergehende verän-derte Selbst(bild) im Vordergrund. Dies ist z.B. bei der Supervisorin (I4) derFall, die zunächst aufgrund ihrer Migrationsgeschichte über keine Netzwerkeverfügte, und nun die Relevanz betont, die Netzwerke (ihre „Wurzeln”), diesie sich durch ihr Unternehmen geschaffen hat, zu pflegen. Bei anderenInterviewten stehen die mit der veränderten Perspektive einhergehendenAuswirkungen auf andere Menschen im Vordergrund. Dies zeigt z.B. I2sverantwortlicher Umgang mit Kund_innen ihrer Sprachschule. I2 weiß, wiewichtig Sprachkenntnisse für die Integration und Partizipation von Menschenmit Migrationsgeschichte sind und appelliert an ihre Kund_innen, gewis-senhaft Deutsch zu lernen. Sie rückt ihren eigenen wirtschaftlichen Erfolgin den Hintergrund, indem sie einem langsam lernenden Sprachschüler diekostenlose Teilnahme am Kurs ermöglicht.

6.5 Zusammenfassung des LernmodellsIm Folgenden stelle ich nochmal zusammenfassend dar, wie sich das beruflicheSelbstverständnis über die vier Lernphasen hinweg in ein unternehmerischesSelbstverständnis gewandelt hat. Dazu beschreibe ich jeweils zusammenfas-send den Wandel, den die vier Bedeutungsperspektiven, Selbstbewusstsein(6.5.1), (Eigen-)Anspruch (6.5.2), (Eigen)Verantwortung (6.5.3) und Ar-beitsverständnis (6.5.4) durchlaufen haben. Zu Beginn des Lernprozessessteht die berufliche Entwicklung im Vordergrund, und die Entwicklung derInterviewten bleibt auf die berufliche Sphäre beschränkt. Die ersten dreiLernphasen sind dadurch gekennzeichnet, dass zunächst allgemeine beruflicheFragen im Vordergrund stehen, welche allmählich durch unternehmerischeFragen ersetzt werden. Im fortschreitenden Prozess rückt die persönlicheEntwicklung der Interviewten, die über die berufliche Sphäre hinausgeht, inden Vordergrund. Sie erreicht ihren Höhepunkt in Phase Vier, in der ausdem beruflichen Selbstverständnis ein unternehmerisches Selbstverständniswird.

6.5.1 Wandel des SelbstbewusstseinsZu Beginn des Lernprozesses bezieht sich die Bedeutungsperspektive be-rufliches Selbstbewusstsein auf das berufliche Können und die beruflichenFähigkeiten. Es handelt sich also um eine sehr enge Perspektive, die vorrangigdie berufliche Sphäre betrifft. In Phase Zwei wird das berufliche Selbstbe-wusstsein hinsichtlich einer Unternehmensgründung weiter gestärkt und das

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Unternehmen fließt als mögliche Option in die neue Perspektive ein. Nach derGründung in Phase Drei stehen die Interviewten vor der Herausforderung,dass ihnen unternehmerische Wissensbestände und Fähigkeiten fehlen. Siebewältigen diese Herausforderung, indem sie ihr Selbstbewusstsein auch inunsicheren und kritischen Situationen stärken und aufrechterhalten – sieentwickeln unterschiedliche Bewältigungsstrategien, z.B. die Bewertung vonFehlern als Lernchancen. Auf diese Weise legen sie den Grundstein für einumfassendes unternehmerisches Selbstbewusstsein.

In Phase Vier ist aus dem ursprünglichen beruflichen Selbstbewusstseinein unternehmerisches Selbstbewusstsein geworden. Da das unternehmerischeWissen, welches in Phase Drei noch fehlt, erlernt wurde, kommen die vorhergebrauchten Bewältigungsstrategien nicht mehr zum Einsatz. Vielmehr wirddeutlich, wie das unternehmerische Selbstbewusstsein nicht mehr nur dasgesamte Unternehmen mit einschließt, sondern weit darüber hinausgeht unddie berufliche Sphäre übersteigt. Die persönliche Entwicklung der Unterneh-merinnen wird relevant. Zudem spielen die Integration und die Verortungihrer Migrationsgeschichte in ihrer unternehmerischen Tätigkeit eine ent-scheidende Rolle. Darüber hinaus spiegelt sich das neue unternehmerischeSelbstbewusstsein auch im Privatleben der Unternehmerinnen und führtdazu, dass sie Erfahrungen – wie z.B. solche, die ihre Migration betreffen –neu interpretieren und entsprechend handeln.

6.5.2 Wandel des AnspruchsIn Phase Eins verfügen die Interviewten über einen beruflichen Eigenan-spruch, der festlegt, welcher beruflichen Tätigkeit sie nachgehen möchten.Er verändert sich in Phase Zwei dahingehend, dass für die Gründungsent-scheidung die Vereinbarkeit einer unternehmerischen Selbstständigkeit mitder Mutterrolle in den Fokus rückt. So spielt für den Eigenanspruch schonim frühen Verlauf des Lernprozesses das Privatleben der Interviewten eineRolle. Durch die Gründung wird der Eigenanspruch in Phase Drei um einenAnspruch an andere erweitert. Die fehlenden unternehmerischen Kenntnisseund Fähigkeiten verursachen eine Ausdifferenzierung des Anspruchs und be-dingen außerdem, dass die Interviewten verschiedene Bewältigungsstrategienentwickeln, um den Kenntnis- und Fähigkeitsmangel zu überbrücken.

In Phase Vier zeigt sich ein umfassender unternehmerischer Anspruch.Für den neu entstandenen Anspruch ließen sich anhand der Daten verschie-dene Dimensionen ermitteln, die diesen konkretisieren. Die neue erweitertePerspektive ist dadurch gekennzeichnet, dass sie auch über individualistischeFragestellungen und die berufliche Sphäre hinausgeht und auch die Ideale

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6.5 Zusammenfassung des Lernmodells 247

der Interviewten zur Geltung bringt. Dies hat nicht nur Auswirkungen aufdas Verhalten der Interviewten gegenüber anderen Menschen, sondern auchauf die Qualität ihrer Produkte. Außerdem spiegelt sich die veränderte unter-nehmerische Perspektive in den Ansprüchen an (potenzielle) Mitarbeitende.Darüber hinaus reflektieren die Interviewten im Rahmen ihres unterneh-merischen Anspruchs auch über ihre eigene Migrationsgeschichte und überGeschlechtskonstruktionen zum Frau-Sein.

6.5.3 Wandel der VerantwortungAnfänglich ist die berufliche Eigenverantwortung auf die enge Verknüpfungvon Erwerbstätigkeit und Einkommen und die daraus resultierende Erwerbs-motivation beschränkt. Der Fokus liegt auf dem Einkommen und somit derberuflichen Sphäre. Er hat sich nun im Laufe des Lernprozesses entscheidendgeändert. In Phase Vier zeigt sich, dass die Frauen hauptsächlich durchdie Freude an ihrer Tätigkeit und zum Teil auch durch bestimmte religiöseWerte motiviert werden, zu arbeiten. Das Einkommen spielt zwar nochhinsichtlich des „Werts” der eigenen Arbeit eine wichtige Rolle, ist jedochim Hinblick auf die Arbeitsmotivation in den Hintergrund gerückt. Die neueunternehmerische Verantwortung beinhaltet eine reflektierte Sichtweise, diesich anhand einer Systemkritik (Kritik am deutschen Wohlfahrtsstaat) sowieeiner Kritik an (arbeitslosen) Individuen (mit Migrationsgeschichte) zeigt.

Im Rahmen ihrer unternehmerischen Verantwortung übernehmen dieInterviewten Verantwortung für ihre (potenziellen) Mitarbeitenden. In dieseVerantwortung fließen auch Fragestellungen ein, die über die berufliche Sphä-re hinausgehen. Die Interviewten reflektieren z.B. darüber, wie schwieriges für junge Mütter (mit Migrationsgeschichte) ist, eine Ausbildungsstellezu finden. Zudem wird deutlich, dass in das Verhalten der Interviewtengegenüber ihren (potenziellen) Mitarbeitenden die eigenen Erfahrungen mitden Themen Migration und Geschlecht einfließen. Dies zeigt sich daran, dasssie für ihre (potenziellen) Mitarbeitenden und zum Teil auch für Kund_innenMöglichkeiten schaffen, die sie selbst nicht hatten. Die Interviewten überneh-men eine bürgerschaftliche Verantwortung, die sich sowohl auf Deutschlandals auch auf ihr Herkunftsland beziehen kann. Hierbei nimmt die Art desUnternehmens eine determinierende Rolle dafür ein, auf welche Art dieInterviewten ihrer Verantwortung nachgehen. Der wirtschaftliche Gewinnrückt dabei in den Hintergrund.

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248 6 Lernprozesse von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte

6.5.4 Wandel des ArbeitsverständnissesDas berufliche Arbeitsverständnis ist zu Beginn des Lernprozesses auf einepositive Ausgestaltung der Arbeitszusammenhänge bezogen; als Arbeitneh-mende haben die Interviewten darauf nur geringfügigen Einfluss, weshalb dasIdealbild einer unternehmerischen Selbstständigkeit entsteht. In Phase Dreiwird die Realisierung ihrer Idealvorstellung durch die Unternehmensgrün-dung möglich. Allerdings kommt es durch die Gründung zu einem erhöhtenArbeitsaufwand, den die Interviewten bewältigen, indem sie ihn positivrahmen.

In Phase Vier zeigt sich deutlich, wie sich die neue unternehmerischePerspektive auf das Arbeitsverständnis der Interviewten auswirkt. Zunächstwerden die eigenen Arbeitszusammenhänge sowie die Arbeitszusammenhängeder Mitarbeitenden ausgestaltet. Hierbei fließen vergangene Erfahrungen ausden ehemaligen Arbeitsverhältnissen der Interviewten ein; dies geschieht,indem aus Erfahrungen Impulse für die positive Gestaltung von Arbeitszu-sammenhängen abgeleitet werden. Die unternehmerische Selbstständigkeitbezieht sich nicht nur auf die berufliche Sphäre, was besonders durch denIn-vivo-Code der Selbstständigkeit als „Art zu leben” hervorgehoben wird.Sie bringt sowohl Freiheiten als auch eine erhöhte Arbeitsbelastung mit sich.

6.5.5 Auswirkungen auf gesellschaftliche ReflexionenAls Ergebnis des Lernprozesses zeigt sich, dass die Frauen ausgehend vonihrem unternehmerischen Selbstverständnis über gesellschaftliche Fragestel-lungen reflektieren. Ihre neu entwickelte Perspektive hat Auswirkungendarauf, wie sie über gesellschaftliche Zusammenhänge nachdenken. Aus denDaten heraus konnte ermittelt werden, dass die Frauen sich mit Fragstellun-gen zur Integration und Partizipation in Deutschland auseinandersetzen. Diestun sie auf zweierlei Weise: Zum einen setzen sie sich damit auseinander, wiedie Gesellschaft mit den Themen Integration und Partizipation umgeht undzum anderen befassen sie sich mit ihrer eigenen Integration und Partizipation.Sie kommen zu dem Ergebnis, dass die Haltung der „Mehrheitsgesellschaft”Integrationsprozesse erschwert. Demgegenüber stellen sie heraus, dass ihreUnternehmen sich für sie als integrationsfördernd erwiesen haben. Zudemführt ihr neues unternehmerisches Selbstverständnis dazu, dass sie über ihrHerkunftsland nachdenken und damit in Verbindung stehende Erfahrungenneu interpretieren. Gegebenheiten und Bedingungen, die ihnen im Herkunfts-land selbstverständlich erschienen, bewerten sie nun vor dem Hintergrundihrer Erfahrungen in Deutschland. Sie setzen sich z.B. mit einer positiven

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6.5 Zusammenfassung des Lernmodells 249

Arbeitseinstellung in ihrem Herkunftsland auseinander, die trotz geringerLöhne gegeben ist und stellen diese ihren Erfahrungen im deutschen Ar-beitsmarkt gegenüber. Insgesamt wird anhand der umfassenden Reflexionender Interviewten zu gesellschaftlichen Fragestellungen deutlich, dass dasUnternehmerinnen-Werden in Deutschland viel mehr beinhaltet, als sichlediglich einen Arbeitsplatz zu schaffen und im Arbeitsmarkt zu integrieren.Vor allem dadurch, dass Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte auchanderen Menschen Partizipations- und Integrationsmöglichkeiten eröffnen,tragen sie sowohl zum gesellschaftlichen Wandel als auch zum gesellschaftli-chen Zusammenhalt bei.

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7 Das Lernmodell alstransformatives Lernmodell

Im Folgenden diskutiere ich die Ergebnisse meiner empirischen Analyse unterBezugnahme auf die Theorie des transformativen Lernens. Dadurch wirdeine differenzierte Betrachtung meiner Daten möglich. Zudem zeigt sich,welche Erkenntnisse die Studie für die Theorie des transformativen Lernensliefert.

Gemäß King (2000) werden transformative Lernprozesse durch Lebens-veränderungen ermöglicht. Zu diesen zählt der Autor u.a. Migration undArbeitsplatzwechsel – zwei Aspekte, die auf die in der vorliegenden Studieinterviewten Frauen zutreffen.

Die vier verschiedenen Phasen des Lernmodells – Gründungsvorbe-reitungsphase, Gründungsentscheidungsphase, Gründungsphase, Phase deserlernten Unternehmerinnen-Seins – zeigen auf, dass die von mir interviewtenFrauen ihre Weltsicht verändert haben. In Mezirows Worten ausgedrückt,haben die Interviewten im Zuge der Gründung ihrer Unternehmen die Fens-ter ausgetauscht, durch die sie die Welt wahrnehmen (vgl. Mezirow 1991a).Folglich können ihre Unternehmensgründungen als transformative Lern-prozesse gedeutet werden, bei denen die Bedeutungsstruktur beruflichesSelbstverständnis in die Bedeutungsstruktur unternehmerisches Selbstver-ständnis transformiert wird. Die jeweiligen Bedeutungsstrukturen wirkenhandlungsanleitend dafür, wie Lernende ihrer Umwelt begegnen.

Bei der Betrachtung des Lernmodells unter Bezugnahme auf die Theoriedes transformativen Lernens richte ich das Augenmerk zunächst darauf, wiesich darin der Anfang und das Ende eines transformativen Lernprozessesabbilden. Dabei fällt auf, dass das Modell sowohl von den desorientierendenDilemmata – dem Startpunkt – als auch von der transformierten Perspektive– dem Endpunkt – sehr differenzierte Beschreibungen liefert, die über denRahmen von Mezirows Theorie hinausreichen. In der folgenden Darstellungdiskutiere ich die vier verschiedenen Lernphasen anhand der Theorie destransformativem Lernens und gehe dabei genauer auf die Elemente „desori-entierendes Dilemma” und „Perspektivtransformation” ein. Dabei orientiereich mich nicht nur an der Theorie, wie sie von Mezirow ausgearbeitet wurde,

A. Laros, Transformative Lernprozesse von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte, DOI 10.1007/978-3-658-09999-2_7, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015

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252 7 Das Lernmodell als transformatives Lernmodell

sondern berücksichtige auch den akt uellen Diskurs zum transformativenLernen. Bevor ich jedoch mit der Diskussion beginne, gehe ich noch daraufein, woran ich mich dabei orientiere und wie ich die Diskussion aufbaue.

Zunächst leite ich zwei für meine Darstellung wichtige Unterpunkte her.In den ersten beiden Lernphasen – der Gründungsvorbereitungsphase sowieder Gründungsentscheidungsphase – haben die Interviewten verschiedeneHerausforderungen bewältigt und sich so (zunächst unbewusst und nichtintendiert) auf ihren transformativen Lernprozess vorbereitet. Wie schon inder Ergebnisdarstellung passt an dieser Stelle der Begriff des Vorbereitensnur bedingt, da die Interviewten zwar aktiv gehandelt haben, allerdingsohne die Intention, ihre Unternehmensgründung oder ihren transformativenLernprozess durch ihr Handeln zu planen. Von außen betrachtet ergibt sichjedoch das Bild, dass die Interviewten die ersten beiden Lernphasen sehr wohldazu nutzen, den Lernprozess vorzubereiten. Aufgrund des Vorbereitungs-charakters, den die beiden Phasen aufweisen, bezeichne ich sie im Folgendenin Anlehnung an Taylor (1994) als „Setting the stage – Phase Eins” und„Setting the stage – Phase Zwei”. In der dritten Lernphase wird der eigentlichetransformative Lernprozess durch ein desorientierendes Dilemma initiiert unddie Interviewten beginnen, ihr berufliches Selbstverständnis in ein unterneh-merisches zu verwandeln. Die Vielfalt der transformierten Perspektiven zeigtsich in Lernphase Vier, der Phase des erlernten Unternehmerinnen-Seins.

Bei der Diskussion des von mir entwickelten Lernmodells orientiere ichmich vorrangig an den folgenden zehn Schritten eines idealtypischen Lern-prozesses nach Mezirow (vgl. Mezirow 2000: 22). Zum besseren Verständnisnenne ich auch deren deutsche Übersetzung (zur genaueren Ausführung sieheKap. 1.2). In der Übersetzung weiche ich teilweise von den existierendenÜbersetzungen (vgl. Arnold 1997; Fuhr 2011; Zeuner 2012) ab, ohne auf dieGründe genauer eingehen zu wollen. Der englische Begriff „life”, auf Deutsch„Leben” stellt einen sehr unspezifischen Begriff dar. Was Mezirow meint,könnte man auf deutsch auch mit Weltsicht übersetzen (s. Lernschritt Zehn).

Die zehn Schritte des idealtypischen Lernprozesses nach Mezirow lauten:

1. Disorienting dilemma: Desorientierendes Dilemma;

2. Self-examination with feelings of fear, anger, guilt, or shame: Selbstbeob-achtung mit Gefühlen von Zweifel, Angst, Schuld oder Scham;

3. A critical assessment of assumptions: Kritische Überprüfung der eigenenVorannahmen bzw. Bedeutungsperspektiven;

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253

4. Recognition that one’s discontent and the process of transformation areshared: Erkennen, dass auch andere unglücklich sind und Prozesse derTransformation erfahren;

5. Exploration of options for new roles, relationships, and actions: Erkundungvon Optionen für neue Rollen, Beziehungen und Handlungsmöglichkeiten;

6. Planning a course of action: Planung einer Handlungsstrategie;

7. Acquiring knowledge and skills for implementing one’s plans: Wissens-und Fähigkeitserwerb für die Umsetzung des Plans;

8. Provisional trying of new roles: Provisorisches Ausprobieren der neuenRollen;

9. Building competence and self-confidence in new roles and relationships:Aufbau von Kompetenz und Selbstvertrauen in neuen Rollen und Bezie-hungen;

10. A reintegration into one’s life on the basis of conditions dictated by one’snew perspective: Reintegration in die Weltsicht auf der Basis der neuenPerspektiven;

(Mezirow 2000: 22; eigene Übersetzung).Obwohl diese zehn Lernschritte im Zentrum von Mezirows Publikationen

zum transformativen Lernen stehen, hat er diese weder im Detail unter-sucht noch eingehend vorgestellt oder operationalisiert. Aus diesem Grundorientiere ich mich an einer Operationalisierung der einzelnen Schritte, dieBrock (2010: 128) vorgenommen hat, um im Rahmen einer quantitativenStudie transformative Lernprozesse von Collegestudierenden zu untersuchen(vgl. Tabelle 7.1 auf Seite 254). Die Unterteilung von Brock hilft mir dabei,die verschiedenen Lernschritte, die sich aus meiner empirischen Studie er-geben, zu identifizieren. Bei der Nummerierung der Schritte orientiere ichmich allerdings an Mezirow. Durch Berücksichtigung von Brocks Opera-tionalisierung soll gewährleistet werden, dass die von mir vorgenommeneOperationalisierung der einzelnen Schritte an ein aktuelles Verständnis dieseranschließt.

Die Diskussion des von mir entwickelten Lernmodells anhand der Theoriedes transformativen Lernens ist folgendermaßen aufgebaut: Zunächst lege ichdie Vorbereitung des transformativen Lernprozesses, das „Setting the stage”(7.1) dar. „Setting the stage” – Phase Eins (7.1.1) bezieht sich auf die ersteLernphase meines Lernmodells – die Gründungsvorbereitungsphase - und

7 Das Lernmodell als transformatives Lernmodell

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254 7 Das Lernmodell als transformatives Lernmodell

Tabelle 7.1: Instrument Wording Used to Compile Transformative LearningPrecursor Steps (Brock 2010: 128)

Precursor Step Describedin Literature

Instrument Wording

1. Disorienting dilemma „I had an experience that cau-sed me to question the wayI normally act” „I had an ex-perience that caused me toquestion my ideas about so-cial roles.”

2. Critical reflection on ass-umptions

„As is questioned my ideas,I realized I no longer agreedwith my previous beliefs orrole expectations.”

3. Recognized discontent sha-red

„I realized that other peoplealso questioned their beliefs.”

4. Explored new roles „I thought about acting in adifferent way from my usualbeliefs and roles.”

5. Self-examination with fee-lings of guilt or shame

„I felt uncomfortable with tra-ditional social expectations.”

6. Tried on new role „I tried out new roles so thatI would become more comfor-table or confident in them.”

7. Planned course of action „I tried to figure out a wayto adopt these new ways ofacting.”

8. Acquired knowledge/ skillsto implement plan

„I gathered the informationI needed to adopt these newways of acting.”

9. Built competence/ confi-dence

„I began to think about reac-tions and feedback from mynew behavour.”

10. Reintegrated to life „I took action and adoptedthese new ways of acting.”

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7.1 „Setting the stage” (Lernphase Eins und Zwei) 255

„Setting the stage” Phase Zwei (7.1.2) bezieht sich auf die zweite Lernphase –die Gründungsentscheidungsphase. Darauf folgt eine Zusammenfassung derKernelemente des „Setting the stage” (7.1.3). Anschließend beschreibe ichdas desorientierende Dilemma (7.2), welches die Lernenden in der drittenLernphase, der Gründungsphase, erfahren. Danach gehe ich auf die transfor-mierte Perspektive (7.3) – die vierte Lernphase meines Lernmodells – ein,wobei ich in der Darstellung sowohl die damit einhergehende Autonomie(7.3.1) als auch die „neuen” Abhängigkeiten – Interaktionen und Beziehungen(7.3.2) erläutere. Das Kapitel schließt mit einer Zusammenfassung sowieSchlussfolgerungen, die sich aus den Resultaten der vorliegenden Studie fürdie Theorie des transformativen Lernens ergeben (7.3.3).

7.1 „Setting the stage” (Lernphase Eins undZwei)

Nach der Theorie von Mezirow (1991a) wird eine Perspektivtransformationdurch ein desorientierendes Dilemma ausgelöst. Die Theorie des transforma-tiven Lernens wurde vielfach dahingehend kritisiert, dass Mezirow keinerleiAussagen darüber macht, wie die Vorbedingungen für ein solches desorien-tierendes Dilemma aussehen. Damit einhergehend besteht auch Unklarheitdarüber, warum einige der desorientierenden Dilemmata Perspektivtrans-formationen auslösen und andere nicht. So wird innerhalb des Diskursesum die Theorie des transformativen Lernens deutlich, dass hinsichtlich des-orientierender Dilemmata ein Forschungsbedarf besteht. Beispielhaft nenneich nachfolgend einige von Taylor (2000) herausgearbeitete Fragen, die For-schungsdesiderata darstellen:

„[T]here is little understanding of why some disorienting di-lemmas lead to a perspective transformation and other do not.What factors contribute to or inhibit this triggering process?Why do some significant events, such as death of a loved one orpersonal injury, not always lead to a perspective transformationwhereas seemingly minor events, such as a brief encounter ora lecture can influence or act as a precursor for the triggeringprocess.” (ebd.: 300).

Eine gewisse Art des Vorlaufes zum eigentlichen desorientierenden Dilemmahaben verschiedene Studien bereits thematisiert und sich damit auseinan-dergesetzt, wie die Vorbedingungen für eine Perspektivtransformation – aufwelche Mezirow nicht eingeht – aussehen können. So hat Taylor (1994) eine

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256 7 Das Lernmodell als transformatives Lernmodell

Studie zum Erlernen interkultureller Kompetenz durchgeführt, und hierbeiein sogenanntes „Setting the stage” identifiziert, womit er das Vorbereiteneiner Perspektivtransformation bezeichnet. Er konnte herausstellen, dassvor der eigentlichen Transformation Prozesse ablaufen, die noch nicht direktzu einer solchen führen, die aber notwendig sind, um sie zu ermöglichenund die sie somit vorbereiten. Er fasst dies zusammen als „contribut[ion] toa context of learning readiness” (Taylor 1994: 162). Auf den vorliegendenKontext übertragen geht es um die Frage, wie die Interviewten sich auf dasUnternehmerin-Werden vorbereiten. Mit dem „Setting the stage” hat Taylor(1994) eine Erweiterung von Mezirows Lernmodell formuliert:

„A component of learning that is not addressed in Mezirow’smodel concerns what participants bring to a perspective trans-formation and their degree of readiness for change” (ebd.: 169).

Zu dem von ihm identifizierten „Setting the stage” hält Taylor (1994) außer-dem fest:

„This readiness for change raises a question about the degreeof influence prior learning experiences have on the overall processof a perspective transformation. It also suggests that the moreparticipants can prepare themselves for major transitions, thegreater control and influence they have over the dilemma thataccompanies that transition” (ebd.: 169).

Ein solches „Setting the stage” lässt sich auch im vorliegenden Lernmodellerkennen. Innerhalb der ersten beiden Lernphasen fangen die Interviewtennicht an, ihre bestehenden Bedeutungsperspektiven zu hinterfragen. Sieerfahren zwar sowohl in der Gründungsvorbereitungsphase – LernphaseEins – als auch in der Gründungsentscheidungsphase – Lernphase Zwei– gewisse Desorientierungen, allerdings handelt es sich hierbei nicht umdesorientierende Dilemmata, die eine Perspektivtransformation auslösen.

Somit kann für das von mir entwickelte Lernmodell herausgestellt werden,dass die Interviewten sich in den ersten beiden Phasen auf das desorientieren-de Dilemma, welches in der dritten Lernphase eine Perspektivtransformationauslöst, unbewusst vorbereiten. Die Vorbereitung erfolgt unbewusst undkann lediglich von außen betrachtet als solche beschrieben werden, da dasaktive Handeln der Interviewten im Hinblick auf die Gründung und das inPhase Drei erlebte desorientierende Dilemma nicht als intentional angesehenwerden kann.

Im Folgenden gehe ich zunächst auf das „Setting the stage – PhaseEins” und anschließend auf das „Setting the stage – Phase Zwei” ein. Hierbei

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7.1 „Setting the stage” (Lernphase Eins und Zwei) 257

nehme ich auf den aktuellen Diskurs zur Theorie Bezug und stelle jeweilsheraus, auf welche Schritte des idealtypischen Lernprozesses nach Mezirowdie Interviewten vorgreifen.

7.1.1 „Setting the stage” – Phase EinsIn der Darstellung meiner Ergebnisse habe ich herausgearbeitet, wie inder ersten Lernphase des Lernmodells, der sogenannten Gründungsvorbe-reitungsphase, die Interviewten zunächst in Stufe Eins in einzelnen odermehreren Bedeutungsperspektiven ihres beruflichen Selbstverständnisses ir-ritiert werden. Das berufliche Selbstverständnis setzt sich aus den folgendenBedeutungsperspektiven zusammen: Dem hohen beruflichen Selbstbewusst-sein, dem beruflichen Eigenanspruch, der beruflichen Eigenverantwortungsowie dem beruflichen Arbeitsverständnis. Die in Lernstufe Eins erfahrenenIrritationen in einzelnen oder mehreren Bedeutungsperspektiven des berufli-chen Selbstverständnisses wurden dadurch ausgelöst, dass die InterviewtenErfahrungen machen, welche ihre aktuelle berufliche Situation infrage stellen.Diese enge Verbindung zwischen Irritation und aktueller beruflicher Situationbedingt auch, dass sich die ersten Irritationen überwiegend auf die beruflicheSphäre der Interviewten beziehen. Ihre berufliche Entwicklung gerät dabeigenauso in den Fokus wie Fragen zur materiellen Existenzgrundlage.

Mezirow stellt fest, dass jeder transformative Lernprozess mit einemdesorientierenden Dilemma beginnt, aber dass nicht automatisch jedes des-orientierende Dilemma auch zu einem transformativen Lernprozess führenmuss, da ein transformativer Lernprozess nur eine mögliche Reaktion aufeine erfahrene Desorientierung darstellt (vgl. Mezirow 1991a). Bei einemgenaueren Abgleich der Irritationen, die die von mir interviewten Frauen er-fahren haben, mit Mezirows Beschreibung desorientierender Dilemmata fälltauf, dass sie Parallelen zueinander aufweisen. Auch wenn die Interviewtensich nicht aufgrund dieser ersten Irritationen in einen transformativen Lern-prozess begeben, so lassen sich die Irritationen dennoch als desorientierendeDilemmata beschreiben.

Desorientierende Dilemmata werden in Anlehnung an Mezirows Erst-studie häufig als „an acute internal and personal crisis” (Taylor 2000: 298)dargestellt. Eine solche Krise durchlaufen die Interviewten in der erstenLernphase hinsichtlich ihrer beruflichen Situation. Ihre neuen Erfahrungenlassen sich nicht mit den bestehenden Bedeutungsperspektiven ihres berufli-chen Selbstverständnisses interpretieren und wirken dadurch desorientierend.Als Beispiel kann hier I2, die Sprachschulinhaberin, erwähnt werden, die ausihrem Heimatland ein hohes berufliches Selbstbewusstsein mitbringt und in

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258 7 Das Lernmodell als transformatives Lernmodell

Deutschland Erfahrungen macht, die ihr Selbstbewusstsein irritieren: Sowohlihre Qualifikation als auch ihr Können werden nicht anerkannt, wodurchdie Orientierungswirksamkeit ihrer Bedeutungsperspektive hohes beruflichesSelbstbewusstsein infrage gestellt wird.

Die beruflichen Situationen, in denen die Interviewten sich befinden,während sie die Desorientierungen (Stufe Eins von Lernphase Eins) erfahren,sind unterschiedlich. Es zeigt sich ein Kontinuum, bei dem auf der einen SeiteFrauen stehen, die eine Arbeit suchen und auf der anderen Frauen stehen,die sich in einer festangestellten Arbeitsposition befinden. Im Hinblick aufdie Auslöser der Desorientierungserfahrungen kann wiederum unterschiedenwerden zwischen Desorientierungserfahrungen, die durch Dritte aus demberuflichen oder privaten Umfeld und somit extern hervorgerufen werdenund Desorientierungserfahrungen, die vom Individuum selbst durch eigeneReflexionen auslöst werden (vgl. Scott 1991).

In der Analyse von Reflexionen unterscheidet Mezirow zwischen unter-schiedlichen Reflexionsniveaus, die der Autor als Inhaltsreflexion, Prozessre-flexion und Reflexion über Prämissen bezeichnet (vgl. Mezirow 1991a: 140ff.).Während erstgenannte das niedrigste Reflexionsniveau beschreibt, handeltes ich bei letztgenannter um das höchste Reflexionsniveau, das Bestandteileines transformativen Lernprozesses ist. Da die empirische Messbarkeit vonReflexion meist auf verbalisierte Inhalte beschränkt ist, schlägt Mezirowvor, an einigen Stellen Reflexion durch Intuition zu ersetzen (vgl. Mezirow2009a: 95). Bei der Anwendung der Unterscheidung unterschiedlicher Re-flexionsniveaus auf die vorliegende Studie fällt auf, dass es sich bei denDesorientierungen, die in Lernstufe Eins der ersten Lernphase durch dieIndividuen selbst ausgelöst werden, zumeist um inhalts- bzw. auch prozess-bezogene Reflexionen handelt. Als Beispiel kann hier die Supervisorin I4genannt werden, die realisiert, dass sie ihr „Potenzial noch nicht ganz entfal-tet” (I4, 2) hat: Sie bezieht sich eng auf inhalts- und prozessbezogene Belangeihrer aktuellen beruflichen Situation – beginnt folglich aber nicht, ihre demzugrunde liegenden Prämissen zu hinterfragen. Als Beispiel für Auslöser vonDesorientierungen, die auf Intuition beruhen, kann die Ausdrucksweise vonI1, der Verkäuferin italienischer Produkte, angesehen werden, die infolgeihrer lebensbedrohlichen Erkrankung festhält: „Ich braucht’ wirklich wasNeues” (I1, 5). Nach dem Überstehen ihrer Erkrankung scheint I1 einenintuitiven Impuls zu spüren, der dazu führt, dass ihre aktuelle beruflicheSituation nicht mehr zu ihren bestehenden Bedeutungsperspektiven passt.

Insgesamt muss allerdings für die erste Lernphase festgehalten werden,dass die durch Reflexion und Intuitionen ausgelösten Desorientierungen denkleinsten Teil der in dieser ersten Lernphase erfahrenen Desorientierungen

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7.1 „Setting the stage” (Lernphase Eins und Zwei) 259

ausmachen. Sie finden sich lediglich bei den Desorientierungen der Bedeu-tungsperspektive des beruflichen Eigenanspruchs und ereignen sich auchhier häufig in einer Kombination mit externen Einflüssen. Der überwiegendeTeil der Desorientierungen wird extern, also durch Dritte, ausgelöst, diewiederum in einem direkten Zusammenhang mit der beruflichen Sphäre derInterviewten stehen. Hauptsächlich werden somit berufliche Lebenskontex-te relevant, wobei die Migrationsgeschichte einen determinierenden Faktoreinnehmen kann, wenn sie Benachteiligung oder Exklusion bedingt. Nebenden beruflichen Lebenskontexten thematisieren die Frauen auch privateLebenskontexte, allerdings nur so weit, wie sich die beruflichen Kontexteauch auf die privaten auswirken und dadurch ein direkter Zusammenhangzwischen beiden besteht. Für die privaten Lebenskontexte können die Mut-terrolle, das Alter sowie biografische Erfahrungen zentral werden. Insgesamtstehen die ersten Desorientierungen der vier Bedeutungsperspektiven ehermit beruflichen als mit privaten Lebenskontexten in Verbindung.

Es zeigt sich eine Vielfalt hinsichtlich der Art und Weise, auf die dieInterviewten die ersten Desorientierungen ihres beruflichen Selbstverständ-nisses erfahren. Diese wirken sich nicht als desorientierende Dilemmata imMezirow’schen Sinne auf die bestehenden Bedeutungsperspektiven aus, weildie Interviewten hierfür in Lernstufe Zwei der ersten Lernphase Bewälti-gungsstrategien entwickeln, und sich von den Desorientierungen abwenden,anstatt davon ausgehend ihre Bedeutungsperspektiven infrage zu stellen.Mithilfe von Bewältigungsstrategien vermeiden es die Interviewten, sich aufdie Desorientierungen einzulassen. Die in der ersten Lernphase erfahrenenDesorientierungen weisen spezielle Eigenarten auf: Ihre Besonderheit zeigtsich darin, dass sie sich auf einer situationsbezogenen Ebene ereignen, d.h.auch wenn sie bis zur Bedrohung der beruflichen und damit materiellen Exis-tenz führen, so bedingen sie jedoch nicht, dass die Frauen ihre bestehendengrundlegenden Bedeutungsperspektiven ihres beruflichen Selbstverständnis-ses infrage stellen.

Von den in der ersten Lernphase auftretenden situationsbezogenen Des-orientierungen sind Desorientierungen zu unterscheiden, die das ganze Lebenin einer umfassenden Weise betreffen. Insgesamt stellt sich die Frage, vonwelcher Art Desorientierungen überhaupt sein müssen, damit man sich vonihnen abwenden kann, wie dies die Interviewten in der vorliegenden Stu-die tun. Bei Desorientierungen, die das ganze Leben in einer umfassendenWeise betreffen, scheint dies erheblich schwerer zu sein als bei Desorientie-rungen, die nur auf eine Sphäre beschränkt bleiben – wie im vorliegendenFall auf die berufliche Sphäre. Hierbei handelt es sich um eine Grundfra-ge des transformativen Lernens, die (noch) nicht beantwortet ist. Es gibt

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260 7 Das Lernmodell als transformatives Lernmodell

durchaus Desorientierungen, die sich auf das ganze Leben beziehen und diedennoch keinen transformativen Lernprozess hervorrufen. An der bisherigenForschung zum transformativen Lernen fällt auf, dass sich diese fast aus-schließlich dem transformativen Lernen widmet, jedoch nicht untersucht, woausdrücklich nicht transformativ gelernt wird (vgl. Taylor/ Laros 2014). AlsBeispiel hierfür kann die Studie von Courtenay u.a. (1998) genannt werden,die transformative Lernprozesse von Personen beschreibt, die lernen mussten,mit ihrer HIV-Erkrankung umzugehen. Das Erhalten der Information, dassman lebensbedrohlich erkrankt ist, stellt eine desorientierende Erfahrungerheblichen Ausmaßes dar, die sich auf das ganze Leben der betreffendenPersonen in einer umfassenden Weise auswirkt. Zur Bewältigung dieser Des-orientierung wenden die Untersuchten sich nicht von ihr ab, sondern zeigenvielmehr eine sogenannte „initial reaction”, die sich zunächst infolge desBekanntwerdens der Krankheit ereignet (vgl. ebd.). Gemäß der Autoren giltdiese erste Reaktion zwar als ein Meilenstein auf dem Weg zum transfor-mativen Lernprozess, wird jedoch nicht als dessen unmittelbarer Auslöser,sondern vielmehr als Vorläufer für diesen angesehen.

Im Anschluss an die Studie von Courtenay u.a. stellt sich die Frage,bei welcher Art der Desorientierungen ein Abwenden von diesen – wie esdie Interviewten in der vorliegenden Studie vollziehen – hilfreich ist, undwelchen Desorientierungen man sich stellen sollte. Zum anderen stellt sichdie Frage, ob die ersten Desorientierungen, die die Interviewten erfahrenhaben, überhaupt das Potenzial besitzen, zu desorientierenden Dilemmatazu werden, die einen transformativen Lernprozess auslösen. Laut Mezirow(1991a) geht es darum, ausgelöst durch ein desorientierendes Dilemma, „kri-tische” Bedeutungsperspektiven zu transformieren. Aber welche „kritischen”Bedeutungsperspektiven könnten das sein? Wie hätte in der vorliegendenStudie eine Erweiterung der Weltsicht der Interviewten aussehen können,wenn sie sich bereits in dieser frühen Lernphase auf die Desorientierungeneingelassen hätten?

Während der ersten Lernphase haben die Frauen erkannt, dass zunächstnicht die Bedeutungsperspektiven ihres beruflichen Selbstverständnisses,sondern vielmehr ihre Erfahrungen, die sie mit ihrer beruflichen Situationmachen, das „Kritische” sind. Davon ausgehend bestärken sie sich in ihrenbestehenden Bedeutungsperspektiven. Ohne eine neue berufliche Richtung –wie sie das Unternehmen darstellt – hätten die Interviewten es mit Sicherheitschwer gehabt, ihr berufliches Selbstverständnis ausgehend von der erstenDesorientierung in eine zukunftsweisende Richtung zu transformieren.

Auch wenn somit die ersten Desorientierungen keine desorientierendenDilemmata im Sinne von Mezirow darstellen, ist es bezeichnend, dass die In-

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7.1 „Setting the stage” (Lernphase Eins und Zwei) 261

terviewten der vorliegenden Untersuchung sie dennoch als Startpunkt für ihreLernprozesse zum Unternehmerinnen-Sein darlegen. Nach der Erzählaufforde-rung, ihre „Unternehmensgründung von Anfang an” (siehe Interviewleitfaden,Anlage) zu beschreiben, beginnen alle Interviewten ihre Erzählungen damit,dass sie auf eine Gründungsvorbereitungsphase eingehen. Als Startpunktihres Lernprozesses weisen die Frauen auf desorientierende Erfahrungen hin,die sie vor ihrer Unternehmensgründung gemacht haben.

Die Bewältigungsstrategien, mithilfe derer die Interviewten sich in StufeZwei der ersten Lernphase von den ersten Desorientierungen abwenden, zeich-nen sich dadurch aus, dass sie an den bestehenden Bedeutungsperspektivenihres beruflichen Selbstverständnisses festhalten und diese weiter bestärken.Dadurch wird unterstrichen, dass es sich bei den Bedeutungsperspektivendes beruflichen Selbstverständnisses zunächst nicht um „kritische” und somitdurch transformatives Lernen zu ändernde Bedeutungsperspektiven handelt.Trotz der Desorientierungen stellen die Interviewten ihr berufliches Selbst-verständnis nicht infrage, sondern vergegenwärtigen sich dieses und haltendaran fest. So bewirken die ersten Desorientierungen, dass die Frauen ihrberufliches Selbstverständnis aktivieren und bestärken. Diese Fokussierungauf ihr bestehendes berufliches Selbstverständnis geht mit einer Abwendungder Interviewten von den Desorientierungen einher. Während sie eingangsErfahrungen machten, die sie mit ihren bestehenden Perspektiven nichtinterpretieren können, scheinen sie nun daran zu arbeiten, ihre individuel-le Situation und die damit zusammenhängenden Erfahrungen zu ändern,anstatt ihre Bedeutungsperspektiven infrage zu stellen. So führt z.B. diedesorientierende Erfahrung von der Sprachschulinhaberin I2, deren Qualifi-kation in Deutschland nicht anerkannt wird, nicht dazu, dass sie ihr hohesberufliches Selbstbewusstsein infrage stellt. Vielmehr schafft sie sich einsoziales Umfeld, in dem ihre Qualifikation und ihr Können genauso wie inihrem Herkunftsland anerkannt werden. So gleicht sie die fehlende struk-turelle Anerkennung, die sie in Deutschland erfährt, aus. Die Interviewtenändern ihre individuellen Situationen und die damit zusammenhängendenErfahrungen bewusst oder beiläufig. Dies tun sie, indem sie beginnen, überihre berufliche Situation zu reflektieren oder sich in einen kommunikativenAustausch mit Dritten zu begeben.

Im Rahmen der Strategien, mit denen die Interviewten ihre desorientie-renden Erfahrungen bewältigen, greifen sie auf verschiedene Schritte des vonMezirow beschriebenen idealtypischen Lernprozesses vor. Dies erscheint alsVorgriff, weil in Mezirows linearer Darstellung transformative Lernprozesseerst durch „desorientierende Dilemmata” ausgelöst werden können, welchedie Bedeutungsperspektiven nachhaltig infrage stellen. In Mezirows Darstel-

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262 7 Das Lernmodell als transformatives Lernmodell

lung ereignen sich die Lernschritte Zwei bis Zehn als eine Folge von SchrittEins, dem desorientierenden Dilemma. Im Vergleich zu dieser theoretischenAnnahme fällt auf, dass es im vorliegenden Lernmodell erst relativ spät –in Lernphase Drei – zu einem desorientierenden Dilemma kommt, von demausgehend die Interviewten im Sinne Mezirows ihre Bedeutungsperspektiventransformieren. Die Desorientierungen, die in den ersten beiden Lernphasenauftreten, bilden vorbereitende Desorientierungen, die in ihrer Summe zueinem späteren Zeitpunkt dazu führen, dass ein desorientierendes Dilemmaerfahren wird, aufgrund dessen die bestehenden Bedeutungsperspektivenhinsichtlich des beruflichen Selbstverständnisses infrage gestellt werden.

Im Folgenden lege ich dar, in welcher Form die Interviewten auf die ver-schiedenen von Mezirow benannten Lernschritte vorgreifen. Im Rahmen derBewältigung der Desorientierungen durch die aktuelle berufliche Situationdurchlaufen die Interviewten zunächst Schritt Zwei, eine Selbstbeobachtung.Allerdings ist diese nicht von den von Mezirow beschriebenen negativ konno-tierten Gefühlen und Emotionen Schuld, Scham, Angst oder Zweifel geprägt.In meinen Daten zeigt sich, dass eher Trotz und Selbstvertrauen relevantwerden. Diese Emotionen weisen eine klare Gegensätzlichkeit zu den vonMezirow genannten Gefühlen und Emotionen auf. Sie unterstreichen dieSelbstbestärkung, welche in den Bewältigungsstrategien zur Geltung kommt.Als Beispiel für die Emotionen kann z.B. der Trotz der Sprachschulinhabe-rin I2 erwähnt werden, die infolge der von ihr erfahrenen Desorientierung„Deutschland beweisen” möchte, dass ihre positive Einschätzung ihrer Qua-lifikation und ihres Können die richtige ist – entgegen der gegenteiligenErfahrungen, die sie zunächst gemacht hatte (I2, 2). Für ein hohes Maß anSelbstvertrauen lässt sich exemplarisch die Knigge-Trainerin I7 nennen, diesich für eine unternehmerische Selbstständigkeit „gewappnet” fühlt (I7, 21).

Ingesamt zeigt sich, dass die Ausgestaltung von Lernschritt Zwei sowohlvon Mezirows als auch von Brocks Darstellung abweicht. Dies ist vor allemdarauf zurückzuführen, dass die eigentliche Perspektivtransformation inLernphase Eins noch nicht begonnen hat. Die Interviewten beginnen nochnicht mit der für eine Perspektivtransformation typischen grundlegendenInfragestellung ihres Selbst.

Zudem wird im Rahmen der Bewältigung der Desorientierung nur be-dingt der dritte Schritt von Mezirows Modell – die Überprüfung der Vor-annahmen – vollzogen. Die Auseinandersetzung der Interviewten mit ihrenbestehenden Vorannahmen zeigt sich daran, dass sie sie durch Bezugnahmeauf private und berufliche Lebenszusammenhänge bestärken. Um einemkritischen Hinterfragen ihrer Bedeutungsperspektiven zu entgehen, wendensich die Interviewten von den desorientierenden Erfahrungen ab. Dies tun

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7.1 „Setting the stage” (Lernphase Eins und Zwei) 263

sie auf unterschiedliche Weisen. Sie richten ihren Fokus entweder auf dieVergangenheit – wie z.B. die Friseurin I6, die auf ihren beruflichen Erfolgaus der Vergangenheit rekurriert. Oder sie beginnen damit neue, zu denDesorientierungen gegenteilige Erfahrungen zu sammeln. Diesen Weg gehtz.B. die Sprachschulinhaberin I2, die sich in ein soziales Umfeld begibt, indem ihre Qualifikation und ihr Können anerkannt werden. Beide Beispielegeben bereits Hinweise auf das Reflexionsniveau sowie die Intuition der Inter-viewten, die in diesem Prozess zum Tragen kommen. Das Reflexionsniveauist – genau wie in Stufe Eins der ersten Lernphase – wenig abstrakt, dadie Interviewten ihre beruflichen Situationen betrachten, ohne jedoch ihreBedeutungsperspektiven zu hinterfragen. So sind ihre Reflexionen – umes mit Mezirows Worten zu sagen – eher am Inhalt und am Prozess desProblemlösens (hier: an der irritierenden beruflichen Situation) orientiert alsan den Bedeutungsperspektiven, die den Interpretationen ihrer Erfahrungenzugrunde liegen.

Ein gewisses Maß an Intuition zeigt z.B. I2. Durch die Verwendungdes Begriffs „landete” in der Umschreibung ihrer Teilnahme am russischenChor, weist sie auf eine beiläufige und intuitive Handlung hin. Scheinbarintuitiv orientiert sie sich an einem sozialen Umfeld, das ihr beruflichesSelbstverständnis bestärkt. Einschränkend muss für alle Untersuchungender Reflexion festgehalten werden, dass die dazu getroffenen Aussagen aufverbalisierten Inhalten basieren. Dies kann laut Mälkki (2012) folgendeEinschränkung mit sich bringen: „what an outsider may appear superficialmay to the insider be a transformative opening to something entirely new”(Mälkki 2012: 224).

Daneben wird deutlich, dass der Prozess des Bestärkens der eigenenVorannahmen überwiegend durch Auseinandersetzung mit sich selbst undnachgeordnet auf dem Weg der Auseinandersetzung mit anderen erfolgt.

Insgesamt halten die Interviewten in Lernstufe Zwei zunächst an denbestehenden Bedeutungsperspektiven ihres beruflichen Selbstverständnissesfest. Daran anschließend ereignet sich der sechste Schritt von MezirowsModell, das Planen einer Handlungsstrategie. Dieser erfolgt gewissermaßenin rückwärtsgewandter Weise: Es geht nicht um Neues, sondern vielmehrdarum, Wege zu finden, um an Bestehendem festzuhalten und so die Be-deutungsperspektiven zu bestärken und auf diese Weise die auftretendenIrritationen zu überwinden. Hierfür sind ebenfalls die inhalts- und prozess-bezogenen Reflexionen der Interviewten zentral. Die Rückwärtsgewandtheitstellt einen Gegensatz zur Zukunftsgewandtheit des sechsten Schrittes inMezirows Modell dar. Sie bedingt, dass keine weiteren Schritte in Richtungder „neuen” Rolle des Unternehmerinnen-Seins gegangen werden.

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264 7 Das Lernmodell als transformatives Lernmodell

Abschließend endet Phase Eins damit, dass Gelegenheiten für einemögliche Unternehmensgründung bestehen. Dies kann mit Mezirows fünf-tem Schritt in Verbindung gebracht werden, der Erkundung von Optionenfür neue Rollen, Beziehungen und Handlungsmöglichkeiten. Die Optionenwerden allerdings noch nicht erkundet, sondern sie bestehen lediglich alsAusblick und Ergebnis von Phase Eins. Der Begriff „Erkundung” beinhalteteine Intentionalität, die in der vorliegenden Studie hinsichtlich der Unterneh-mensgründung nur bedingt nachgewiesen werden kann. Die Gelegenheiten,welche das Resultat von Phase Eins bilden, werden zwar von den Interviewtenaktiv erarbeitet, allerdings interpretieren sie sie hinsichtlich ihrer unterneh-merischen Selbstständigkeit rückblickend als „Zufälle”, die zur Gründungführten.

So sind die Interviewten in Stufe Zwei der ersten Lernphase hauptsäch-lich damit beschäftigt, ihre bestehende Rolle aufrechtzuerhalten und gegenveränderte – zur Interpretation nicht passende – Erfahrungen zu verteidigen.Hierbei zeigen sie ein hohes Maß an Aktivität und Mobilität.

Auch wenn die Desorientierung nicht im Sinne von Mezirows Theorie destransformativen Lernens eine Reorganisation und Transformation bestehen-der Perspektiven auslöst, so leistet die sich in der ersten Lernphase ereignendeDesorientierung dennoch einen entscheidenden Beitrag zum Lernprozess derInterviewten: In der ersten Lernphase wird der vorbereitende Grundstein fürdas Erlernen des Unternehmerinnen-Seins gelegt. Gerade die Tatsache, dassdie Interviewten in Stufe Eins durch ihre berufliche Situation umfassendirritiert werden bedingt, dass sie sich im Folgenden in ihren Bedeutungsper-spektiven ihres beruflichen Selbstverständnisses bestärken. Sie werden sichihrer Stärken bewusst, was sich an positiven Emotionen und Gefühlen zeigt.Die Frauen greifen auf die Schritte Zwei (Selbstbeobachtung mit Gefühlenvon Zweifel, Angst, Schuld oder Scham), Drei (kritische Überprüfung dereigenen Bedeutungsperspektiven), Fünf (Erkundung von Optionen für neueRollen, Beziehungen und Handlungsmöglichkeiten) und Sechs (Planung einerHandlungsstrategie) aus Mezirows idealtypischem transformativen Lernpro-zess vor und erarbeiten sich auf diesem Weg Gelegenheiten für eine möglicheUnternehmensgründung. Indem die Interviewten erste Schritte in Richtungihrer Unternehmensgründung einleiten, schließen sie die erste Lernphase abund gehen in die zweite über.

Insgesamt ist die erste Phase des Lernmodells, die Gründungsvorberei-tungsphase, auf individualistische Fragestellungen der Interviewten sowie ihrdirektes Umfeld konzentriert. Ihre berufliche Sphäre und damit zusammen-hängende Fragestellungen stehen im Zentrum der Lernphase. Die persönlicheEntwicklung ist hier eher gering, da noch keine Perspektivtransformation

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7.1 „Setting the stage” (Lernphase Eins und Zwei) 265

initiiert wird; demgegenüber erscheinen allerdings die Herausforderungen,welche die Interviewten im Hinblick auf ihre berufliche und professionelleEntwicklung zu bewältigen haben, sehr groß. So steht z.B. I2 vor der Heraus-forderung, dass ihr ausländischer Abschluss in Deutschland nicht anerkanntwird, und sie sich dennoch auf der Suche nach einer Arbeitsstelle befindet,die ihren hohen Erwartungen entpricht.

7.1.2 „Setting the stage” – Phase ZweiAuch die zweite Lernphase, die Gründungsentscheidungsphase, ist genau wiedie erste Phase in zwei Stufen aufgeteilt. In der ersten Stufe ergeben sichbeiläufig Gelegenheiten für eine Unternehmensgründung, die die Interviewtenrückblickend als Zufälle interpretieren. Sie sind das Ergebnis der erstenLernphase, mit dem die Interviewten nun konfrontiert werden. In der zweitenLernstufe werden die Interviewten herausgefordert, sich für oder gegen eineGründung zu entscheiden.

Mit Blick auf die Gründungsentscheidungsphase schreiben die Inter-viewten den Gelegenheiten, die zu ihrer Unternehmensgründung führten,eine gewisse Zufälligkeit zu. Der Duden definiert Zufall als „etwas, was mannicht vorausgesehen hat, was nicht beabsichtigt war, was unerwartet geschah”(vgl. Bibliographisches Institut 2013a). Die Verwendung dieser Begrifflich-keit unterstreicht das unbewusste Erarbeiten der Gelegenheiten, das vonden Frauen nicht als zielgerichtet erlebt wurde bzw. rückblickend als nichtzielgerichtet beurteilt wird. Die Identifikation des Zufalls als Zufall, der zuihrer Unternehmensgründung führte, nehmen die Interviewten rekonstruktivvor. Hier stellt sich die Frage, wie sie die jeweiligen Ereignisse zum aktuellenZeitpunkt des Geschehens erlebten.

Um ein Ereignis als einen Zufall im Hinblick auf ein anderes Ereignis zuinterpretieren, muss zwischen beiden Ereignissen eine Verbindung hergestelltwerden. Die Verbindung, die die Interviewten zwischen den als Zufällen füreine Unternehmensgründung interpretierten Ereignissen und ihrer anschlie-ßenden Unternehmensgründung herstellen, kann ein Hinweis darauf sein,dass sie bereits zu Beginn von Lernphase Zwei einer möglichen unternehme-rischen Selbstständigkeit offen und positiv gegenüberstehen. Das Ereignis,eine Gelegenheit zur Unternehmensgründung zu erhalten, beschreiben dieInterviewten völlig unterschiedlich. Allen ist jedoch gemeinsam, dass die Ge-legenheiten zur Gründung von außen an sie herangetragen werden. Dies kannsowohl durch Dritte aus dem beruflichen oder privaten Umfeld geschehenals auch durch andere externe Auslöser. Als Beispiel für letztere können dieAusführungen von I6 genannt werden, die sagt, dass sie „zufällig” an einem

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266 7 Das Lernmodell als transformatives Lernmodell

Laden vorbeilief, an dem „ganz groß zu vermieten” stand (I6, 104). Damitdas Ereignis, dass sie ein zur Vermietung freistehendes Ladenlokal sieht, zueiner Gründungsgelegenheit für sie wird, muss sie es zunächst als eine Gele-genheit für eine (mögliche) Unternehmensgründung interpretieren. In denInterviews beschreiben die Frauen, dass sie die Verbindung zwischen solchen„zufälligen” Ereignissen und ihrer späteren Gründung überwiegend intuitivhergestellt haben. Diese Interpretationsleistungen der Interviewten könnenmit der von Clark (1991) beschriebenen Suche nach einem „missing piece”in Verbindung gebracht werden. Die damit einhergehenden sogenannten„integrating circumstances” beschreibt die Autorin als:

„indefinite periods in which the persons consciously or un-consciously search for something which is missing in their life;when they find this missing piece, the transformation process iscatalyzed.” (Clark 1991: 177f.)

Durch die besondere Betonung der Gelegenheiten, die eine unternehmeri-sche Selbstständigkeit ermöglichen, geben auch die von mir interviewtenFrauen Hinweise darauf, dass sie sich (unbewusst) auf die Suche nach ei-nem solchen „missing piece” begeben haben. Ein Beispiel für ein solches„missing piece” nennt z.B. die Supervisorin I4, die feststellt, dass sie in ihrerbisherigen Berufstätigkeit ihr „Potenzial noch nicht entfaltet” hat. Die be-sondere Bedeutung eines „missing piece” unterstreicht auch Mezirow (2000),indem er herausstellt, dass es „the integration necessary for a transformativeexperience” (Mezirow 2000: 22) bereitstelle.

Mit den beschriebenen Ereignissen geht einher, dass die Interviewtenbei sich ein gewisses Potenzial hinsichtlich einer Unternehmensgründungentdecken. Einhergehend mit den Ereignissen erscheint den Interviewtendas Unternehmen als konkrete mögliche Zukunftsvision. Es kommt so zueinem mentalen Vorgriff auf das zu diesem Zeitpunkt noch nicht bestehendeUnternehmen sowie auf das Unternehmerinnen-Sein.

Zusammenfassend betrachtet entstehen in der ersten Lernstufe der Grün-dungsentscheidungsphase Gelegenheiten für die Unternehmensgründung. DieFrauen müssen sich nun entscheiden, ob sie ein Unternehmen gründen wollen.Die sich „zufällig” ergebenden Gelegenheiten führen dazu, dass die Interview-ten unerwartet vor der Gründungsentscheidung stehen, wodurch sie in ihremberuflichen Selbstverständnis desorientiert werden. Die Desorientierung zeich-net sich dadurch aus, dass sie mit positiven Herausforderungen einhergeht,da sie zukunftsbezogene Möglichkeiten mit sich bringt. Diese Ausprägungsteht im Gegensatz zu dem verbreiteten Verständnis einer Desorientierungals negativ konnotierte Krise (vgl. z.B Courtenay u.a. 1998; Mälkki 2012).

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7.1 „Setting the stage” (Lernphase Eins und Zwei) 267

In der zweiten Stufe der Gründungsentscheidungsphase bewältigen dieInterviewten die Desorientierung, indem sie zunächst eruieren, inwieferneine Unternehmensgründung zu ihren bestehenden Bedeutungsperspektivenpasst. Sie konsultieren Dritte aus ihrem beruflichen oder privaten Umfeldund eruieren auf diese Weise, ob eine Unternehmensgründung mit ihremberuflichen Selbstbewusstsein vereinbar ist. Dies tut z.B. die Friseurin I6,indem sie ihre Kinder konsultiert. Zudem setzen sich die Interviewten mitihrem beruflichen Eigenanspruch auseinander und kommen zu dem Ergebnis,dass ihre Ansprüche an sich als Privatperson – in ihrer Mutterrolle – miteiner Unternehmensgründung vereinbar sind. Sie finden unterschiedliche Be-gründungen dafür, wie sie ihr Privat- und Berufsleben als Unternehmerinnenmiteinander vereinbaren. Eine Begründung besteht z.B. darin, dass sie mitder Unterstützung ihres Lebenspartners rechnen können und eine andereist, auf das schon fortgeschrittene Alter der eigenen Kinder zu verweisen.Im Hinblick auf ihre Auseinandersetzung mit ihrer beruflichen Eigenver-antwortung argumentieren die Interviewten, dass sie ihrem Streben nachfinanzieller Unabhängigkeit mit einer Unternehmensgründung gerecht wer-den können. Sowohl ihre Mutterrolle als auch ihre Rolle als Lebenspartnerinwird von den Interviewten in ihrer Begründung berücksichtigt. So beschreibtz.B. die Supervisorin I4, dass die unternehmerische Selbstständigkeit fürsie als Mutter „die einzige Möglichkeit war, wieder an Arbeit zu kommen”(I4, 35). Das berufliche Arbeitsverständnis der Interviewten passt zu einermöglichen Unternehmensgründung, da letztere für eine Idealvorstellung derArbeitszusammenhänge steht, in denen sie gerne tätig sein möchten.

Innerhalb ihrer Entscheidungsprozesse bestärken die Interviewten dieBedeutungsperspektiven ihres beruflichen Selbstverständnisses. Auf diesemWeg bewältigen sie Desorientierungen und entscheiden sich für eine Grün-dung.

Auch in der zweiten Lernphase kommt es noch nicht zu einem des-orientierenden Dilemma, welches eine Perspektivtransformation im Sinnedes transformativen Lernens nach Mezirow auslöst. Dennoch lassen sichauch hier bereits Vorgriffe auf die verschiedenen von Mezirow bestimmtenLernschritte identifizieren:

Zunächst kommt es zu Schritt Zwei in Mezirows Modell, einer Selbstbe-obachtung. Während dieser Lernschritt in der ersten Lernphase noch vonTrotz und Selbstvertrauen geprägt war, zeichnet er sich nun während derGründungsentscheidung durch Selbstvertrauen und Streben nach Unabhän-gigkeit aus. Ihr Selbstvertrauen bestärken die Interviewten über Dritte undfestigen es so für die Gründungsentscheidung. Für die Bestärkung spielen

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268 7 Das Lernmodell als transformatives Lernmodell

sowohl die Familie, der Partner und die beruflichen Kontakte der Frauen alsauch positive Erfahrungen im beruflichen Umfeld eine entscheidende Rolle.

Das Streben nach Unabhängigkeit bezieht sich hauptsächlich auf dieGenerierung eigenen Einkommens, weist daneben aber auch Genderaspekteauf. Als Beispiel kann hier das heimliche Ansparen von Geld durch I1, dieVerkäuferin italienischer Produkte, genannt werden, die damit gegen das Bildder abhängigen Frau arbeitet, welche in einem Scheidungsfall benachteiligtwäre. Die Grundeinstellung der Interviewten ist weiterhin positiv und scheint– im Vergleich zur ersten Phase – bereits auf eine Unternehmensgründunghinzuweisen.

Darüber hinaus wird die positive Grundeinstellung dadurch unterstri-chen, dass die Frauen in ihren Beschreibungen des Entscheidungsprozessesauf „Glück” hinweisen – hierauf nehmen z.B. I1 und I4 Bezug, indem sie dieUnterstützung durch ihre Partner als Glück beschreiben. Glück definiert derDuden folgendermaßen: „Etwas, was Ergebnis des Zusammentreffens beson-ders günstiger Umstände ist; besonders günstiger Zufall, günstige Fügungdes Schicksals” (vgl. Bibliographisches Institut 2013b). Es wird deutlich,dass die Interviewten auch an dieser Stelle eine (positive) Zufallsbeschrei-bung vornehmen. Zusammenfassend fällt auf, dass die Ausgestaltung vonLernschritt Zwei von Mezirows Modell abweicht, da die Interviewten keinenegativ konnotierten Gefühle und Emotionen zeigen.

In Phase Zwei müssen sich die Interviewten die Bestärkung ihrer Be-deutungsperspektiven erst erarbeiten. Dies erfolgt durch ein kritisches Über-prüfen der Bedeutungsperspektiven, welches zumeist im Rahmen einer kom-munikativen Auseinandersetzung mit Dritten abläuft, was Schritt Drei inMezirows Modell entspricht. Bei der Betrachtung, welche Rolle Dritte fürdie Entscheidungsprozesse der Interviewten spielen wird deutlich, dass dieFamilie diese determiniert. In meiner Studie führt der Einbezug Dritter ausdem privaten Umfeld immer dazu, dass die Interviewten sich in ihren Bedeu-tungsperspektiven bestärken können. Alle Frauen werden von ihren Familienin ihrer Gründungsentscheidung unterstützt. Dies führt zu der Frage, obeine fehlende Unterstützung und Bestärkung durch private Kontexte sichgegenteilig auf die Entscheidung auswirken würde – diese Frage kann durchdie vorliegende Studie nicht beantwortet werden.

Demgegenüber scheint das berufliche Umfeld nur dort, wo es unter-stützend wirkt, für das kritische Überprüfen der Bedeutungsperspektivenherangezogen zu werden. So erinnern sich die Interviewten an vergangeneberufliche Erfolge sowie zufriedene Kund_innen, um sich in ihren beste-henden Bedeutungsperspektiven zu bestärken (vgl. I7, 5). Daneben werdenErfahrungen im beruflichen Umfeld, die nicht unterstützend wirken, abge-

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7.1 „Setting the stage” (Lernphase Eins und Zwei) 269

wertet. Als Beispiel dafür kann hier an die Frisörin I6 erinnert werden, diekeine Unterstützung von der Agentur für Arbeit erfährt und sich darauf-hin dennoch für die Gründung eines Unternehmens entscheidet, da sie dienegative Rückmeldung der Agentur abwertet. Ihre Reaktion deutet daraufhin, dass die Bedeutungsperspektiven der Interviewten in den LernphasenEins und Zwei bereits soweit gestärkt wurden, dass sie nicht mehr durchberufliche Kontexte irritiert werden können. Im Hinblick auf das Lernen inAuseinandersetzung mit Dritten weist Mezirow (2000) darauf hin, dass eineVoraussetzung für das kommunikative Lernen darin besteht, dass man denGesprächspartnern eine Kompetenz zuschreibt. Er sagt hierzu:

„Understanding in communicative learning requires that weassess the meanings behind the words; the coherence, truth, andappropriateness of what is being communicated; the truthful-ness and qualifications of the speaker; and the authenticity ofexpressions of feeling.” (Mezirow 2000: 9)

Werden Mezirows Annahmen zum kommunikativen Lernen berücksichtigt,wäre es möglich, dass die Interviewten die Kompetenz von Personen, dieihrer entfernten beruflichen Lebenswelt angehören, anzweifeln. Dies tut z.B.I6, die die Kompetenz von Mitarbeitenden der Agentur für Arbeit infragestellt. In ihrem Fall handelt es sich nicht um Personen aus ihrem engerenberuflichen Umfeld, also Personen, mit denen sie in einem Beziehungs- bzw.Vertrauensverhältnis steht. Vielmehr wendet sie sich lediglich wegen einermöglichen finanziellen Unterstützung, welche sie nicht zwingend benötigt,an die Arbeitsagentur.

Es kann festgehalten werden, dass private sowie berufliche Kontakte ausdem engeren Lebensumfeld für die Gründungsentscheidung der Interviewtenrelevant werden, wobei die Interviewten unter ihren beruflichen Kontaktenauswählen, welche Kontakte sie als relevant betrachten und welche nicht.Bei den privaten Kontakten erfolgt eine solche Auswahl nicht, da es sichhierbei zumeist um die Familienangehörigen der Interviewten handelt. AlsBeispiel dafür kann hier die Supervisorin I4 genannt werden, die für dieKinderbetreuung auf die Unterstützung ihres Partners angewiesen ist, da es„sonst (...) effektiv nicht gegangen” (I4, 29) wäre. Die Bestärkung durch ihreFamilien stellen die Interviewten besonders heraus. Dadurch wird unterstri-chen, dass die Frauen darauf bedacht sind, als Unternehmerinnen ihr Privat-und Berufsleben miteinander vereinbaren zu können.

Insgesamt fällt auf, dass für Schritt Drei in Mezirows Modell, dem kriti-schen Überprüfen der eigenen Vorannahmen und Bedeutungsperspektiven,der Schwerpunkt auf der Konsultierung Dritter – insbesondere der Fami-

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270 7 Das Lernmodell als transformatives Lernmodell

lie – liegt, und die Interviewten ihre Bedeutungsperspektiven nicht infragestellen. Daraus kann gefolgert werden, dass die individuelle Gründungsent-scheidung nicht aufgrund von kritischer Reflexion getroffen wird, welcheimmer beinhaltet, dass die bestehenden Bedeutungsperspektive hinterfragtwerden. Vielmehr treffen die Frauen ihre Gründungsentscheidung aufgrundvon Reflexionen, die sich mit dem Inhalt und Prozess der Entscheidungauseinandersetzen – auch wenn dies nicht expliziert wird. Stabile (innerfami-liäre) Beziehungen – über die die Interviewten ihren Erzählungen zufolgeverfügen – werden als ein zentrales Element transformativer Lernprozesseangesehen (vgl. z.B. Mezirow 2000, Taylor 2000, 2007, 2008).

Neben den Reflexionen, die nicht expliziert werden, finden sich in derzweiten Lernphase für das Überprüfen der Bedeutungsperspektiven auchAussagen, die explizit auf Reflexionsprozesse hinweisen. Diese sind ebenfallsinhalts- und prozessbezogen und drehen sich um die Frage der Gründungs-entscheidung. So nimmt z.B. die Knigge-Trainerin I7 auf ihren ehemaligenKund_innenstamm Bezug (vgl. I7, 5), den sie sich während ihrer beruflichenTätigkeit als Arbeitnehmende aufgebaut hat. Hingegen scheint die FriseurinI6 ihre Entscheidung intuitiv zu treffen, indem sie feststellt: „ok, ich mach’ desjetzt” (I6, 48). Bezeichnend für alle Interviewten ist, dass sie keine kritischeReflexion vornehmen und somit ihre Bedeutungsperspektiven nicht infragestellen. Stattdessen bestärken sie sich in ihren bestehenden Bedeutungsper-spektiven, was letztendlich zur Entscheidung für eine Unternehmensgründungführt.

Während die Frauen sich in ihren bestehenden Bedeutungsperspektivenbestärken, versetzen sie sich hypothetisch in das Unternehmerinnen-Sein.Dies entspricht in Mezirows Modell dem fünften Schritt, der Erkundung vonOptionen für neue Rollen, Beziehungen und Handlungsmöglichkeiten. Imvorliegenden zweiten „Setting the stage” wird die zentrale Frage behandelt,ob man sich in das Unternehmerinnen-Sein hineinbegeben möchte. Mälkki(2012), die sich mit kritischer Reflexion beschäftigt, erwähnt ebenfalls dieRelevanz von Geschehnissen, die sich vor der Perspektivtransformationereignen:

„[A]lthough it can be argued that transformation has onlytaken place if one is able to live through the new perspectives;there is no reason to downgrade the meaning of playing withdifferent perspectives; it may be important to sketch them outto take the concrete step later” (ebd.: 220).

Auch die von mir interviewten Unternehmerinnen bestätigen, dass es im Vor-feld ihrer Perspektivtransformation zu einer Auseinandersetzung mit verschie-

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7.1 „Setting the stage” (Lernphase Eins und Zwei) 271

denen Perspektiven – Unternehmerin-Werden versus nicht Unternehmerin-Werden – gekommen ist. In der zweiten Lernphase vollzieht sich dies imRahmen des Erkundens neuer Rollen, Beziehungen und Handlungsmöglich-keiten.

Für das Planen einer Handlungsstrategie, welches den sechsten Schrittdes Lernprozesses nach Mezirow darstellt, wird das mögliche Unternehmenrelevant, da es eine reale Zukunftsversion wird. Schritt Sechs vollzieht sichsomit nicht mehr wie in Lernphase Eins in einer rückwärtsgewandten Weise,sondern erfolgt zukunftsorientiert, in Richtung der neuen Rolle der Un-ternehmerin. Hier steht das Treffen der Gründungsentscheidung im Fokus;damit zusammenhängend eruieren die Interviewten, inwiefern ihr beruflichesSelbstverständnis mit einer Unternehmensgründung vereinbar ist.

Zentral für die zweite Lernphase ist Schritt Sieben, der Wissens- und Fä-higkeitserwerb, der zur Gründungsentscheidung führt. Durch die Bestärkungin ihren Bedeutungsperspektiven versetzen sich die Frauen in die Lage, sichfür eine Unternehmensgründung zu entscheiden. Dabei handelt es sich nichtum einen Wissens- und Fähigkeitserwerb im eigentlichen Sinne, bei demeher Faktenwissen und dessen Anwendung – also instrumentelles Wissen –erlernt wird. Vielmehr kommt es bei der Bestärkung der Bedeutungsper-spektiven zu einem kommunikativen Lernen, bei dem die Frauen sich u.a.„ein Wissen” über ihr „soziales Kapital”, das eine Unternehmensgründungerleichtert, aneignen. In diesen Bestärkungsprozessen lernen sie etwas übersich selbst und die sozialen Zusammenhänge, in denen sie sich bewegen.Migration und Geschlecht spielen in dieser Phase insofern eine Rolle, als siefür individualistische Fragestellungen, die die Interviewten und ihr direktesUmfeld betreffen, relevant werden. So ist z.B. für I2, die Sprachschulinha-berin, die Kategorie Migrationsgeschichte relevant, da sie im Rahmen ihrereigenen ethnischen Gruppe kommunikativ Wissen erwirbt.

Zudem wird in der zweiten Lernphase auch auf Mezirows achten Lern-schritt, das provisorische Ausprobieren neuer Rollen, vorgegriffen. Die In-terviewten antizipieren, wie es sein wird, eine Unternehmerin zu sein. Dazuversetzen sie sich gedanklich in die Rolle einer Unternehmerin und eruieren,ob die vier Bedeutungsperspektiven ihres beruflichen Selbstverständnissesauch orientierungswirksam hinsichtlich des Vorhabens der Unternehmens-gründung sind. Die Interviewten probieren ihre neue Rolle nicht handelndaus, wie dies von Mezirow beschrieben wird, sondern vollziehen dieses Aus-probieren lediglich imaginativ. Hier zeigt sich, dass die Interviewten nichtnur erkunden, welche Optionen für neue Rollen bestehen (wie bei SchrittFünf nach Mezirow), sondern dass sie gezielt eine bestimmte neue Rolle inihren Gedanken durchspielen.

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272 7 Das Lernmodell als transformatives Lernmodell

Zusammenfassend fällt auf, dass die Gründungsentscheidungsphaseeinen Prozess beschreibt, der von einer allgemeinen Irritation der beruflichenSituation bis hin zur Unternehmensgründung reicht. Das Unternehmen wirdfür die Interviewten zu einer relativ konkreten Zukunftsvision, in die sich dieFrauen imaginativ hineinversetzen. Damit wird im Rahmen des „Setting thestage” der zweiten Lernphase bis auf den achten Lernschritt von MezirowsModell, dem provisorischen Ausprobieren von neuen Rollen, vorgegriffen. ImVergleich dazu war das „Setting the stage” der ersten Lernphase schon mitdem Vorgriff auf Schritt Sieben, dem Wissens- und Fähigkeitserwerb, been-det. Zudem ist die Gründungsentscheidungsphase davon geprägt, dass dieInterviewten die in dieser Phase auftretenden Desorientierungen bewältigen,indem sie sich in ihren bestehenden Bedeutungsperspektiven ihres beruflichenSelbstbewusstseins weiter bestärken. Die bestärkten Bedeutungsperspekti-ven stellen für sie einen Orientierungsrahmen dar, in den sie eine möglicheunternehmerische Selbstständigkeit integrieren können. Daher entscheidensie sich für eine Gründung.

7.1.3 Zusammenfassung und AusblickNachdem ich die beiden ersten Lernphasen getrennt voneinander dargestellthabe, gehe ich zusammenfassend auf die Merkmale des gesamten Prozessesdes „Setting the stage” ein und binde diesen an den Diskurs um die Theoriedes transformativen Lernens an:

Sowohl in der ersten als auch in der zweiten Lernphase erfahren dieInterviewten kleinere Desorientierungen, die aufeinander aufbauen und an-einander anschließen. In der ersten Lernphase sind dies Irritationen, diedurch die beruflichen Situationen der Interviewten ausgelöst werden. Siebewältigen die Irritationen, indem sie sich von ihnen abwenden. In Lern-phase Zwei erfahren die Interviewten weitere Desorientierungen, welche alsErgebnis aus Lernphase Eins resultieren. Sie werden durch Ereignisse ausge-löst, welche den Interviewten nach und nach nahe legen, ein Unternehmenzu gründen, was schlussendlich dazu führt, dass sie vor der Frage stehen,sich tatsächlich für oder gegen eine Unternehmensgründung zu entscheiden.Im Rahmen eines Entscheidungsprozesses – welcher den Bewältigungspro-zess für die Desorientierungen darstellt – eruieren die Interviewten, dasseine Unternehmensgründung zu ihren bestehenden Bedeutungsperspektivenpasst.

Bei den Irritationen aus den beiden ersten Lernphasen handelt es sichnicht um desorientierende Dilemmata im Sinne Mezirows, da sie nicht dazuführen, dass die Interviewten ihre Bedeutungsperspektiven infrage stellen.

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7.1 „Setting the stage” (Lernphase Eins und Zwei) 273

Vielmehr führen die Desorientierungen dazu, dass die Interviewten beginnen,sich in ihren Bedeutungsperspektiven zu bestärken. Das Unternehmen stelltin der ersten Lernphase noch eine abstrakte Zukunftsvision dar, welche inder zweiten Lernphase konkretisiert wird.

Zur Bewältigung der Desorientierungen greifen die Interviewten auf dieLernschritte Zwei bis Acht (außer Vier) eines transformativen Lernprozessesnach Mezirow vor. Ausgehend davon, dass der transformative Lernprozesshier noch nicht begonnen hat, zeigen sich unterschiedliche Variationen dafür,wie die Interviewten die Lernschritte Zwei und Sechs ausgestalten (bzw. dieSchritte Fünf und Sieben in Brocks Tabelle). Mit Blick auf Schritt Zwei wirddeutlich, dass die Gefühle und Emotionen, die mit der Selbstbeobachtungeinhergehen, im Gegensatz zu Mezirows Modell positiv konnotiert sind.Zudem hat die in Schritt Sechs zu planende Handlungsstrategie eine weitausgeringere Reichweite, als dies bei Mezirow der Fall ist. Genau genommenwird hier gar keine Handlungsstrategie geplant, sondern die Interviewtensetzen sich mit ihren eigenen Berufsbiografien auseinander, aktivieren ihreprivaten und beruflichen Kontakte und arbeiten so beiläufig und intuitiv aufihr zukünftiges Unternehmerinnen-Sein hin. In der ersten Lernphase ist das„Planen” der Handlungsstrategie davon geprägt, dass die Interviewten dievon ihrer beruflichen Situation ausgehenden Irritationen bewältigen und inder zweiten Lernphase steht das Treffen ihrer Gründungsentscheidung imVordergrund.

Im Rahmen der Vorgriffe auf die verschiedenen Lernschritte setzensich die Interviewten bereits im Vorfeld des eigentlichen transformativenLernprozesses aktiv aber nicht intentional mit diesem auseinander.

Phase Eins ist sehr auf individualistische Fragestellungen sowie dasdirekte Umfeld der Interviewten konzentriert, und die Frauen bewältigenauftretende Desorientierungen ihres beruflichen Selbstverständnisses weitest-gehend alleine. Dies ändert sich in der zweiten Lernphase. Hier werden anderePersonen zunehmend relevant für den Lernprozess der Interviewten. Beidiesen Personen handelt es sich um Vertraute aus dem direkten privaten undberuflichen Umfeld. Zudem sind beide Lernphasen davon geprägt, dass dieFrauen über inhalts- und prozessbezogene Fragestellungen ihrer beruflichenZukunft reflektieren. Diese Reflexionen führen jedoch nicht dazu, dass siekritisch mit ihren bestehenden Bedeutungsperspektiven umgehen und dieseinfrage stellen.

Beide Lernphasen beschreiben einen Prozess des „Setting the stage”,in dem die Interviewten sich unbewusst und nicht intendiert auf die dritteLernphase vorbereiten. Hier stehen sie vor der Herausforderung, mit dem des-orientierenden Dilemma, das mit fehlenden unternehmerischen Kenntnissen

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274 7 Das Lernmodell als transformatives Lernmodell

und Fähigkeiten einhergeht, umgehen zu müssen. Durch den vorbereitendenCharakter der ersten beiden Lernphasen entsteht der Eindruck, dass dieInterviewten das desorientierende Dilemma, mit dem sie sich in der drit-ten Lernphase auseinandersetzen, gewissermaßen selbst – wenn auch nurunbewusst – hervorrufen.

Ein etwas anderes Bild von Vorläufern desorientierender Dilemmatazeichnet Clark (1991). Die Autorin hat im Rahmen einer Studie unver-bunden nebeneinanderstehende Erfahrungen herausarbeitet, welche sich alssogenannte „integrating circumstances” katalysierend auf den zeitlich spätererfolgenden transformativen Lernprozess auswirken. Eine Teilnehmerin vonClarks Studie konkretisiert die „integrating circumstances” folgendermaßen:

„All these experiences (...) were floating sort of aimlesslyaround (...). And then all these things that had been floatinghad someplace to live.” (Clark 1991: 120)

Taylor (2000) fasst die „integrating circumstances” in Anlehnung an Clarkfolgendermaßen zusammen:

„Generally they do not appear as a sudden, life-threateningevent; instead they are more subtle and less profound, provi-ding an opportunity for exploration and clarification of pastexperiences.” (ebd.: 299)

Vergleicht man die genannten Ausführungen zu den „integrating circumstan-ces” mit den Ergebnissen der vorliegenden Studie, fällt auf, dass die erstenbeiden Lernphasen aufeinander aufbauen und aneinander anschließen undsich daher von der Unverbundenheit der Erfahrungen – welche Clark betont– unterscheiden.

Zudem weisen die Ausführungen von Taylor aber auch auf Gemeinsam-keiten zwischen meinen Studienergebnissen und dem betonten Aspekt der„integrating circumstances” hin: „Exploration” und „Clarification” ihrer ver-gangenen Erfahrungen ist auch etwas, wonach die Interviewten in den erstenbeiden vorbereitenden Lernphasen suchen. Beide Aspekte beziehen sich nichtnur auf die erfahrenen Desorientierungen, vielmehr geht es den Interviewtendarum, sich auch mit davor liegenden (berufs-)biografischen Erfahrungenauseinanderzusetzen. Durch Reflexion auf ihre (berufs-)biografischen Erfah-rungen bestärken die Interviewten sich in ihren Bedeutungsperspektiven.

Neben Clark setzt sich auch Pope (1996) mit den Auslösern für einentransformativen Lernprozess auseinander. Er sieht in ihnen „a gradual accu-mulation of energy (...) like an unfolding evolution rather than a response

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7.2 Das desorientierende Dilemma (Lernphase Drei) 275

to a crisis” (ebd.: 176). Als eine solche „unfolding evolution” können auchdie Lernphasen Eins und Zwei in der vorliegenden Studie zusammengefasstwerden. Schritt für Schritt bewegen sich die Interviewten in Richtung desUnternehmerinnen-Seins.

Insgesamt liefert die vorliegende Studie ein Bild davon, wie die unbe-wusste und nicht intendierte Vorbereitung auf desorientierende Dilemmataaussehen kann. Dies schließt an das an, was bereits zu den Vorläufern desori-entierender Dilemmata bekannt ist („integrating circumstances”, „unfoldingevolution”) und konkretisiert sich dennoch in einer etwas anderen Weise,da beide Vorbereitungsschritte aneinander anschließen und somit als zweiPhasen angesehen werden können, die die zeitlich darauf folgenden desorien-tierenden Dilemmata sowohl hervorrufen als auch eine Auseinandersetzungmit diesen vorbereiten.

7.2 Das desorientierende Dilemma (LernphaseDrei)

Durch die vorangegangenen zwei Phasen des „Setting the stage” haben dieInterviewten sich unbewusst und nicht intendiert auf die sich in der drittenLernphase ereignenden desorientierenden Dilemmata vorbereitet, welche nunden transformativen Lernprozess auslösen.

In der Ergebnisdarstellung habe ich für die dritte Lernphase keineverschiedenen Stufen – wie für die ersten beiden – herausgearbeitet. Dennochlassen sich unter Bezugnahme auf die Theorie des transformativen Lernensauch in dieser Phase zwei Stufen erkennen: In der ersten Lernstufe erfahrendie Interviewten die desorientierenden Dilemmata und in der zweiten Stufeentwickeln sie Bewältigungsstrategien zum Umgang mit den Dilemmata.Innerhalb der Strategien lassen sich verschiedene Lernschritte aus MezirowsModell erkennen.

Die dritte Lernphase beginnt damit, dass die Interviewten ihre Unter-nehmen gründen. So wird das Unternehmen, das sich in den ersten beidenLernphasen als Zukunftsvision immer weiter konkretisierte, zur Realität.Einhergehend mit der Unternehmensgründung erfahren die Interviewten nundesorientierende Dilemmata, da ihnen unternehmerische Wissensbeständeund Fähigkeiten fehlen.

Die existierenden Bedeutungsperspektiven der Interviewten reichen nichtmehr aus, um ihre neuen Erfahrungen zu interpretieren. In den vorangegange-nen „Setting the stage”-Phasen reagierten die Frauen auf Desorientierungen,indem sie an ihren vorhandenen Bedeutungsperspektiven festhielten und sich

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276 7 Das Lernmodell als transformatives Lernmodell

in diesen bestärkten. Dadurch versetzten sie sich in die Lage, die desorientie-renden Situationen zu bewältigen, indem sie sich von ihnen abwendeten.

Die Strategie des Abwendens von Desorientierungen, stellt nun in derdritten Lernphase keine Option mehr dar, denn sie würde bedeuten, dass dieInterviewten sich auch von ihrem Unternehmen abwenden 65. Zudem ist die inPhase Eins und Zwei angewandte Strategie des Bestärkens nicht ausreichend,um die nun auftretenden desorientierenden Dilemmata zu bewältigen.

Die Desorientierung, die durch fehlende unternehmerische Kenntnisseund Fähigkeiten hervorgerufen wird, bezieht sich überwiegend auf die beruf-liche Sphäre und damit auf unternehmerische Fragestellungen. Durch dieseEingrenzung kann die mit der Irritation einhergehende Krise eher nicht alsLebenskrise angesehen werden. Auf solche Lebenskrisen beziehen sich zahl-reiche Studien, die in Anlehnung an Mezirow „life-event crises” und die damiteinhergehenden desorientierenden Dilemmata untersuchen, die eine Perspek-tivtransformation auslösen (vgl. z.B. Mälkki 2012). Mälkki (ebd.: 208) hälthierzu fest: „the crisis may be seen as the most conspicuous manifestation ofa disorienting dilemma.”

Studien, wie zum Beispiel die zu HIV und Aids-Diagnosen schließen aneinem solchen Verständnis an (vgl. z.B. Courtenay u.a. 1998). Bei den erwähn-ten Lebenskrisen handelt es sich häufig um plötzlich eintretende Ereignisse,wie z.B. Schicksalsschläge. Demgegenüber haben die von mir interviewtenFrauen ihre desorientierenden Dilemmata durch die Unternehmensgründunggewissermaßen selbst heraufbeschworen – die Gründung ruft eine Irritationihrer Bedeutungsstruktur berufliches Selbstverständnis hervor. Da die Irri-tation mit dem Erlernen des Unternehmerinnen-Seins einhergeht, handeltes sich nicht um einen Schicksalsschlag, der sich auf das gesamte Leben derInterviewten auswirkt. Daher bezieht sich die Desorientierung zunächst –oberflächlich betrachtet – „nur” auf die berufliche Sphäre. Allerdings zeigtsich in der vierten Lernphase, dass die transformierten Bedeutungsperspek-tiven, die das neu entstandene unternehmerische Selbstverständnis bilden,nicht ausschließlich auf die berufliche Sphäre bezogen sind, sondern auchAuswirkungen auf die gesamten Lebensumwelten der Interviewten haben.

Eine Gemeinsamkeit mit anderen Studien, die desorientierende Dilem-mata untersuchen, besteht darin, dass auch die von mir interviewten Frauendie Desorientierungen ihrer Bedeutungsperspektiven, die mit ihrer Unterneh-mensgründung einhergehen, nicht kontrollieren können. Sie sind nicht in der

65Da es sich bei meiner Studie um eine rekonstruktive Studie handelt, in der ich erfolg-reiche Unternehmerinnen befragt habe, gibt es im Sample keine Interviewten, die sichin dieser desorientierenden Situation von ihrem Unternehmen wieder abgewandt unddieses geschlossen haben.

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7.2 Das desorientierende Dilemma (Lernphase Drei) 277

Lage, die desorientierenden Dilemmata mit ihrem bestehenden beruflichenSelbstverständnis zu bewältigen. Da sie jedoch das Ziel haben, Unternehme-rinnen zu werden, löst das desorientierende Dilemma einen transformativenLernprozess aus und führt dazu, dass sie die Bedeutungsperspektiven ihresberufliches Selbstverständnisses infrage stellen und kritisch überprüfen. Aufdiese Weise beginnen sie, ihre Bedeutungsstruktur berufliches Selbstver-ständnis in eine Bedeutungsstruktur unternehmerisches Selbstverständnis zutransformieren. Den Rahmen, innerhalb dessen die Interviewten sich ihreneue Perspektive erarbeiten, bildet das Unternehmerinnen-Sein.

Innerhalb des Transformationsprozesses ereignen sich mehrere der vonMezirow herausgearbeiteten Lernschritte. Da die Perspektivtransformationin der dritten Lernphase beginnt, handelt es sich nicht mehr – wie in denvorangegangenen Phasen – nur um Vorgriffe auf die Schritte.

In den vorangegangen „Setting the stage” Phasen zeigten die Interview-ten hinsichtlich Schritt Zwei, der Selbstbeobachtung, ausschließlich positivkonnotierte Emotionen und Gefühle. In der dritten Lernphase zeigt sichnun ein vielfältigeres Bild hinsichtlich der Emotionen und Gefühle. DieInterviewten beobachten sich weiter selbst mit einer positiven Grundstim-mung und verfügen über ein gestärktes Selbstvertrauen. Dies wird u.a. darandeutlich, dass sie Fehler positiv rahmen, indem sie sie als Lernchancenbeschreiben. Auf diese Weise stellen sie fest, dass Fehler zum Handeln dazu-gehören. Daneben zeigt sich bei der Selbstbeobachtung auch, dass von demdesorientierenden Dilemma negativ konnotierte Gefühle und Emotionen, z.B.Angst und Unsicherheit hervorgerufen werden können. Ein Beispiel dafürliefert die Friseurin I6. Sie personalisiert die Desorientierung ihres beruflichenSelbstverständnisses und benennt „Angst” als ihre größte Herausforderung(I6, 92). Auch I1, die Verkäuferin italienischer Produkte, personalisiert diemit der Gründung einhergehenden Irritationen, und bringt sie mit einerbiografischen Herausforderung in Verbindung. Ihre „Unsicherheit” schreibt sieder Bevormundung durch ihren Vater zu (I1, 8). Darüber hinaus umschreibtz.B. I6 formale Herausforderungen mit der Redewendung „des war meinTod” (I6, 34), und I1 bezeichnet diese als „Qual” (I1, 7). Damit betonen dieFrauen, wie herausfordernd sie die Situationen empfanden, in denen sie mitden desorientierenden Dilemmata konfrontiert waren.

Die von den Interviewten umschriebenen Emotionen und Gefühle sindein Hinweis darauf, dass die Perspektivtransformation in Phase Drei be-gonnen hat: Sie erkennen, dass ihre bestehenden Bedeutungsperspektivenfür die Interpretation ihrer Erfahrungen nicht mehr ausreichen. Eine sol-che Erkenntnis wird nach Mezirow von negativen Gefühlen und Emotionenbegleitet (vgl. Mezirow 1991a).

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278 7 Das Lernmodell als transformatives Lernmodell

In den Interviews beschreiben die Interviewten rückblickend ihre nega-tiven Gefühle und Emotionen, die mit der Unternehmensgründung einher-gingen; sie sind zum Interviewzeitpunkt bewältigt. Es zeigt sich, dass dieInterviewten mittlerweile eine neue Perspektive generiert haben, anhandderer sie ihre vergangenen Erfahrungen neu interpretieren. Dies verdeutlichtz.B. die Friseurin I6, indem sie die zeitlichen Bezüge wechselt; sie korrigiert„ist” durch „war mein Tod”. Damit einher geht die Vermutung, dass die Inter-viewten in der Situation, in der sie mit den Herausforderungen konfrontiertwurden, nicht in der Lage gewesen wären, diese vor dem Hintergrund ihrerbiografischen Vorerfahrungen zu interpretieren. Dies, so hat es den Anschein,gelingt ihnen erst auf Grundlage der Transformation ihrer Bedeutungsper-spektiven, welche zum Interviewzeitpunkt bereits abgeschlossen war. Soscheint die genaue Auslegung der Gefühle und Emotionen, die den Prozessder Unternehmensgründung prägten, erst rückblickend zu erfolgen, nachdemdie Herausforderungen bewältigt wurden und die beschriebenen Gefühleund Emotionen nicht mehr die aktuelle Gefühlslage zum Interviewzeitpunktbestimmen.

Hinsichtlich der Emotionen hält Mezirow (1991a) fest, dass diese einenSchritt innerhalb der Perspektivtransformation darstellen. Demgegenüberschlägt Mälkki (2012: 223) vor:

„[W]orking through emotions is not only a stage in transfor-mation (...) but also a prerequisite for reaching the problematicassumptions in the first place.”

Auch in der vorliegenden Studie scheinen Emotionen mehr als nur einenSchritt/ eine Phase darzustellen. Sie ziehen sich durch alle Lernphasenhindurch. In der dritten Lernphase scheinen gerade die negativ konnotiertenEmotionen einen entscheidenden Beitrag zur Perspektivtransformation zuleisten. Sie scheinen eng mit den problematischen Bedeutungsperspektivenzusammenzuhängen und so einen entscheidenden Beitrag dazu zu leisten, dassdie Interviewten beginnen, diese zu hinterfragen, mit dem Ziel, ihre neuenErfahrungen interpretieren zu können. So weisen die Daten der vorliegendenStudie auf die besondere Relevanz von Emotionen für den transformativenLernprozess hin. Während einige Emotionen für den gesamten Lernprozessrelevant zu sein scheinen – wie zum Beispiel die positive Selbstwahrnehmung,die mit einem Selbstvertrauen einhergeht – sind andere nur in einzelnenLernphasen von Bedeutung. Als Beispiel können hier die negativ konnotiertenEmotionen Angst (I6, 34) und Unsicherheit (I1, 8) genannt werden, die nurin Lernphase Drei zum Tragen kommen.

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7.2 Das desorientierende Dilemma (Lernphase Drei) 279

Bei der kritischen Überprüfung der eigenen Annahmen, dem drittenSchritt in Mezirows Modell, werden zunächst die bestehenden Bedeutungs-perspektiven des beruflichen Selbstverständnisses soweit beibehalten, wie siein der desorientierenden Situation eine Orientierung darstellen. So könnendie Interviewten auf die Bedeutungsperspektiven ihres beruflichen Selbstver-ständnisses zurückgreifen und beginnen, sich ein unternehmerisches Selbst-verständnis zu erarbeiten. Allerdings stellt das berufliche Selbstverständnisallein keinen ausreichenden Orientierungsrahmen für ein umfassendes un-ternehmerisches Selbstverständnis dar. Die Interviewten stellen ausgehendvon der kritischen Überprüfung fest, dass sie sich neue Elemente für ihrenOrientierungsrahmen erarbeiten müssen, um ihre aktuellen Erfahrungen in-terpretieren zu können. Diesen Herausforderungen stellen sie sich, indem sieflexible und spontane Bewältigungsstrategien in solchen Situation entwickeln,in denen ihr berufliches Selbstverständnis keine ausreichende Orientierungliefert. Dadurch erweitern die Interviewten ihr berufliches Selbstverständniszunächst um eine unternehmerische Perspektive.

Einhergehend damit beginnen die Interviewten nun zum ersten Mal,kritisch über ihre Bedeutungsperspektiven zu reflektieren, was als ein weiteresSignal für die nun begonnene Perspektivtransformation angesehen werdenkann66. Im Rahmen der kritischen Reflexion werden die Validität frühererInterpretationen sowie die Interpretationen, die diesen zugrunde liegen,überprüft (vgl. Mezirow 1991a, 2000).

Als Beispiel kann hier die Friseurin I6 erwähnt werden, die vom Lernendes Chefin-Seins und Unternehmerin-Seins berichtet. Auf Grundlage ihresbestehenden beruflichen Selbstverständnisses gründet sie ihr Unternehmen,und merkt daraufhin, dass es ihr nicht gelingt, ihre neuen Erfahrungenmit ihrer bestehenden Bedeutungsstruktur zu interpretieren. Im Zuge ihresReflexionsprozesses stellt sie fest, dass ihr Wissensbestände und Fähigkeitenzum Unternehmerinnen-Sein fehlen. Sie konkretisiert das folgendermaßen:„aber dass das meins ist hab ich am Anfang nicht [realisiert, Anm. AL] unddes musst ich aber auch lernen, (...) wurde ich von manchen nicht ernstgenommen ich war vielleicht zu nett oder zu kollegial, zu freundschaftlich”.Die Umschreibungen „nett (...) kollegial (...) freundschaftlich” weisen auf ihrberufliches Selbstverständnis hin, das sie sich in ihrer Zeit als Teamkolleginund Arbeitnehmerin erarbeitet hat.

I6 hat in dem Beispiel ein Schlüsselerlebnis beschrieben, das ihrenLernprozess des Unternehmerinnen-Werdens entscheidend prägte. Sie un-

66Diese kritische Reflexion bezeichnet Mezirow (1998) auch als Perspektivreflexion oderNeurahmung.

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280 7 Das Lernmodell als transformatives Lernmodell

terstreicht das, indem sie feststellt: „ab da fing es eigentlich so für michan, da war der Schnitt” (I6, 124). Diese Feststellung kann als Wendepunktangesehen werden, der zu ihrer Perspektivtransformation führt.

In Mezirows Modell stellt das Erkennen, dass auch andere unglücklichsind und Prozesse der Transformation erfahren, den vierten Lernschrittdar. Dieser ereignet sich in der vorliegenden Studie in einer speziellen rück-wärtsgewandten und somit auf vorangegangene Lernphasen bezogene Weise:So nimmt beispielsweise die Sprachschulinhaberin I2 erst als Arbeitgebe-rin wahr, wie viele Menschen mit Migrationsgeschichte sich auf der Suchenach einem Arbeitsplatz befinden und so eventuell die von ihr in der erstenLernphase erfahrene Desorientierung teilen – sie hatte als Arbeitssuchendeerlebt, dass ihre Migrationsgeschichte das Kriterium darstellte, aufgrunddessen sie keine Arbeitsplatzangebote bekam. Ausgehend von den vielen beiihr eingehenden Bewerbungen erlangt I2 als Unternehmerin und Arbeitge-berin neue Erkenntnisse hinsichtlich ihrer eigenen vergangenen Situationund beginnt, ihre Erfahrungen neu zu rahmen. Sie erinnert sich: „dann ha-be ich verstanden” (I2, 52). In ihrer Aussage finden sich bereits Hinweiseauf ihre transformierte Perspektive. Ausgehend von der Tatsache, dass sie„verstanden” hat, kreiert sie Partizipationsmöglichkeiten für Menschen mitMigrationsgeschichte. Hierbei scheint sie von ihren eigenen Exklusionserfah-rungen inspiriert zu sein. Als Arbeitgeberin macht sie deutlich, dass für siedie Kategorie Migrationsgeschichte kein Ausschlusskriterium darstellt.

Demgegenüber vollzieht sich der fünfte Lernschritt – die Erkundungvon Optionen für neue Rollen, Beziehungen und Handlungsmöglichkeiten –zukunftsorientiert, da die Rolle der Unternehmerin im Fokus steht. Einher-gehend mit dem Erkunden ihrer neuen Rolle bauen die Interviewten neueBeziehungen zu Personen auf, die sie als Unternehmerinnen unterstützenkönnen. So erweitern sie den Kreis der für sie relevanten Dritten. Zur Bear-beitung ihrer (neuen) unternehmerischen Fragestellungen konsultieren dieInterviewten nun Personen, die in den vorangegangenen – sehr auf indi-vidualistische Fragestellungen bezogenen – Phasen für sie keine Relevanzbesaßen. Beispielhaft schildert I6, wie sie einen ebenfalls unternehmerischselbstständigen Bekannten nach einer Empfehlung für einen Steuerberaterfragt. Durch die neue Gemeinsamkeit des Unternehmer_innen-Seins, scheintI6 ihn nun als kompetenten Ansprechpartner anzusehen. Dies unterstreichtsie, indem sie feststellt: „ich wollte nicht irgendwie von den Gelben Seitenjemand da, brauch’ ich jemand wo mir sagt, ich bin dort, ich bin da zufrieden,da bist du in guten Händen” (I6, 168). Aufgrund der mit ihrem Unternehmeneinhergehenden Fragestellungen gewinnt der unternehmerisch selbstständigeBekannte für I6 an Relevanz.

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7.2 Das desorientierende Dilemma (Lernphase Drei) 281

Innerhalb des fünften Lernschritts, der Erkundung von Handlungs-möglichkeiten, reflektieren die Interviewten über ihre eigenen Erfahrungenund ihre Ideale werden relevant (zur genaueren Ausführung siehe auch dasAusprobieren neuer Rollen, Schritt Acht). Die Erkundung von Handlungs-möglichkeiten resultiert außerdem aus der Anwendung der verschiedenenStrategien, die die Interviewten im Rahmen des Wissens- und Fähigkeitser-werb – Lernschritt Sieben – generieren.

An dieser Stelle wird deutlich, dass es sich bei den zehn Lernschrittennach Mezirow keineswegs um eine linear ablaufende Schrittfolge handelt,sondern dass die verschiedenen Schritte vielmehr zikulär ablaufen. Hiermitist in Anlehnung an die Grounded Theory gemeint, dass im Prozessverlaufauf früheres Bezug genommen wird und so eine Hin- und Her-Verbindungzwischen verschiedenen Schritten erfolgt (vgl. z.B. Flick 2007: 128). Die Stra-tegien, die im Rahmen von Lernschritt Sieben Anwendung finden, könnenunterteilt werden in situationsbezogene und situationsunabhängige Strate-gien, wobei es sich bei der Unterscheidung um eine analytische Trennunghandelt. Eine situationsbezogene Strategie ist z.B das positive Rahmen vonFehlern, eine situationsunabhängige Strategie stellt z.B. das Delegieren dar.(Für eine genaue Ausführungen zu den verschiedenen Strategien, wie dieInterviewten sich unternehmerische Kenntnisse und Fähigkeiten erarbeiten,siehe Kap. 6.3.)

Die situationsbezogenen Strategien setzen die Interviewten nur vor-übergehend im Zuge der Generierung ihrer neuen Perspektive ein. IhreUmschreibungen zeigen, dass sie von situationsbezogenen Strategien ledig-lich situativ Gebrauch machen. In der aktuellen Situation der Interviewten,ihrem Unternehmerinnen-Sein, haben diese Strategien keinen Orientierungs-wert mehr. Dies kann ein Hinweis darauf sein, dass die ehemals situations-bzw. lernphasenbezogenen Strategien in der abschließenden vierten Lern-phase in situationsunabhängige Strategien umgewandelt wurden, die dasaktuelle Handeln der Unternehmerinnen prägen.

So scheinen die Interviewten (unbewusst) zu realisieren, dass sie einenTransformationsprozess durchlaufen haben und beschreiben anhand dersituationsbezogenen Strategien, welche besonderen Bedingungen für denProzess kennzeichnend waren. Zudem bleiben die situationsbezogenen Stra-tegien auf das Erlernen des Neuen und Unbekannten beschränkt. Aufgrunddes prozesshaften Charakters gelangen sowohl die Veränderungen, die dieStrategien anstoßen als auch die Strategien selbst an einen Endpunkt.

Die situationsbezogenen Strategien können auch als Strategien derZuversicht umschrieben werden, in denen sich das durch die „Setting thestage”-Phasen gestärkte berufliche Selbstverständnis spiegelt. So finden sich

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282 7 Das Lernmodell als transformatives Lernmodell

die mit der Bestärkung aus den vorangegangenen Lernphasen einhergehendenpositiven Emotionen wie z.B. das hohe Maß an Selbstvertrauen in denStrategien der Zuversicht wieder.

Im Rahmen der situationsunabhängigen Strategien generieren die Inter-viewten ebenfalls neues Wissen. Allerdings gehen die Strategien über einesituationsbezogene Ebene hinaus, und es zeigen sich hierin bereits Elementeder neuen Bedeutungsstruktur unternehmerisches Selbstverständnis. Dieinnerhalb des Transformationsprozesses ausgebildeten Strategien behaltendie Interviewten folglich auch im Rahmen ihrer neuen Perspektive bei. Bei-spiele für die Strategien sind das von den Interviewten innerhalb der drittenLernphase beschriebene Setzen von Prioritäten, sowie das Delegieren vonTätigkeiten.

Aus der Anwendung dieser verschiedenen situationsbezogenen sowiesituationsunabhängigen Strategien ergeben sich in Lernphase Drei für dieUnternehmerinnen Erkundungsmöglichkeiten hinsichtlich der Optionen fürneue Rollen, Beziehungen und Handlungsmöglichkeiten. Zusammenfassendfällt auf, dass sich alle Optionen, die im Rahmen des fünften Lernschrittserkundet werden, direkt auf das Unternehmerinnen-Sein beziehen.

Beim anschließenden sechsten Schritt von Mezirows Modell – dem Planeneiner Handlungsstrategie – steht ebenfalls das Erlernen der Unternehme-rinnenrolle im Zentrum. Da das Unternehmen zu diesem Zeitpunkt bereitsbesteht, geschieht das Erlernen, eine Unternehmerin zu sein, handlungsnah.Geleitet von ihrer positiven emotionalen Einstellung – hier scheint das ge-stärkte Selbstvertrauen aus den vorangegangenen Lernphasen einzufließen –stellen sich die Interviewten der Herausforderung, das Unternehmerinnen-Sein zu erlernen. Der Weg, den die Interviewten zur Planung einer Hand-lungsstrategie gehen, kann mit einem Zitat der Sprachschulinhaberin I2zusammenfassend beschrieben werden. Befragt nach ihrem Vorgehen stelltI2 fest:

„Stolpern, hinfalln, aufstehn und durch die Wand direkt zumZiel gehen.” (I2, 10)

In diesem Zitat67 finden sich zusammenfassende Umschreibungen der ver-schiedenen Elemente, wie die Handlungsstrategie „geplant” bzw. durchgeführtwird. Die Interviewten probieren auf ihren Lernwegen zunächst situationsbe-zogene Lernstrategien aus. Sie sind auf die jeweils aktuelle Situation bezogen,und werden somit lediglich in einem begrenzten zeitlichen Umfang aufrecht

67Bei der beschriebenen Strategie handelt es sich außerdem um eine situationsbezogeneStrategie – siehe Schritt Sieben – zum Wissens- und Fähigkeitserwerb.

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7.2 Das desorientierende Dilemma (Lernphase Drei) 283

erhalten. Wenn die Frauen aufgrund der Situationsbezogenheit der Strate-gien mit diesen an Grenzen stoßen („stolpern, hinfall’n”), wenden sie neueStrategien an („aufsteh’n”). Sie rahmen ihre Rückschläge in ihren Rekon-struktionen positiv, da sie einen Teil des Weges darstellen, der sie zum „Ziel”führt. Ihr Ziel scheint ihnen für den gesamten Prozess Orientierung zu geben.Sie stellen sich großen Herausforderungen und machen damit einhergehendauch scheinbar Unmögliches möglich („durch die Wand”).

Auf diese Weise erarbeiten die Interviewten sich schrittweise ihre neue Be-deutungsstruktur unternehmerisches Selbstverständnis und behalten gleich-zeitig – soweit das möglich ist – noch ihr bestehendes berufliches Selbst-verständnis bei. Ihr berufliches Selbstverständnis wird erst in der viertenLernphase zugunsten eines umfassenden unternehmerischen Selbstverständ-nisses aufgegeben, in welches jedoch Teile des ursprünglichen beruflichenSelbstverständnisses integriert sind.

Innerhalb des siebten Lernschritts werden Wissensgrundlagen und Fä-higkeiten für die Umsetzung des Plans, Unternehmerin zu werden, generiert.Dies geschieht schrittweise durch die Anwendung der situationsbezogenensowie der situationsunabhängigen Strategien.

Eine situationsbezogene Strategie anhand derer die Interviewten sichWissen und Fähigkeiten erarbeiten und die die Zuversicht und die positivenEmotionen der Interviewten unterstreicht, bezieht sich auf das positiveRahmen von Fehlern. Zu einer positiven Rahmung von Fehlern kommt eszu Beginn des Transformationsprozesses. Ausgehend von dem Unbekanntenund Neuen, welches die Frauen sich erarbeiten müssen, begründen sie, dassFehler dazugehören. Wie im Fall von allen anderen situationsbezogenenStrategien halten die Interviewten auch an dieser nicht fest, was beispielhaftvon der Sprachschulinhaberin I2 verdeutlicht wird. Fehler, die ihr zu Beginnihrer unternehmerischen Tätigkeit unterlaufen, rahmt sie zunächst positiv.Als Unternehmerin stellt sie demgegenüber jedoch fest, dass sie in „allenBereichen ihres Unternehmens versiert” (I2, 12) sei; dadurch erübrigt sichfür sie die Strategie des positiven Rahmens von Fehlern.

Eine ähnliche situationsbezogene Strategie stellt das positive Rahmenvon erhöhter Arbeitsbelastung dar. Beispielhaft kann hier die SupervisorinI4 erwähnt werden, die hinsichtlich des herausfordernden Beginns ihrer un-ternehmerischen Selbstständigkeit festhält: „Diese viele Arbeit war irgendwietoll, also ich hab am Anfang teilweise sechzig Stunden gearbeitet (...) eswar auch nicht schlimm, wenig Geld dann zu haben, das war alles nichtschlimm” (I4, 6). Diese situationsbezogene Strategie wandeln die Interviewtenin der vierten Lernphase in eine situationsunabhängige um, indem sie eine

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erhöhte Arbeitsbelastung als integralen Bestandteil ihrer unternehmerischenTätigkeit ansehen.

Eine weitere situationsbezogene Strategie der Interviewten besteht darin,die Relevanz Dritter zu erhöhen, die sie als Expert_innen konsultieren. Sowenden die Interviewten sich in Lernphase Drei in einem erhöhten Maße anvertraute Personen, die ihnen sowohl aus beruflichen als auch aus privatenKontexten bekannt sind. Die besonderen „qualifications” (Mezirow 2000: 9),welche man dem oder der Gesprächspartner_in zuspricht und welche fürein kommunikatives Lernen notwendig sind, konkretisieren sich hier anhandder Kombination der beiden Eigenschaften Fachkompetenz und Vertrauen.Auch hier ist der Wissens- und Fähigkeitserwerb sehr nah an der Handlungorientiert, und ereignet sich begleitend zum unternehmerischen Handeln. AlsBeispiel kann hier die Verkäuferin italienischer Produkte, I1, zitiert werden,deren Partner ihr hilft, Herausforderungen zu „durchstehen” (I1, 6). Durchden erhöhten Einbezug Dritter scheinen die Interviewten in der drittenLernphase das eigene fehlende Wissen gewissermaßen zu kompensieren. Beider zentralen Bedeutung, die dem Einbezug Dritter hier zugesprochen wird,handelt es sich um eine situationsbezogene Strategie. Sie wird dadurch ineine situationsunabhängige umgewandelt, dass der Einbezug Dritter seineRelevanz im weiteren Verlaufe des Lernprozesses zunehmend verliert, unddie Interviewten überwiegend auf sich selbst Bezug nehmen. In Phase Vierkönnen die Interviewten aufgrund ihres ausgebildeten unternehmerischenSelbstverständnisses vermehrt auf sich selbst Bezug nehmen, dadurch sinktdas Ausmaß, mit dem sie auf andere angewiesen sind.

Daneben handelt es sich beim Lernen in der Handlung, dem sogenann-ten „learning by doing” um eine weitere situationsbezogene Strategie, beider die Interviewten Herausforderungen scheinbar intuitiv bewältigen. Ihrediesbezüglichen Umschreibungen signalisieren ein hohes Maß an Spontanei-tät, welches ein geringes Reflexionsniveau impliziert. I4 unterstreicht dasbeispielhaft durch die Ausdrucksweise „pi-mal-Daumen” (I4, 31) und I2 legtes als „stolpern, hinfall’n, aufstehen” (I2, 10) dar.

Insgesamt betrachtet werden mithilfe der situationsbezogenen Strategiensituativ auftretende Herausforderungen, die mit der Unternehmensgründungeinhergehen, bewältigt. Das Fehlen unternehmerischer Kenntnisse und Fä-higkeiten wird mit den Strategien gewissermaßen überbrückt. Mithilfe derStrategien erarbeiten sich die Interviewten die Transformation ihrer Bedeu-tungsperspektiven und generieren auf lange Sicht situationsunabhängigeStrategien, welche sie in ihr neues unternehmerisches Selbstverständnis inte-grieren.

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7.2 Das desorientierende Dilemma (Lernphase Drei) 285

Im Rahmen der situationsunabhängigen Strategien, welche die Inter-viewten bereits in der dritten Lernphase anwenden, nehmen sie bereits dietransformierte Perspektive ein. Unternehmerische Kenntnisse und Fähig-keiten werden verinnerlicht und leisten dadurch einen Beitrag zur neuenPerspektive. Als Beispiel können hier die Strategien des Prioritäten-Setzensund des Delegierens genannt werden. Die Interviewten haben diese Strategienin der dritten Lernphase ausgebildet und sie sind für die Frauen auch inihrer aktuellen Situation als erfolgreiche Unternehmerinnen noch relevant.

Hinsichtlich des Setzens von Prioritäten konkretisiert dies die FriseurinI6 folgendermaßen: „[Ich habe, Anm. AL] Schritt für Schritt (...) ’ne Routinegefunden und irgendwo auch ’n Schalter im Kopf eingebaut” (I6, 36). DieStrategie des Prioritäten-Setzens hat sich I6 im Zuge ihres Transformati-onsprozesses erarbeitet. Hinsichtlich des Delegierens hält die Sprachschulin-haberin I2 fest, dass es ihre nach der Gründung ausgebildete und bis zumInterviewzeitpunkt gültige „Leitstrategie” (I2, 26) darstellt.

Die situationsunabhängigen Strategien werden in der vierten Phase -der Phase der erfolgreichen Unternehmung – weitergeführt. Sie bieten auchfür aktuelle Erfahrungen in der Erzählgegenwart noch einen Interpretations-rahmen; dadurch wird die Relevanz der Strategien unterstrichen.

Zusammenfassend resultiert aus dem Anwenden der situationsbezogenenund der situationsunabhängigen Strategien des Wissens- und Fähigkeits-erwerbs zunächst ein gewissermaßen fragmentierter Orientierungsrahmen.Wie bei einem Puzzle erarbeiten sich die Interviewten die einzelnen Ele-mente, welche in der vierten Phase zur neuen Perspektive zusammengefügtwerden. Es erfolgt ein Lernen in der Handlung, was den Prozesscharakterbetont. Zunächst werden mithilfe von situationsbezogenen Strategien solcheHerausforderungen bewältigt, die direkt nach der Gründung auftreten. DieHerausforderungen entstehen, weil aufgrund der neuen Situation die Bedeu-tungsstruktur berufliches Selbstverständnis keine hinreichende Orientierungmehr bietet. Gleichzeitig generieren die Interviewten auch situationsun-abhängige Strategien, welche bereits Hinweise auf die sich in der viertenPhase zeigende transformierte Perspektive geben. In Phase Vier wird diezunächst eher fragmentiert erscheinende Bedeutungsstruktur unternehme-risches Selbstverständnis zu einer umfassenden neuen Bedeutungsstrukturunternehmerisches Selbstverständnis zusammengefügt.

Das provisorische Ausprobieren der neuen Rolle der Unternehmerin -Schritt Acht in Mezirows Modell – findet sich ebenfalls in LernphaseDrei. Mithilfe der verschiedenen Bewältigungsstrategien scheinen sich dieInterviewten an die unterschiedlichen Facetten des Unternehmerinnen-Seinsheranzutasten. Durch die Vielfalt der situationsbezogenen und situatio sun-n

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286 7 Das Lernmodell als transformatives Lernmodell

abhängigen Strategien, die in dieser Phase entwickelt werden, erscheint auchdas provisorische Ausprobieren der neuen Rolle eher fragmentiert.

Dadurch, dass die Interviewten gerade dabei sind, ihre Perspektivenaus der Zeit bevor sie Unternehmerinnen waren, zu transformieren, kommtes zunächst lediglich zu einem provisorischen Ausprobieren der neuen Rolleder Unternehmerin. Dies konkretisiert z.B. I6, indem sie feststellt, dasssie „lernen” musste, Chefin zu sein. Sie probiert diese Rolle provisorischaus, indem sie Arbeitskleidung besorgt und ihre Mitarbeitenden anweist,die Kleidung während der Arbeit zu tragen. Zunächst orientiert sie sichan ihrem aus der Vergangenheit bestehenden beruflichen Selbstverständnis,das beinhaltet, dass sie eine gute Teamkollegin sein möchte. Einer ihrerMitarbeiter stellt sich gegen I6’ Anweisung. Dadurch realisiert sie, dass ihranfänglicher Versuch, als Chefin akzeptiert zu werden, fehlgeschlagen ist. Sieerkennt, dass sie das Chefin-Sein noch erlernen muss.

Zudem explizieren die Interviewten im Zuge des Ausprobierens desUnternehmerinnen-Seins ihre Ideale. Die Ideale sind von hoher Relevanz fürdie neue erweiterte Perspektive hinsichtlich Arbeit, Leben und Unternehmen.Da die Ideale darüber Auskunft geben, wie die Interviewten „idealerweise”ihr Unternehmen in der Gesellschaft positionieren, zeigen diese auf, inwiefernindividualistische Fragestellungen, welche noch für das eingangs vorhan-dene berufliche Selbstverständnis kennzeichnend waren, nun im Rahmendes unternehmerischen Selbstverständnisses und der damit einhergehendenneuen Perspektive auf die Welt, überschritten werden. So finden sich inden Idealen, die die Interviewten mithilfe ihres Unternehmens umsetzen,u.a. Bezüge zu den Themen Geschlecht und/ oder Migrationsgeschichte.Beispielhaft expliziert dies die Friseurin I6. Sie probiert ihre neue Rolleder Arbeitgeberin aus. Sie hat eine Tochter im Jungendalter, die bald eineAusbildungsstelle suchen wird. Außerdem kennt sie den Defizitdiskurs zuMenschen mit Migrationsgeschichte. Aus diesen Gründen möchte sie in ihremBetrieb neben regulären Arbeitsplätzen auch Ausbildungsplätze für jungeFrauen mit (türkischer) Migrationsgeschichte anbieten (vgl. I6, 062).

Insgesamt wird anhand von Lernschritt Acht, dem provisorischen Aus-probieren der neuen Rolle der Unternehmerin, deutlich, dass es sich bei denzehn Schritten des idealtypischen Lernprozesses nach Mezirow keineswegsum ein linear ablaufendes Modell handelt, sondern die verschiedenen Schrittevielmehr ineinander verwoben sind.

Überwiegend ist Lernschritt Acht dadurch charakterisiert, dass die In-terviewten nicht nur sich selbst sondern auch andere stärker in den Blicknehmen. Bei den anderen handelt es sich hauptsächlich um Personen, diemit dem Unternehmen in Verbindung stehen, wie z.B. Lieferant_innen und

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7.2 Das desorientierende Dilemma (Lernphase Drei) 287

(potenzielle) Mitarbeitende. Allerdings kommt es im Zuge des Ausprobierensder neuen Rolle zu Rückkopplungen auf andere Lernschritte. Während dieInterviewten ihre Rolle als Unternehmerin ausprobieren, erwerben sie neueKenntnisse und Fähigkeiten. Dies entspricht dem siebten Lernschritt vonMezirows Modell, dem Wissens- und Fähigkeitserwerb. Im Rahmen diesesWissens- und Fähigkeitserwerbs entwickeln die Frauen neue situationsbezo-gene und situationsunabhängige Handlungsstrategien. Zudem durchlaufendie Interviewten beim Ausprobieren der neuen Rolle auch erneut den drittenLernschritt und nehmen eine kritische Überprüfung ihrer Bedeutungsper-spektiven vor. Ein konkretes Beispiel hierfür liefert z.B. I6. Während sieihren Fokus auf ihre Mitarbeitenden ausweitet, überprüft sie kritisch ihreBedeutungsperspektiven und stellt fest, dass diese keinen ausreichendenOrientierungsrahmen darstellen. Die Situation schildert sie folgendermaßen:„Gute Arbeit (...) hatte ich (...) [von den Mitarbeitenden, Anm. AL] erwartetund des musste ich aber mir auch wirklich lernen zu sagen, (...) ich hab’gemerkt, nein, (...) ich muss Anweisungen geben” (I6, 114). I6 probiert ihreneue Rolle als Unternehmerin aus. Dabei bemerkt sie, dass ihr beruflichesSelbstverständnis ihr hierfür keine ausreichende Orientierung bietet. Um mitdieser für sie herausfordernden Situation umgehen zu können, beginnt siedamit, ihr berufliches Selbstverständnis kritisch zu überprüfen und stelltfest, dass es ihrer Überprüfung nicht Stand hält. Dies verdeutlicht I6, indemsie festhält: „Ich hab gemerkt nein” (I6, 114).

Das Ausprobieren der neuen Rolle weist auf einen zentralen Bestandteilder veränderten Bedeutungsperspektiven, die sich in Lernphase Vier zeigen,hin. Das berufliche Selbstverständnis wird um eine unternehmerische Dimen-sion erweitert, was Auswirkungen darauf hat, wie die Interviewten gegenüberanderen Menschen auftreten und mit diesen interagieren. IndividualistischeFragestellungen, welche in den vorangegangenen Phasen zentral waren, tretenin den Hintergrund und die Frauen entwickeln einen umfassenderen Blick,der sowohl ihr Unternehmen als auch andere Personen mit einschließt undbis zu einem bürgerschaftlichen Engagement führt.

Das Überschreiten individualistischer Fragestellungen zeigt sich zudembeispielhaft anhand von Machtfragen. Ausführungen zu Machtaspekten fin-den sich sowohl in Umschreibungen eigener negativer Erfahrungen wieder,in denen die Interviewten darauf Bezug nehmen, dass sie von anderen ab-hängig waren, als auch in Umschreibungen neuer positiver Erfahrungen, diedarauf basieren, dass die Interviewten als Unternehmerinnen selbst Machtbesitzen. Zu der Macht der Unternehmerinnen gehört auch, dass sie darüberentscheiden, ob sie anderen Menschen Möglichkeiten eröffnen oder nicht.Beispielhaft kann hier auf die Sprachschulinhaberin I2 Bezug genommen

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werden. Sie nimmt ihre eigenen Exklusionserfahrungen als Grundlage dafür,dass sie Dritten Partizipationsmöglichkeiten eröffnet, was sich darin konkre-tisiert, dass sie die Migrationsgeschichte nicht als Ausschlusskriterium fürBewerbungen heranzieht. Damit geht außerdem einher, dass sie im Zuge desAusprobierens der neuen Rolle ihre eigene Vergangenheit neu interpretiert.Anhand des Beispiels von I2 wird besonders das Ausprobieren unterstrichen,mit dem sich die Interviewten an ihr neues Unternehmerinnen-Sein annä-hern. Während I2 das Unternehmerin- und Arbeitgeberin-Sein ausprobiert,erinnert sie sich zunächst an Arbeitgebende, die sie aus ihrer Vergangenheit(Phase Eins) kennt – sie orientiert sich also an ihren Erfahrungen, welche fürsie zunächst handlungsleitend sind. I2 sagt, dass sie „automatisch” eingegan-gene Bewerbungen in deutsche und nicht-deutsche Bewerber_innen sortiert.Allerdings eruiert sie sodann, dass diese Art des Unterscheidens von Bewer-ber_innen nicht ihrem unternehmerischen Selbstverständnis entspricht undverweist darauf, dass sie nun vorrangig auf die Qualifikation und Fähigkeitvon Bewerber_innen achtet.

Der neunte Lernschritt nach Mezirow, das Aufbauen von Kompetenzund Selbstvertrauen in neuen Rollen und Beziehungen, ist ebenfalls Bestand-teil der dritten Lernphase. Der Lernprozess des Unternehmerinnen-Werdensereignet sich, während die Interviewten formal bereits Unternehmerinnensind. So beginnen sie sich mithilfe von situationsbezogenen und situationsu-nabhängigen Strategien das nötige Selbstvertrauen in ihrer neuen Rolle zuerarbeiten, noch bevor sie diese vollständig erlernt haben.

Sie besinnen sich hier auf ihr beträchtliches Selbstvertrauen, welches siebereits in den ersten beiden Lernphasen, dem „Setting the stage”, gefestigthaben. Durch das Lernen in der Handlung, bei dem Fehler als Lernchancengerahmt werden, generieren die Interviewten die Möglichkeit, an ihrem be-stehenden Selbstvertrauen anzuknüpfen und keine gegenteiligen Emotionenwie z.B. Selbstzweifel als Grundlage für die Ausgestaltung ihrer Unterneh-merinnenrolle heranzuziehen.

Zusammenfassend zeigt sich, dass es in der dritten Lernphase zu einemtransformativen Lernprozess kommt, der durch die Erfahrung eines desori-entierenden Dilemmas hervorgerufen wird. Im Zuge der Bewältigung derDesorientierung durchlaufen die Interviewten die Schritte Zwei bis Neuneines idealtypischen Lernprozesses nach Mezirow. Anhand der verschiedenenStrategien, mit denen die Interviewten sich der Desorientierung stellen, wirddeutlich, dass in Mezirows Modell die Lernschritte stark voneinander ge-trennt abgebildet werden, obwohl – wie meine Studie zeigt – sie nicht linearsondern vielmehr wechselseitig voneinander abhängig und somit zirkulär undineinander verwoben ablaufen.

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7.3 Die transformierte Perspektive (Lernphase Vier) 289

Als Ergebnis der dritten Lernphase haben die Interviewten die Bedeu-tungsperspektiven ihres beruflichen Selbstverständnisses um eine unterneh-merische Perspektive ergänzt. So entsteht das Bild einer fragmentiertenneuen Bedeutungsstruktur. Das fragmentierte Bild besteht aus zahlreichenEinzelaspekten, die einerseits aus dem ursprünglichen beruflichen Selbstver-ständnis übernommen und die andererseits schon dem neu auszubildendenunternehmerischen Selbstverständnis zugeordnet werden können. Das frag-mentierte Bild wird in der nachfolgenden vierten Lernphase zu einer neuenEinheit – dem unternehmerischen Selbstverständnis – zusammengesetzt, undstellt dann einen nachhaltigen Orientierungs- und Interpretationsrahmendar.

7.3 Die transformierte Perspektive (LernphaseVier)

Während der vierten Lernphase wird eine Transformation der bestehendenPerspektiven erkennbar. Perspektivtransformationen zeigen sich laut Mezirow(2000) darin, dass Personen über „more dependable frames of reference” (2000:19) verfügen.

„A more dependable frame of reference is one that is mo-re inclusive, differentiating, permeable (open to other view-points), critically reflective of assumptions, emotionally capableof change, and integrative of experience. insofar as experienceand circumstance permit, we move toward more dependable fra-mes of reference to better unterstand our experience.” (Mezirow2000:19)

Die von Mezirow beschriebene erweiterte Sichtweise zeigt sich auch in dervorliegenden Studie, sie hat jedoch einen weit umfangreicheren Charakterals in Mezirows modellhaften Beschreibungen, da mit dem individualisti-schen Wandel, welchen Mezirow vorrangig beschreibt, neue Bezüge und Ab-hängigkeiten einhergehen. Die neue Bedeutungsstruktur unternehmerischesSelbstverständnis beinhaltet auch Aspekte des ursprünglichen beruflichenSelbstverständnisses.

Taylor (2007) weist darauf hin, dass einige Forschungsarbeiten der Fragenachgehen, was in der transformierten Perspektive beibehalten und wasverändert wird. So hat er in seiner Literaturübersicht herausgearbeitet, dassStudien nachweisen, dass auch Untersuchungsgruppen, die an ihrer Weltsicht

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290 7 Das Lernmodell als transformatives Lernmodell

(„frames of reference”) festhalten, in der Lage sind, ihre direkten Überzeugun-gen und Erwartungen bzw. Bedeutungsschemata („meaning schemes” bzw.„points of view”) zu verändern (vgl. ebd.: 180). Bis zu einem gewissen Gradbestätigt sich dies auch in meiner Studie, da die neue Bedeutungsstrukturunternehmerisches Selbstverständnis Teile des ursprünglichen beruflichenSelbstverständnisses beinhaltet. Im Rahmen des neuen, viel umfassenderenunternehmerischen Selbstverständnisses kommt es zu einer Neuinterpretationdes bisherigen beruflichen Selbstverständnisses durch die Interviewten. Sobilden die Interviewten im Zuge der Transformation ihrer Perspektiven –aufbauend auf den vorangegangenen Lernphasen – ein umfassendes unter-nehmerisches Selbstverständnis aus. In der dritten Lernphase zeigt sich, dassden Interviewten Wissen und Fähigkeiten für eine erfolgreiche Unterneh-mensführung fehlen, woraufhin sie beginnen, ihre Bedeutungsperspektivenauszudifferenzieren. Während sich die Ausdifferenzierung der Perspektivenin Phase Drei als eher fragmentiert charakterisieren lässt und die Frauenauftretende Probleme eher mit situationsbezogenen Bewältigungsstrategienlösen, entwickeln sie in der vierten Lernphase langfristig tragfähige undsituationsunabhängige Problembewältigungsstrategien, von denen sie auchals erfolgreiche Unternehmerinnen immer wieder Gebrauch machen. Diesituationsunabhängigen Strategien entwickeln die Frauen, indem sie sichdas noch fehlende unternehmerische Wissen erarbeiten. Sie werden in dervierten Lernphase zu einem integrativen Bestandteil ihres unternehmerischenSelbstverständnisses.

In der vierten Lernphase ereignen sich vor allem die letzten beidenSchritte des idealtypischen Lernprozesses nach Mezirow. Der neunte Lern-schritt, der sich mit dem Aufbau von Kompetenz und Selbstvertrauen inneuen Rollen und Beziehungen befasst, sowie der zehnte Lernschritt, in demes zu einer Integration des Erlernten in die Weltsicht der Lernenden kommt(vgl. Mezirow 2000b: 22). Die Interviewten finden sich nun in ihrer neuenRolle der Unternehmerin ein, was so weit geht, dass sie ausgehend von derneu generierten Sichtweise ihre Weltwahrnehmung ändern und auch ihreErfahrungen vor dem Hintergrund ihrer neuen Sichtweise neu interpretieren.

Während das ursprüngliche berufliche Selbstverständnis sehr stark aufindividualistische Fragestellungen und auf die berufliche Sphäre der Inter-viewten fokussiert war, zeigt das neue unternehmerische Selbstverständniseinen deutlich weiteren Bezugsrahmen. Zu Beginn ihres Lernprozesses warendie Interviewten auf ihre berufliche Situation fokussiert, so z.B. auf dieSicherung ihrer materiellen Existenz. Im weiter fortschreitenden Prozesswidmen sie sich darüber hinausgehenden Fragestellungen, indem sie z.B.bürgerschaftliche Verantwortung übernehmen.

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7.3 Die transformierte Perspektive (Lernphase Vier) 291

Die transformierte Perspektive der Interviewten diskutiere ich im Folgen-den unter Bezugnahme auf den epistemologischen sowie den ontologischenWandel der Interviewten. Mezirow bezieht sich bei der Darstellung einertransformierten Perspektive hauptsächlich auf eine neu generierte Autonomie,welche mit einem epistemologischen Wandel einhergeht. D.h. es geht ihm umdas autonome Denken, die integrative und durchlässige Weltsicht, welche dieInterviewten durch ihre transformierten Perspektiven entwickeln (vgl. Mezi-row 2012: 89ff.). Einschränkend hält er fest: „Acquiring the ability to makemore autonomous choices is a process never fully realized” (ebd.: 90). Zusam-menfassend beschreibt er das Ergebnis des transformativen Lernprozessesals „a qualitative change in how one knows” (Mezirow 2012: 89). Allerdingsist dies nicht unabhängig vom Handeln anzusehen, da das autonome DenkenAuswirkungen auf das Verhalten hat.

„[A]chieving greater autonomy in thinking is a product oftransformative learning – acquiring more of the understandings,skills, and dispositions to become more aware of the context ofinterpretations and beliefs, (...) and effective in acting on theresult of this reflective learning process.” (ebd.: 91)

Der mit dem transformativen Lernen einhergehende Wandel, der sich nichtnur auf das Denken sondern auch auf das Handeln auswirkt, weist auf eineVerbindung zwischen epistemologischem und ontologischem Wandel hin.Die einseitige Fokussierung Mezirows auf Autonomie und epistemologischenWandel wurde seinem Modell mehrfach vorgeworfen (vgl. z.B. Taylor 1998:33). Dieser Vorwurf wird durch meine Studie bestätigt, da bei den von mirinterviewten Unternehmerinnen der epistemologische mit einem ontologischenWandel einhergeht. Die Auswirkung einer transformierten Perspektive aufdas ontologische Sein hat Lange (2004) herausgestellt:

„[Transformative learning, Anm. AL] is not just an episte-mological process involving a change in worldview and habitsof thinking, it is also an ontological process were participantsexperience a change in their being in the world including theirform of relatedness.” (ebd.: 137)

Lange beschreibt, dass eine transformierte Perspektive in einem neuen Seinin der Welt resultiert. Wie sich die Verbindung von epistemologischem undontologischem Wandel für die vorliegende Studie konkretisiert, stelle ich imFolgenden dar.

In der Diskussion der vierten Lernphase gehe ich zunächst darauf ein,inwiefern die Ergebnisse der vorliegenden Studie mit einer Perspektivtrans-

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292 7 Das Lernmodell als transformatives Lernmodell

formation nach Mezirow übereinstimmen. Dies konkretisiere ich anhand derAutonomie (7.3.1), die die Interviewten sich aufgrund ihrer neuen Perspektiveerarbeitet haben. Anschließend eruiere ich, an welchen Stellen die Ergebnisseüber die von Mezirow dargelegte Perspektivtransformation hinausgehen, wassich besonders anhand „neuer” Abhängigkeiten zeigt, die mit Interaktionenund Beziehungen einhergehen (7.3.2).

7.3.1 AutonomieDie transformierte Perspektive der Interviewten beinhaltet, dass sie - einher-gehend mit dem, was Mezirow zu transformierten Perspektiven herausgear-beitet hat – Autonomie und Unabhängigkeit entwickelt haben.

Obwohl die Interviewten als Unternehmerinnen nicht frei von vorgege-benen Gesetzen sind, so weisen sie jedoch aufgrund ihrer transformiertenPerspektive eine reflektierte Sichtweise auf, die mit sich bringt, dass sie sichim Zuge ihres Transformationsprozesses von bestimmten einschränkendenDenkmustern befreit haben. Außerdem verfügen sie in ihren Unternehmenüber einen eigenen Entscheidungsspielraum. Er beinhaltet Personalfragen,Produktfragen sowie Fragen zur weiteren Ausgestaltung ihrer Unternehmen.Die Interviewten sind frei in ihren Entscheidungen und unabhängig vonfremden Vorgaben und etwaigen von außen vorgegeben unternehmerischenWerten.

Im Folgenden gehe ich genauer auf die neue Autonomie der Unternehme-rinnen ein, welche sich als Resultat aus epistemologischem und ontologischemWandel zeigt. In der vierten Lernphase fühlen sich die Interviewten in ih-rem neuen Unternehmerinnen-Sein gestärkt und einhergehend mit ihrertransformierten Perspektive verfügen sie über eine autonomere Denkweise.Der Lernprozess fokussiert sich in Phase Vier auf die sehr eng aufeinanderbezogenen Lernschritte Neun und Zehn von Mezirows Lernmodell. SchrittNeun beinhaltet den Aufbau von Kompetenzen und Selbstvertrauen in neuenRollen und Beziehungen. Ihre neue Rolle als Unternehmerinnen haben dieInterviewten in Phase Vier erlernt. Sie sind zu selbstbewussten und auto-nomen Unternehmerinnen geworden. Der Aufbau von Kompetenzen undSelbstvertrauen erfolgt, indem sie sich das noch fehlende unternehmerischeWissen erarbeiten. Der Erwerb des unternehmerischen Wissens bedingt, dasssie sich unabhängig und autonom in ihrer beruflichen Sphäre bewegen unddarüber hinaus über eine erweiterte Weltsicht verfügen. Beispielhaft be-schreibt das die Friseurin I6, der zu Beginn ihres Unternehmerinnen-Daseinseine saisonbedingte niedrige Kund_innenanzahl Sorge bereitete (I6, 94). Ihre

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7.3 Die transformierte Perspektive (Lernphase Vier) 293

nun erweiterte Sicht ermöglicht ihr, solche Phasen sorglos zu verbringen undzu genießen.

Für den Kompetenzaufbau in der neuen Rolle nimmt in der viertenPhase u.a. die Migrationsgeschichte der Interviewten eine zentrale Rolleein: Die Interviewten stellen eine enge Verbindung zwischen ihrer Migra-tionsgeschichte und ihrer Berufskompetenz her. Dadurch ordnen sie ihreMigrationsgeschichte in ihr Unternehmen ein. Ihre Migrationsgeschichteerscheint ihnen dabei als Potenzial und Kategorie des „Anders- Seins” impositiven Sinne. Auf diese Weise wird die Migrationsgeschichte zu einementscheidenden Bestandteil ihrer Berufskompetenz und bildet somit etwas,woran die Interviewten anknüpfen und worauf sie aufbauen können. So er-wähnt z.B. die Unternehmensberaterin I8 (I8, 2), dass aus ihrer Sicht dieentscheidenden Kompetenzen, die zu ihrem Erfolg geführt haben, in ihrerMigrationsgeschichte verwurzelt sind.

An dieser Stelle zeigt sich innerhalb der vorliegenden Studie ein ent-scheidender Unterschied zu dem, was Morrice (2013) als „darker side oftransformative learning” bezeichnet. In ihrer Untersuchung zu Flüchtlingenstellt die Autorin heraus, dass Personen, die nicht an biografischen Vorerfah-rungen anschließen können, Dekonstruktionsleistungen vollbringen müssenund zunächst etwas verlernen müssen, bevor sie neue Kompetenzen aufbauenkönnen. Das Verlernen und die Dekonstruktionsleistungen bezeichnet sieals die „darker side” des transformativen Lernens, da es nicht – wie dermainstream der Forschung zum transformativen Lernen – positiv konnotiertist. Ein solches Verlernen und Dekonstruieren wurde von den von mir in-terviewten Unternehmerinnen nicht gefordert. Auch die nach Deutschlandmigrierten Interviewten konnten an etwas anschließen, das sie vormals erlernthaben, und es in ihre Unternehmen integrieren. Dies ist ihnen auch danngelungen, wenn ihre ausländischen Abschlüsse nicht anerkannt wurden, wiedies z.B. bei I2, der Sprachschulinhaberin, der Fall war. Insgesamt gesehenerfolgt der Kompetenzaufbau in der neuen Rolle als Unternehmerin durchAnschluss an bereits vorhandene Kompetenzen.

Der neunte Lernschritt nach Mezirow hängt eng mit dem zehnten Lern-schritt, der Integration der transformierten Perspektive in die Weltsicht derLernenden, zusammen. Beide Lernschritte zeigen sich anhand eines differen-zierten Bildes. Die Interviewten rahmen anhand ihrer neuen Perspektive ihreErfahrungen neu; verschiedene Kategorien spielen für ihre Erfahrungen einezentrale Rolle – wie z.B. Migrationsgeschichte und Geschlechtsvorstellungen– und fließen in die erweiterte und reflektierte Sichtweise ein.

Die neue Autonomie und die damit einhergehende Selbstsicherheit derUnternehmerinnen bezieht sich zunächst auf ihre Unternehmen. Die hier

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294 7 Das Lernmodell als transformatives Lernmodell

zur Geltung kommende erweiterte Perspektive konkretisiert sich in der Artund Weise, wie sie ihre Entscheidungen treffen – ihre Ideale sind integrati-ver Bestandteil ihrer transformierten Perspektiven. Zudem treffen sie ihreEntscheidungen unabhängig von anderen.

Exemplarisch wird das anhand des Themas „Einkommen” deutlich.Nahm es in den vorangegangenen Phasen eine zentrale Rolle ein, so spre-chen die Interviewten dem Einkommen nun, da es durch ihr Unternehmengesichert ist, eine nachgeordnete Rolle zu. Aus finanzieller Sicht können dieInterviewten es sich leisten, den wirtschaftlichen Gewinn ihrer Unterneh-men in den Hintergrund zu stellen und dadurch andere Themenbereiche– die mit einer bürgerschaftlichen Verantwortung in Verbindung stehen –ins Zentrum ihres Unternehmerinnen-Daseins rücken68. Als Beispiel kannhier an I2 erinnert werden, die einem Kunden die kostenlose Teilnahme aneinem Sprachkurs ermöglicht (vgl. I2, 66); ihre transformierte Perspektivebeinhaltet ein bürgerschaftliches Engagement für andere Menschen (mitMigrationsgeschichte)69.

Darüber hinaus fällt auf, dass die neu gewonnene Autonomie auch überunternehmerische Fragestellungen hinausgeht und sowohl Auswirkungen aufdas Berufs- wie auch auf das Privatleben der Frauen hat. Einhergehend mitder transformierten Perspektive ändern die Interviewten ihre Interpretations-rahmen für eigene Handlungen und biografische Vorerfahrungen. Dadurchkommt es zu einer Neurahmung von Erfahrungen. So geht beispielsweise I2basierend auf ihrer neuen Perspektive auf die Verdienstmöglichkeiten in ih-rem Heimatland Russland ein, welche wesentlich geringer als in Deutschlandsind. Dabei kommt ihre neue, stärker differenzierte Sichtweise zur Geltung,was sich daran zeigt, dass ihr Vergleich der russischen mit der deutschenArbeitswelt nicht ausschließlich auf den Aspekt des Verdienstes konzentriertist. Lobend hebt sie in Russland z.B. die Arbeitseinstellung – mit „Herz” beider Arbeit sein - hervor, welche sie bei einigen Menschen in Deutschlandvermisst, und die sie selbst – ihrer Deutung nach – gerade aufgrund ihrerErfahrungen mit geringen Verdienstmöglichkeiten ausbilden konnte (I2, 62).Hier zeigt sich, dass I2 auf Basis ihrer transformierten Perspektive ihrebiografischen Vorerfahrungen reflektiert, indem sie sie ihren neuen Erfah-rungen als Unternehmerin in Deutschland zuordnet. Ein anderes Beispielliefert die Verkäuferin italienischer Produkte I1, die ihr Studium abgebrochen

68Hinzuzufügen ist, dass auch bei der nun transformierten und erweiterten Perspektivedas jeweilige Einkommen nicht völlig außer Acht gerät. Die Interviewten betonen, dasssich in ihrem Einkommen der Wert ihrer Arbeit spiegelt (vgl. z.B. I7, 5).

69In diesem Beispiel sind Autonomie – das unabhängige Treffen eigener Entscheidungen– und neue Abhängigkeiten eng miteinander verbunden.

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7.3 Die transformierte Perspektive (Lernphase Vier) 295

hat. Erst durch die Autonomie, die das Unternehmerinnen-Sein mit sichbringt, bereitet es ihr keine Schwierigkeiten mehr, dazu zu stehen. Durch ihrerfolgreiches Unternehmen hat sie „bewiesen”, dass ihr Misserfolgserlebniskeine Rolle spielt.

Weitere Auswirkungen des Unternehmens auf das Privatleben der Inter-viewten zeigen sich darin, dass die Interviewten das Unternehmerinnen-Seinals „Art zu leben” bezeichnen. I2 konkretisiert das noch weiter, indem sieihr Unternehmen – eine Sprachschule – als ihre „Lebensschule” beschreibt(I2, 74). Anhand der verschiedenen Ausdrucksweisen wird deutlich, dassdas unternehmerische Selbstverständnis eine zentrale Rolle für das Lebender Interviewten spielt, und spezifische unternehmerische Fragestellungendeutlich überschritten werden.

Mit den weitreichenden Auswirkungen, welche die Unabhängigkeit alsUnternehmerin mit sich bringt, geht einher, dass die Interviewten - ausge-hend von ihren neuen Sichtweisen – nicht nur über sich selbst, sondern auchüber die Bedingungen in Deutschland reflektieren. Auch dabei nehmen sieauf ihre Erfahrungen als Arbeitnehmende oder als abhängig BeschäftigteBezug. So ist es beispielsweise I2, nachdem sie anfänglich Schwierigkeitenhatte, sich in Deutschland in den Arbeitsmarkt zu integrieren, gelungen, sichals Unternehmerin zu etablieren und sich von (potenziellen) Arbeitgebendenunabhängig zu machen. Sie hat sich ihre „Brauchbarkeit” für den deutschenArbeitsmarkt gewissermaßen eigenständig erarbeitet; mit Blick auf Menschenmit Migrationsgeschichte fragt sie: „wen braucht Deutschland, (...) müssenunbedingt die Reinigungskräfte zwei Uniabschlüsse haben, (...) das ist eineSchande wir haben in Deutschland ein sehr sehr sehr großes Problem, manhat hier überqualifizierte Kräfte, die in diesem Land hier nicht gebrauchtwerden” (I2, 30). Ihre Feststellung beruht auf ihren Erfahrungen sowohlals Arbeitsuchende als auch als Unternehmerin. Sie beschreibt, dass sichdie Arbeitsmarktstrukturen und damit einhergehend die deutsche „Mehr-heitsgesellschaft” als große Hürden für Menschen mit Migrationsgeschichteerweisen.

Hier wird bereits deutlich, dass die Unabhängigkeit, über die die Inter-viewten nun als Unternehmerinnen verfügen, nicht mit sich bringt, dass sievon gesellschaftlichen Fragestellungen unabhängig sind. Vielmehr geht I2 mitdiesem Beispiel darauf ein, dass sie hier ein gesamtgesellschaftliches Problemwahrnimmt, für das in Deutschland keine strukturellen Lösungsmöglichkeitenbestehen. Durch die Verwendung von „wir” signalisiert sie, dass das Problemauch ihr Problem ist und gibt so Hinweise darauf, dass sie sich nun in derVerantwortung sieht, sich für Verbesserungen einzusetzen. Sie engagiert sichals Unternehmerin für Menschen mit Migrationsgeschichte. Im Rahmen ihres

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Engagements für andere entstehen jedoch – zusätzlich zu der dargelegtenAutonomie – neue Abhängigkeiten. Auf diese gehe ich im Folgenden ein.

7.3.2 Interaktionen und BeziehungenDie neue Autonomie der Unternehmerinnen bedingt eine reflektierte Sicht-weise der Interviewten auf sich selbst sowie auf andere, was sich in denInteraktionen mit anderen und den Beziehungen zu ihnen konkretisiert. Fürdie Interviewten entstehen neben der neu geschaffenen Autonomie auch„neue” Abhängigkeiten, da sie durch ihr neues Unternehmerinnen-Sein neueInterdependenzen generieren.

Wie Lange (2004) herausstellt, geht der Wandel des ontologischen Seinsmit einem neuen Eingebunden-Sein einher (ebd.: 137). In der vorliegendenStudie konkretisiert sich das anhand von veränderten Beziehungen. DassBeziehungen, also Interaktionen mit anderen für den Prozess der Perspektiv-transformation eine wichtige Rolle einnehmen, hat bereits Mezirow erwähnt(vgl. Mezirow 2000: 25). Daran anschließend haben verschiedene Studien un-tersucht, wie Beziehungen den Transformationsprozess begleiten und dadurchermöglichen. Hierbei wurde der Begriff der „transformative relationships”geprägt.

„It is through trustful relationships that allow individualsto have questioning discussions, share information openly andachieve mutual and consensual understanding”. (Taylor 2007:179)

Studien zu „transformative relationships” betrachten hauptsächlich solcheBeziehungen, die den Transformationsprozess begleiten bzw. ermöglichen(vgl. Mezirow 2000). Solche Beziehungen zeigen sich auch in der vorliegendenStudie, wobei die Interaktionen der Interviewten, welche den transformativenLernprozess begleiten, von Vertrauen und Nähe geprägt sind. Beispielhaftkann hier auf die Verkäuferin italienischer Produkte, I1, Bezug genommenwerden, die ihren Partner als wichtigsten Unterstützer und Berater fürihren Prozess des Unternehmerin-Werdens anführt; er stellt somit für sie dierelevante transformative Beziehung dar.

Zu Studien, die sich mit der Frage auseinandersetzen, welche RolleBeziehungen sowohl im Prozess als auch für das Ergebnis von transformativenLernprozessen spielen, halten Taylor und Snyder (2012) fest:

„These studies further highlight the ideas that transformativelearning does not happen in a vacuum solely through the free

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7.3 Die transformierte Perspektive (Lernphase Vier) 297

will of an autonomous learner; rather, it is contextually boundedand influenced by relationships with others.” (ebd.: 44)

Neben den „transformative relationships” zeigt die vorliegende Studie auchauf, welche Auswirkungen eine transformierte Perspektive auf Beziehungenund Interaktionen mit anderen haben kann. Eine solche Betrachtungsweisetransformierter Perspektiven liefern auch Sands und Tennant (2010), die inihrer Untersuchung der Frage nachgehen „How are relationships changed,modified, reframed, or recast as a result of transformative learning?” (ebd.:116). Allerdings sind der Gegenstand ihrer Untersuchung Lernprozesse vonPersonen, die den Selbstmord einer signifikanten anderen Person – wie z.B.Partner_in, Kind, Elternteil, Geschwister – verarbeiten. So ist zum einennicht nur das desorientierende Dilemma weitreichender und existenziellerals das in der vorliegenden Studie der Fall ist, sondern auch die Art derBeziehungen, um die es geht differiert durch die emotionale und enge Ver-bindung von der Art der Beziehungen, die die von mir interviewten Frauenaufweisen. Als Resultat ihrer Studie stellen die Autoren folgendes heraus:„meaning making is targeted towards a repositioning of relationships – withthe deceased, the self, and others” (Sands/ Tennant 2010: 116). Eine solcheNeuausrichtung von Beziehungen – vor allem hinsichtlich der Beziehung zuanderen - zeigt sich ebenfalls in der vorliegenden Studie.

Dies impliziert, dass der soziale Kontext sowohl für den Transformati-onsprozess als auch für die transformierte Perspektive eine wichtige Rollespielt. Die Nichtbeachtung des sozialen Kontextes ist neben der einseitigenFokussierung auf Autonomie und epistemologischen Wandel eine zentraleKritik, die gegenüber Mezirows Theorie immer wieder geäußert wurde (vgl.z.B. Taylor 1998: 33f.). In seinen späteren Veröffentlichungen hält Mezirowfest, dass er die jeweiligen Kontexte – wie z.B. „ideology, culture, powerand race-class-gender differences” (Mezirow 2009a: 95) – als relevant fürtransformatives Lernen ansieht. Auch wenn sie in seinen Arbeiten nichtdifferenziert dargelegt werden, so sieht er sie in seinem Modell dennochdurch kritische Reflexion berücksichtigt:

„Transformative learning is essentially a metacognitive pro-cess of reassessing reasons supporting our problematic meaningperspectives.” (Mezirow 2009a: 98)

Durch seine Fokussierung auf individualistische Fragestellungen lässt sichauch begründen, dass Mezirow die genaue Rolle von Beziehungen in seinemModell nicht geklärt hat.

Die besondere Rolle, die in der vierten Phase der vorliegenden StudieBeziehungen und Interaktionen mit Dritten einnehmen, verdeutlicht, dass

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298 7 Das Lernmodell als transformatives Lernmodell

die Interviewten sich in dieser Lernphase in eine Interdependenz mit ande-ren begeben haben, was ausgehend von ihrer transformierten Perspektivegeschieht. In Kapitel 1 habe ich dargelegt, wie die Ansätze von Freire undMezirow als zwei Pole auf einem Kontinuum angeordnet werden können,wobei Freire sich auf ein kritisches Bewusstsein und eine soziale Gerechtigkeitbezieht, während Mezirow am Individuum orientiert ist. Als zwei ergänzendeweitere Richtungen des transformativen Lernens nennen Stevens-Long u.a.(2011) tiefenpsychologische Ansätze, die an Jungs Konzept der Individuationorientiert sind sowie den strukturellen Entwicklungsansatz, der an Keganorientiert ist (vgl. Stevens-Long u.a. 2011: 183). Beide Entwicklungstheorienbefassen sich mit Interdependenz, was sowohl für Jungs Konzept der Indi-viduation als auch für Kegans konstruktivistischen Ansatz gilt (vgl. hierzuBoyd 1991, Kegan 1982, 1994). Diese psychologisch orientierten Perspektivenkönnten herangezogen werden, um die in der vorliegenden Studie auftretendeInterdependenz, die auch als „transpersonaler” Aspekt beschrieben werdenkönnte, genauer zu untersuchen (vgl. Dirkx 2000). Dies würde jedoch überden Rahmen der vorliegenden Arbeit hinausgehen, weshalb ich diese Ansätzenicht weiter verfolge.

Der zehnte Lernschritt nach Mezirow – die Integration der neuen Per-spektive in die eigene Weltsicht – zeigt sich anhand veränderter Interakti-onsbeziehungen. Für sie zeigen sich zwei verschiedene Ausprägungen. Dieerste bezieht sich auf die berufliche Sphäre und das Agieren innerhalb desUnternehmens; hier wird deutlich, dass die Unternehmerinnen das in PhaseDrei noch fehlende unternehmerische Wissen erlernt haben und so in ihrePerspektive integriert haben, dass sie es nun anwenden können. Die zweiteAusprägung bezieht sich auf über berufliche Fragestellungen Hinausgehen-des und konkretisiert sich anhand von Auswirkungen auf die Interviewtenselbst sowie auf andere, die mit dem Unternehmen in Verbindung stehen(könnten). Biografische Vorerfahrungen und somit Reflexionen zu Migrationund Geschlecht können bedeutsam werden, woraufhin der wirtschaftlicheGewinn explizit in den Hintergrund rücken kann. So treten die Interviewtenz.B. mit Personen in Interaktion, die nicht aus ihrem direkten, sondern ausihrem erweiterten Umfeld stammen, aber dennoch mit ihnen Gemeinsamkei-ten aufweisen, wie z.B. das Frau-, Mutter- oder Migrantin-Sein. Bei diesenInteraktionen kommt auch ein bürgerschaftliches Engagement zur Geltung.

Im Folgenden gehe ich auf die beiden Ausprägungen der Interaktionsbe-ziehungen genauer ein.

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7.3 Die transformierte Perspektive (Lernphase Vier) 299

Interaktionen – Auswirkungen innerhalb beruflicher SphäreDie erste Form der Interaktionsbeziehungen ist auf das Agieren innerhalb desUnternehmens und somit die berufliche Sphäre fokussiert, da die Interviewtenihr neu erlerntes Unternehmerinnen-Sein in Interaktionen mit Personen, diemit ihrem Unternehmen in direkter Verbindung stehen, umsetzen.

Dritte, die mit dem Unternehmen in Verbindung stehen, nehmen fürden Transformationsprozess folgende Funktion ein: Sie haben u.a. als „exter-ne” Einflüsse den Transformationsprozess (in Lernphase Drei einhergehendmit den desorientierenden Dilemmata) ausgelöst. Außerdem wirkt sich dietransformierte Perspektive der Frauen auf sie zurück. Sie begleiten bzw.unterstützen somit nicht den gesamten Transformationsprozess, wie dies z.T.enge Vertrauenspersonen der Interviewten tun, sondern stehen vielmehr mitder Desorientierungserfahrung in Verbindung und erleben nun die Auswir-kungen des ontologischen Wandels der Interviewten zu Unternehmerinnen.

Als Beispiel kann hier die Friseurin I6 erwähnt werden, die zunächstin der dritten Lernphase ein desorientierendes Dilemma erfährt, da ihr dienötigen Fähigkeiten fehlen, um vor ihren Angestellten als Chefin aufzutreten(I6, 112). Ihre Desorientierungserfahrung wird dadurch initiiert, dass siein der Zusammenarbeit mit ihren Mitarbeitenden erfährt, dass sie sie inihrer Rolle nicht akzeptieren. So haben ihre Mitarbeitenden Anteil an derAuslösung des Transformationsprozesses. In der vierten Lernphase zeigtsich, dass I6 diese Herausforderung bewältigt hat. Als Chefin hat sie u.a.gelernt, ihren Mitarbeitenden nicht mehr wie eine Teamkollegin, sondernwie eine Chefin gegenüberzutreten, was ihr gelingt, indem sie u.a. zu ihrenMitarbeitenden Distanz aufbaut. Zum Interviewzeitpunkt ist sie in ihrerRolle als Chefin gefestigt.

Interaktionen – Auswirkungen über berufliche SphärehinausgehendDie zweite Form der Interaktionsbeziehungen reicht in ihren Auswirkungenüber unternehmerische Fragestellungen hinaus. Die Auswirkungen beziehensich sowohl auf die Interviewten selbst als auch auf andere – hierbei fließtdas Reflektieren über eigene Erfahrungen sowie das Spiegeln dieser in derAuseinandersetzung mit Dritten ein. Allgemein gesprochen fasst die Verkäu-ferin italienischer Produkte, I1, dies beispielhaft zusammen, indem sie sagt„also ich finde eine andere Beziehung zu den Menschen” (I1, 60).

Im Folgenden gehe ich zunächst auf die Auswirkungen ein, die sichüberwiegend auf die Unternehmerinnen selbst beziehen und anschließendlege ich die Auswirkungen dar, die sich für Dritte zeigen, die mit demUnternehmen (in Zukunft) in Verbindung stehen.

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300 7 Das Lernmodell als transformatives Lernmodell

Zunächst führen die Interviewten aus, dass sich die mit der transfor-mierten Perspektive – und mit dem Unternehmen – einhergehenden neuenInteraktionen mit Dritten positiv auf sie selbst auswirken. Die Auswirkungenbeziehen sich zum einen auf ihre berufliche Sphäre und gehen zum anderenauch darüber hinaus.

So legt z.B. die Sprachschulinhaberin I2 dar, wie sie sich einhergehendmit ihrer unternehmerischen Selbstständigkeit in Interaktionen in Netzwerkenund mit Geschäftspartner_innen begeben hat. Ihre geschäftlichen Interak-tionen bedingen, dass ihre berufliche Integration in Deutschland beiläufigabläuft. Sie hebt die durch das Unternehmen neu geschaffenen Interakti-onsbeziehungen hervor, indem sie feststellt, dass sie nicht „auf dem Mond”arbeite und sich mit ihrem Unternehmen „mittendrin” befindet (I2, 28, 74).Auf eine etwas andere Weise beschreibt die Supervisorin I4 die positivenAuswirkungen der neuen Interaktionen auf sich selbst. Sie legt dar, wie sieeine biografische Herausforderung aus der Vergangenheit bewältigt und sichNetzwerke erarbeitet hat, die sie nun unterstützen und innerhalb derer sieAnerkennung erfährt (I4, 29).

Daneben haben die neuen Interaktionsbeziehungen positive Auswir-kungen auf die jeweiligen Interaktionspartner_innen und auch darüberhinausgehend.

Dabei wird die Art der positiven Auswirkungen vom Unternehmen(Branche, Größe etc.) beeinflusst: Hier muss zunächst unterschieden werdenzwischen Unternehmerinnen, die ohne Mitarbeitende agieren und Unterneh-merinnen, die Mitarbeitende beschäftigen. Letztere haben die Möglichkeit,ihre Vorstellungen als Chefinnen und Arbeitgeberinnen umzusetzen. Sie kreie-ren nicht nur für sich selbst Arbeitszusammenhänge, sondern auch für andere– wobei ihre transformierte Perspektive zur Geltung kommt. Außerdem eröff-nen sie, bedingt durch ihre transformierte Perspektive als Arbeitgeberinnen,automatisch Partizipationsmöglichkeiten für Dritte am Arbeitsmarkt. Dabeitreten z.B. Fragen zur Personalauswahl in den Vordergrund.

Zudem wird durch die Art des Unternehmens bestimmt, wer die Perso-nen sind, mit denen die Interviewten innerhalb sowie durch ihre Unternehmenin Kontakt kommen – Kund_innen, Produzent_innen, etc. – und die Art desUnternehmens bestimmt auch, welche Auswirkungen auf Dritte möglich sind.Beispielhaft kann dies anhand folgender Interviewter konkretisiert werden: I2kommt in ihrer Sprachschule zwangsläufig mit Menschen mit Migrationsge-schichte in Kontakt. So kann es für sie aufgrund ihres Unternehmens bereitsnaheliegend sein, die Kategorie Migrationsgeschichte in den Fokus zu rücken– sowohl als Arbeitgeberin als auch als Leiterin gegenüber Kund_innen.I6 ist dagegen als Friseurin nicht auf einen bestimmten Kund_innenkreis

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7.3 Die transformierte Perspektive (Lernphase Vier) 301

festgelegt. Hinsichtlich der Auswahl ihrer Mitarbeitenden setzt sie allerdingsindividuelle Schwerpunkte. I1 ist mit ihrem Importunternehmen ebenfallsnicht auf einen bestimmten Kund_innenkreis festgelegt, setzt jedoch beider Auswahl ihrer Produzent_innen ihre Schwerpunkte und engagiert sichdarüber hinausgehend auch ehrenamtlich. I4 fokussiert als Supervisorin eben-falls keinen bestimmten Kundenkreis. Ihr Aktionsradius umfasst jedoch auchaußerberufliches ehrenamtliches Engagement, welches sie als Unternehmerinwahrnimmt. Als Mentorin unterstützt sie Studierende, welche sie wiederumin ihrem Unternehmerinnen-Dasein bestärken.

Bei den Auswirkungen der verschiedenen Interaktionsbeziehungen kannder wirtschaftliche Gewinn der Interviewten explizit in den Hintergrundtreten und ihre Ideale rücken ins Zentrum. In diese fließen Reflexionen zueigenen (negativen wie positiven) (Berufs-)Erfahrungen aus der Vergangen-heit ein und die eigene Migrationsgeschichte sowie Geschlechtsvorstellungenkönnen zentral werden. Neben der bereits dargestellten Rolle der Migrations-geschichte für die Autonomie der Unternehmerinnen, hat die Migrationsge-schichte auch Auswirkungen – bedingt durch soziokulturelle Erfahrungen –auf Interaktionen mit anderen. Somit wirkt sich die Integration der eigenenMigrationsgeschichte in den Lernprozess nicht nur auf die Unternehmerinnenselbst aus, sondern auch auf andere. Daneben können die Kategorien Frau-sein und Mutter-Sein sowohl die beruflichen als auch die außerberuflichenInteraktionen der Interviewten entscheidend beeinflussen.

So gehen die Interviewten ausgehend von ihren transformierten Be-deutungsperspektiven neue Interaktionsbeziehungen mit Dritten ein undkreieren damit einhergehend Partizipationsmöglichkeiten für diese Personen.Hierbei spielen Reflexionen zu eigenen beruflichen Erfahrungen sowie Refle-xionen über den Defizitdiskurs zu Menschen mit Migrationsgeschichte imArbeitsmarkt sowie zu Frauen und Müttern im Arbeitsmarkt eine Rolle – dieSchwerpunktsetzung kann variieren. Als Beispiel kann hier I6 erwähnt wer-den, die einer jungen Mutter mit türkischer Migrationsgeschichte – die keineAusbildungsstelle findet – einen Ausbildungsplatz bietet. Ihre transformiertePerspektive beeinflusst ihre Auswahlkriterien für Mitarbeitende; sie geht überwirtschaftliche Fragestellungen hinaus und überschreitet individualistischeFragestellungen. Zudem kann sich das Eröffnen von Partizipationsmöglichkei-ten für Dritte auch auf Kund_innen beziehen. Hier kann I2 genannt werden,die sich besonders für einzelne Kund_innen einsetzt, damit ihnen durchausreichende Sprachkenntnisse eine Partizipation im Arbeitsmarkt – imAnschluss an den Kurs in ihrer Sprachschule - möglich wird. Beide Beispielezeigen, dass die Frauen ihre Positionen als Unternehmerinnen nutzen, um

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302 7 Das Lernmodell als transformatives Lernmodell

bürgerschaftliche Verantwortung zu übernehmen. In dieser bürgerschaftlichenVerantwortung kommt eine altruistische Sorge für andere zum Ausdruck.

Dass transformative Lernprozesse dazu führen, dass die Empathiefähig-keit verbessert wird, erwähnen auch Taylor und Snyder in ihrer Literaturre-view:

„[A]s transformative learning occurs among trusting relation-ships with others, an essential component, by-product, or bothis a sense of morality, well-being, and empathy towards others.”(Taylor/ Snyder 2012: 45)

In einer altruistischen Sorge für andere wird die Empathie auf besondere Wei-se umgesetzt. In die Partizipationsmöglichkeiten, die z.B. I6 und I2 eröffnen,fließen eigene (berufliche und biografische) Erfahrungen sowie Reflexionenzu Geschlecht und Migration in unterschiedlicher Schwerpunktsetzung mitein. Ein weiteres Beispiel für eine altruistische Sorge liefert I4, die sich ineinem Mentor_innenprogramm engagiert, und besonders betont, welcheUnterstützung dadurch für Frauen geschaffen wird und welche Vorteile durchMentor_innen für Menschen mit Migrationsgeschichte entstehen können.Für I1 ist das Thema Frau-Sein in ihrem Frauennetzwerk zentral. Auch ihreZiele für die Zukunft sind von einer altruistischen Sorge für andere geprägt.I1 möchte „Menschen glücklich machen” und Arbeitsplätze schaffen (I1, 68).So spielt das Mitgefühl für andere eine prägnante Rolle in der verändertenPerspektive.

Ein weiteres Beispiel für die Übernahme bürgerschaftlicher Verantwor-tung, in der auch eine altruistische Sorge für andere zum Ausdruck kommt,liefert I1, die über ihre eigene Vergangenheit und ihre Identifikation mitihrem Herkunftsland reflektiert, als sie Kontakt zu ihren favorisierten zukünf-tigen Produzent_innen herstellt. Sie möchte eine Kooperative unterstützen,die auf ehemals von der Mafia besetzten Gebieten wirtschaftet (I1, 72).

Für ihr über die berufliche Sphäre hinausgehendes bürgerschaftlichesEngagement erhalten die Unternehmerinnen Anerkennung. Die Relevanzder sozialen Anerkennung stellt z.B. auch Nohl (2010c) heraus. Bei derAnerkennung, die den Interviewten von Dritten gespiegelt wird, spielenvor allem die Kategorien Geschlecht und Migrationsgeschichte eine zentraleRolle. So wird den Interviewten ihre Migrationsgeschichte als integralerBestandteil ihrer Berufskompetenz gespiegelt: I4 wird z.B. aufgrund ihresausländischen Doppelnamens eine interkulturelle Kompetenz zugesprochen(I4, 41). Demgegenüber berichtet z.B. I2, dass „andere” Migrant_innen siekennenlernen möchten, da sie so erfolgreich ist. Außerdem beschreibt sie, wieeiner ihrer Schüler nach ihrer Ermahnung jeden Tag am Unterricht teilnimmt

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7.3 Die transformierte Perspektive (Lernphase Vier) 303

(I2, 64). Ein wieder anderes Beispiel liefert I7; sie bekommt gespiegelt, dassihr erhöhtes Honorar angemessen ist (I7, 33).

7.3.3 Schlussfolgerungen für das transformative LernenIm vorliegenden Kapitel habe ich das komplexe Bild der transformiertenPerspektive beschrieben. Das unternehmerische Selbstverständnis wirkt sichnicht nur auf die Interviewten selbst aus, sondern, vermittelt über dasUnternehmen, auch auf Dritte.

Auf der einen Seite zeigen die Interviewten durch ihre transformiertePerspektive Autonomie in ihrem Unternehmerinnen-Sein. Dies wird durchihren epistemologischen und den damit einhergehenden ontologischen Wandelunterstrichen. So verfügen die Interviewten als Unternehmerinnen nicht nurüber eine erweitere Perspektive, sondern auch ihr Sein in der Welt hat sichverändert. Ihre selbstgeschaffene Autonomie bezieht sich zum einen auf ihreUnternehmen und geht zum anderen über unternehmerische Fragestellungenhinaus und zeigt sich in ihren Privatleben sowie in Reflexionen zur deutschenMigrations-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik.

Auf der anderen Seite haben die Interviewten sich neue Interdependen-zen und Abhängigkeiten geschaffen, die sich in ihren Interaktionsbeziehungenzu anderen konkretisieren. Die neuen Interaktionsbeziehungen wirken sichauf die Unternehmerinnen selbst, die Arbeitszusammenhänge in ihren Unter-nehmen sowie auf Dritte aus, denen sie durch das Unternehmen Partizipati-onsmöglichkeiten einräumen. Die Interviewten entwickeln eine altruistischeSorge für Dritte und übernehmen auch bürgerschaftliche Verantwortung.

Insgesamt zeigt sich für die gesamte transformierte Perspektive einZusammenspiel von Autonomie auf der einen Seite und Interdependenz mitanderen – und den damit einhergehenden positiven Auswirkungen - aufder anderen Seite. Die Interaktionsbeziehungen, die in den Mittelpunkt derveränderten Perspektive rücken, beziehen sich auf Kontakte die durch dasUnternehmen geschaffen werden. Die biografischen Vorerfahrungen bestim-men mit, welche Schwerpunktsetzungen hier vorgenommen werden. Meistsind die Kategorien Migrationsgeschichte und Geschlecht zentral.

Die neue Perspektive eröffnet den Interviewten einen neuen Handlungs-spielraum: So haben sich sowohl die Reichweite ihrer Perspektive als auchihre bestehenden Möglichkeiten vergrößert. Das neu Erlernte und somitauch die neue Perspektive sind ein Teil der Weltsicht der Unternehmerinnengeworden, was sowohl ihr Denken als auch ihr Verhalten beeinflusst (vgl.Mezirow 2000).

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304 7 Das Lernmodell als transformatives Lernmodell

Für die vorliegende Studie wurde die Theorie des transformativen Ler-nens genutzt, um die Ergebnisse zu diskutieren. Dabei zeigte sich, dass dasModell anschlussfähig ist und sich eignet, die vier verschiedenen Lernphasentiefergehend zu beleuchten. Allerdings weisen die Ergebnisse der vorliegendenStudie Elemente auf, die über das Modell des transformativen Lernens hin-ausgehen und somit Beiträge zu bestehenden Forschungsdesiderata leisten.Die über das Modell hinausgehenden Elemente beziehen sich vor allem aufdie einem desorientierenden Dilemma vorgeschalteten Phasen sowie darauf,wie sich die transformierte Perspektive zeigt.

In der nun folgenden Darstellung von Schlussfolgerungen gehe ich chro-nologisch nach den verschiedenen Lernphasen vor: Ausgehend von den erstenbeiden Lernphasen können anhand der Studie Aussagen darüber getroffenwerden, welche Lernaktivitäten sich vor einem desorientierenden Dilem-ma ereignen. Die Interviewten der vorliegenden Studie bereiten sich imRahmen des „Setting the stage” auf ihre Perspektivtransformationen vor.Innerhalb des „Setting the stage” wird deutlich, dass die Interviewten bereitsauf einzelne Schritte des idealtypischen transformativen Lernprozesses nachMezirow vorgreifen. Es ist möglich, dass Bestärkungen, die in den beidenVorbereitungsphasen erfahren werden, den Grundstein für den späteren trans-formativen Lernprozess legen. Da die in der vorliegenden Studie untersuchteTransformation mit dem Prozess der Unternehmensgründung einhergeht,ereignet sich der transformative Lernprozess in Zusammenhang mit demErlernen des Unternehmerinnen-Seins. So hängt das desorientierende Di-lemma mit den fehlenden unternehmerischen Kenntnissen und Fähigkeitenbezüglich des Unternehmerinnen-Seins zusammen. Zum desorientierendenDilemma, welches den transformativen Lernprozess auslöst, kommt es in derdritten Lernphase, und zwar, weil die Interviewten das Unternehmerinnen-Sein erlernen. Es wird im Anschluss an die ersten beiden Lernphasen durchdie Interviewten selbst hervorgerufen. Sie leiten in den beiden ersten Lern-phasen Änderungen im Hinblick auf ihr Berufsleben ein, die mehr und mehrihr bestehendes berufliches Selbstverständnis infrage stellen. Dies mündetschließlich im desorientierenden Dilemma, bei dem die Frauen gefordertsind, ihr bisheriges berufliches Selbstverständnis in ein unternehmerischesSelbstverständnis zu transformieren.

Das Ergebnis wirft die Frage auf, inwiefern desorientierende Dilemmatagenerell mit dem Erlernen neuer Rollen einhergehen. Sind Berufseinstiege ge-nerell von desorientierenden Dilemmata begleitet? Betrifft das nur bestimmteBerufe? Der „Praxisschock”, den unter vielen anderen Müller-Fohrbrodt u.a.(1978) für Lehrpersonen aufgezeigt haben, könnte evtl. als desorientieren-des Dilemma beschrieben werden. In welchen privaten Zusammenhängen

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7.3 Die transformierte Perspektive (Lernphase Vier) 305

zeigen sich desorientierende Dilemmata, die aufgrund selbstgewählter Rol-lenveränderungen hervorgerufen werden? Elternschaft könnte unter diesemBlickwinkel untersucht werden.

Außerdem wirft die vorliegende Studie die Frage auf, inwiefern es über-haupt möglich ist, sich auf solche desorientierenden Dilemmata vorzubereiten,die weitreichender sind als die in der vorliegenden Studie untersuchte Rollen-veränderung, etwa Veränderungen, die durch Lebenskrisen, wie Krankheitoder Tod der_des Ehepartners_Ehepartnerin hervorgerufen werden. Beinicht-selbstgewählten Veränderungen bewirkt das desorientierende Dilemma,dass man eine neue Rolle und Perspektive erlernt. Daran anschließend stelltsich die Frage, ob sich anhand von desorientierenden Dilemmata, die mitplötzlichen Schicksalsschlägen einhergehen, auch transformative Lernprozesserekonstruktiv herausarbeiten lassen, die ebenfalls vorbereitende Lernphasenim Sinne eines „Setting the Stage” beinhalten. Dies herauszufinden wäreAufgabe weiterer Forschungen.

Innerhalb der transformierten Perspektiven der Interviewten zeigt sichneben dem epistemologischen auch ein ontologischer Wandel, was anhanddes Zusammenspiels von Autonomie und Abhängigkeit konkretisiert wird.Da Mezirow mit seinem Theoriemodell überwiegend Autonomie und episte-mologischen Wandel betrachtet hat, werfen die Ergebnisse der vorliegendenUntersuchung ein neues Licht auf die Theorie des transformativen Lernens, in-dem die Verbindung zwischen epistemologischem und ontologischem Wandelsowie von Autonomie und Abhängigkeit deutlich wird.

Im empirischen Teil der Arbeit habe ich herausgestellt, wie die Lernpro-zesse der Interviewten durch ihre biografischen Vorerfahrungen sowie die sieumgebenden Kontexte beeinflusst werden. Außerdem habe ich beleuchtet,wie die Interviewten über unternehmerische Fragestellungen hinausgehendfür sich selbst lernen, wie sie integrativere Persönlichkeiten entwickeln undwie sich ihr Unternehmerinnen-Dasein auf Dritte auswirkt.

Die Autonomie der Unternehmerinnen bestätigt zunächst, dass die In-terviewten das Fenster, durch welches sie die Welt wahrnehmen und ihreErfahrungen interpretieren, transformiert und somit eine erweiterte Weltsichtentwickelt haben (vgl. Mezirow 1991a). Zusätzlich habe ich detailliert die neu-en Abhängigkeiten beschrieben, welche mit der transformierten Perspektiveeinhergehen. Aufgrund ihrer veränderten Perspektive bauen die Interview-ten neue Interaktionsbeziehungen auf, welche positive Auswirkungen aufsie selbst sowie auf andere haben. Mezirow weist mit den Lernelementenkommunikatives Lernen und rationaler Diskurs – die sich in der Auseinander-setzung mit anderen ereignen – darauf hin, dass andere für den individuellenLernprozess eine bedeutsame Rolle spielen. Die über individualistische Frage-

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306 7 Das Lernmodell als transformatives Lernmodell

stellungen hinausgehende Interaktion mit „anderen”, welche sich im Anschlussan die Perspektivtransformation zeigt, habe ich herausgearbeitet. Hierbeiwerden eine altruistische Sorge für andere und bürgerschaftliches Engage-ment zentral. Die biografischen Vorerfahrungen sowie die jeweiligen sozialenKontexte, in denen die Interviewten sich bewegen, beeinflussen ihr Handelnentscheidend.

Davon ausgehend zeigt sich eine neue Facette des transformativen Ler-nens, die weitergehender Untersuchung bedarf. Die vorliegende Studie gibtHinweise darauf, dass eine Perspektivtransformation weitreichender undkomplexer ist, als es von Mezirow beschrieben wurde, da individualistischeFragestellungen durch die Perspektivtransformation überschritten werden.Im Rahmen der Diskussion meiner Studienergebnisse habe ich dargelegt,dass Entwicklungstheorien zur Interdependenz wie z.B. der tiefenpsychologi-sche Ansatz, der an einer Individuation orientiert ist sowie der strukturelleEntwicklungsansatz, für eine tiefergehende und umfassendere Analyse dertransformierten Perspektiven herangezogen werden können (vgl. Stevens-Long u.a. 20111: 183). Eine solche Analyse wäre die Aufgabe zukünftigerForschung.

Neben den Impulsen für Forschungen zum transformativen Lernen allge-mein - zu desorientierenden Dilemmata sowie transformierten Perspektiven- gibt die vorliegende Studie auch Hinweise auf die von Morrice (2013) be-schriebene „darker side” des transformativen Lernens. Sie ereignet sich, wennPersonen – in ihrer Studie Flüchtlinge – ihre biografischen Vorerfahrungenzunächst verlernen müssen und nicht darauf aufbauen bzw. daran anschlie-ßen können. Während es den Interviewten gelingt, an ihren Vorerfahrungenanzuschließen und sie sich somit von einer „darker side” abwenden, ist diesfür andere mit denen sie als Unternehmerinnen in Verbindung stehen, z.B.Arbeitsplatzbewerber_innen, denen sie keine Stelle anbieten können, nichtimmer möglich. Somit könnte sich ausgehend von der vorliegenden Studieeine „darker side” des transformativen Lernens für genau solche Menschenzeigen, die erfolglos versucht haben, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren.Für eine Anschlussstudie wäre es, um ein differenziertes Bild von Lernprozes-sen im Migrationsland Deutschland zu erhalten, aufschlussreich, verzweifelteund erfolglose Menschen mit Migrationsgeschichte zu befragen und so die„darker side” des transformativen Lernens eingehender zu beleuchten. EineTriangulation dieser Ergebnisse mit den Ergebnissen der vorliegenden Studiekann Hinweise auf Implikationen geben, wie eine Unterstützung für diesePersonen aussehen könnte.

Ergänzend zu den genannten Impulsen für Anschlussforschungen liefertdie vorliegende Studie auch Impulse, die sich am Forschungsobjekt „Unter-

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7.3 Die transformierte Perspektive (Lernphase Vier) 307

nehmertum” orientieren. Hinsichtlich des Unternehmertums wirft die Studiedie Frage auf, inwiefern durch eine Unternehmensgründung immer eine Per-spektivtransformation ausgelöst wird. Die Daten geben Hinweise darauf,dass die Perspektivtransformation nicht „automatisch” abläuft. Vielmehrscheinen gerade persönliche Erfahrungen sowie die gesamten soziokulturellenund strukturellen Kontexte Einfluss auf die Unternehmerinnen zu habenund sie in ihrer neuen Rolle zu beeinflussen. Um die Ergebnisse zu festigenbzw. eine differenziertere Basis für transformative Lernprozesse von Unter-nehmer_innen zu generieren, wären Anschlussstudien geeignet, die andereGruppen von Unternehmer_innen in den Fokus rücken. Zeigen männlicheUnternehmer mit Migrationsgeschichte andere Facetten einer transformiertenPerspektive? Welche veränderten Perspektiven zeigen Unternehmerinnen,die nicht über eine Migrationsgeschichte verfügen? Welche veränderten Per-spektiven zeigen sich bei Unternehmer_innen unabhängig von der KategorieGeschlecht und/ oder Migrationsgeschichte? Kann man auch erfolgreiche_rUnternehmer_in werden, ohne die eigene Perspektive zu transformieren?

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8 Fazit und Ausblick

Wie in Kapitel 7 dargelegt, bildet der Fragekomplex: „In welchen Prozessentransformieren Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte im Zuge ihrerUnternehmensgründung ihre Bedeutungsperspektiven?” den Fokus für dievorliegende Studie.

Im Rahmen der Ergebnisdarstellung habe ich vier aufeinanderfolgendeLernphasen herausgearbeitet, innerhalb derer die Interviewten ihr beruflichesSelbstverständnis in ein unternehmerisches Selbstverständnis transformieren.In der anschließenden Diskussion habe ich die Theorie des transformativenLernens als Heuristik herangezogen, um die Ergebnisse eingehend zu beleuch-ten. Zudem bin ich darauf eingegangen, zu welchen Forschungsdesideratades transformativen Lernens die vorliegende Studie einen Beitrag leistet.

Abschließend lege ich im Folgenden dar, welche Implikationen sich fürdie (transformative) Erwachsenenbildung ausgehend von den Ergebnissenformulieren lassen.

8.1 Implikationen für die (transformative)Erwachsenenbildung

In der vorliegenden Studie ist die Analyse transformativer LernprozesseGegenstand der Untersuchung. Die Ermöglichung dieser, wie sie von derErwachsenenbildung angestrebt wird, stand jedoch nicht im Fokus. Dennochlassen sich aus den Ergebnissen der Studie einige Implikationen für die Er-möglichung transformativer Lernprozesse ableiten: Dabei stehen die Fragenim Zentrum, wie die Erwachsenenbildung einen Zugang zur Zielgruppe Unter-nehmerinnen mit Migrationsgeschichte erhalten kann und wie Lernangeboteso ausgestaltet werden können, dass transformative Lernprozesse ermöglichtwerden.

„As we have indicated, transformation theory is not a stagetheory, but it emphasizes the importance of the movement to-ward reflectivity in adulthood as a function of intentionalityand sees it advanced through increased ability and experiences,

A. Laros, Transformative Lernprozesse von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte, DOI 10.1007/978-3-658-09999-2_8, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015

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310 8 Fazit und Ausblick

which may be significantly influenced by educational interventi-ons.” (Mezirow 1991a: 160f)

Anhand dieses Zitats wird deutlich, dass Mezirow – auch wenn das Er-möglichen transformativer Lernprozesse für ihn nicht im Fokus stand –erwachsenenbildnerischen Angeboten eine entscheidende Relevanz zuspricht.

Erwachsenenbildung/ Weiterbildung allgemeinZunächst gehe ich auf die Frage zur Zielgruppenerreichung ein. Von den inder vorliegenden Studie interviewten Unternehmerinnen hat keine Lernange-bote besucht, bei denen die unternehmerische Bildung im Vordergrund steht.Ihre unternehmerischen Kenntnisse und Fähigkeiten haben die Interview-ten sich selbstgesteuert angeeignet. Sie orientieren sich – wenn überhaupt– an formalisierten Lernangeboten in bestimmten Zusammenhängen - wiez.B. Frauennetzwerken – bei denen Softskills (wie z.B. selbstsicheres Auftre-ten) oder zwischenmenschliche Zusammenarbeit (wie z.B. innerhalb einesMentor_innenprogramm) im Vordergrund stehen. So geben die ErgebnisseHinweise darauf, dass eine Möglichkeit der Zielgruppenerschließung überverschiedene professionelle Netzwerken erfolgen kann.

Im Hinblick auf die Erwachsenenbildung können ausgehend von der vor-liegenden Studie Angebote für verschiedene Zielgruppen formuliert werden.Zum Thema Unternehmertum reicht das Spektrum von möglichen Zielgrup-pen von Gründungsinteressierten bis zu erfolglosen Unternehmer_innen –hier könnten z.B. eher informell orientierte Mentor_innenprogramme anset-zen. Zusätzlich könnten die Zielgruppen durch die Kategorien Migrationsge-schichte und/ oder Geschlecht festgelegt werden.

Außerdem könnten ausgehend von den Ergebnissen Bildungsangebo-te für die deutsche „Mehrheitsgesellschaft” konzipiert werden. Die in dervorliegenden Studie interviewten Unternehmerinnen konterkarieren eine De-fizitperspektive auf Menschen mit Migrationsgeschichte und regen so dazuan, ein Defizitverständnis genauso zu überdenken wie das Konstrukt einersogenannten „Mehrheitsgesellschaft”.

Hinsichtlich der Untersuchungsgruppe der vorliegenden Studie bestehtdie Frage, wenn das Ziel darin besteht, angehende Unternehmerinnen mitMigrationsgeschichte zu erreichen, ist es dann erfolgsversprechender Un-ternehmerinnen, Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte oder einfachnur allgemein Unternehmer_innen anzusprechen? Für einige in der vor-liegenden Studie befragte Frauen war die Kategorie „Unternehmerinnen”zentral, also die Kategorien weibliches Geschlecht und Unternehmertum.Dies kann bedingt sein durch die Einbindung einiger Interviewter in genausolche Unternehmerinnennetzwerke, die Bildungsangebote offerieren.

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8.1 Implikationen für die (transformative) Erwachsenenbildung 311

Neben der Festlegung der Zielgruppe besteht eine weitere Herausforde-rung darin, solche Lernangebote zu konzipieren, die von den betreffendenPersonen auch angenommen werden. Dazu ist es zunächst nötig, den Bedarfan Bildungsinhalten zu ermitteln. Es müssten teilnehmer_innenorientierteKonzepte erarbeitet werden, die nicht als staatliche Kontrolle wahrgenom-men werden – wie dies z.T. bei Angeboten der Arbeitsagentur der Fallsein kann. Teilnehmerorientierung nennt Zeuner als zentrales Element derErwachsenenbildung in Deutschland (vgl. Zeuner 2012: 101).

Unter Bezugnahme auf das in der vorliegenden Studie entwickelte Lern-modell könnte eine erwachsenenbildnerische Intervention für Arbeitslosean den Lernphasen Eins und Zwei ansetzen, die sehr auf individualistischeFragestellungen konzentriert sind. Gegenstand könnten Herausforderungensein, die mit der Arbeitslosigkeit einhergehen sowie die Entwicklung vonZukunftsvisionen. Hierbei wäre es relevant, dass die Teilnehmenden sich ihrerStärken bewusst werden und sich kritisch damit auseinandersetzen, wie sieihre Herausforderungen bewältigen und wie sie ihre nächsten berufsbiografi-schen Schritte planen. Gerade für Langzeitarbeitslose und geringqualifiziertePersonen kann z.B. die Auseinandersetzung mit dem Thema „Lernen lernen”hilfreich sein. Einen aktuellen Ansatz hierfür liefert z.B. das Toolkit desEU-Projektes „Learning for Work and Life – One Step Up” (2014). EineFrage, die sich aufgrund der von den Interviewten in der ersten Lernphasebewältigten Desorientierungen stellt – und die in dieser Studie nicht be-antwortet werden kann – ist, ob die erfahrene Exklusion auch Inklusionbegünstigen kann. Sind die von mir befragten Frauen besonders resilient(Brooks/ Goldstein 52013)? Gibt es nur die Optionen, dass man entweder derDesorientierung durch die berufliche Situation nachgibt oder aber dass mansie bewältigt? Dies herauszufinden wäre Aufgabe zukünftiger Forschung.

Ermöglichung transformativer LernerfahrungenDie Frage nach der Zielgruppe sowie nach den Bildungsinhalten ist engverbunden mit der Frage, wie Lernangebote als transformative Lernangebotegestaltet werden können. Die Ermöglichung transformativer Lernprozessestand für Mezirow nicht im Fokus seiner Theorie (vgl. z.B. Mezirow 1991a,2000a/ b, 2012). In den letzten Jahren häufen sich Publikationen, die sichmit dieser Frage befassen, allerdings ist die Forschung zur Ermöglichungtransformativer Lernprozesse bisher recht einseitig an rekonstruktiven For-schungsdesigns orientiert (vgl. z.B. Taylor/ Cranton 2012). Die Befragtenbeurteilen ihre transformativen Lernerfahrungen retrospektiv (vgl. hierzuzusammenfassend Taylor/ Laros 2014). Dadurch, dass die Elemente destransformativen Lernens nicht eindeutig operationalisiert sind, gehen Stu-

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312 8 Fazit und Ausblick

dien von unterschiedlichen Vorannahmen aus und ihre Vergleichbarkeit istgering. Im Anschluss an Mezirow können verschiedene Elemente genanntwerden, die integraler Bestandteil transformativer Lernarrangements seinsollten – wie zum Beispiel die kritische Reflexion (für weitere Ausführungensiehe ebd.).

Transformatives Lernen ist in der Regel nicht vordergründiges Ziel vonLernangeboten. Vielmehr ist es dort, wo es stattfindet, häufig im Subtextvon Curricula verankert. Dies wirft die Frage auf, inwieweit das Ermöglichentransformativer Lernprozesse gegenüber den Lernenden transparent gemachtwird. Nach Mezirow beginnt ein transformativer Lernprozess mit einem des-orientierenden Dilemma, was zu tiefgründigen Irritationen führen und somitlaut Tisdell (2012) einem angenehmen Lernklima diametral gegenüberstehenkann. Gleichzeitig ist aber ein solches positives Klima notwendig für dastransformative Lernen:

„Self confidence needed for perspective transformation is oftengained through an increased sense of competency and througha supportive social climate in which provisional tries are en-couraged with minimum risk. (...) Concepts such as behavioralobjectives, needs assessment, competency-based education, skilltraining, accountability and criterion-referenced evaluation needto be reassessed from a perspective transformation viewpoint.”(Mezirow 1978: 107)

Außerdem benennt Mezirow (2000) das Interesse der Lernenden als zentralesElement im Lernprozess:

„[I]n fostering transformative learning efforts, what counts iswhat the individual learner wants to learn. This constitutes astarting point for a discourse leading to critical examination ofnormative assumptions underpinning the learners (and oftenthe educator’s) value judgements or normative expectations.”(ebd.: 31)

Inwiefern sollten die Lernenden mit einbezogen werden in die Beantwortungder Fragen, ob sie „nur” einen Lerninhalt vermittelt bekommen möchtenoder ob sie darüber hinausgehend Interesse daran haben, sich kritisch mitihren Perspektiven auseinanderzusetzen? Dies sind Fragen, die die Forschungzum transformativen Lernen herausfordern.

„Encouraging practitioners to explore how they can impro-ve their teaching through implementing strategies essential to

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8.1 Implikationen für die (transformative) Erwachsenenbildung 313

transformative learning, such as promoting critical reflectionand establishing trusting and authentic relationships with stu-dents, has the potential to not only improve their teaching butto offer tremendous insight into the everyday practicalities offostering transformative learning.” (Taylor 2000: 319)

Da das transformative Lernen nicht das vordergründige Lernobjekt vonVeranstaltungen sein kann, sondern immer noch ein anderer Lerngegenstandvonnöten ist, stellt sich im Anschluss an die vorliegende Studie außerdemdie Frage, was bei solchen transformativen Lernarrangements als Thema imFokus stehen könnte. Verschiedene Lernobjekte sind denkbar, wie z.B. dieBeschäftigung mit Integrationsfragen oder das Erlernen unternehmerischenFachwissens.

„It is important to differentiate this goal [help adults realizetheir potential for becoming more liberated, socially responsible,and autonomous learners] of adult education from its objective -to help learners assess and achieve what it is they want to learn.(...) We need to recognize the difference between our goals aseducators and the objectives of our learners that we want tohelp them achieve.” (Mezirow 2000: 30)

Neben den bestehenden Forschungsdesiderata hinsichtlich der Ermöglichungvon transformativen Lernprozessen können anschließend an die Ergebnisseder vorliegenden Studie aber auch Impulse für Lernarrangements, die aufdie Ermöglichung transformativer Lernprozesse zielen, formuliert werden.Hinsichtlich des Erlernens des Unternehmerinnen-Seins hat die vorliegendenStudie gezeigt, dass fehlende Kenntnisse und Fähigkeiten im Rahmen derGründung zu einer Desorientierung führen, auf die man sich in vielfältigerWeise (unbewusst) vorbereiten kann. In der vorliegenden Studie haben dieInterviewten sich unbewusst durch aktives Handeln auf ihre Desorientie-rung vorbereitet. Ein Ansatzpunkt für die Erwachsenenbildung wäre es, imgesamten Prozess, bis das Unternehmen etabliert ist, unterstützend undbegleitend tätig zu werden. Dies könnte z.B. so aussehen, dass Gründungsin-teressierte sich im Rahmen von erwachsenenbildnerischen Angeboten mit demUnternehmerinnen-Werden auseinandersetzen und in diesem Zusammenhangsowohl Softskills erlernen als auch ihre bestehenden Bedeutungsperspekti-ven kritisch hinterfragen. So könnten sie sich bereits vor der eigentlichenGründung mit dem Erwerb unternehmerischer Kenntnisse und Fähigkeitenauseinandersetzen und sich so auf das vorbereiten, was die Interviewten inder vorliegenden Studie als desorientierendes Dilemma in Lernphase Dreierfahren haben.

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314 8 Fazit und Ausblick

Wird die Kategorie Migrationsgeschichte für die Formulierung von Im-plikationen herangezogen, dann zeigen die Ergebnisse meiner Studie, dassdas Unternehmertum es den Frauen ermöglicht, der „darker side” des trans-formativen Lernens auszuweichen, indem sie an mitgebrachte biografischeVorerfahrungen anschließen und darauf aufbauen – und sie nicht, wie esbei der „darker side” der Fall ist, zunächst verlernen müssen. Herauszu-finden, wie es gerade für neu Zugewanderte möglich sein kann, an ihrenmitgebrachten Kenntnissen und Fähigkeiten anzuschließen liefert einen wei-teren Ansatzpunkt für transformative Lernprozesse. I2, die Inhaberin derSprachschulen hat sehr gut herausgestellt, dass Sprache hier einen Schlüsseldarstellt. Gerade im Zuge der sich aktuell aufgrund der Eurokrise ereignen-den Einwanderungswellen könnte eine Unterstützung darin bestehen, direktzu Beginn des Aufenthaltes in Deutschland anzusetzen. Die betreffendenPersonen könnten z.B. im Rahmen der obligatorischen Sprachkurse erreichtwerden. In einem transformativen Lernarrangement könnten ihre Fähigkeiten,Kenntnisse und Interessen, die sie mitbringen, im Fokus stehen und es könntegemeinsam herausgearbeitet werden, wie es möglich sein wird, an diese nach-folgend anzuschließen. Für solche Ansätze ist eine Lerner_innenorientierungvonnöten:

„They [adult educators, Anm. AL] make every effort to trans-fer their authority over the learning group to the group itself assoon as this is feasible, and they become collaborative learners.”(Mezirow 2000: 30f)

Auf diese Weise eröffnen solche Lernarrangements nicht nur für die Lernenden,sondern auch für die Lehrenden neue Lernfelder.

8.2 AusblickDie vorliegende Studie kann aufgrund der Spezifizierung der Untersuchungs-gruppe in verschiedene Forschungsbereiche eingeordnet werden. Ich habesie in der gendersensiblen erziehungswissenschaftlichen Migrationsforschungverortet. In der Herangehensweise bezieht die Studie sich primär auf die be-rufliche Sphäre und liefert so Erkenntnisse zur Partizipation am Arbeitsmarktim Allgemeinen und zum Unternehmertum im Speziellen.

Die biografieorientierte Herangehensweise, bei der ein biografischerAusschnitt – nämlich der Lernprozess zur Unternehmerin – Gegenstandder Untersuchung ist, ermöglicht eine Orientierung an den subjektiven

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8.2 Ausblick 315

Relevanzstrukturen der Interviewten, ohne dass die Untersuchung durchvorher festgelegte Kategorien eingeschränkt wird.

Die Migrationsgeschichte, einhergehend mit dem Unternehmerin-Seinund somit dem weiblichen Geschlecht, stellt die Gemeinsamkeit aller In-terviewten dar. Diese Kategorien konstruieren alle als relevant für ihrenLernprozess zur Unternehmerin, auch wenn sie unterschiedliche Schwerpunkt-setzungen vornehmen.

Zunächst wird für den Lernprozess der Interviewten der öffentliche Defi-zitdiskurs, der für den deutschen Arbeitsmarkt mit den Termini „Menschenmit Migrationsgeschichte” sowie „Frauen mit Migrationsgeschichte” einher-geht, bedeutsam. Dies unterstreicht, dass den Interviewten die dichotomeund häufig hierarchien-implizierende Unterscheidungsweise im öffentlichenDiskurs zwischen „Deutschen” und Menschen mit Migrationsgeschichte ge-nauso bewusst ist, wie eine Dichotomisierung der Geschlechter. Sie habenerfahren, dass die von außen gesetzte Kategorie Migrationsgeschichte Exklu-sion und Defizitperspektiven mitbringen und dass die Kategorie Geschlecht –und hier vor allem die Mutterrolle – Exklusion und Defizitperspektiven nochverstärken kann. An dieser Stelle könnten Anschlussstudien ansetzen, undsich z.B. mit Vätern, die Unternehmer sind, befassen oder mit kinderlosenUnternehmer_innen. Es wäre spannend zu ermitteln, ob sich im Rahmensolcher Studien Relevanzstrukturen zeigen, die von ihrer Wertung her mitder Mutterrolle vergleichbar sind.

Hinsichtlich der eigenen Migrationsgeschichte gehen die Interviewtenhauptsächlich auf eigene negative Erfahrungen ein, hierbei können Diskrimi-nierungen auf struktureller, individueller oder kultureller Ebene eine Rollespielen. Andererseits sind für sie auch ihre positiven Erfahrungen, die mitihrer Migrationsgeschichte zusammenhängen, relevant. Hierbei werden (in-terkulturelle) soziale Netzwerke, besondere individuelle Fähigkeiten sowiezugeschriebene Fähigkeiten herausgestellt.

Mit ihrer transformierten Perspektive interpretieren die Interviewtenihre eigene Biografie neu und konstruieren Migration durchweg als Kategoriedes „Anders-Seins”. So deuten sie bewältigte Herausforderungen aus derVergangenheit positiv um und verwandeln sie in Potenziale. Die Interviewtenhaben für sich erfahren, dass Herausforderungen, die mit der Kategorisierung„Migrationsgeschichte” einhergehen, zu bewältigen sind. So betrachten alleInterviewten – ausgehend von ihrer transformierten Sichtweise, über die sie alserfolgreiche Unternehmerinnen verfügen – ihre eigene Migrationsgeschichteals Potenzial und als bedeutsamen Bestandteil ihrer Biografien und ihrerPersönlichkeiten. Hinsichtlich ihrer biografischen Vorerfahrungen bildet sieeine Bereicherung und fließt in die Problemlösestrategien mit ein. Allerdings

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316 8 Fazit und Ausblick

muss hierbei bedacht werden, dass die Interviewten zum Interviewzeitpunkterfolgreich sind. Hieran anschließend stellt sich die Frage, welche Rolle dieMigrationsgeschichte für nicht-erfolgreiche Menschen einnimmt.

Neben der Migrationsgeschichte wird das weibliche Geschlecht auf unter-schiedliche Weise thematisiert. Es wird deutlich, dass der öffentliche Diskurszu Frauen sowie zu Müttern für die Lernprozesse der Unternehmerinnen eineRolle spielt. Diese Kategorien beeinflussen die eigene Biografie – gerade dieVereinbarkeit von Berufs- und Mutterrolle wird als zentrale Herausforderungthematisiert. Bewältigt wird diese Herausforderung, indem der Großteil derInterviewten sich auf ihre Mutterrollen konzentriert, bis ihre Kinder in ei-nem Alter sind, in dem sie weniger Aufmerksamkeit bedürfen. Dies liefertden Impuls, dass gerade zu Zeiten, in denen die Frauenquote breitflächigdiskutiert wird, eine Unterstützung - oder vielmehr eine nicht-Ablehnung-von Müttern mit kleinen Kindern einen wertvollen Beitrag für bessere Parti-zipationsmöglichkeiten im Arbeitsmarkt liefern könnte, als eine allgemeineFrauenquote das kann.

Mit ihren Relevanzstrukturen schließen die Interviewten nicht an dengenannten öffentlichen Diskurs an. Vielmehr scheinen sie ihn als eine Art Aus-gangsposition wahrzunehmen, von der aus an einer anderen partizipativenRealität gearbeitet werden kann. In ihren Beiträgen zu einer partizipativenRealität – die bewusst oder unbewusst ablaufen – kann neben der Migrati-onsgeschichte auch die Kategorie Geschlecht relevant werden, was besondersin Phase Vier deutlich wird. Als Unternehmerinnen zeigen die Interviewteneine altruistische Sorge für andere und bürgerschaftliches Engagement, wo-durch sie andere z.B. darin unterstützen, am Arbeitsmarkt zu partizipieren.Allerdings beziehen sich die Interviewten nicht generell auf die Gesamtheitpotentieller anderer. Vielmehr fällt auf, dass auch die Interviewten Abgren-zungen anhand der Trennungslinie „Migrationsgeschichte” konstruieren, auchwenn sie sie als Bestandteil ihrer selbst wahrnehmen. So werden neben derMigrationsgeschichte für die Interviewten weitere Merkmale für ihre Abgren-zung relevant. Es scheinen Tendenzen zu bestehen, dass die Interviewten– denen eine erfolgreiche Integration in den deutschen Arbeitsmarkt gelun-gen ist – versuchen, den öffentlichen häufig defizitär konnotierten Diskurszu Menschen mit Migrationsgeschichte zu interpretieren und zu verorten.Die Betrachtung von negativen Eigenschaften arbeitsloser Menschen mitMigrationsgeschichte, von denen sie sich distanzieren, ist hierbei nur eineHerangehensweise. Eine andere Herangehensweise - die in den Daten einerelevantere Rolle einnimmt – ist die Kritik am deutschen System, das die Ele-mente eines Defizitdiskurses (wie z.B. das Ausnutzen des Hartz IV Systems

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8.2 Ausblick 317

oder Schulversagen) erst hervorbringt und durch die bestehenden Strukturenkontinuierlich reproduziert.

Eigene Erfahrungen sowie Reflexionen zum öffentlichen Diskurs zuFrauen und Müttern spiegeln sich im Verhalten der Interviewten als Unter-nehmerinnen. Hierbei werden die Themen Mutter-Sein und Migratin-Seinzentral. Die in Kapitel 4 dargestellten Diskurse zum abhängigen Arbeits-markt berühren sie „nur” noch als Arbeitgeberinnen, hier verfügen sie überMacht und Gestaltungsmöglichkeiten. Die Analyse hat gezeigt, dass ihreBeiträge zum abhängigen Arbeitsmarkt als Arbeitgeberinnen zwar z.T. darananschließen, dass benachteiligende Strukturen bestehen, aber sie wirken dementgegen und leisten ihren Beitrag zu einer „anderen” Realität. Dadurch wir-ken die interviewten Unternehmerinnen der Reproduktion von Segregationentgegen.

Zusammenfassend zeigt sich, dass die Migrationsgeschichte nur eineDimension darstellt, die das Selbstverständnis bedingt, andere biografischeAspekte wie Geschlecht und Familie bilden weitere relevante Dimensionen.Als Unternehmerinnen partizipieren die Interviewten auf besondere Weiseam deutschen Arbeitsmarkt. Sie stellen fest, dass durch ihre Partizipationihre Integration – zumindest die innerhalb der beruflichen Sphäre – nebenbeiabläuft. Sie sind nicht nur auf eine Weise in den Arbeitsmarkt integriert,bei der nicht die Generierung von Einkommen zentral ist, sondern Idealewie z.B. die Freude an der Arbeit oder religiöse Werte im Vordergrundstehen. Vielmehr haben sie einen Platz im Arbeitsmarkt gefunden, der ihrenVorstellungen entspricht. Sie beweisen, dass Frauen mit Migrationsgeschichteim deutschen Arbeitsmarkt – trotz aller eventuell bestehenden Herausforde-rungen – Erfolg haben können. Die Vielfältigkeit der Gruppe der „Frauenmit Migrationsgeschichte” wird durch die vorliegende Studie unterstrichen.

Ihr Unternehmen bietet den Interviewten einen erweiterten Handlungs-spielraum für die Realisierung ihrer Ideale. So können die Unternehmerinnengewissermaßen als „best-practice”-Beispiele für eine gelungene Arbeitsmark-tintegration angesehen werden. Die Verantwortung für das Ermöglichen ihrerPartizipation liegt bei den Interviewten selbst, da sie sich die Ereignisse,die eine Gründung möglich machten (unbewusst) erarbeitet und sie diesesodann erkannt und ergriffen haben (dazu gehört auch die Unterstützungdes engen sozialen Netzwerks)70.

70Ihre begleitende Reflexion bedingt, dass sowohl negative als auch positive Bedingun-gen nicht zwangsläufig nur aus einer „deutschen” Perspektive betrachtet werden, son-dern in einem durch die Migration erweiterten Horizont. Dadurch werden in den sub-jektiven Relevanzstrukturen auf verschiedene Weisen „Chancen” und „Möglichkeiten”

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318 8 Fazit und Ausblick

Die vorliegende Studie zeigt, wie umfassend der informelle Lernprozessdes Unternehmerinnen-Werdens ist, und welche über die berufliche Sphärehinausgehenden Auswirkungen er hat. Der Fokus der Studie liegt nicht aus-schließlich auf beruflichen Aspekten, sondern auf informellen Lernprozessenund der Frage, wie die Unternehmerinnen durch und mit ihrem Unternehmenihr Sein in der Welt geändert haben.

Im Forschungsstand habe ich die quantitative Unterrepräsentanz derUnternehmerinnen mit Migrationsgeschichte unter den Unternehmer_innendargelegt. Hieran hat die Studie angesetzt und mit einer qualitativen Heran-gehensweise ein differenziertes Bild dieser Gruppe nachgezeichnet; wie sielernen, erfolgreiche Unternehmerinnen zu sein. Je nachdem, wie an die Er-gebnisse angeschlossen wird, z.B. in der Entrepreneurship Education, könnensie dazu beitragen, dieser Unterrepräsentanz entgegen zu wirken.

Die vorliegende Studie beleuchtet, wie die berufliche Sphäre der Unter-nehmerinnen mit anderen Sphären verbunden ist und wie sich das Lernen inder beruflichen Sphäre auf die anderen Sphären auswirkt. Zudem zeigt dieStudie auf, wie sich die Interviewten durch die Gründung eines Unternehmensin der beruflichen Sphäre – die für sie als Arbeitnehmerinnen vorrangig exis-tenziell konnotiert war – neu positionieren. Da es sich bei den Interviewtenum erfolgreiche Unternehmerinnen handelt, gilt die materielle Existenz alsgesichert. Daher wird die berufliche Sphäre nun dahingehend relevant, dasssie den Interviewten ermöglicht, Gesellschaft nach ihren Idealvorstellungenmitzugestalten. Die Studie zeigt ein vielfältiges Bild von unterschiedlichenUnternehmenspersonen; in der Ergebnisdarstellung habe ich ihre Gemeinsam-keiten herausgearbeitet. Dadurch sind die Ergebnisse in ihrer Aussagekraftnicht auf eine bestimmte Gruppe von Unternehmerinnen mit Migrationsge-schichte begrenzt – einzige Vorgabe bei mir war, dass die Interviewten inihrem Unternehmen selbst tätig sind, Größe und Branche variierten.

Aus gesamtgesellschaftlicher – und auch wirtschaftlicher – Perspektivewäre es spannend, im Rahmen zukünftiger Forschung Entrepreneur_innen-Randgruppen anzuschauen, die nicht in das klassische Verständnis einer_einesUnternehmerin_Unternehmers passen, und bei denen folglich nicht Gewinnund Innovation am Markt an erster Stelle stehen – sondern neben derberuflichen Sphäre weitere Aspekte relevant sind.

in Deutschland dargelegt, auch wenn sie z.T. aus einer „deutschen” Perspektive ausnegativen Bedingungen resultieren.

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Abbildungsverzeichnis

5.1 Flick 2007: 128 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

6.1 Übersicht Lernmodell (eigene Darstellung) . . . . . . . . . . . 108

Tabellenverzeichnis

7.1 Instrument Wording Used to Compile Transformative Lear-ning Precursor Steps (Brock 2010: 128) . . . . . . . . . . . . 254

1 Übersicht - Lernphase Eins: Gründungsvorbereitungsphase . . 3472 Übersicht - Lernphase Zwei: Gründungsentscheidungsphase . 3483 Übersicht - Lernphase Drei: Gründungsphase . . . . . . . . . 3494 Übersicht - Lernphase Vier: Erlerntes Unternehmerinnen-Sein 3505 Fortsetzung Übersicht - Lernphase Vier: Erlerntes

Unternehmerinnen-Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351

A. Laros, Transformative Lernprozesse von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte, DOI 10.1007/978-3-658-09999-2, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015

Page 339: Transformative Lernprozesse von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte

Anhang

1 Übersicht Lernphasen

Tabelle 1: Übersicht - Lernphase Eins: Gründungsvorbereitungsphase

Bedeutungs-struktur

Bedeutungs-perspektive

Stufe Eins: Desorientie-rung der Interviewten inihrer beruflichen Situati-on, Auslöser:

Stufe Zwei: Bewältigungdurch bewusste oder bei-läufige Aktivierung vonRessourcen durch:

BeruflichesSelbstver-ständnis

Berufl.Selbstbe-wusstsein

• Dritte aus dem berufli-chen Umfeld

• Nachdenken über ver-gangene positive Er-fahrungen

• exkludierende Struktu-ren

• Positive Bestätigungdurch Dritte ausdem beruflichen undprivaten Umfeld

Berufl.Eigenan-spruch

• Dritte aus dem berufli-chen Umfeld

• Abgrenzung von aktu-eller oder vergangenerBerufstätigkeit

• individuelle Reflexio-nen, die in beruflichenund privaten Zusam-menhängen verortetsind

• Orientierung an aktu-eller oder vergangenerBerufstätigkeit

Berufl.Eigenver-antwortung

• externe Bedingungen,die mit Alter,Mutterschaft, nichtanerkanntenAbschlüssen undbetrieblichenBedingungenzusammenhängen

• Reflexionen zur finan-ziellen Unabhängigkeit

• Interaktion mit Drit-ten aus dem privatenUmfeld

Berufl.Arbeitsver-ständnis

• Dritte aus dem berufli-chen Umfeld

• Reflexionen: Formu-lieren von idealenArbeitszusammenhän-gen (Unternehmen alsZukunftsvision)

A. Laros, Transformative Lernprozesse von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte, DOI 10.1007/978-3-658-09999-2, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015

Page 340: Transformative Lernprozesse von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte

348 Anhang

Tabelle 2: Übersicht - Lernphase Zwei: Gründungsentscheidungsphase

Bedeutungs-

struktur

Bedeutungs-

perspektive

Stufe Eins: Gelegenhei-ten für eine Gründung

Stufe Zwei: Entscheidungfür eine Gründung durch:

Berufliches

Selbstver-

ständnis

Berufl.

Selbstbe-

wusstsein

Gelegenheiten für eineUnternehmensgründungentstehen durchReflexionen undausgelöst durch Dritteaus dem privaten undberuflichen Umfeld

• Reflexion

• Beratung mit Dritten

aus dem privaten unddem beruflichen Leben-sumfeld

Berufl.

Eigen-

an-

spruch

• Möglichkeit der Verein-barkeit mit privatem Ei-genanspruch an Mutter-rolle, hierbei Bezug aufKinder, Partner und Ar-beitsbedingungen

Berufl.

Eigenver-

antwortung

• Möglichkeit der Ver-einbarkeit mit Eigen-verantwortung; Frauen-und Mutterrolle, Part-ner sowie die möglichefinanzielle Unabhängig-keit werden relevant

Berufl.

Arbeitsver-

ständnis

• Unternehmen entsprichtder Idealvorstellung vonArbeitszusammenhän-gen

Page 341: Transformative Lernprozesse von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte

Übersicht Lernphasen 349

Tabelle 3: Übersicht - Lernphase Drei: Gründungsphase

Bedeutungs-

struktur

Bedeutungsperspektiven (erwei-tert um eine unternehmerischeKomponente)

Strategien zum Umgang mit feh-lenden unternehmerischen Wis-sensbeständen und Fähigkeiten

Berufliches

Selbstver-

ständnis

Berufliches Selbstbewusstsein -Erarbeitung desunternehmerischenSelbstbewusstseins

• Orientierung am beruflichenSelbstbewusstsein

• Konsultieren von Personen aus

beruflichen u nd p rivaten Netz-werken

• Lernen in der Handlung („Lear-

ning by doing”)

Beruflicher Eigenansprucherweitert auf Anspruch anUnternehmensprodukt undMitarbeitende

Relativierter Eigenanspruch imHinblick auf unternehmerischeFragestellungen

• Positives Rahmen von Fehlern

• Setzen von Prioritäten

• Delegieren von Tätigkeiten

Berufliche Eigenverantwortungerweitert umUnternehmensverantwortungund Fremdverantwortung

• Identifikation mit Unternehmen

• Positiver Umgang mit finanziel-

lem Engpass

• Einbezug der Strukturkatego-

rien Frau-sein, Mutter-Sein,Migrantin-Sein in die Fremd-verantwortung für (potenzielle)Mitarbeitende

Berufliches Arbeitsverständniserweitert um unternehmeri-sches Arbeitsverständnis

Positive Rahmung erhöhter Ar-beitsbelastung

Page 342: Transformative Lernprozesse von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte

350 Anhang

Tabelle 4: Übersicht - Lernphase Vier: Erlerntes Unternehmerinnen-Sein

Bedeutungs-struktur

UmfassendeBedeutungsper-spektiven

Dimensionen der Bedeutungsperspektiven

Unternehme-rischesSelbst-verständnis

UnternehmerischesSelbstbewusstsein

Selbstbewusste Unternehmensführung - 4 Facet-ten:

• Fehlendes unternehmerisches Wissen erlernt• Chefinnen-Rolle erlernt• Distanz-Halten im unternehmerischen Um-

feld erlernt• Strategien zur Bestärkung des Selbstbewusst-

seins

Selbstsicherheit im Berufs- und Privatleben

Selbstbewusste Verortung der Migrationsge-schichte in der Berufskompetenz

UnternehmerischerAnspruch

Ansprüche an das unternehmerische Selbst - 2Facetten:

• Konsequenzen, die sich aus bewältigten bio-grafischen Herausforderungen ergeben

• Ideale (basierend auf Reflexionen zum ThemaGeschlecht und im Hinblick auf die Arbeit mitandere Menschen)

Ansprüche an Unternehmensprodukt - 2 Facet-ten:

• Produktqualität• Generelle Ansprüche an das Unternehmen

Ansprüche an potentielle Mitarbeitende (überAusübung der beruflichen T ätigkeit hinausge-hend)

Page 343: Transformative Lernprozesse von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte

Übersicht Lernphasen 351

Tabelle 5: Fortsetzung Übersicht - Lernphase Vier: ErlerntesUnternehmerinnen-Sein

Bedeutungs-struktur

UmfassendeBedeutungsper-spektiven

Dimensionen der Bedeutungsperspektiven

Unternehme-rischesSelbst-verständnis

UnternehmerischeVerantwortung

Eigenverantwortung und reflektierte Sichtweiseauf Deutschland - 2 Facetten:

• Kritik am Wohlfahrtsstaat (Systemkritik)• Kritik an Individuen

Rolle des Einkommens - 2 Facetten:• Ideale vor Einkommen• „Wert” der Arbeit zeigt sich am Einkommen

Fremdverantwortung gegenüber Mitarbeitenden(Reflexionen z u M igration u nd G eschlecht spie-geln sich)

Bürgerschaftliche Verantwortung, Bezugnahmeauf eigene Erfahrungen (v.a. hinsichtlich Migra-tion und Geschlecht) - 2 Facetten:

• Im Hinblick auf Deutschland• Im Hinblick auf das Herkunftsland

UnternehmerischesArbeitsverständnis

Individuelle Arbeitszusammenhänge (assoziiertmit positiven Emotionen)

Arbeitszusammenhänge für andere (eigene nega-tive Erfahrungen werden in positive Lernerfah-rungen für andere umgewandelt)

Unternehmen als Lebensart - 3 Facetten:• Lebensart• Freiheiten (beruflich und privat)• Hohe Arbeitsbelastung ist selbstverständlich

Page 344: Transformative Lernprozesse von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte

352 Anhang

2 TranskriptionsrichtlinienIn den Transkripten werden alle Namen von Personen und Orten anonymisiertund durch erdachte Namen ersetzt (z.B. A-Stadt. Namen von Vereinen undNetzwerken werden weggelassen. Die Namen der Interviewten werden werdendurch ’I’ und eine fortlaufende Nummerierung ersetzt (also z.B. I1, I2 etc).

Den Interviewzitaten vorgestellte Nummerierung bezieht sich auf dieAbsatznummerierung, wie sie im Programm Atlas-ti erscheint.

In Anlehnung an Bohnsack (2010: 236) werden für die Transkriptionenfolgende Richtlinien verwendet:

großBUCHstaben*,.?:(laut)„leises“(Unverständliches)[lacht]@nein@

zunächst wird alles klein geschriebenbetont gesprochene Silben/Wortteile/Buchstabenkurze Pause *3* ca. 3 Sekunden Pauseleichte StimmhebungStimme senkt sichstark steigender TonDehnungGesprochenes wird fett geschriebenkommt in Anführungszeichenunsichere Transkription in runden KlammernAnmerkungen in eckigen Klammernlachend gesprochene Worte in @@

§jetzt versteh ich das§ bewegte, fast weinende Stimme

Page 345: Transformative Lernprozesse von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte

Interviewleitfaden 353

3 InterviewleitfadenDer nachfolgende Interviewleitfragen bildet eine Übersicht an Themenkom-plexen und dazugehörigen erzählgenerierender Fragen, die ich der Interview-situation angepasst gestellt habe. Gemeinsam ist für alle Interviews dieEingangsimpulsfrage.

Erzählgenerierende EingangsfrageDie erzählgenerierende Eingangsfrage lautete für alle Interviews: „ErzählenSie mir doch mal, wie es zu Ihrer Unternehmensgründung kam, von Anfangan.”

Durch diesen Eingangsimpuls hatten die Interviewten die Möglichkeit,den Startpunkt für ihre Unternehmensgründung selbst zu setzen und davonausgehend ihr Relevanzsystem zu entfalten.

Leitfaden für (mögliche) exmanente NachfragenDer Leitfaden diente dazu, eine Orientierung für die an immanenten Nachfra-gen anschließenden exmanenten Fragen darzustellen. Während der Interviewshabe ich notiert, zu welchen Fragen die Interviewten bereits im Anschluss andie erzählgenerierende Frage Antworten formulierten. Hieran anschließendhabe ich bei Bedarf immanente Nachfragen gestellt.

Die Fragen aus dem Leitfaden habe ich der jeweiligen Interviewsituationangepasst. Sie dienten zur Orientierung, d.h. in den einzelnen Interviewswurde selten auf alle Fragen eingegangen.

Der Leitfaden ist in vier Themenkomplexe gegliedert; für jeden Themen-komplex habe ich verschiedene erzählgenerierende Fragen formuliert, die beiBedarf gestellt wurden. Den Abschluss jedes Interviews bildete die Fragenach einem Wunsch für die Zukunft.

1. Selbstverständnis

a) Beschreiben Sie sich als Unternehmerin. Sehen Sie sich als Unter-nehmerin anders als in der Zeit vor Ihrer Unternehmensgründung?(Sehen Sie sich selber anders, seit Sie Ihr Unternehmen haben/ seitSie Unternehmerin sind)

i. Wenn Sie an sich selbst denken: Was hat sich da bei Ihnen/ anIhnen geändert durch Ihre Selbständigkeit?

Page 346: Transformative Lernprozesse von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte

354 Anhang

ii. Wie sind Sie denn so als Unternehmerin? Haben Sie den Ein-druck, Sie haben sich da verändert/ glauben Sie, dass Sie vorheranders waren?

iii. Gab es da Schlüsselerlebnisse/ besondere Erlebnisse, die sieverändert haben? Können Sie da Beispiele erzählen (Manchmalsind es kleine Begebenheiten, die eine besondere Bedeutunghaben und zum Aha-Erlebnis werden)?

2. Partizipation/ Inklusion

a) Wenn Sie vergleichen zu vorher und jetzt mit Ihrem Unternehmen,wenn Sie sich beides vor Augen führen, wie war denn das mit demGefühl des Eingebunden-Seins, der Zugehörigkeit und dem Platz in derGesellschaft? . . . und wie war das mit Mitmenschen, als Mitglied derGesellschaft, Ihr Bezug zu Deutschland, wie haben Sie sich dazugehörig gefühlt?

b) Wie hat sich Ihre Position in der Gesellschaft geändert als Unternehmerin?

c) Was hat sich durch Ihr Unternehmen (in Ihrem Leben) für Sie verändert?Können Sie da Beispiele nennen?

d) Nun sind Sie als (Italienierin) hier in Deutschland, was glauben Sie,was das für eine Rolle gespielt hat in dem Prozess?

e) Haben Sie das Gefühl, dass Mitmenschen Ihnen andersgegenübertreten, seit Sie selbständig sind?

f) Haben Sie das Gefühl, dass sich Ihr Platz in der Gesellschaft inDeutschland verändert hat durch Ihr Unternehmen?

g) Inwiefern hat sich Ihr Bezug zu Deutschland durch die Unternehmensgründung verändert?

h) Inwiefern hat sich Ihre gesellschaftliche Teilhabe durch das Unternehmen gewandelt?

i) Können sie kurz erläutern, inwiefern sie durch die Unternehmensgründung eine Status- und Machtverschiebung zwischen Ihnen alsFrau aus .../ Frau mit Migrationsgeschichte und der deutschenGesellschaft erlebt haben?

Page 347: Transformative Lernprozesse von Unternehmerinnen mit Migrationsgeschichte

Interviewleitfaden 355

a) Sie wissen ja, es gibt so Seminare und Beratungsangebote für Existenz-gründer_innen. Wie sind Sie mit so was umgegangen? Wie hilfreichist/ war das für Sie?

b) Was hätten Sie sich für Unterstützungsangebote gewünscht?

c) Wenn ja, welche?

i. Anbieter, Form des Angebotes: Kurs, Beratung etc., zeitlichePlatzierung: morgens, abends etc.

ii. Wie haben Sie von diesen erfahren?

iii. Nach welchen Kriterien, woraufhin haben Sie sich für das Ange-bot/ die Angebote entschieden?

d) Wenn nein:

i. Wie kam das denn, dass Sie ganz ohne auskamen?

ii. Wie kam es, dass sie das ganz alleine geschafft haben?

iii. Woher haben Sie das unternehmerische Wissen (wie erstelle icheinen Business Plan, Finanzierung etc) erhalten?

4. Schwierige Situationen

a) Wenn Sie jetzt an die Unternehmensgründung zurückdenken, waswar da besonders toll und was war besonders schwierig?

b) Was waren die größten/ besondere Herausforderungen während derUnternehmensgründung? Was hat Ihnen da geholfen?

c) Welche Situationen waren schwierig für Sie?

d) Gab es Situationen, in denen Sie dachten, dass Sie mit Ihrem Unter-nehmen scheitern?

i. Wie kam es zu diesen Situationen?

ii. Wie sind Sie mit diesen Situationen umgegangen?

e) Gibt es noch etwas wichtiges, das wir vergessen haben/ was Sie mirnoch erzählen wollen?

5. Abschlussfrage: Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, was wäre das?/ Wasist ihr Wunsch, was sich mit Ihrem Unternehmen für Sie verändert?

3. Formales Unterstützungssystem