Transzendenz und Differenz_ Heidegger

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Transzendenz und DiEEerenz

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  • Transzendenz und DiEEerenz

  • PHAENOMENOLOGICA COLLECTION PUBLIEE SOUS LE PATRONAGE DES CENTRES

    D'ARCHIVES-HUSSERL

    33

    ALBERTO ROSALES

    Transzendenz und Differenz

    EIN BEITRAG ZUM PROBLEM

    DER ONTOLOGISCHEN DIFFERENZ

    BEIM FRUHEN HEIDEGGER

    Comite de redaction de la collection; President: H. L. Van Breda (Louvain):

    Membres: M. Farber (Philadelphia), E. Fink (Fribourg en Brisgau), A. Gurvitsch (New York), J. Hyppolite (Paris), L. Landgrebe (Cologne), M. Merleau-Pontyt (Paris), P. Ricoeur (Paris), K. H. Volkmann-Schluck

    (Cologne), J. Wahl (Paris); Secretaire: J. Taminiaux, (Louvain).

  • ALBERTO ROSALES

    Transzendenz und Differenz

    EIN BEITRAG ZUM PROBLEM

    DER ONTOLOGISCHEN DIFFERENZ

    BEIM FRUHEN HEIDEGGER

    D MARTINUS NI]HOFF / DEN HAAG / 1970

  • ISBN 978-94-010-9919-6 ISBN 978-94-010-9918-9 (eBook) DOl 10.1 007/978-94-010-9918-9

    I970 by Martinus Nijhoff, The Hague, Netherlands Softeover reprint of the hardcover 1st edition I970

    All rights reserved, including the right to translate or to reproduce this book or parts thereof in any form

  • Isabel, Ignacia und Amanda Zum Gediichtnis

  • VORWORT

    In seinem Werk "Identitiit und Differenz" kennzeichnet Hei-degger, in Abhebung von Hegel, die "Sache des Denkens," d.h. das, was sein Denken angeht und bewegt, als "das Sein hinsicht-lich seiner Differenz zum Seienden." "Fur uns ist die Sache des Denkens, vorliiufig benannt, die Differenz als Differenz." (S. 43). Dass die Differenz auch die Sache des Denkens ist, das zum erst en Mal in SuZ.1 zur Sprache kam, mag zuniichst wie eine blosse Be-hauptung anmuten. Der veroffentlichte Teil dieses Werkes be-dient sich nicht einmal dieses Ausdrucks. In ihm wird aber wieder-holt auf den Unterschied von Sein und Seiendem hingewiesen. So lesen wir auf S. 4: ",Sein' ist nicht so etwas wie Seiendes." "Das Sein des Seienden ,ist' nicht selbst ein Seiendes" (S. 6). Auf S. 27 steht der Satz: "Die Abhebung des Seins vom Seienden und die Explikation des Seins ist Aufgabe der Ontologie." Wenn ein philosophisches Werk ebensowohl nach dem zu beurteilen ist, was in ihm als tragende Voraussetzung unausgesprochen zum Vor-schein kommt, als auch nach dem, was es ausdrucklich sagt, dann ist die Sache des Denkens in SuZ. die ontologische Differenz.

    Die Lage, in der wir uns angesichts der ontologischen Differenz im Denken von und urn SuZ. befinden, ist jedoch in sich proble-matisch. 1. In dem veroffentlichten Teil dieses Werkes bleibt die

    1 In dieser Arbeit bedienen wir nns folgender Abkiirzungen: "Sein undZeit" = SuZ.; .. Vom Wesen des Grundes" = WG.; "Was ist Metaphysik" = WM.; "Kant und das Problem der Metaphysik" = KPM.

    Benutzt wurden folgende Auflagen dieser Werke: SuZ.: 5. unveranderte Aufl. Halle a.d.S. 1941. WG.: 4. unveranderte Aufl. Frankfurt a.M. 1955. WM.: 1. Aufl. Bonn 1929 sowie die 7. Aufl. Frankfurt a.M. 1955. KPM.: 2. unveranderte Aufl. Frankfurt a.M. '951.

    Die 1. Aufl. von WM. unterscheidet sich von den spateren von einigen wenigen Veranderungen abgesehen dadurch, dass in ihr besonders bedeutsame Worter und Satze gesperrt gedruckt sind, was das Verstandnis des Textes erleichtert.

  • VIII VORWORT

    Differenz bis auf wenige Hinweise absichtlich unthematisch. Dass dieses Werk von diesem Problem durchgangig bestimmt wird, muss eigens aufgewiesen werden. 2. Da dieses Problem, wie wir zeigen werden, mit dem Problem des Seins uberhaupt unzertrenn-lich verbunden ist, sollte es erst im 3. Abschnitt des erst en Teiles von SuZ. behandelt werden, der, wie bekannt, nie veroffentlicht worden ist. 2 3. Unter den Werken urn SuZ. nennt WG. (1929) Zum erst en Mal ausdrucklich den Titel "ontologische Differenz" und dringt einige Schritte in dieses Problem vor. 4. In den spa-teren Werken Heideggers wird das Problem der Differenz, neben seiner thematischen Behandlung in "Identitat und Differenz," mehrfach gestreift. Weil sich diese Werke aber in einer ganz anderen Perspektive als SuZ. bewegen, ersetzt das, was sie uber die Differenz darlegen, nicht das, was mit dem genannten 3. Ab-schnitt des ersten Teiles von SuZ. ungesagt blieb. Ausser dem, was WG. uber die Differenz sagt, besitzen wir keine ausdruckliche Erorterung dieses Problems aus der transzendentalen Perspek-tive von SUZ. Uber das, was die Abhandlung WG. daruber lehrt, herrscht aber unter den Auslegem nicht wenig Verwirrung.

    Schon diese Lage ware ein zureichendes Motiv, das Problem der Differenz im Denken von und urn SuZ. zu untersuchen. Sowohl aus philosophischsachlichen als auch aus philosophiegeschichtli-chen Grunden ist eine solche Untersuchungwunschenswert. Bedenkt man ausserdem, dass das, was dergestalt als unausgesprochene Voraussetzung im Dunkeln bleibt, gerade die zentrale Frage dieses Denkens ist, dann springt die Notwendigkeit der genannten Unter-suchung in die Augen. Solches Denken wird man in seiner eigen-sten Absicht nicht begreifen konnen, solange man es nicht auf das Problem der Differenz hin interpretiert. Ohne den Versuch zu einer solchen Interpretation muss ausserdem jede Bemuhung urn das Spatwerk Heideggers auf sehr schwachen Fussen ruhen.

    Die Notwendigkeit der hier versuchten Untersuchung ent-springt fUr uns femer daraus, dass sie bisher von den Auslegem des Heideggerschen Denkens entweder nicht in Angriff genom-men wurde, oder nur so, dass die Aufgabe mehr oder weniger un-erfullt geblieben ist. Soweit wir sehen, ist das Problem der Dif-

    2 Nach eigener Anssage Heideggers, die M. Miiller in seinem Bnch Existenzphiloso-phie im geistigen Leben der Gegenwart mitgeteilt hat, soUte dieser 3. Absch. eine drei-fache Differenz behandeln. Vgl. nnten 12. Kapitel.

  • VORWORT IX

    ferenz erst nach dem 2. Weltkrieg von der Heidegger-Literatur erortert worden. In ihr sind zwei Gruppen von Interpretationen zu unterscheiden.

    I. Einige Ausleger beschaftigen sich mit dem genannten Pro-blem in der Orientierung und Entfaltung, in der es im Spatwerk Heideggers zur Sprache kommt. Einige von ihnen unterscheiden nicht ausdriicklich zwischen dieser spateren Entfaltung des Pro-blems und einer friiheren. Hier sind z.B. zu nennen:

    W. Marx, Heidegger und die Tradition, Stuttgart I96I, vgl. ins-besondere "Der Unterschied von Sein und Seiendem" SS. I3I-35; W. Richardson S. J., Heidegger through phenomenology to thought, Den Haag I962, vgl. General Index S. 739; A. Dondeyne, "La Difference ontologique chez M. Heidegger" in der Rev. Phil. de Louvain Bd. 56 (I958) vgl. S. 292; H. Ott, Denken und Sein, Ev. Verlag Zollikon I959, vgl. SS. I09, II3, I55-56; W. Schulz, "Uber den philosophiegeschichtlichen Ort M. Heideggers," in Phil. Rundschau, I. Jrg. (I953/54) vgl. S. 2II ff; M. MUller, Exis-tenzphilosophie im geistigen Leben der Gegenwart 3. erw. und ver-besserte Aufl. Heidelberg I964; vgl. insbesondere S. 43 ff., 39 ff., 66 ff, 75 ff; A. Guzzoni, "Ontologische Differenz und Nichts" in der Festschrift f. M. Heidegger z. 70. Geb. (I959); 0. Poggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, Pfullingen I963, vgl. SS. I45 ff, I58 ff; W. Veauthier, "Analogie des Seins und ontologische Dif-ferenz" in Symposion IV, Freiburg i. Br. I949.

    2. Andere Ausleger beschaftigen sich ausdriicklich mit dem Problem der Differenz beim friihen Heidegger. Als erstes sei die glanzende Darstellung E. Finks "Philosophie als Uberwindung der Naivitat, Fragmente einer Vorlesung iiber die ontologische Differenz," in Lexis I (I946) genannt. Da die Veroffentlichung dieser Schrift nicht iiber deren Anfangspartie hinauskam, wird das Problem der Differenz, wie es sich in WG. darstellt, dort nicht mehr behandelt.

    Jan van der Meulen geht in seinem Buch Heidegger und Hegel oder Widerstreit und Widerspruch, Meisenheim/Glan I954, erneut auf das Problem der Differenz beim friihen Heidegger ein. Dieses in mancher Hinsicht anregende Buch verfehlt jedoch das ge-nannte Problem u.a. deshalb, weil es die Bedeutung des tran-szendentalen Ansatzes beim friihen Heidegger v511ig iibersieht. So ist z.B. die mit diesem Ansatz zusammenhangende Unabhangig-

  • x VORWORT

    keit des Seienden vom Seinsverstandnis, die zur Differenz gehort, fur ihn bloss ein "schlechtes Erbstiick des sUbjektiven tran-szendentalen Idealismus" (op. cit., S. 153). Infolgedessen entgeht van der Meulen die Wandlung bzw. die Kontinuitat des Heideg-gerschen Denkens von SuZ. zu den spateren Werken; eine Wand-lung, die nur vom transzendentalen Ansatz aus und auf dem Weg uber ihn, d.h. als seine Uberwindung, gedacht werden kann. Weil van der Meulen damit die Unterschiede innerhalb dieses Denkens nicht beachtet, baut er mit Begriffen aus SuZ. und den spateren Schriften sehr bizarre Konstruktionen auf. Eine solche ist seine Darlegung der Differenz (op. cit., SS. 56 ff. insbesondere S. 151 ff.).

    Wichtiger fur die Kenntnis des Heideggerschen Denkweges ist das Buch von F. W. von Herrmann: "Die Selbstinterpretationen Martin Heideggers," MeisenheimjGlan 1964. Von Herrmann er-kennt, dass das Problem der Differenz SuZ. durchgangig be-stimmt und dass darin dieses Problem innerhalb einer transzen-dentalen Perspektive gedacht wurde (op. cit., S. 162 u. S. 176). Trotz dieses richtigen Ansatzes und der Tendenz seiner Arbeit, die "Fruhphilosophie" Heideggers von seiner "Spatphilosophie" abzuheben, hat von Herrmann das transzendental-horizontale Vorstellen nicht zum tragenden Prinzip seiner Darstellung des Problems der Differenz beim fruhen Heidegger werden lassen. Dass das Sein fUr die transzendentale Denkart primar den Cha-rakter eines Horizontes hat, bleibt in dieser Darlegung ausser acht. Das Missverstandnis entscheidender Stellen hat ihn ferner dazu gefUhrt, das Phanomen der Differenz beim fruhen Heidegger zu verfehlen. Dafur mag als Beispiel seine Darstellung dieses Problems in WG. dienen (op. cit., S. 162 ff.), auf die wir weiter unten ausdrucklich eingehen werden (S. 281, Anm. I).

    Auch W. Wiplinger haIt in seinem interessanten Buch "Wahr-heit und Geschichtlichkeit," FreiburgjMunchen 1961, die onto-logische Differenz fur den Grundgedanken Heideggers (op. cit., S. 92) und sucht nach seiner Herkunft in der Transzendentalphiloso-phie Kants und Husserls (op. cit., S. 91 ff.). Wiplinger lasst aber nicht SuZ. am Leitfaden dieses Ansatzes unverstellt zu Wort kommen. Stattdessen bestimmt er im vorhinein, wie weit SuZ. die ontologische Differenz bedenkt und was es uns uber dieses Problem sagen kann, indem er die von M. Muller mitgeteilten "Differenzen" als Stadien des von Heidegger faktisch gegangenen

  • VORWORT XI

    Denkweges interpretiert (op. cit., S. IIZ ff.). Nach seiner Inter-pretation ist das Stadium von SuZ. zwar ein transzendentales, aber es betrifft allein die Differenz von Seiendem und Seiendheit. Schon das Faktum, dass der Ausdruck "Seiendheit" in SuZ. nie vorkommt, sollte ihm die Notwendigkeit nahegelegt haben, seine These aus dem Text selbst zu belegen. Offenbar hat Wiplinger nicht zu zeigen versucht, auf Grund welchen Textes eine Inter-pretation von SuZ. das Phanomen der Seiendheit denken konnte bzw. miisste. Stattdessen verwechselt er (op. cit., S. I87 z.B.), wie auch andere Autoren, Seiendheit mit dem Phanomen, das SuZ. Seinsart nennt. Diese Bemerkung, die freilich nicht als eine Wiirdigung seines ganzen Werkes gelten darf, weist in einem ent-scheidenden Punkt darauf hin, wie Wiplinger durch diesen An-satz und seine Folgen sich selbst den Weg zu einer angemessenen Entfaltung des Problems der Differenz in SuZ. verbaut hat. Seine Bemiihungen, die Vorlesung WM. und die "Kehre" im Denken Heideggers zu erklaren, werden davon mit betroffen.

    Diese kritischen Bemerkungen beziehen sich einzig und allein auf die Entfaltung des Problems der Differenz in den genannten Werken. Uns liegt vollig fern, ihre Verdienste in der Auslegung des Heideggerschen Denkens zu verkennen. Eine Wiirdigung dessen aber, was sie verfehlen und was ihnen gegliickt ist, konnte nur innerhalb einer besonderen Veroffentlichung durchgefiihrt werden. 3

    Damit diirfte die N otwendigkeit der hier versuchten Arbeit zu-reichend begriindet sein. 1st sie aber moglich, und wenn ja, auf welchem Wege? Selbst die blosse Lektiire eines philosophischen Werkes tendiert dahin, in seine Voraussetzungen vorzudringen. Mogen diese unausgesprochen bleiben, sie bestimmen das, was ein Werk ausdriicklich sagt und bekunden sich so in ihm. Es ist mog-lich, ein Werk auf seine Voraussetzungen hin abzufragen. Das ist urn so mehr der Fall dort, wo das Denken, wie in SuZ., bewusst, d.h. methodisch, von Voraussetzungen ausgeht, die erst im Krei-sen des Auslegens zur ausdriicklichen Ausweisung gelangen.

    Weil hier versucht wird, einem Problem nachzugehen, das erst im unveroffentlichten 3. Abschnitt des erst en Teiles von SuZ.

    3 Das Buch von E. Tugendhat Der Wahrheitsbegrilt bei Husserl und Heidegger, das nach dem Abschluss dieser Arbeit erschienen ist, konnte hier leider nicht mehr be-riicksichtigt werden.

  • XII VORWORT

    behandelt werden soUte, ist es nicht tiberfliissig, zu betonen, dass dieser Versuch nicht etwa diesen Abschnitt "rekonstruieren" oder die Antworten geben will, mit denen Heidegger zuriickhielt. Zur Aufgabe steht, den veroffentlichten Teil von SuZ., sowie KPM., WG. und WM. auf das Problem der Differenz hin zu interpre-tieren.

    Obgleich die vorliegende Arbeit kein Kommentar cler genann-ten Werke sein will, konnte sie doch allzu ausftihrlich scheinen. Die Herausarbeitung einer unausgesprochenen Voraussetzung er-fordert jedoch, in noch hoherem Masse als der einfache Versuch, eine Schrift zu referieren, die genaue Durchprtifung des ganzen Textes. Dem, was zunachst wie eine unscheinbare Nebensach-lichkeit anmuten mag, kann nicht selten ein Hinweis auf das Un-ausgesprochene eines Textes abgewonnen werden. Da das Pro-blem der Differenz z.B. in SuZ., wenn auch nicht ausdriicklich, entfaltet wird, gentigte es ferner nicht, die Interpretation auf einige Partien dieses Werkes zu konzentrieren. All dies legte zu-gleich die Moglichkeit nahe, die genannten Werke, mit Ausnah-me von KPM., das dabei nur herangezogen wird, in ihren Haupt-partien zu interpretierep .Jiese Ausfiihrlichkeit dient der er-neuten N achprtifung ~er Thesen der Interpretation. Wir sind nicht der Meinung, i:.ie bisherige Heidegger-Literatur hatte schon so sicher~ Ergebni~se gezeitigt, dass diese Bemiihung iiberfliissig ware.

    Die Beschrankung der Arbeit auf die Interpretation cler ge-nannten Vi crke erklart sich nicht nur aus cler notwendigen Aus-fiihrlichkeit. Mit Riicksicht auf das Ziel dieser Arbeit galt es, sich auf jene Werke zu beschranken, in denen das, was man das Denken des friihen Hcidegger nennen konnte, nieclergelegt ist. 4 Trotzdem haben wir die spateren Werke Heideggers standig beriicksichtigt.

    Weil unter den genannten Schriften WG. am ausdrticklichsten das Problem der Differenz erortert, galt es, von dieser Schrift her zu untersuchen, inwiefern in SuZ. diese Problematik angelegt bzw. schon entwickelt war. In der vorliegenden Arbeit ist umge-

    4 Zu den Werken des friihen Heidegger muss man allerdings auch den Vortrag "Vom Wesen der Wahrheit "rechnen. Wenn wir hier davon abgesehen haben, auf ihn gesondert einzugehen, dann deshalb, weil dazu ein umfangreicher Vergleich des ver-offentlichten Textes von 1943 mit dem urspriinglichen Vortrag von 1930 erforderlich gewesen ware. Vgl. jedoch unten S5. 293-94.

  • VORWORT XIII

    kehrt die Interpretation von SuZ. vorangestellt (I. Teil), so dass die Interpretation von WG. und WM. (II. Teil) eine Bestatigung und Vertiefung dessen darstellt, was vorher in SuZ. erblickt wurde.

    Das 1. Kapitel, das der Frage nach der Differenz in der "Einlei-tung" zu SuZ. nachgeht, ist am besten dazu geeignet, in die Proble-matik von Transzendenz und Differenz einzufiihren.

    Vorliegende Schrift wurde im W.S. 1966/67 von der Philoso-phischen Fakultat der Universitat Koln als Dissertation ange-nommen. Ausser einigen sprachlichen Verbesserungen wurden spater einige wenige Stellen auch sachlich abgeandert bzw. er-ganzt.

    Zu grosstem Dank bin ich meinem hochverehrten Lehrer, Pro-fessor Dr. Ludwig Landgrebe, verpflichtet, der mit seinem Rat und grossziigiger Hilfe diese Arbeit standig gefordert hat, sowie meinen Lehrern an der Universitat Koln, den Herren Professoren Dr. Karl-Heinz Volkmann-Schluck, Dr. Bernhard Lakebrink und Dr. Walter Biemel.

    Die Durchfiihrung dieser Arbeit ist zum gross en Teil durch ein zweijahriges Stipendium der "Alexander von Humbolt-Stiftung" und durch die Forderung der "Friedrich Ebert-Stiftung" ermog-licht worden, wofiir ich diesen Institutionen herzlich danke.

    Ich mochte an dieser Stelle dem Comite de Redaction der Reihe "Phaenomenologica" und insbesondere seinem Prasiden-ten, Herrn Professor Dr. H. L. van Breda o.f.m., meinen besten Dank dafiir aussprechen, dass diese Arbeit zur Veroffentlichung innerhalb dieser Reihe angenommen wurde.

    Caracas, Mai 1968 Alberto Rosales

  • INHALTSVERZEICHNIS

    Vorwort VII

    ERSTER TElL

    DAS PROBLEM DER ONTOLOGISCHEN DIFFERENZ IN

    "SEIN UND ZEIT"

    I. Kapitel. Die Frage nach dem Sein und das Problem der ontolo-gischen Differenz 3

    2. Kapitel. Die Idee der Existenz II

    3 Kapitel. Transzendenz als In-der-Welt-sein 21

    4 Kapitel. Der Riickgang in die Welt und das Problem der onto-logischen Differenz 26 A. Das Sein des Zuhandenen und seine Seiendheit 32 B. Die Weltmassigkeit des Zuhandenen 36 C. Das Wesen der Welt 39

    5 Kapitel. Das alltaglich existierende Seiende 54 6. Kapitel. Der Ort der ontologischen Differenz 60

    A. Die Befindlichkeit 62 B. Das Verstehen 75

    7 Kapitel. Die Endlichkeit als Ursprung des Dass- und Was-seins und die ontologische Differenz 97

    8. Kapitel. Auslegung, Sinn und Rede 106

    9 Kapitel. Das Verfallen II3 10. Kapitel. Das Problem der Einheit der Endlichkeit 120

    A. Angst und Differenz 123 B. Der Grund der ontologischen Differenz 134

    II. Kapitel. Realitat und Sorge 137 12. Kapitel. Der Zusammenhang der Seinsarten und die Frage nach

    der Wahrheit iiberhaupt 141

    13 Kapitel. Die transzendentale Unwahrheit und der Weg der On-tologie 162

  • XVI INHALTSVERZEICHNIS

    14 Kapitel. Das Vorlaufen in den Tod als Seinsverstandnis 173 15 Kapitel. Gewissen und Entschlossenheit 180

    16. Kapitel. Differenz und Zeitlichkeit 195 A. Die Zukunft 198 B. Die Gewesenheit 213 C. Die Gegenwart 217

    17 Kapitel. Geschehen und Geschichtlichkeit 227

    18. Kapitel. Die Innerzeitigkeit und die Verdeckung der ontologi-schen Differenz 232

    ZWEITER TElL

    DAS PROBLEM DER ONTOLOGISCHEN DIFFERENZ IN

    "VOM WESEN DES GRUNDES" UND "WAS 1ST METAPHYSIK?"

    Vorbemerkung 245

    19. Kapitel. Yom Wesen des Grundes 247 A. Der Riickgang in den Grund der ontologischen Dif-

    ferenz 247 B. Transzendenz und Sein 255 C. Transzendenz und Differenz 264

    20. Kapitel. Was ist Metaphysik? 282 A. Die Entfaltung eines metaphysischen Fragens 283 B. Die Ausarbeitung der Frage 284 C. Die Beantwortung der Frage 295

    Schlussanmerkung

    Literaturverzeichnis

    Index

  • ERSTER TElL

    DAS PROBLEM DER ONTOLOGISCHEN DIFFERENZ IN "SEIN UND ZEIT"

  • 1. KAPITEL

    DIE FRAGE NACH DEM SEIN UND DAS PROBLEM

    DER ONTOLOGISCHEN DIFFERENZ

    Weil die Frage nach dem Sein, die einst den griechischen An-fang der Philosophie bestimmt hat, in der nachfolgenden Tradi-tion in Vergessenheit geraten ist, muss der Versuch, diese Frage wieder zu entfalten, die Notwendigkeit ihrer Wiederholung aus-drucklich aufzeigen. Ausser der "Ehrwiirdigkeit ihrer Herkunft" (S. 8) liegt ein Motiv zur Wiederholung dieser Frage schon darin, dass diese Tradition keine endgultige Antwort auf sie gegeben hat. Ihre Auffassung des Seins als eines sonnenklaren, allgemeinsten und leersten Begriffs verstellt nicht nur die Frag-wiirdigkeit des Seinsphanomens, sondern erklart uberdies jede Frage nach ihm fur uberflussig und sogar fur undurchfuhrbar ( I). Ein weiteres Motiv zur Wiederholung der Seinsfrage ist der "Mangel einer genugenden Fragestellung uberhaupt" (S. 9). In der Ausarbei-tung dieser Fragestellung ( 2) erfahren wir in einer ersten An-naherung, was das Gefragte ist. Ais Suchen konnte das Fragen nicht einmal aufbrechen, wenn es nicht schon ein Verstandnis des Gefragten hatte. Wir verstehen aber faktisch so etwas wie "Sein," ohne jedoch einen Begriff von ihm zu besitzen (S. 5). Sein ist ver-standen. Wie steht es mit diesem Zusammenhang von Sein und Verstandnis?

    "Das Gefragte der auszuarbeitenden Frage ist das Sein, das, was Seiendes als Seiendes bestimmt, das, woraufhin Seiendes, mag es wie immer erortert werden, je schon verstanden ist. Das Sein des Seienden ,ist' nicht selbst ein Seiendes." (S. 6).

    So etwas wie einem Unterschied von Sein und Seiendem Rech-nung zu tragen ist "der erste philosophische Schritt im Verstand-nis des Seinsproblems" (a.a.O.). 1st in dieser Stelle nicht schon die Richtung angedeutet, in der jener Unterschied, und in der der Zusammenhang von Sein und Verstandnis zu sehen ist?

  • 4 SEIN UND ZEIT

    Sein ist das Bestimmende des Seienden. Von der Seinsfrage wird in KPM. gesagt: "Sie forscht nach dem, was das Seiende als ein solches bestimmt. Dieses Bestimmende soIl im Wie seines Be-stimmens erkannt, als das und das ausgelegt, d.h. begriffen wer-den." (S. 201). In welcher Richtung hier dieses Bestimmen ge-dacht werden muss, wird in der Stelle auf S. 6 angedeutet: Sein ist das W oraufhin des Verstehens von Seiendem.

    Wir verstehen shindig Seiendes, d.h. das, was ist. Damit wir Seiendes als seiend, sei es auch unausdriicklich, verstehen k6nnen, miissen wir im voraus so etwas wie "ist" und "ist nicht", d.h. Sein schon verstehen. Das Sein ist demnach in unserem Verstand-nis "friiher" als das Seiende offenbar. In jedem Verstehen von Seiendem ist das Sein dasjenige, was vorgangig schon begegnet (vgl. SS. 31 U. III).

    Wir verstehen, was und wie das Seiende ist, d.h. wir bestimmen es (vgl. KPM. S. 33), wenn wir auf das Sein hin blicken. Das Woraufhin dieses Blickens ist das Bestimmende. Warum aber diese Rede von "Hinblicken"? Weil Sein kein Seiendes ist, ist seine "Aufweisungsart" von der "Entdeckungsart" des Seienden verschieden (S. 6). Da das Verstehen von Sein in uns, in Seienden geschieht, ist es so etwas wie ein Bezug vom Seienden her auf das Nicht-Seiende hin. In unserem Verstehen liegt notwendig ein Uberschritt des Seienden. Das Verstandnis des Seins ist Trans-zendenz. Begegnet das Seiende auf Grund der Transzendenz, dann liegt in ihr vermutlich auch der Unterschied von Sein und Seien-demo

    Auf S. 3, im Zusammenhang mit der Erorterung der traditio-nellen Auffassungen der Allgemeinheit des Seinsbegriffes, wird gesagt: ",Sein' ist nach der Bezeichnung der mittelalterlichen On tologie ein ,transcendens'." Es iibersteigt alle ga ttungsmassige Allgemeinheit. Wenn Heidegger das Sein als Woraufhin des Ver-stehens und d.h. als das "transcendens schlechthin" (S. 38) be-stimmt, dann iibernimmt er nicht einfach die traditionelle Lehre von der Allgemeinheit des Seins. Das diirfte aus der Kritik dieser Lehre (S. 3) klar geworden sein. Der Ansatz Heideggers bewegt sich aber auf dem Boden einer bestimmten metaphysis chen Auf-fassung, der gemass so etwas wie "Sein" vom menschlichen Ver-stehen her als der ihm entgegenscheinende, ja es iibersteigende Hinblick bestimmt wird. Es ist dieselbe Auffassung, die die Vor-

  • DIE FRAGE NACH DEM SEIN 5

    gangigkeit dieses Verstehens zur Ermoglichung des Entdeckens von Seiendem fordert. Das ist das "diskursive" Wesen des Den-kens, das seine erste Pragung bei Platon erfahren hat.

    Weil SuZ. auf diesem Boden steht, kann Heidegger sagen: "J ede Erschliessung von Sein als des transcendens ist transzen-dentale Erkenntnis." (S. 38). Welche besondere Ausgestaltung dieser transzendentale Ansatz in SuZ. erfahrt, und ob sie sogar dessen Sprengung selbst vorbereitet, kann nur im Nachvollzug dieses Werkes zur Sprache kommen. Eines ist jedoch im Voran-gehenden klar geworden: In SuZ. hat der Gedanke der Transzen-denz sein tiefstes Motiv im Unterschied von Sein und Seiendem. Umgekehrt ist die Transzendenz der Bereich, in dem SuZ. das Problem der ontologischen Differenz entfaltet hat.

    Steht das Sein immer schon im Verstandnis, dann ist die Frage nach ihm der Versuch, innerhalb des Verstandnisses auf etwas schon Verstandenes zuriickzugehen. Weil das Sein jedoch meist durchschnittlich verstanden und die Transzendenz selbst zu-nachst verhiillt ist, kann dieses Fragen nicht direkt in sein Ziel kommen. Das Sein hangt aber als das Bestimmende mit dem be-stimmten Seienden zusammen, welches das fUr uns zunachst Bekanntere ist. "Sein ist jeweils das Sein eines Seienden" (S. 9). Dieser Zusammenhang, der ohne Zweifel zum Unterschied beider gehOrt, weist den Weg. "Sofern das Sein das Gefragte ausmacht, und Sein besagt Sein von Seiendem, ergibt sich als das Befragte der Seinsfrage das Seiende selbst. Dieses wird gleichsam auf sein Sein hin abgefragt" (S. 6, vgl. S. 37).

    Insofern Seiendes ein Vielerlei ist, muss ein exemplarisches Seiendes gesucht werden, das in der Ausarbeitung der Seinsfrage einen Vorrang besitzt. Urn welches Seiendes es sich bei dieser Aufgabe handeln kann, meldet sich schon in der Ausarbeitung dieser Frage selbst. Eine Durchsichtigkeit dieses Fragens kann nur erreicht werden, wenn das fragende Seiende selbst, an dem die Transzendenz geschieht, in seinem Sein bestimmt ist. Was dieses Seiende und damit die Transzendenz selbst sei, erfahrt eine nahe-re Bestimmung in 4 von SuZ. Dabei zeigt sich, wie Sein und Transzendenz sich immer schon vom Problem der ontologischen Differenz her bestimmen. Die eigentliche Absicht der Darlegung, den Aufweis des Vorrangs der Seinsfrage, lassen wir dabei zu-nachst beiseite.

  • 6 SEIN UND ZEIT

    "Das Dasein ist ein Seiendes, das nicht nur unter anderem Seienden vorkommt. Es ist vielmehr dadurch ontisch ausgezeich-net, dass es diesem Seienden um dieses Sein selbst geht." (S. 12). Indem wir zunachst j eden Vergleich dieses Seienden mit sonstigen Seienden hinsichtlich seines Ranges beiseite lassen, versuchen wir sein Sein selbst zu erfassen. Dieses Sein wird im Text durch den Ausdruck lIes geht urn ... " bestimmt. Damit bezeichnet man gewohnlich ein Sich-Kiimmem und Sich-Sorgen urn das, was einem wichtig ist. Hier solI dieser Ausdruck kein ontisches Verhalten zu diesem oder jenem bedeuten, sondem das Sein. Wie das im Text gesperrt gedruckte "um" es andeutet, liegt darin ein Verhalten dieses Seienden zu seinem Sein." Zu dieser Seinsverfassung des Daseins gehort aber dann, dass es in seinem Sein zu diesem Sein ein SeinsverhaItnis hat" (a.a.O.). Dieses Sein als solches Ver-haItnis birgt demnach eine Einheit der radikal Unterschiedenen, d.h. den Unterschied in sich. "VerhaItnis" besagt hier wie fortan in der Rede yom "VerhaItnis von Sein und Seiendem" keine Relation zwischen zwei bestehenden Dingen. SolI dieses Verhalt-nis den Sinn eines "es geht urn ... " haben, dann muss es den Charakter eines Offenbarens und Verstehens des Seins, zu dem es sich verhaIt, besitzen. Sein hat aber den Grundsinn von Offenbaren und Offenbarkeit.1 Dass das Dasein ist, bedeutet: es macht sein Sein offenbar, so dass es sich in diesem Sein (dem Offenbaren) zu diesem Sein selbst (als Geoffenbartem) verhalt. Als Sichselbst-offenbaren ist dieses Sein das Verhiiltnis dieses Seienden zu sei-nem Sein selbst. Wenn das Sein verstanden wird, dann kann das Seiende als solches zum V orschein kommen. Der zuletzt zitierten Stelle folgt der Satz: "Und dies wiederum besagt: Dasein ver-steht sich in irgendeiner Weise und Ausdrucklichkeit in seinem Sein." Insofem dieses Sein als solches Verhaltnis das Sein und das Seiende offenbar macht, liegt in ihm nicht bloss ein Unterschied beider vor, sondem dieser Unterschied ist selbst offenbar.

    Das Sein dieses Seienden ist demnach der oben genannte Vberschritt uber das Seiende hinaus zum Sein. "Das Sein selbst, zu dem das Dasein sich so oder so verhalten kann und immer ir-gendwie verha.lt, nennen wir Existenz." (S. 12). Dieser Ausdruck

    1 Dass "Sein" Offenbarkeit bedeutet, ist keine These, die wir den spiiteren Werken Heideggers entnehmen, sondern ein, wie sich zeigen wird, zentraler Gedanke von SuZ. Vgl. z.B. unten Kap. 4.A.

  • DIE FRAGE NACH DEM SEIN 7

    wird hier im bewussten Riickblick auf seine urspriingliche Be-deutung im Lateinischen als Hinausstand zu ... verstanden. "Diesem Seienden eignet, dass mit und durch sein Sein dieses ihm selbst erschlossen ist. Seinsverstiindnis ist selbst eine Seinsbe-stimmtheit des Daseins. Die ontische Auszeichnung des Daseins liegt darin, dass es ontologisch ist." (a.a.O.). Auszeichnung und Vorrang ist immer ein Mehr- und H6hersein z.B. eines Seienden vor anderen. Was ist das Eine, im Hinblick worauf der ontische Vorrang des Daseins vor den anderen Seienden zu begreifen ist?

    Dber das sonst noch Seiende ist am Anfang des hier kommen-tierten Absatzes schon gesprochen worden: Es gibt Seiendes, das nur unter anderem Seienden vorkommt. Wiewohl auch das Dasein in gewisser Weise vorkommt, ist es von solchem Seienden dadurch unterschieden, dass es "nicht nur" vorkommt, sondern "viel-mehr" (a.a.O.) existiert. Was bedeutet hier "vorkommen"? Of-fensichtlich steht es im Gegensatz zu Existenz. "Vorkommen" bedeutet nicht etwa, dass das Vorkommende in keinem Ver-haltnis zu seinem Sein steht, denn als Seiendes befindet es sich notwendig in irgendeinem VerhaItnis zu ihm. Das Vorkommende unterscheidet sich yom Existierenden vielmehr dadurch, dass sein Verhaltnis zum Sein ein ganz anderes ist. Wie steht ein Ding zu seiner Offenbarkeit?

    Seiendes wie das Ding (im weitesten Sinne) z.B. ein Stein, ein Gerat usw. ist in ihm selbst unaufgeschlossen. Es ist wesensmassig eines verstehenden Verhaltnisses zu seinem Sein bar. Daher kann es weder es selbst noch seine Umgebung verstehen. Ein Ding kommt unter anderen Dingen vor. Dieses Vorkommen ist aber Sein. Solche Offenbarkeit liegt nicht, wie beim Existierenden, im Ding selbst und iiber es hinaus, sondern sie ist ausserhalb des Dinges, namlich im Existierenden. Dieses ist wiederum nicht als ein Ding aufzufassen, das ausserdem mit seiner Offenbarkeit zu-sammen ware, sondern es selbst ist das Offenbarende seines Seins und so seiner selbst als eines Seienden. Das Ding verhalt sich nicht von sich aus zu seinem Sein, sondern das Seinsverstand-nis des Existierenden bringt das Ding in ein Verhaltnis zum Sein. Das Existierende versteht mit seinem Sein auch das Sein des Dinges.

    1m Hinblick auf die Weise, wie sich das Seiende in seinem U nter-schied zum Sein verhiilt, tritt das Seiende in zwei Grundarten aus-

  • 8 SEIN UND ZEIT

    einander: Seiendes, das vorkommt, und Seiendes, das existiert. Die dieser Einteilung entsprechende Unterscheidung des Seins in Existenz und Vorhandensein (Realitat im weitesten Sinne) lasst sich auch nicht ohne Bezug auf die ontologische Differenz be-stimmen. Wenn wir sagen, dass sich diese Seins-"arten" im Hin-blick auf die Weise der Offenbarkeit unterscheiden, dann sprechen wir gewiss etwas Wahres aus. Zureichend ist diese Bestimmung aber nur, wenn der Bezug dieser Seinsphanomene zu ihren ent-sprechenden Seienden mit einbezogen wird. Daher wird die Exis-tenz formal so bestimmt: "Im Sein dieses Seienden verhaIt sich dieses selbst zu seinem Sein." (S. 41). Das Vorhandensein dagegen ist die Offenbarkeit, in die ein an sich Unaufgeschlossenes einge-lassen wird, urn sich als solches fUr das Dasein zu zeigen.

    Sein und Seiendes: jedes von ihnen lasst sich nur in seinem Verhaltnis zu dem anderen adaquat begreifen. Diesem Verhaltnis entspringt die Einteilung des Seins bzw. des Seienden; welche Einteilung eine vollstandige ist. Bei der Einteilung des Seienden handelt es sich nicht nur urn einen Unterschied von "Arten" des Seienden, sondern auch urn einen Rangunterschied. Das Existie-rende ist im Hinblick auf seinen Bezug zum Sein "mehr" als das Vorhandene. Das Seiende, das seiend von sich aus das Sein offen-bart, hat ein urspriinglicheres Verhaltnis zu ihm als jenes Seien-de, das nur auf Grund dieses Bezugs des Existierenden in einem VerhaItnis zu seinem Sein stehen kann. 2 Weil das Dasein in diesem urspriinglicheren Bezug zum Sein steht, hat es einen drei-fachen Vorrang vor allen anderen Seienden (vgl. S. 13): 1. Einen ontischen Vorrang, insofern es auf Grund dieses Bezugs als Seien-des die Struktur hat, das Verstehende seines Seins zu sein (vgl. unten S. 33 Anm.). 2. Einen ontologischen Vorrang, insofern es in diesem Bezug schon alles Sein "vorontologisch" versteht. 3. Ais solches besitzt dieses Seiende einen dritten Vorrang: es ist "ontisch-ontologische Bedingung der Moglichkeit aller Ontolo-gien" (a.a.O.).

    2 Es konnte scheinen, als ob das bloss Lebendige eine Ausnahme machen wiirde, und diese Einteilung unvollstandig ware. Die Pflanze und das Tier scheinen ja einen Bereich "zwischen" dem Dasein und dem Vorhandenen einzunehmen. Das Lebendige ist aber kein Zwitter beider; es bleibt vielmehr als eine privative Modification von Dasein auf dieses hingeordnet. Vgl. SS. 50, 58, 246. Vgl. jetzt auch "Aletheia" (Hera-klit, Frag. 16) in Vortrage und Autsatze. Ober die Einteilung aller Seinscharaktere in Existenzialien und Kategorien vgl. SS. 44-45.

  • DIE FRAGE NACH DEM SEIN 9

    Weil die Transzendenz, deren Woraufhin das Sein ist, gerade die Seinsverfassung des Existierenden ist, gewahrt die besondere Ontologie der Existenzialitat erst den Einblick in das Gebiet, in dem das Sein thematisch erblickt werden kann. Die sonstigen Ontologien von besonderen Regionen des Seienden konnen daher von Grund auf nur dann aufgebaut werden, wenn sie aus der existenzialen Analytik als ihrem Fundament entspringen. Diese ist daher die Fundamentalontologie.

    Weil das Existierende in dem gekennzeichneten Bezug zum Sein steht, kann es reden und sich Fragen stellen. Welcher Frage gebuhrt dann der hochste Rang unter all denen, die sich dieses Seiende stellen kann? Offenbar jener, auf die es ontisch selbst schon tendiert. Gemass seiner Struktur als Seiendes strebt es danach, sein Sein zu verstehen und in einen Begriff zu heben (S. 13). Diese Tendenz zieIt letztlich aber auf das ab, woraus sein eigenes Sein erst verstandlich wird: das Sein uberhaupt. Die Frage nach dem Sein uberhaupt ist ontisch vorrangig. Damit ist aber zugleich ein anderer Vorrang angedeutet: diese Frage hat einen ontologischen Vorrang, sofern sie auf das geht, was nicht nur der Grund des ontologischen Fragens in den Wissenschaften ist, sondern auch der Grund der diesen Wissenschaften zugrunde-liegenden Ontologien selbst.

    Die Seinsfrage ist nicht bloss eine Frage nach dem Sein. Warum dem so ist, kann erst aus dem im Vorangehenden erblickten An-satz dieser Frage begriffen werden. Roher als die Frage nach dem Seienden als solchen ist die Frage nach dem, was das Seiende ermoglicht, also die Seinsfrage. Das Sein, in seiner Differenz zum Seienden, steht in einem Verstandnis als dessen Verstandenes. Weil dem so ist, deshalb ist die noch hOher liegende Seinsfrage die nach seinem Sinn, d.h. nach dem, was die Verstiindlichkeit des Seins und d.h. auch die Bedeutungen des Wortes "Sein" fur das Verstiindnis und so das Verstehen selbst ermoglicht. 1st der ge-suchte Sinn ein solcher Grund, dann kann nur das faktische Seinsverstandnis, so wie es sich in der Geschichte der Philosophie ausgesprochen hat, einen Rinweis auf ihn geben. Faktisch hat die antike Ontologie das Sein auf Anwesenheit hin verstanden; fak-tisch fungiert die Zeit als Kriterium fur die Unterscheidung von Seinsregionen. Die traditionelle Metaphysik - Kant ausgenom-men - weiss allerdings recht wenig von dieser Funktion der "Zeit" ;

  • 10 DIE FRAGE NACH DEM SEIN

    sie sperrt sich sogar mit ihrer Zeitauffassung gegen ein solches Wissen. Die Zeit, die in der Seinsfrage gesucht wird, muss dem-nach, gegen die traditionelle Auffassung, einzig aus ihrer Funk-tion als Grund des Seinsverstandnisses aufgedeckt werden. Als solcher Grund wird die Zeitlichkeit in sich transzendental-horizon-talen Charakter haben. Deren Horizont, die recht verstandene Zeit, wird von sich aus die temporalen Bestimmungen des Seins hergeben k6nnen.

    1st Sein wesenhaft Sein von Seiendem und hat die Transzen-denz selbst ihr innerstes Motiv in dieser Differenz beider, dann ist die Frage nach dem Sinn als dem Grund der Transzendenz und ihrem Woraufhin eine Frage nach dem letzten Grund der onto-logischen Differenz.

  • 2. KAPITEL

    DIE IDEE DER EXISTENZ

    Der 1. Abschnitt von SuZ., der die Aufgabe hat, das Sein des Daseins in der Fiille seiner Strukturen auseinanderzulegen, be-darf von Anfang an einer leitenden Idee dieses Seins. Sie anzu-geben, ist das Ziel des 9, der iiberschrieben ist: "Das Thema der Analytik des Daseins." Von der Strukturmannigfaltigkeit dieses Seins, welches das Thema ausmacht, wird dabei das Hauptmo-ment, die Existenz, in einer doppelten Hinsicht weiter entfaltet: 1. Der ontologische Vorrang der Existenz vor dem daseinsmassi-gen Was-sein. 2. Die Jemeinigkeit der Existenz.1

    1. "Das ,Wesen' dieses Seienden liegt in seinem Zu-sein. Das Was-sein (essentia) dieses Seienden muss, sofern iiberhaupt davon gesprochen werden kann, aus seinem Sein (exist entia) begriffen werden." (S. 42). Diese, wie die ihr folgenden Ausfiihrungen, ent-falten sich in einer stillschweigenden Auseinandersetzung mit der iiberlieferten Unterscheidung von essentia und existentia. Diese Unterscheidung betrifft in irgendeiner Weise immer alles Seiende. Wenn Seiendes uns offenbar ist, konnen wir bestimmen und even-tuell aussagen, was es ist, z.B. ein Haus. Nach der Tradition ist ein solches "Was," grob gesagt, etwas Eines, das in dies em und jenem Einzelseienden als das Selbe vorkommt und irgendwie sein Grund (inn ere Moglichkeit) ist. Das also ist die essentia. Von dem, was ein Seiendes ist, ist aber unterschieden, dass ein Seiendes dieses Was-seins tatsiichlich ist oder nicht ist. Die Tatsachlichkeit, dass es ist, ist seine exist entia (Wirklichkeit). Ein Seiendes ist - das be-deutet demnach ein Doppeltes: es ist in dem Sinne, ein Was zu sein, oder in dem Sinne, dass es ist. Das ,,1st", d.h. das Sein, hat beide Bedeutungen. Diese in sehr groben Ziigen angezeigte Unter-

    1 Vgl. S. 43.

  • 12 SEIN UND ZEIT

    scheidung von Was-sein und Dass-sein bestimmt in mannigfalti-gen Abwandlungen das abendlandische Denken.

    Der Anfangssatz "Das ,Wesen' dieses Seienden liegt in seinem Zu-sein." enthalt zwar das deutsche Wort fur essentia, "Wesen," ebenso wie der erste Satz des nachsten Absatzes: "Das Wesen des Daseins liegt in seiner Existenz." Dieser Satz gebraucht uberdies noch das Wort "Existenz." Wenn auch die Darlegung sich in der genannten Auseinandersetzung mit der Tradition vollzieht, denkt sie das Sein des Daseins dennoch weder als essentia noch als exis-tentia. Zum Verstandllis dieser Stelle ist die Einsicht wichtig, dass beide Satze dasselbe aussagen wollen. Demnach besagt das "Zu-sein" dasselbe wie Existenz. Wir wenden uns zuerst ihr zu, urn dann im Durchgang durch sie den Ausdruck "Wesen" zu er-lautern. Eine formale Anzeige der Existenz finden wir in der ein-leitenden Charakteristik am Anfang des : ,,1m Sein dieses Seienden verhalt sich dieses selbst zu seinem Sein. Als Seiendes dieses Seins ist es seinem Zu-sein uberantwortet." Die Existenz ist das Sein dieses Seienden. Was dieses Sein ausmacht, ist, wie wir oben sa-hen, ein Sichverhalten oder Verhaltnis des betreffenden Seienden zu diesem Sein selbst, d.h. ein verstehendes Zu-sein. Und weil dieses Seinsverhaltnis "zwischen" den radikal Unterschiedenen, dem Sein und dem Seiendem, aufbricht, ja diesen Unterschied in sich birgt, deshalb heisst es Ex-sistenz.

    Der Gehalt dieses Seins ist also von dem Seinscharakter, den die Tradition "existentia," "Wirklichkeit" und "Dasein" nannte, v611ig unterschieden. Daher bemerkt Heidegger: ". .. exist entia besagt ontologisch soviel wie Vorhandensein, eine Seinsart, die dem Seienden yom Charakter des Daseins wesensmassig nicht zukommt." (a.a.O.). Die Existenz wird dabei nicht einfach gegen die existentia abgehoben, urn dann diese zu vergessen, sondern die existentia wird zugleich in die Interpretation hineingenom-men. "Vorhandensein" ist nicht etwa nur ein anderes Wort fur existentia, sondern ein "interpretierender Ausdruck." Er be-zeichnet eine Seinsart. Das Ding (im weitesten Sinne) ist, indem es fUr das Dasein offenbar ist. Das Dass-sein im Sinne von exis-tentia ist ein Charakter dieser Offenbarkeit. Worin sie besteht, wird im Laufe der Interpretation zur Sprache kommen.

    "Das ,Wesen' des Daseins liegt in seiner Existenz." Zum Ver-standnis dieses Satzes ist es nicht unwichtig, darauf hinzuweisen,

  • DIE IDEE DER EXISTENZ I3

    dass der Ausdruck "in etwas liegen" hier die Bedeutung hat: in etwas grunden. Demnach besagt der zitierte Satz nicht etwa, dass die Existenz die "essentia" dieses Seienden ist. Auf S. II7 wird in der Tat an diese formale Anzeige der Existenz als diejenige er-innert, wonach die "Essenz" des Daseins in seiner Existenz grun-det. Dementsprechend lautet der Satz, der im 9 der zitierten Aussage folgt: "Das Was-sein (essentia) dieses Seienden muss, sofern uberhaupt davon gesprochen werden kann, aus seinem Sein (existentia) begriffen werden." Wie die Anfiihrungszeichen es schon andeuten, besagt "Wesen" d.h. das Was-sein, nicht die es-sentia im uberlieferten Sinne. Trotzdem kann man im gewissen Sinne von dem sprechen, was - genauer: wer ein Dasein ist. Von diesem "Was-sein" oder "So-sein" (a.a.O.), dessen "Natur" noch zu bestimmen ist, wird hier gesagt, dass es seinen Grund in der Existenz als dem gekennzeichneten Sein hat. Deshalb umschreibt Heidegger die ganze I. Charakteristik der Existenz spater so: ". .. einmal der Vorrang der ,existentia' vor der essentia ... " (S43)

    Die Darlegung des daseinsmassigen Was-seins und seines Zu-sammenhangs mit der Existenz wird auch in Abhebung gegen die uberlieferte Idee der essentia durchgefiihrt. "Die an diesem Sei-enden heraustellbaren Charaktere sind daher nicht vorhandene ,Eigenschaften' eines so und so ,aussehenden' vorhandenen Sei-enden, sondern je ihm mogliche Weisen zu sein und nur das." (S. 42). Wie aus dies em Text hervorgeht, ist das Was-sein im uberlieferten Sinne wiederum in der Perspektive der Vorhanden-heit interpretiert. Seiendes, das an ihm selbst nicht irgendwie offenbar ist, ist unverborgen, indem es im Offenbaren des Daseins und fur dieses vorliegt. Weil ein solches Seiendes dieses Sein "hat," deshalb ist das, was es ist, auch vorhanden. An ihm selbst unaufgeschlossen, sieht dieses Seiende fur das Dasein so oder so aus, es bietet diesem einen Anblick (Aussehen, Eidos), der das ausmacht, was es ist. Die sonstigen Charaktere, die solches Was begleitend dabei mitvorhanden sind, sind die Eigenschaften des Dinges.

    Weil das Sein des Daseins die Existenz ist, sind seine Charak-tere "nicht vorhandene ,Eigenschaften' .... " Sie sind vielmehr im Dasein selbst offenbar. 1m und durch das Offenbaren seiner selbst, welches seine Existenz ist, verhalt sich dieses Seiende zu

  • 14 SEIN UND ZEIT

    all dem, "was" es ist. Wenn dieses Seiende aber nur ist, indem es sich selbst offenbart, dann ist das, was es immer sein mag, nicht zuerst irgendwie unaufgeschlossen und nur spiiter nachtriiglich offenbar. Dieses Was ist im Gegenteil die j eweilige Weise, wie und als was solches Seiendes sich selbst offen bart. Dieses Was ist einzig und allein im Existieren. Deshalb wird bemerkt, dass solche Cha-raktere "je ihm mogliche Weisen zu sein und nur das" sind. Diese Offenbarkeit, d.h. dieses Sein, ist der Ursprung und Ort solchen Was-seins. "Alles So-sein dieses Seienden ist primiir Sein." (a.a. 0.).

    Hat auch das Vorhandensein einen Vorrang vor dem Was-sein des Dinges? Das, als was das Ding aussieht, geht in seiner Offen-barkeit gar nicht aUf. Dieses Was ist die Habe des Dinges als etwas, das dieses vor seiner Offenbarkeit schon hatte. Das Vorhanden-sein ist nicht die QueUe des Was-seins, sondern nur die Offenbar-keit, in die dieses eingeht. Weil zwischen dem vorhandenen Seien-den und seinem Sein dieser Zusammenhang bzw. Unterschied besteht, hat das Sein beim Ding nicht den Vorrang vor dem Was. Bei der Bestimmung des Seins des Daseins und in der Ausein-andersetzung mit der iiberlieferten Ontologie erfahren wir also Wesentliches iiber die Unterscheidung von essentia und existen-tia in ihrem Zusammenhang mit dem Vorhandensein. Dieses Sein tritt in dieser Unterscheidung auseinander. Die iiberlieferte Un-terscheidung wird damit weder einfachhin zuruckgewiesen, noch unbefragt aUfgenommen. Indem sie in das Sein als Verhandensein zuriickgenommen wird, muss sich ihr Wesen wandeln. Die Exis-tenz ist gegen diese Charaktere abgegrenzt, weil sie als Sein vom Vorhandensein unterschieden ist. Das schliesst gar nicht aus, dass sie eigene Modi von "Was" und "Dass" besitzt. Ihr Was-sein wird hier ausdriicklich erortert, wiihrend die daseinsmassige "Tatsiichlichkeit" nur anfangs angedeutet wird: "AIs Seiendes dieses Seins ist es seinem eigenen Zu-sein iiberantwortet." Die ganze Erorterung bewegt sich demnach auf dem Hintergrund der Unterscheidung von Existenz und Vorhandensein und des ieder dieser Seinsarten eigenen Unterschiedes von Dass und Was. Min-destens hinsichtlich des Was-seins ist es offenbar geworden, dass der jeweilige Modus des Was durch den Zusammenhang bzw. Unterschied einer jeden Seinsart mit dem ihr entsprechenden Seienden bestimmt ist. 2

    2 In seinem "Brief tiber den Humanismus" (1947) sagt Heidegger aus der Perspek-

  • DIE IDEE DER EXISTENZ IS

    z. Die Darlegung der J emeinigkeit der Existenz beginnt mit folgenden Worten: "Das Sein, darum es diesem Seienden in seinem Sein geht, ist je meines." (a.a.O.). Angezeigt wird damit ein Verhaltnis, das ohne Zweifel zum Unterschied dieses Seins zu solchem Seienden gehort. Was meint man gewohnlich mit dem Ausdruck "je meines"? Das genannte Seiende spricht sich selbst als "ich selbst" an, und nennt "mein" das, was ihm zugehort. Die Partikel "je" wird auf eine Vielheit bezogen; sie betrifft all ihre Glieder, aber nicht als ein Ganzes, sondern so, dass sie diese als Einzelne beansprucht. Am Anfang des stehen die Satze: "Das Seiende, des sen Analyse zur Aufgabe steht, sind wir je selbst. Das Sein dieses Seienden ist je meines." Dass wir viele sind, ist etwas Ontisches. Uber die ontologische These hinaus, dass die Existenz dem seienden Selbst sein Eigentum ist, schwingt im Ausdruck "J emeinigkeit" der Bezug zu der ontischen Vielheit der existierenden Seienden mit, so dass dieses Eigentumsverhaltnis ein jedes solches Seiendes als Einzelnes mit betrifft. Von diesem doppelten Gehalt des Ausdrucks wird auf S. II4 gesagt: "Dasein ist Seiendes, das je ich selbst bin, das Sein ist je meines. Diese Bestimmung zeigt eine ontologische Verfassung an, aber auch nur das. Sie enthalt zugleich die ontische - obzwar rohe - Angabe, dass je ein lch dieses Seiende ist und nicht Andere." 3 Wahrend

    tive seines spateren Denkens zu der kommentierten Stelle: "In ,Sein und Zeit' (S. 42) steht gesperrt der Satz "Das ,Wesen' des Daseins liegt in seiner Existenz." Hier handelt es sich aber nicht um eine Entgegensetzung von existentia und essentia, wei! tiberhaupt noch nicht diese beide metaphysis chen Bestimmungen des Seins, geschwei-ge denn ihr Verhaltnis in Frage stehen." (S. 68). Zu seiner Interpretation dieser Stelle von 5uZ. in Auseinandersetzung mit der Unterscheidung von existentia und esselltia vgl. 55. 68-73 desselben Briefes.

    Wir haben gezeigt, wie der genannte 5atz weder tiber die existentia noch tiber die essentia handelt. Die hier versuchte Interpretation stimmt mit der zitierten Stelle des Humanismus-Briefes ferner darin tiberein, dass in diesem Pass us von SuZ. der Unter-schied von Was und Dass noch nicht in Frage steht. Er bildet jedoch den Hintergrund der ganzen Erorterung, in der der von Heidegger zitierte 5atz steht, und damit den des ganzen Werkes. Dass dieser Unterschied zu den Grundfragen des Heideggerschen Denkens von Anfang an gehort hat, kann man aus vie len Hinweisen entnehmen, z.B. den Ausfiihrungen in 40 von KPM. Dort zeigt Heidegger dass die Frage nach dem 5ein bei all ihrer Abstraktion eine "konkrete Problematik" entspringen lasst, insofern z.B. der Unterschied von Dass und Wass, den wir fiir selbstverstandlich halten, nur ergrtindet werden kann, wenn man nach dem 5ein fragt. Vgl. anch 41, 55. 204-5. Ferner: Einfiihrung in die Metaphysik, 5. 137 ff. und Nietzsche, z.B. Bd. 1. 5. 462 ff. Bd. 2, S. 13 ff., 5. 399 ff. Vgl. Kants These iiber das Sein.

    Inwiefern 5uZ. den Unterschied von Dass und Was zu einem Problem entfaltet, das mit der ontologischen Differenz innigst zusammenhangt, werden wir in dieser Arbeit zeigen.

    3 In spateren Schriften (vgl. schon WG. 5S. 37-38) hebt Heidegger die Zugehorig-

  • r6 SEIN UND ZEIT

    wir faktisch viele sind, scheint die Existenz etwas Eines zu sein, das einem jeden dieser Vielen angehort. Worin besteht diese Zu-gehorigkeit? Anscheinend ist die Existenz demnach etwas AU-gemeines, das bei Vielen ist. 1st das Verhaltnis von Allgemeinem und Einzelnem aber nicht bekannt genug, und seine Anfiihrung also etwas Uberfliissiges? Der Anzeige der J emeinigkeit folgt der Satz: "Dasein ist daher nie ontologisch zu fassen als Fall und Exemplar einer Gattung von Seiendem als vorhandenem." (S. 42). Wir sagen, dass ein Ding z.B. Kupfer ist und diese oder jene Ei-genschaften hat. Dem Einzelding geht es nicht urn das, was es je ist, geschweige denn urn sein Vorhandensein. Das Ding ist sein Was, indem es, an ihm selbst unaufgeschlossen, sich im Offenba-ren des Daseins als dieses Was zeigt. Erst im Dasein kann ein selbes Was, das bei vielen Dingen vorhanden ist, zur Einheit eines Allgemeinen (Gattung, Art) kommen. Dann ist das Ding im Hin-blick auf das Allgemeine als Einzelnes vorhanden. Indem das Ding dem Dasein einen Anblick bietet, "bildet" es das im Dasein offenbare Allgemeine "ab," ist ein Exemplar.

    Das Verhaltnis der Existenz zum seienden Selbst geht durch das Existieren selbst hindurch. Das Sein dieses Seienden, das Offenbaren, ist das Verhaltnis dieses Seienden zu seinem Sein als Geoffenbartem. Gerade dadurch, dass dieses Seiende existierend die Existenz offenbart, ist es diese Existenz. Denn "etwas zu

    keit des Seins als Existenz, ja des Seins tiberhaupt, zum existierenden Seienden im Sinne eines Bezugs zum seienden Selbst, von einer Absonderung des Seins auf das seiende Ich ausdriicklich abo Dieses ist das von Du und Er unterschiedene Einzelne. Vgl. auch Ein/. i.d. Metaphysik S. 22 und Nietzsche Bd. I, S. 275. Das ist auch, wie wir noch sehen werden, die Lehre von SuZ. In diesem Werk betrifft jedoch die Jemeinig-keit tiber den Bezug des Seins zum seienden Selbst hinaus den Bezug zu dies em Seien-den in seiner Vereinzelung, d.h. im Unterschied von den Anderen mit. Daher wird auf S. 42 auch gesagt: "Das Ansprechen von Dasein muss gemass dem Charakter der Jemeinigkeit dieses Seienden stets das Personalpronomen mitsagen: ,ich bin,' ,du bist'." Bevor wir auf das Wesen der daseinsmassigen Vereinzelung eingehen (vgl. unten S. 178 Anm.), sei hier als Beleg die Frage angefUhrt, die Heidegger in 47 erijr-tert, ob ein Dasein hinsichtlich seines Todes von einem Anderen vertreten werden kann. Ein Anderer kann fUr mich nur in seinen Tod gehen. "Keiner kann den Anderen sein Sterben abnehmen." "Das Sterben muss jedes Dasein jeweilig selbst auf sich nehmen. Der Tod ist, sofern er "ist", wesensmassig je der meine." Der Tod ist mein und keines Anderen, d.h. auf mich als Einzelnes abgesondert. Deshalb ist er "unbe-ztigliche" Miiglichkeit (S. 250). "Der Tod ,gehiirt' nicht indifferent nur dem eigenen Dasein zu, sondern er beansprucht dieses als einzelnes. Die im Vorlaufen verstandene Unbeziiglichkeit des Todes vereinzelt das Dasein auf es selbst." (S. 263). Diese Vereinzelung ist freilich nur "negativ." Sie geht nicht auf die ontischen Beztige des Einzelnen zu den Anderen, auf die Unterschiede des Ich vom Du ein. Diese Beztige "liisend" (S. 250) und die Anderen beiseite lassend, vereinsamt der Tod das Dasein auf seine Einzelheit.

  • DIE IDEE DER EXISTENZ 17

    sem bedeutet ftir solches Seiende, seinem Sein gemass: dieses Etwas als es selbst zu offenbaren. Dementsprechend ist dieses Sein wiederum ein solches Seiendes. Es gehOrt zu diesem Seienden, in-dem dieses seine Existenz, und zwar zunachst nicht als allgemei-nen Begriff, versteht. Eine allgemeine Aussage tiber dieses Sein und seine Jemeinigkeit geh6rt erst der Existenzialanalyse an.4

    Darin liegt die Aufgabe, zu zeigen, wie Sein und Seiendes in ihrem Unterschied dennoch das Selbe sein k6nnen, bzw. wie trotz dieser Selbigkeit von solchem Sein ein Seiendes unterschieden ist, das sich selbst als "ich selbst" anspricht. Weil dieses Seiende mit seinem Sein "identisch" ist und all sein "Was-sein," im und aus dem Existieren entspringend, primar solches Sein ist, wird dieses Seiende durch sein Sein, d.h. als Dasein, benannt (vgl. S. 12). Weil Dasein ebensowohl dieses Seiende als auch sein Sein bedeuten kann, und weil es in der Tendenz dieser Arbeit liegt, auf den Unterschied beider zu achten, bedienen wir uns oft der Ausdrticke "das Existierende," "das existierende Seiende." 5

    Das VerhaItnis des Existierenden zu seinem Sein ist kein star-res Verstehen. Das Existierende kann sein Sein, das es in seinem Sein a]s Eigentum empfangen hat, offenbarend in Besitz nehmen oder nicht, indem es sein Sein nicht wahrhaben will. Das genannte VerhaItnis hat den Charakter eines Freiseins fur dieses Sein, das dementsprechend "Moglichkeit" ist. "Das Seiende, dem es in seinem Sein urn dieses selbst geht, verhalt sich zu seinem Sein als seiner eigensten M6glichkeit." (a.a.O.). Der spater streng zu fassende Ausdruck "M6glichkeit" besagt hier demnach all das in diesem Existieren Verstandene, das das Existieren ebensogut of-

    4 Erst die Existenzialanalyse begreift die Existenz als eine daseinsmassig allgemeine Struktur, die zu all den Existierenden gehort. Existenz ist aber urspriinglich nicht dieses Allgemeine, sondern ein Sein, das jeweils ein vereinzeltes bzw. der Vereinzelung fahiges Seiendes ist. Dasselbe gilt von jeder anderen Seinsal t bzw. vom Sein iiber-haupt, insofern sie jeweils in einem Dasein offenbar sind. Sein ist, faktisch oder mog-licherweise, vereinzelt. Das besagt nicht, das Sein sei subjektiv oder je nach dem Ein-zelnen verschieden. Diese Vereinzelung betrifft das Phanomen des Zueinanders von Sein und Seiendem.

    5 Dass der Gebrauch beider Ausdriicke durch die Sprache von SuZ. gerechtfertigt ist, zeigen folgende Stellen: S. 13:" ... Seinsverfassung des Seienden, das existiert." S. 13: " ... Seinsmoglichkeit des je existierenden Daseins." S. 53: "Zum existierenden Dasein gehort ... " S. 146: "Existierend Seiendes .... " S. 299: " ... als welches das existierende Seiende da ist." S. 364: " ... das existierende Dasein .... " S. 365: " ... das faktische existierende Seiende ... " - Vgl. S. 46, warum der Gebrauch von Aus-driicken wie Mensch, Leben, Person, Geist, Subjekt, Seele, Bewusstsein usw. zu ver-meiden ist.

  • 18 SEIN UND ZEIT

    fenbaren und SO als es selbst sein, wie es es nicht-sein kann. Sein Sein ist dann (als das, was es von Hause aus primar in Besitz nehmen kann), unter seinen Moglichkeiten die eigenste. Wie der Ausdruck "es geht urn ... " schon andeutet, wird das Verhaltnis dieses Seienden zu seinem Sein im Umkreis jener Phanomene ge-sucht, die wie Konnen, "Wille," Freiheit, Moglichkeit und Um-willen zum Zentrum der neuzeitlichen Metaphysik gehoren.

    Wahrend die Moglichkeiten eines Dinges "an ihm" fUr das Da-sein vorhanden sind, ist das Dasein existierend sein Sein und das, was oben sein "Was" genannt wurde, d.h. seine Moglichkeiten. Auf Grund seines Existierens kann dieses Seiende sein Sein, das ihm in seinem Existieren als Moglichkeit bewahrt bleibt, d.h. sich selbst, in Eigentum nehmen, und dann ist es eigentlich. Oder es kann sein Sein nicht offenbaren. Damit zerreisst es aber nicht das Band, das es mit diesem Sein verbindet, sondern es ist dann als Privation dieses Seins, das ihm durch sein Existieren selbst gehOrt. Es ist uneigentlich." Die beiden Seinsmodi der E igentlich-keit und Uneigentlichkeit - diese Ausdriicke sind im strengen Wortsinne terminologisch gewahlt - griinden darin, dass Dasein iiberhaupt durch Jemeinigkeit bestimmt ist." (S. 43). Weil die Existenz mogliches Eigentum des Existierenden ist, kann das Existierende eigentlich bzw. un-eigentlich sein (vgl. auch S. 53).

    1m Existieren liegt das Verhaltnis des existierenden Seienden zu seinem Sein. In ihm ist demnach der ontologische Unterschied zwischen beiden zu suchen. Insofern das Vorhandene aber we-sensmassig von sich aus nicht zu einem Verhaltnis zu seinem Sein kommt, sondern nur durch das Existieren in dieses Verhaltnis eingeht, ist das Existieren der Ort, in dem der Unterschied jedes Seienden zu seinem Sein moglich ist. Da ein solches Verhaltnis das Existieren bzw. das Existierende betrifft, kann es nicht ein-fach dabei vorliegen, sondern es muss selbst offenbar sein, und zwar nirgendwo anders als im Existieren selbst. Das Existieren kann aber eigentlich oder uneigentlich sein. Versteht das Existierende sein Sein und nimmt es dieses in Besitz, dann muss es irgendwie als Seiendes so zum Vorschein kommen, dass der unterschied beider aufbricht. Uneigentlichkeit ist nicht einfach die Auflosung dieses Verhaltnisses. Der Uneigentliche existiert weiter und bleibt so auf sein Sein hinbezogen als auf das, wovor er flieht. Wenn dieses Seiende sein Sein und damit sich selbst als Existierendes

  • DIE IDEE DER EXISTENZ I9

    verbirgt, SO bleibt auch der Unterschied verborgen. Wenn das Existieren wiederum der Ort dieses Unterschiedes iiberhaupt ist, dann bezeichnen vermutlich "Eigentlichkeit" und "Uneigentlich-keit" zwei Modi der ontologischen Differenz uberhaupt. In der Uneigentlichkeit verschwindet der Unterschied namlich nicht, sondern er modifiziert sich.

    Weil Sein von Seiendem unterschieden ist, zu diesem Unter-schied aber gehort, dass das Sein das Seiende bestimmt und nur im Zusammenhang dieses Bestimmens gedacht werden kann, deshalb muss die Ontologie das Seiende zum Mitthema machen. Das ist in einer Analyse der Existenz urn so notwendiger, als dieses Sein, wie gesagt, in einem ausgezeichneten Sinne mit "sei-nem" Seienden zusammenhangt. Auf welchem Wege kann die Analyse dieses Seiende suchen und finden, ohne dass die Art des Zugangs es verdeckt? Was fUr ein Dasein solI dabei zum Mitthe-rna gemacht werden?

    Der Existenz gemass ist das Existierende, und zwar in der je-weiligen ontischen Bestimmtheit der einen oder der anderen Mog-lichkeit (z.B. als Kiinstler, als Politiker usw.), nur in seinem Exis-tieren zuganglich. "Das Dasein bestimmt sich als Seiendes je aus einer Moglichkeit, die es ist und in seinem Sein irgendwie ver-steht." (S. 43). Demnach muss die Analyse solches in seinem Existieren zugangliches Seiendes auf seine Existenz hin interpre-tieren, urn so zur Entfaltung dieses Seins selbst zu gelangen. Welches ontisch bestimmte Dasein solI dann der Analyse zugrun-de gelegt werden? "Das Dasein solI im Ausgang der Analyse ge-rade nicht in der Differenz eines bestimmten Existierens inter-pretiert, sondern in seinem indifferent en Zunachst und Zumeist aufgedeckt werden." Alltaglich sich zu den "Dingen" und den Anderen verhaltend, existiert jedes Dasein in den gleichen Mog-lichkeiten wie die Anderen, so dass sie sich nicht von einander unterscheiden. So sind sie zumeist und im Durchschnitt. "Aus dieser Seinsart heraus und in sie zuriick ist alles Existieren, wie es ist. Wir nennen diese alltagliche Indifferenz des Daseins Durchschnitblichkeit " (a.a.O.). Nicht nur das uneigentlich Exis-tierende ist alltaglich. AlWiglichkeit ist eine Struktur aUes Existie-rens, sie gelangt aber in der Uneigentlichkeit zur totalen Herrschaft. Wenn die Analyse das alltaglich Existierende zum Mitthema hat, dann gewinnt sie zugleich einen Einblick in die Uneigentlichkeit.

  • 20 DIE IDEE DER EXISTENZ

    Warum muss die Analyse yom alWiglieh Existierenden aus-gehen? Wenn die AllHigliehkeit die Uneigentliehkeit in sieh birgt, dann ist sie die Weise des Existierens, in der das Dasein vor sei-nem Sein flieht. Wei! aber alles Sein wesensmassig im Existieren offenbar ist, kommt es als Sein, und d.h. in seinem Untersehied zum Seienden, nur zum Vorsehein ,wenn sieh das ExisHerende in seiner Existenz versteht. Die Uneigentliehkeit bringt daher mit sieh eine spater zu bestimmende Mitverbergung jedes Seins. Von der Alltagliehkeit wird in KPM. (S. 2I2) gesagt: "Dabei bleibt der U nterschied von Sein und Seiendem als solcher verborgen." Eine Untersuehung, die naeh dem Sein in seinem Untersehied von Seiendem fragt und so gegen solche Vergessenheit kiimpfen muss, kann diese nur in ihrer Wurzel treffen, wenn sie die Alltagliehkeit, in der es so aussieht, als ob es nur Seiendes gabe, als ein privatives Verhiiltnis des Existierenden zu seinem Sein aufweist (vgl. KPM. S. 2II). Damit siehert sieh die Untersuehung gegen diese alltag-liehe Tendenz abo In dem, was existenziell eine Verbergung der Existenz bzw. jedes Seins als solchen ist, erbliekt die Existenzial-analyse jedoeh die Struktur der Existenz iiberhaupt, in der der Untersehied von Sein und Seiendem liegt.

  • 3. KAPITEL

    TRANSZENDENZ ALS IN-DER-WEL T-SEIN

    Der 9 von SuZ. legt die Existenzidee zugrunde, auf die hin aIle zu betrachtenden Phanomene des Daseins gesehen werden sollen. Damit sie aber zum Leitfaden der Untersuchung dienen kann, muss das Phanomen der Existenz konkreter in den Blick gefasst werden, als es in dieser formalen Anzeige geschah. Dazu gilt es, zweierlei zu beachten.

    I. "Dasein ist Seiendes, das sich in seinem Sein verstehend zu diesem Sein verMlt." (SS. 52-3). "Existenz"; d.h. Hinausstand zu ... , nennt ein Verstehen, in dem je ein Seiendes verstehend ist. Das Verstehen ist das Seinsverhaltnis solches Seienden zu diesem Sein selbst als Verstandenem. Darin liegt schon eine M annigfal-tigkeit, die wir folgenderweise unterscheiden: A. die verstandene Existenz selbst; B. das seiende Selbst, das existiert; C. dessen Sein als das genannte Verstehen. Diese Mannigfaltigkeit "ist" dabei in einer bestimmten Einheit, in der das Problem der onto-logischen Differenz liegt. Will man die Existenz konkreter fassen, dann muss man diese artikulierte Einheit ausdriicklich machen.

    2. Es gilt, zu sehen, dass das unter A. genannte Moment mehr als die Seinsart der Existenz umfasst. Faktisch versteht das Dasein die Seinsart des nicht-daseinsmassigen Seienden, d.h. das Vorhandensein (im weitesten Sinne). Beide Seinsarten stehen dabei vermutlich in irgendeinem Zusammenhang, nicht zuletzt deshalb, weil ihrem Verstandnis das Verstehen von Sein iiber-haupt zugrunde liegen muss. SolI die Existenz adaquat erfasst werden, dann miissen wir iiber ihren formalen Begriff hinaus zu der Erfassung dieses vollen Seinsverstandnisses iibergehen, als welches sie konkret ist.

    Was in der formalen Anzeige zu einer erst en Kennzeichnung gelangte, ist als Moment in dem konkreteren Phanomen einge-

  • 22 SEIN UND ZEIT

    schlossen, das sich uns jetzt enthiillt. Daher sagt Heidegger von der Existenz und J emeinigkeit, so wie sie in 9 gewonnen wur-den: "Diese Seinsbestimmungen des Daseins miissen nun aber a priori auf dem Grunde der Seinsverfassung gesehen und ver-standen werden, die wir das In-der-Welt-sein nennen." (S. 53). Warum das gemeinte konkretere Phanomen diesen Namen hat, ist zunachst nicht offensichtlich. Schon als W ortzusammenhang verweist dieser Titel jedoch auf Wesentliches. "Der zusammen-gesetzte Ausdruck ,In-der-Welt-sein' zeigt schon in seiner Pra-gung an, dass mit ihm ein einheitliches Phanomen gemeint ist. Dieser primare Befund muss im Ganzen gesehen werden. Die Unauflosbarkeit in zusammenstiickbare Bestande schliesst nicht eine Mehrfaltigkeit konstitutiver Strukturmomente dieser Ver-fassung aus." (a.a.O.). Wie wir unter Nr. 1. gesehen haben, ist das Phanomen des Seinsverstandnisses eine urspriingliche arti-kulierte Einheit. Deshalb wird dieses Phanomen eine Verfassung genannt. Verfassung ist immer die Einheit einer Konstellation von Momenten in einem Ganzen nach einer bestimmten Art, z.B. die korperliche Verfassung eines Menschen, die Verfassung eines Staates, usw.

    Grammatikalisch ist der Hauptbestandteil des "substantivier-ten" Ausdrucks "In-der-Welt-sein" dieses" ... sein," genauer das "In-sein." Das "in" ist nach der Grammatik eine Konjunktion, ein Wort, das einen Verkniipfungsbezug bedeutet. "In-sein" nennt das Seinsverhaltnis, das zunachst Existieren genannt wur-de. Urn jedes Missverstandnis dieses Ausdrucks, etwa im Sinne eines raumlichen Enthaltenseins, abzuwehren, erklart Heidegger ihn als ein Sichaufhalten bei ... , Vertrautsein mit der Welt, d.h. als ein "Verstehen." Das, wozu sich dieses Verstehen verhalt, die Welt, ist ein Seinszusammenhang von Existenz und Vorhanden-sein (im weitesten Sinne). "In-der-Welt-sein" bezeichnet dem-nach ein doppeltes Sein: das In-sein (Verstehen) und die Welt (Verstandenes). Schon in diesem Ausdruck bekundet sich aber das In-sein als das Tragende. Von der oben angefiihrten Mannig-faltigkeit bleibt das existierende Seiende in diesem Ausdruck zunachst unberiicksichtigt. Zum In-sein als Verhaltnis zur Welt gehort aber notwendig das Seiende, das sich darin verhalt.

    Warum wird aber die Einheit von Existenz und "Vorhanden-sein" gerade "Welt" genannt? Einen kurzen Einblick in die Ge-

  • TRANSZENDENZ ALS IN-DER-WELT-SEIN 23

    schichte des Weltbegriffes gibt Heidegger in der Schrift WG. (SS. 23-37). Die Darstellung hat innerhalb dieser Schrift die Funktion, den einheitlichen Gehalt dieses Begriffes im Wandel des Seinsver-standnisses herauszuarbeiten, urn dadurch zugleich zu erklaren, warum dieser Begriff fiir die Bestimmung des Seinsverstandnisses in Anspruch genommen werden muss. In der Absicht, das Welt-phanomen einleitend zu zeigen, heben wir einige Grundziige dieser "Geschichte" hervor.

    1m Zeitalter des friihen Griechentums wurde der Kosmos in einer urspriinglichen Weise gedacht. Kosmos ist I. ein Wie des Seins des Seienden (eine Ordnung und Zustand desselben), eher als das Seiende selbst. 2. Dieses Wie bestimmt die jeweilige Art, wie das Seiende ist und versammelt es zu einem Ganzen. 3. Dieses Wie im Ganzen ist in gewisser Weise vor dem Seienden. 4. Der Kosmos ist des Menschen und auf ihn relativ in dem Sinne, dass er jeweils bestimmt, wie sich das Seiende dem Menschen zeigt, bzw. welches die Haltung des Menschen zum Seienden ist (Vgl. WG. S. 24). Diese Grundziige kommen aber nicht innerhalb einer the-matischen Betrachtung zum Vorschein. Aus solchem Verstandnis bilden sich in der Folgezeit Bedeutungen von "Welt," die das ur-spriinglich gesehene Phanomen verdecken. Zum zentralen Welt-begriff der Metaphysik wird die Idee eines Ganzen des Seienden, und zwar des vorhandenen, im Wie seiner Einheit, d.h. die "Na-tur." Das ontologisch Relevante in dieser Wandlung des Welt-verstandnisses liegt darin, dass Welt als Seinsbezeichnung abge-drangt wird durch die "Welt" als Summe des Seienden. Sowohl das Ganzheitliche als auch das Wie der jeweiligen Einheit werden dabei zu seienden Eigenschaften der die "Welt" konstituierenden Dinge. Dass dieses Wie des Ganzen den Bezug des Menschen zum Seienden bestimmt, bleibt unerkannt. Obwohl dieser ontische "kosmologische" Weltbegriff, der sich bis in unsere Tage durch-halt, auch Kant bestimmt, so melden sich in seinem transzenden-talen (ontologischen) Begriff von Welt doch die Grundcharaktere dieses Phanomens wieder. Eine andere ontische Auffassung von Welt halt sich von der christlichen Offenbarung tiber Augustinus bis zu Kant durch, obwohl sie nur eine sekundare Rolle in der Philosophie gespielt hat: der personale oder existenzielle Weltbe-griff. Dabei ist es nicht das Ganze der Dinge, was zur Welt er-hoben wird, sondern die Gemeinschaft der Menschen, so wie diese

  • 24 SEIN UND ZEIT

    in einem Bezug zum Seienden im Ganzen stehen. Obgleich dabei etwas von dem urspriinglichen Weltphiinomen hindurchscheint, bleibt doch verdeckt, inwiefern dieser Bezug des Menschen zum Seienden und die Art, in der das Seiende begegnet ,auf der Welt selbst beruhen. Weil aber sogar bei so1chen ontischen Begriffen der Bezug des Daseins zum Seienden im Ganzen das Grundpro-blem bleibt, obwohl die ZugehOrigkeit der Welt zum Dasein "zuniichst nur unbestimmt verstanden wird" (S. 36), ist es gleich irrig, sich des Weltbegriffes zu bedienen, urn die Natur oder die Menschen zu bezeichnen (a.a.O.). "Vielmehr liegt das metaphy-sisch Wesentliche der mehr oder minder klar abgehobenen Be-deutung von x60"(J.oc;, mundus, Welt darin, dass sie auf die Aus-legung des menschlichen Daseins in seinem Bezug zum Seienden im Ganzen abzielt" (a.a.O.). Dieses Verhalten ist nur so m6glich, dass sich das Seiende als so1ches zeigt, was wiederum darauf beruht, dass das Existierende in seinem Sein so etwas wie "seiend" und "sein" versteht. Dieses verstandene Sein, das iiber den Bezug des Menschen zum Seienden, das er selbst ist, und zum Ding waltet, ist die Welt. Demnach umfasst sie eine bestimmte Einheit der beiden Seinsarten Existenz und "Vorhandensein." Wenn auch das In-sein im Verstehen von Welt schon Sein iiberhaupt ver-standen hat, beschriinkt sich die Analyse zuniichst auf diese Ein-heit der Seinsderivate, wiihrend die Frage nach dem Sein iiber-haupt fiir eine andere Ebene der Untersuchung aufgespart bleibt.

    Das In-der-Welt-sein ist je meines. Mag auch der Ausdruck "In-der-Welt-sein" primiir auf das Seinsverhiiltnis zum Sein gehen, so dass damit das Existierende zuniichst nicht gemeint ist, so ist dieser Ausdruck doch mit Riicksicht auf die drei Momente ge-dacht, die wir oben anfiihrten. "Der mit diesem Ausdruck ange-zeigte phiinomenale Befund gewiihrt in der Tat eine dreifache Hin-blicknahme." (S. 53), niimlich: I. Die Welt. 2. "Das Seiende, das jein der Weise des In-der-Welt-Seins ist." (a.a.O.), 3. Das In-sein. Die Ordnung, in der diese Momente angefiihrt werden, ist nicht zufiillig. Ihr entspricht der Gang des I. Abschnittes von SuZ. (Kap. 3., 4. und 5.) Die Analyse nimmt zum Leitfaden ihrer Ent-faltung die Strukturmannigfaltigkeit des In-der-Welt-seins.

    Geht die Untersuchung dem In-der-Welt-sein als der im In-sein griindenden Einheit des existierenden Seienden und der Welt nach, so dringt sie in den Ort vor, in dem sich das Zueinander von

  • TRANSZENDENZ ALS IN-DER-WELT-SEIN

    Sein und Seiendem abspielt. Ein weiteres Zeichen dafiir ist die Bestimmung des In-der-Welt-seins als Transzendenz. Ausdriick-lich bestimmt und behandelt die Schrift WG. dieses Phanomen als Transzendenz, wahrend SuZ., das standig diese Bestimmung im Blick hat, sie nur in der temporalen Analyse des In-der-Welt-seins zum Thema macht (vgl. 69, z.B. S. 364).

    1m Titel "In-der-Welt-sein" liegt das Problem der ontologi-schen Differenz.

  • 4. KAPITEL

    DER ROCKGANG IN DIE WELT

    UND DAS PROBLEM

    DER ONTOLOGISCHEN DIFFERENZ

    Nach der neuzeitlichen Auffassung, die bis in unsere Tage be-stimmend geblieben ist, ist ein Seiendes wahr, insofern es yom Menschen vorgestellt und in diesem Vorstellen als Seiendes ge-sichert wird. Das Vorstellen ist als SHitte der Wahrheit des Seienden das, was der Wahrheit und jedem Seienden als Vorge-stelltem zugrundeliegt, das Subjekt. Sofern das Vorstellen alles Vorgestellte auf das zuriickbezieht, was dadurch sHindig im vor-aus als das vorstellende Selbst mitvorgestellt wird, enthiillt das Vorstellen dieses Selbst als das eigentliche Subjekt. Mag man die Vorgestelltheit vor dem Ich fiir das Sein des Seienden oder bloss fiir einen Bezug eines sonst an sich Seienden zum SUbjekt erkla-ren, beide Male setzt man die Gewissheit als das Wesen der Wahr-heit voraus. Die Herrschaft der Subjekt-Objekt-Beziehung iiber die Bestimmung des Seins des Menschen in seinem Bezug zum sonstigen Seienden ist nicht nur eine Verdeckung des In-der-Welt-seins, sondern auch des Seins des sonstigen Seienden.

    Damit das jeweilige Ich Seiendes, das es nicht ist, als Objekt vorstellen, ja iiberhaupt sich zu ihm verhalten kann, muss dieses Seiende ihm schon begegnen. Die Objektivitat ist nicht die ur-spriingliche Weise der Wahrheit des nicht-daseinsmassigen Sei-enden. Uberdies ist das Objekt nicht einmal dieses Begegnende iiberhaupt, sondern nur das Seiende, das Thema des Erkennens ist.1 Auf der anderen Seite k6nnte das Ich sich selbst als Ich im Verhalten nicht mit vorstellen, wenn es sich selbst nicht schon urspriinglicher als Seiendes offenbar ware. Dieses existierende Seiende, das ich bin, darf ferner auf keinen Fall als Substanz oder

    1 Vgl. 68, B insbesondere S. 363. "Objektiv" bedeutet nach S. 419 das An-sich-Vorhandensein eines innerweltlichen Seienden.

  • DER RiicKGANG IN DIE WELT 27

    als Subjekt bestimmt werden, denn beides sind Seinsstrukturen von nicht-daseinsmassigem Seienden. 2 Das Vorstellen, genauer das Verhalten, ist dann weder die einzige noch die hochste Statte der Wahrheit. Es selbst beruht auf einer ursprtinglichen Offenbarkeit des Seienden als solchen, die ihrerseits nur moglich ist, weil ihr ein Seinsverstandnis zugrunde liegt. Beide - Offenbarkeit des Seien-den und Offenheit des Seins -, d.h. das In-der-Welt-sein, sind dann im Sinne der Subjekt-Objekt-Beziehung nicht zu begreifen. Dieses "Dritte," das alles Seiende fUr das Dasein zuganglich macht, ist freilich nicht etwas Schwebendes, sondern die Grund-verfassung des existierenden Seienden. Nicht deshalb ist aber das Verhaltnis dieses Seienden zum In-sein und zur Welt im Sinne des Zusammenhangs von Ichsubjekt und Vorstellen bzw. Vorge-stelltem zu begreifen. Das Verhaltnis des Seienden, das das jeweili-ge Dasein nicht ist, zum Existierenden, zum In-sein und zur Welt, ist auch nicht der Zusammenhang eines Objekts mit dem Ich-subjekt, bzw. mit seinem Vorstellen oder anderen Vorstellungen desselben. Die ontologische Differenz muss anders bestimmt werden.

    Weil zunachst die Existenz in ihrer Alltaglichkeit Thema wer-den solI, beginnt die Analyse des In-der-Welt-seins mit der Be-stimmung des Weltphanomens. Das erfordert vor allem, tiber den angemessenen Weg zur Welt zu entscheiden. Dies ist wiederum nur moglich, wenn das Ziel noch deutlicher erblickt wird, als es bishergeschah. Gesuchtwirddie Welt als das Woraufhin des Ver-stehens und nicht etwa die Welt im Sinne der Allheit der vorhan-denen Dinge (S. 54) oder des personalen Weltbegriffs, aber auch nicht Welt im Sinne einer Region innerweltlicher Seiender (S. 55). Das Ziel wird deutlicher, wenn mann versucht, zwischen Welt und Weltlichkeit zu unterscheiden. Dazu wollen wir das existenzielle Verstandnis yom existenzial-ontologischen abheben.

    Die Existenz birgt ein Verhaltnis des existierenden Seienden zu seinem Sein in sich. Weil es zum Unterschied beider gehort, dass dieses Seiende sein Sein ist und jedes ontische So-sein dieses Seienden primar dieses Sein ist, bzw. dass solches Sein je meines ist - deshalb ist das existenzielle Verstehen des je eigenen Seien-den und seines ontischen Soseins notwendigerweise primar Ver-standnis seines Seins. Aus der ausgezeichneten Zusammengeho-

    2 Vgl. SS. 46, 49, I14-I5, 64, insbesondere S. 320, sowie WG. S. I9.

  • 28 SEIN UND ZEIT

    rigkeit dieses Seienden und seines Seins ergibt sich die Selbigkeit von existenziell-ontischem und vorontologischem Verstehen. 3

    Wie ist die Existenz im Sinne des In-der-Welt-seins im exis-tenziellen Verstehen offenbar? 1. Dieses Verstehen macht nicht die Existenz zum Thema. Es sucht auch nicht, sie in der artiku-lierten Vielheit ihrer Strukturen auseinanderzulegen (vgl. S. 12). Obwohl das Existierende dabei Sein versteht, ist dieses Verstand-nis im Unterschied zu dem der Ontologie ein vortheoretisches. 2. Dem Existierenden geht es existenziell, in welcher Weise auch immer, primar urn sein eigenes vereinzeltes Existieren und nicht urn das Existieren iiberhaupt. Die Welt ist dabei immer je meine. Sich in diesem Verstandnis bewegend, redet man von der Welt dieses oder jenes Mitdaseins. 3. Die Welt, auf die das existenzielle Verstehen geht, ist das, "worin ein faktisches Dasein lebt" (S. 65). Als in diesem Verstehen faktisch erschlossene ist diese Welt eine seiende (a.a.O.). Das existenzielle Verstehen ist nicht nur ontisch, weil es auf das je eigene Seiende und dessen ontisches So-sein geht, sondern auch weil es das seiende Sein offenbar halt (vgl. unten S. 102 Anm.). 4. Die Welt ist dabei jeweils in einer oder anderer Besonderung, z.B. als eigene oder nachste (hausliche) Umwelt oder als 6ffentliche Wir-Welt (a.a.O.).

    Gegeniiber dem existenziellen Verstehen ist das existenzial-ontologische Verstandnis folgendermassen zu kennzeichnen: 1. Die Ontologie ist ein explizites theoretisches Fragen nach dem Sein (S. 12). So sucht sie, das Sein des Daseins in der Einheit seiner Mannigfaltigkeit zu analysieren. Sie strebt danach, das Sein auf Begriff zu bringen. 2. Das existenziale Verstehen muss, von jedem bestimmten einzelnen Existierenden absehend, z.B. die Welt uberhaupt begreifen. Das so Begriffene ist eine Struktur, die in allen Dasein, und zwar jeweils vereinzelt, liegt. 3. Diese jeweils vereinzelte Welt ist als faktisch erschlossene, ebenso wie das faktische Verstehen, ein ontisches Phanomen. Die Existenzial-ontologie muss den Strukturen zustreben, die Bedingung der M og-lichkeit bzw. Grund, d.h. Sein dieser ontisch-existenziellen Pha-nomene sind (vgl. SS. 87-88). 4. Ferner muss die Ontologie die

    3 Mag jedes existenzielle Verstehen demnach auch vorontologisch sein und umge-kehrt jedes vorontologische Verstehen existenziell, so ist dennoch innerhalb des Ver-standenen dieses Verstehens zwischen den ontisch-zufiilligen Moglichkeiten und der Strukturmannigfaltigkeit der Existenz, die das Wesen dieses Seienden ausmacht, zu unterscheiden.

  • DER RUCKGANG IN DIE WELT 29

    Welt im Allgemeinen durch Generalisierung aus den besonderen Welt-Art en gewinnen. Weil yom Mitdasein und von der offent-lichen Wir-Welt zunachst abgesehen werden solI, wird die Unter-suchung von der eigenen (nachsten) Umwelt (SS. 65, 66). z.B. der "Werkwelt des Handwerkers" (S. II7) ausgehen. Die existenzial-ontologische Struktur, die dank diesem vierfachen Vorgehen be-griffen wird, ist z.B. die Weltlichkeit der Welt. Sie ist das nachste Ziel der Untersuchung.4 Hat man dieses Ziel im Auge, dann ver-bietet es sich von selbst, die Weltlichkeit dadurch erreichen zu wollen, dass man das innerweltliche Seiende beschreibt. Aber auch die Bestimmung des Seins irgendeines solchen Seienden kann, wie die Ontologie in ihrer Geschichte zeigt, das Ziel verfehlen. Gewiss gehOrt zur Welt das Sein deS Innerweltlichen. Wird aber an diesem Seienden, das auf Grund des In-der-Welt-seins begeg-net, sein Sein bzw. seine Seiendheit hervorgehoben, ohne dabei zu ihnen als Weltstrukturen und zum In-der-Welt-sein zuriickzu-gehen, dann bleibt ein solches Unterfangen in einer regionalen Ontologie stecken, die iiberdies ihrem eigenen Grund gegeniiber blind ist. Sowohl eine Beschreibung des Innerweltlichen als auch ein solcher ontologischer Versuch setzen die Welt voraus, ohne sie aber als solche Voraussetzung zu erblicken.

    Der Weg zur Weltlichkeit wird auf S. 64 folgenderweise vor-gezeichnet: ",Welt' ist ontologisch keine Bestimmung des Seien-den, das wesenhaft das Dasein nicht ist, sondern ein Charakter des Daseins selbst. Das schliesst nicht aus, dass der Weg der Unter-suchung des Phanomens ,Welt' iiber das innerweltlich Seiende und sein Sein genommen werden muss." Das bedarf freilich einiger Erklarung.

    Wenn sich das Existierende alltaglich von seinem Sein abwen-det, dann verbirgt sich mit diesem jedes Sein als Sein bzw. jedes Seiende als Seiendes im Unterschied zum Sein. 1m Verhalten zum innerweltlichen Seienden aufgehend, scheint es dem Existieren-den, als ob es nur "Seiendes" gabe, namlich die "Dinge," zu denen

    4 Das Ontologische im priignanten Sinn ist nicht deshalb der Seinsbegriff, well Sein primiir das Allgemeine ist. In diesem Falle wiire das Ontische das Einzelne. Es gibt aber doch auch ontische Einzelheiten und Allgemeinheiten. Das Sein und die ontolo-gische Differel1z sind primiir so, wie sie im existenziellen Verstehen geschehen. Wenn der Seinsbegriff dagegen das Ontologische im engeren Sinne darstellt, dann deshalb wei! der Titel "Ontologie" von der Tradition her die thematische Erkenntnis des Seienden als solchen bedeutet. Vgl. WG. SS. I3-I4.

  • 30 SEIN UND ZEIT

    es sich selbst rechnet. Setzt die Ontologie auf diesem Boden an, so kann sie hochstens die Seiendheit dieser Dinge erblicken. Die Existenzialanalyse kann die irreleitende Kraft solcher Verdeckung in der Ontologie nur eindammen, wenn sie das alltagliche Sich-zeigen des Innerweltlichen in seine Grenzen verweist, und zwar so, dass diese Offenbarkeit als ein Fundiertes auf das In-der-Welt-sein zuriickgegriindet wird. Das geschieht, indem das Innerwelt-liche in seinem Sichzeigen zum A usgangspunkt des Riickgangs in die Welt gemacht wird.

    Ferner gibt es einen gangbaren Weg vom innerweltlichen Seienden zur Welt als Woraufhin des Verstehens. Dieses Ver-standene ist ein Zusammenhang von Existenz und "Vorhanden-sein." Zu dem im In-sein liegenden Verhaltnis des Seienden zu diesem Seinszusammenhang gehort, dass das Innerweltliche aus der Welt her offenbar wird und so unserem Verhalten begegnet. Enthalt dann nicht dieses Seiende in seinem Begegnen als Fun-diertes einen Bezug zum In-der-Welt-sein und zur Welt als seinem Grund? Das innerweltlich Begegnende ist hinsichtlich seines Sichzeigens vom In-der-Welt-sein ermoglicht. Dieses Sichzeigen ist aber kein Seiendes, sondern das Sein, d.h. die Entdecktheit dieses Seienden. Wird dieses Seiende vom Verhalten entdeckt, so ist es dabei in seiner Entdecktheit, die sich mit ihm zeigt. Daher die oft wiederkehrende Rede, dass sich dieses Seiende in seinem Sein zeigt.5 Innerweltlich Seiendes in seinem Sein - darin liegt ein be-sonderes Verhaltnis zwischen Sein und Seiendem, das zweifellos zum Phanomen der ontologischen Differenz gehort, ohne dass wir es selbst "eine" oder gar "die" Differenz nennen diirften. Dieses Verhaltnis ist ja nur etwas Fundiertes. Zwischen der zu diesem Verhaltnis gehorigen Entdecktheit und dem W oraufhin des Verstehens als ihrem Grund muss eine Gemassheit bestehen. Machen wir das innerweltlich Seiende in seinem Sein als das Weltgemasse zum Thema, dann konnen wir versuchen, bis zu jenem Punkt zuriickzugehen, wo dieses Verhaltnis von Sein und Seiendem gestiftet wird, indem Seiendes der Welt nach auf seine Entdecktheit hin freigegeben wird. Aus dem Weltgemassen ist

    5 Vgl. z.B. "Der je auf das Zeug zugeschnittene Umgang, darin es sich einzig genuin in seinem Sein zeigen kann ... " (5. 69). "Welt ist selbst nicht ein innerweltlich Seien-des und doch bestimmt sie dieses Seiende so sehr, dass es nur begegnen und entdecktes Seiendes in seinem Sein sich zeigen kann, sofern es Welt ,gibt'." (5. 72).

  • DER RUCKGANG IN DIE WELT 3 I

    der Gehalt des Weltmasses zu enthiillen. Mit dem genannten Freigeben wird das Phiinomen des urspriinglichen Zueinanders von Sein und Seiendem, obgleich in beschriinkter Weise, sichtbar. Unter den innerweltlichen Seienden k6nnten das bloss Lebendi-ge,6 die N atur im Sinne des in der Stimmung Umfangenden,7 das im Gebrauch Seiende, sowie das Naturding genannt werden. 8 Welches von ihnen soIl als das Weltgemiisse der gesuchte Aus-gangspunkt sein? Man m6chte glauben, dass das Erkennen von Dingen dieser Ausgangspunkt sein sol1te. Denn die Tradition hat jeden Zugang zum Seienden in Orientierung am Erkennen (Nur-noch-Hinsehen, Anschauen im weitesten Sinne, der Noein und Aisthesis umfasst) gedacht.

    Das Ding hat als das Seiende iiberhaupt gegolten. Sein SBin, die Vorhandenheit im engeren Sinne, galt unausdriicklich als das Sein iiberhaupt. Dieser Vorrang der Dinglichkeit im Denken von Seiendheit und Sein hiilt sich auch dann durch, wenn man z.B. das im Gebrauch Seiende als etwas Anderes als das Naturding anerkennt, urn es dann sofort als "wertbehaftetes Ding" zu be-stimmen.

    Das Ding begegnet innerhalb der Welt, aber nicht als Erstes. Zuniichst begegnet das im Gebrauch Seiende, aber nicht etwa "zeitlich" vor dem Ding, sondern so, dass dieses "allererst im Durchgang" durch das Gebrauchte entdeckt werden kann (S. 95). Den Charakter dieser Modifikation des Gebrauchens einzusehen, ist entscheidend fUr die Frage, ob das Gebrauchte eine fundierte Seinsart des Dinges ist. In dieser Modifikation verliert das Inner-weltliche die Struktur eines Gebrauchten, urn "nur noch in sei-nem puren Aussehen" zu begegnen (S. 6r). Dieser Verlust beruht auf einer Modifikation des Begegnens selbst. Das Erkennen ent-springt durch eine Defizienz des Gebrauchens, das auf das "N ur noch Verweilen bei ... " (a.a.O.) reduziert bleibt. Diese Modifi-kation ist eine Privation der Entdecktheit des Gebrauchten, die freilich eine eigene Verfassung hat. Wenn das so ist, dann ist die Entdecktheit des im Gebrauch Seienden die urspriinglich positive Innerweltlichkeit, d.h. Weltmiissigkeit, wiihrend das Vorhanden-sein nur ein Grenzphiinomen der Innerweltlichkeit ausmacht

    6 Vgl. s. 50. 7 Vgl. ss. 65, 70, 2II sowie WG. S. 36 Anm. 8 Yom Vorhandenen im Sinne des Naturdinges ist das mathematisch Seiende zu

    unterscheiden, dessen Dinglichkeit eine andere ist. Vgl. S. 153: Bestand.

  • 32 SEIN UND ZEIT

    (vgl. S. 65). Das Erkennen ist eine bestimmte Entweltlichung der Welt (a.a.O.). Das Gebrauchte in seinem Gebrauchen muss dem-nach den Ausgangspunkt des Riickgangs in die Welt bilden.

    A. Das Sein des Zuhandenen und seine Seiendheit

    Der genannte Riickgang geht von Begegnen des im Gebrauch Seienden aus, freilich nicht urn dieses Seiende ontisch zu bestim-men, sondern urn sein Sein, das sich dabei mit zeigt, zu erblicken. Demnach muss dieses Seiende in seinem Sich-zeigen zum Vorthe-rna gemacht werden. Urn zu verhiiten, dass es durch Dingbe-zeichnungen wieder in die Verdeckung geriit, wird flir es der Name "Zeug" gewiihlt, der in der Umgangssprache schon dieses Seiende nennt und ausserdem den Vorteil hat, philosophisch un-belastet zu sein. "Zeug" bedeutet Stoff, Ausriistung, Geriit, Auf-wand, usw. d.h. das, womit man etwas hervorbringen und ver-fertigen kann.

    Die Bestimmung des Seins von Zeug wird mit folgenden Wor-ten eingeleitet: "Die Seinsart von Zeug ist herauszustellen. Das geschieht am Leitfaden der vorherigen Umgrenzung dessen, was ein Zeug zu Zeug macht, die Zeughaftigkeit" (S. 68). Die Be-stimmung dieser Seinsart erfolgt demnach in zwei Schritten. Zuerst wird die Zeughaftigkeit erortert, deren Kliirung als Weg zur eigentlichen Bestimmung der Seinsart dient. Die Zeughaftig-keit unterscheidet sich demnach von der Seinsart, und zwar so, dass beide in einem Zusammenhang stehen. "Zeughaftig" wiire das Seiende, an dem der Charakter eines Zeugs "haftet," so dass es ein Zeug ist. "Zeughaftig-keit" (-sein) nennt dieses "Haften," das Zeugsein des Zeugs. Zeug ist eine Art von Seiendem. Das Zeugsein ist demnach nicht die im F olgenden zu bestimmende Seinsart (Entdecktheit) dieses Seienden, sondern die spezifische Seiend-heit des derart Seienden. Die Seiendheit ist wiederum als Seinscharakter vom Einzelseienden unterschieden. Erst aus der Kliirung des Zusammenhangs von Zeughaftigkeit und der Seins-art des Zeugs kann der Gang der Analyse begriffen werden. 9

    9 Wie sich zeigen wird, ist die rechte Bestimmung dessen, was im Denken von SuZ. unter "Seiendheit" verstanden wird, fiir die Erorterung des Problems der Dif-ferenz von nicht geringer Bedeutung. Manche Ausleger identifizieren die Seiendheit mit der Offenbarkeit des Seienden, z.B. der Entdeckheit. Dass diese Interpretation verfehlt ist, geht aus Folgendem hervor. 1. Die Offenbarkeit des Seienden, z.B. die

  • DER RUCKGANG IN DIE WELT 33

    Es gilt also, die Zeughaftigkeit am Zeug zu erfassen. "Zeug ist wesenhaft, ,etwas, urn zu ... '" (a.a.O.). Ein Ftillhalter z.B. ist zum Schreiben da. Das Zeug und sein W ozu sind also zwei, zwischen denen ein "Bezug" hinzieht. Bestimmen wir aber das Um-zu als "Bezug," dann sagen wir gar nichts tiber seinen Sach-

    Entdecktheit des Zeugs, ist in SuZ. nie als Seiendheit bezeichnet. Dieser Titel kommt ja in SuZ. nicht einmal vor. Die genannte Entdecktheit ist aber das, was der 15 die Zuhandenheit nennt. Von dieser als der Seinsart von Zeug unterscheidet Heidegger die Zeughaftigkeit. Dass schon der Name "Zeughaftigkeit" die Seiendheit des Zeugs andeutet, haben wir soeben gezeigt. 2. Gerade weil SuZ. das Wort "Seiendheit" nir-gends gebraucht, ist es geboten, sich an den Text zu halten, wo das entsprechende Phanomen zum T