Trenton Lee Stewart : Die geheime Benedict-Gesellschaft und ihre Reise ins Abenteuer

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Die geheime Benedict-Gesellschaft und ihre Reise ins Abenteuer

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Fast ein Jahr ist es schon her, dass Reynie, Kleber, Kate und Constance von ihrem väterlichen Freund Mr Benedict ausgewählt wurden, um dem skrupellosen Mr Curtain das Handwerk zu legen. Jetzt führen die Kinder wieder jedes bei seiner Familie ein geregeltes Leben — und langweilen sich, ehrlich gesagt, ziemlich. Da kommt die Einladung von Mr Benedict, gemeinsam ihren »Jahrestag« mit einer großen Überraschung bei ihm in Stonetown zu feiern, gerade recht.

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Die geheime Benedict-Gesellschaftund ihre Reise ins Abenteuer

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Deutsch von Werner Löcher-Lawrence

BLOOMSBURYKinderbücher und Jugendbücher

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Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel The Mysterious

Benedict Society and the Perilous Journey bei Little, Brown, New York |

Copyright (Text) © 2008 Trenton Lee Stewart | Copyright (Illustra-

tionen) © 2008 Diana Sudyka | Für die deutsche Ausgabe © 2009 Berlin

Verlag GmbH, Berlin | Bloomsbury Kinderbücher & Jugendbücher,

Berlin | Alle Rechte vorbehalten | Umschlaggestaltung: Rothfos &

Gabler unter Verwendung einer Illustration von Diana Sudyka | Typo-

graphie und Gestaltung: Renate Stefan, Berlin | Gesetzt aus der Stem-

pel Garamond durch psb, Berlin | Druck und Bindung: CPI-Ebner &

Spiegel, Ulm | Printed in Germany 2009 | ISBN 978-3-8270-5345-9 |

www.berlinverlage.de

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INHALT

Zitronensaftbriefe und schwere Enttäuschungen 9Die ungesehene Warnung 28

Hinter dem Glas oder Fenster statt Spiegel 46Die Gesellschaft tritt wieder zusammen 61

Die Reise beginnt 77Halbwahrheiten und Täuschungen 95

Ochsenfrösche, Piraten und technische Schwierigkeiten 111Die Bedeutung des Wetters 137

Richtungen, Erinnerungen und ausstehende Schulden 157

Die alte Hexe, das verdächtige Geschenk und das Dilemma bei der Burg 170

Peinliche Austausche und schlaue Verkleidungen 191Versprechungen und Gnadenfristen 210

Die Dämmerwurz-Papiere 226Der Anruf, das Geld und

der schicksalhafte Umschlag 249Endlich eingeholt 269

Der Bootshaus-Gefangene 287Folgt dem Wind 307

Dämmerung vor Sonnenuntergang 322Wachposten auf dem Silo 342Angenehme Träume und andere

falsche Tröstungen 353Die Büchse der Pandora oder Woran man

nicht rühren sollte 369Die Pattsituation im Schutzraum 391Die Höhle am Gipfel des Berges 405Alte Freunde und neue Feinde 428

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Was in der Finsternis leuchtet 456Entschuldigungen, Erklärungen und höchst erfreuliche

Anmerkungen 474

Dank 493

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Zitronensaftbriefe und schwere Enttäuschungen

Eines strahlenden Septembermorgens, als sich die meisten Kinder in seinem Alter mit Brüchen und Dezimalstellen herumquälten, wanderte ein Junge namens Reynie Mul-doon einen staubigen Weg entlang. Er war ein normal aus-sehender Junge mit normal braunen Haaren und Augen, normal langen Beinen, einer Nase, die normal weit von den Ohren entfernt war, und so weiter. Und er war völlig allein. Bis auf einen Falken hoch über ihm und ein paar Wiesen-lerchen, die sich in den Feldern versteckten, war Reynie die einzige lebende Kreatur weit und breit.

Ein Beobachter hätte leicht denken können, Reynie hätte sich verirrt, fernab von zu Hause, und tatsächlich hätte er damit halb recht gehabt. Wenigstens fand Reynie den Ge-

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danken amüsant, hatte er doch gerade entschieden, dass seine gesamte Situation in Hälften beschrieben werden konnte: Er war eine halbe Tagesfahrt mit dem Auto von Stonetown entfernt, wo er wohnte, eine halbe Meile von der nächsten kleineren Stadt, und schenkte er dem Mann Glauben, der ihm den Weg erklärt hatte, war es noch eine halbe Meile bis zu seinem Ziel. Das Wichtigste war jedoch, dass es ein halbes Jahr her war, seit er seine drei engsten Freunde zuletzt gesehen hatte.

Reynie blinzelte in die Sonne. Nicht weit vor ihm führte der Weg einen steilen Hügel hinauf, genau wie es ihm der Mann in der kleinen Stadt beschrieben hatte. Hinter dem Hügel sollte er die Farm finden, die Farm und Kate Wether-all.

Reynie beschleunigte seine Schritte und wirbelte kleine Staubwolken auf. Dass er so bald schon Kate wiedersehen würde! Und Kleber Washington sollte bis zum Abend eben-falls da sein! Und morgen würden sie alle zusammen nach Stonetown fahren, um … nun, um Constance Contraire zu treffen, und auch darauf freute er sich. Selbst der Gedanke, dass sie ihn sicher wieder mit ihren Reimen verulken würde, machte ihn glücklich. Constance mochte ein unverschämtes kleines, unfertiges Genie sein, das änderte jedoch nichts da-ran, dass sie zu den wenigen echten Freunden gehörte, auf die er uneingeschränkt zählen konnte. Constance, Kate und Kleber waren wie eine Familie für ihn. Da machte es nichts, dass er sie erst vor einem Jahr kennengelernt hatte. Schließ-lich waren sie unter den außergewöhnlichsten Umständen Freunde geworden.

Reynie begann zu rennen.Ein paar Minuten später stand er oben auf dem Hügel,

vorgebeugt, die Hände auf die Knie gestützt, und japste wie

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ein kleiner Hund. Seine Begeisterung brachte ihn völlig außer Atem. Reynie musste lachen. Er war nicht wie Kate, die wahrscheinlich den ganzen Weg aus der Stadt hätte her-rennen können (womöglich sogar auf den Händen), ohne auch nur ins Schwitzen zu geraten. Reynies Talente lagen nicht gerade im sportlichen Bereich, auch da war er eher »normal«. Immer noch nach Luft schnappend, wischte er sich den Schweiß von der Stirn und sah auf die Farm vor sich hinunter.

Das war also Kates Zuhause: ein bescheidenes Farmhaus mit Scheune, beides frisch gestrichen, und auf dem Hof stand ein alter Laster. Dazu gab es einen kleinen weißen Hühner-stall, einen Pferch mit Schafen und Ziegen und dahinter sanft sich wellendes Weideland. Gegenüber vom Haus, auf der ande ren Seite des Wegs, lag ein Obstgarten, und einige der Bäume hingen voll mit dicken roten Äpfeln, an den anderen war kaum etwas zu erkennen. Die Farm erfordere noch eine Menge Arbeit, hatte Kate in einem ihrer Briefe geschrieben, was auch schon fast alles gewesen war, was sie zu sagen hatte. Ihre Briefe sprühten vor Lebens freude, gerieten ihr aber eher kurz, und die Lebensfreude war Reynie manchmal etwas viel, ließ sie ihn doch mit dem Gefühl zurück, dass er der Einzige war, der seine Freunde vermisste.

Als Reynie gerade weitergehen wollte, schallte eine Klin-gel von der Farm zu ihm herauf. Hoffnungsvoll ließ er den Blick hin und her schweifen, vielleicht tauchte Kate ja irgendwo auf, aber er sah nur, wie die Schafe und Ziegen aus ihrem Pferch drängten, den jemand offen gelassen ha-ben musste, damit sie auf die Weide hinauskonnten. Reynie sah zu ihnen hinunter und stutzte überrascht. Er hätte schwören können, dass die letzte Ziege, die den Pferch ver-ließ, sich kurz umdrehte und das Gatter zudrückte.

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Reynie zog die Stirn kraus. Die gewissenhafte Ziege war nicht die erste Merkwürdigkeit an diesem Morgen. Sie brachte ihn auf etwas anderes, dem er in seiner Vorfreude noch nicht die notwendige Beachtung geschenkt hatte. Rey-nie legte die Hand über die Augen und suchte den Himmel ab. Da, gar nicht so hoch, kreiste der Falke, der ihm schon vor einiger Zeit aufgefallen war. Reynie konnte die Färbung des Kopfes erkennen, die den Eindruck eines schwarzen Haarschopfes und langer schwarzer Koteletten erweckte, und obwohl er fand, dass er sich mit Vögeln nicht allzu gut auskannte (wenn er auch mehr über sie wusste als die meis-ten Leute), war er sicher, dass es sich um einen Wander-falken handelte, und Wanderfalken waren in dieser Gegend um diese Jahreszeit eine absolute Seltenheit.

Reynie lief mit einem neugierigen Grinsen auf dem Ge-sicht zur Farm hinunter. Hier ging etwas Komisches vor, und er konnte es kaum abwarten herauszufinden, was es war.

Die Scheune lag näher als das Haus, und so steckte Rey-nie den Kopf durch das offene Tor, um zu sehen, ob Kate vielleicht da drinnen war. Es dauerte einen Augenblick, bis sich seine Augen nach dem strahlenden Sonnenlicht drau-ßen an die vergleichsweise Düsternis der Scheune gewöhnt hatten, aber der Anblick, der sich ihm dann bot, hätte schö-ner nicht sein können.

Da war der bekannte blonde Zopf und da waren die breiten Schultern, dazu der feuerwehrrote Eimer. Das war Kate, ohne jeden Zweifel. Sie stand mit dem Rücken zu ihm, hatte die Hände in die Hüften gestützt und sah zur gegenüberliegenden Wand hinüber. Reynie überlegte, ob er zu ihr hinschleichen und sie überraschen sollte, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Das war bei Kate keine gute

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Idee, und er wollte sie auch nicht stören. Ganz still stand sie da und schien sich auf etwas zu konzentrieren. Reynie, der an und vor der Scheunenwand nichts erkennen konnte, nahm an, dass sie in Gedanken verloren war. Vielleicht grü-belte sie über ein nützliches Werkzeug nach, das sie in ihrem Eimer mit sich herumtragen konnte, um es immer dabei-zuhaben.

Plötzlich krümmte sich Kate und fing an zu husten und zu prusten. Und dann produzierte sie wirklich schreckliche Würgegeräusche. Erstickte sie? Reynie wollte schon zu ihr laufen, um ihr zu helfen, als Kate enttäuscht »Mist!« rief und mit dem Fuß auf den Boden stampfte. »Immer das Glei-che!«, stöhnte sie, drehte sich um und sah Reynie im Scheu-nentor stehen.

»Ich habe keine Ahnung, was das gerade sollte«, sagte Reynie, »glaube aber, dass ich’s komisch finden werde.«

»Reynie!«Kate stürzte zu ihm hin, und ihre leuchtend blauen Augen

strahlten vor Freude. Reynie breitete die Arme aus – und bereute es im nächsten Augenblick schon. Kates Begrüßung fiel so stürmisch aus, dass sie eher einer Footballattacke glich als einer Umarmung. Gemeinsam landeten sie auf dem Boden, und Reynie blieb erst mal die Luft weg.

»Bist du gerade gekommen?«, fragte Kate aufgeregt und hob sich auf die Knie. »Wo sind Miss Perumal und ihre Mutter? Und warum hast du so lange gebraucht? Ihr solltet gestern schon hier sein! Ich habe extra noch mal im Brief nachgesehen!«

Reynie, der noch unter dem Schock der unsanften Lan-dung auf Kates Scheunenboden litt und nach Luft schnapp-te, bemühte sich um ein Lächeln, um irgendetwas, das ihn anders aussehen ließ als einen gestrandeten Fisch, aber er

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schaffte es gerade mal, die Lippen zu bewegen. Ein Ge-räusch kam dabei nicht heraus.

»Mann, Reynie, du bist ja ganz sprachlos!«, sagte Kate lachend, zog ihn auf die Beine und begann ihm so heftig wie schmerzhaft den Schmutz von den Kleidern zu schla-gen. »Ich bin auch ganz aus dem Häuschen, und das nicht nur wegen Mr Benedicts großer Überraschung. Es ist so toll, euch Jungs wiederzusehen! Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie enttäuscht ich war, als du gestern Abend im-mer noch nicht aufgetaucht warst.«

Reynie kam langsam wieder zu Atem und wich vor Kates Schlägen zurück. »Da bist du nicht die Einzige. Unser Auto wollte plötzlich nicht mehr, und wir mussten uns in die nächste Ortschaft schleppen lassen. Die Nacht haben wir im Motel verbracht.«

»Im Motel in der Stadt?«, rief Kate. »Wenn ich das nur gewusst hätte! Dann hätten wir euch mit dem Laster ge-holt.«

»Tut mir leid, ich hätte ja angerufen, aber du hast kein Telefon.«

Kate stöhnte. »Milligan und seine Regeln! Du weißt, ich liebe ihn, aber ernsthaft, ein paar von den Dingen, auf denen er besteht …«

»Jedenfalls«, sagte Reynie und konnte endlich auch wie-der lachen, »wollte ich nicht warten, bis das Auto repariert war, und so habe ich Amma gefragt, ob ich vorausgehen darf.« Amma – so nannte Reynie Miss Perumal, seine ehe-malige Tutorin, die ihn gerade adoptiert hatte. »Der Auto-mechaniker hat mir den Weg erklärt, und hier bin ich. Amma und Pati kommen nach, sobald der Wagen wieder funktio-niert.«

Kate griff nach Reynies Arm und schien plötzlich ganz

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besorgt (was für Kate eher ungewöhnlich war, gehörte sie doch nicht zu den Grüblern dieser Welt). »Ist das Auto auch groß genug, dass wir zu dritt hineinpassen? Ich meine, zusammen mit Miss Perumal und ihrer Mutter und mit allem Gepäck? Klebers Eltern kommen auch, weißt du, aber deren Auto ist winzig. Ich will mir nicht vorstellen, dass einer von uns sechs Stunden lang getrennt von den an-deren beiden in einem zweiten Auto sitzen muss, nicht nach den sechs Monaten, die wir uns nicht gesehen haben!«

»Wir haben einen großen Van geliehen, da ist jede Menge Platz, aber sag mal«, Reynie hob die Hand, damit Kate ihn einen Moment zu Wort kommen ließ, »bevor wir über alles Mögliche andere reden: Kannst du mir verraten, was du da gerade gemacht hast? Das letzte Mal habe ich so ein Ge-räusch gehört, als die Katze im Waisenhaus einen Kloß alte Haare rausgespuckt hat.«

»Ach das«, sagte Kate mit einem Schulterzucken. »Ich trainiere gerade, Dinge aus dem Magen hochzuwürgen. Das ist weit schwerer, als du denkst.« Als sie Reynies er-schrockenen Gesichtsausdruck sah, erklärte sie schnell: »Ist ein alter Entfesselungskünstler-Trick, Houdini und die gan-zen Leute, die konnten es. Die haben einen Dietrich oder so verschluckt und ihn dann später wieder hochgewürgt. Am besten trainierst du es mit einer Schnur, an der das hängt, was du wieder rauswürgen willst, damit du nach-helfen kannst. Das habe ich zuerst auch gemacht, aber dann dachte ich, es müsste auch so gehen. Bisher klappt’s aller-dings noch nicht.«

»Da hatte ich also recht«, sagte Reynie. »Es ist was Ko-misches. Aber ist das nicht gefährlich?«

Kate schob die Lippen vor und dachte nach. Offenbar war ihr der Gedanke noch nicht gekommen. Sie war nicht

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der Typ, der lange über Gefahren nachdachte. »Ich nehme an, es ist nicht das Sicherste auf der Welt«, gab sie zu, um gleich mit ernstem Blick hinzuzufügen: »Am besten pro-bierst du es nicht auch gleich.«

Reynie lachte (nichts hätte ihn dazu bringen können, so etwas selbst zu versuchen) und setzte dann eine ebenso ernste Miene auf und sagte: »Okay, Kate, ich verspreche, niemals … Aber sag mal, was hast du denn überhaupt hinun-tergeschluckt?«

Kate verdrehte die Augen und tat seine Frage mit einer Handbewegung ab. »Darüber will ich nicht reden.«

»Und was wird jetzt damit?«, setzte Reynie noch einmal nach und wirkte dabei schon wieder ganz besorgt. »Ich meine, wenn du es nicht herauswürgen …«

»Ich will nicht darüber reden«, sagte Kate mit fester Stimme.

Es gab auch genug anderes, was sie zu bereden hatten. Kate wollte Reynie nicht nur die Farm zeigen, sie wollte auch unbedingt wissen, was er von der großen Überraschung hielt, die Mr Benedict für sie plante. Es war genau ein Jahr her, dass Mr Benedict die vier für eine dringliche Mission angeworben hatte, die nur von ganz besonderen Kindern erfüllt werden konnte, und jetzt, für den Jahrestag ihres ersten Zusammentreffens, hatte er ein Wiedersehen in sei-nem Haus in Stonetown organisiert. In seinem Brief hatte gestanden: »Dabei wird es eine Überraschung geben, die euch, wie ich hoffe, allen gefallen wird, eine Überraschung, die meiner Dankbarkeit zwar nur unzureichend Ausdruck verleiht, gar nicht zu reden von meiner großen, ewigen Zu-

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neigung zu euch, die mir aber dennoch als geeignet er-scheint …« Und so war es noch über viele Zeilen weiter-gegangen, in denen er ausführte, wie sehr er die einzigartigen Fähigkeiten der Kinder bewunderte, und dass er es kaum abwarten könne, sie alle wiederzusehen. Kate hatte den Brief erfreut überflogen und weggelegt, Reynie dagegen hatte ihn mehrmals gelesen und auswendig gelernt.

»Du hast den Brief auswendig gelernt?«, staunte Kate, während sie ihn die Leiter hinauf auf den Heuboden führte. »Willst du Kleber etwa Konkurrenz machen?«

»Bei Kleber geht das automatisch«, sagte Reynie, und damit hatte er absolut recht, aber er sagte es nur, um von sich selbst abzulenken. Tatsache war, dass er während der letzten sechs Monate jeden einzelnen Brief auswendig ge-lernt hatte, nicht nur die von Mr Benedict, sondern auch die kurzen, fröhlichen Mitteilungen von Kate, die etwas langweiligen, aber gewissenhaft bis in alle Einzelheiten gehen den Berichte Klebers und sogar die schrägen Gedichte von Constance, die ihm komische Knöpfe, Wollmäuse und alle möglichen Zettel mit in die Briefe legte, auf die sie beim Briefmarkensuchen stieß. Reynie kam sich reichlich dumm dabei vor, wie sehr er sich an die Worte der anderen klam-merte, von denen nie einer geschrieben hatte, dass er ihn vermisste.

»Wo wir gerade von Kleber reden«, sagte Kate und hievte Reynie durch die Bodenklappe hoch auf den Heuboden, »hast du in letzter Zeit viel von ihm gehört? Er deutete an, dass ihr euch mehr schreibt als er und ich und dass du dir tatsächlich die Mühe machst, seine Fragen zu beantworten, im Unterschied zu anderen Freunden, die er hat. Ich glaube nicht, dass er meine Situation richtig versteht. Das hier ist übrigens der Heuboden.«

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Reynie sah sich um. Der Heuboden sah aus, wie ein Heuboden nun mal aussah, wenn Reynie auch zugeben musste, dass er bisher nur welche auf Bildern und in Filmen gesehen hatte. Aber Kate war irrsinnig stolz auf ihn, und so nickte er anerkennend, bevor er sagte: »Was versteht Kleber nicht? An deiner Situation, meine ich.«

»Nun, zum einen«, antwortete Kate und öffnete die Tür des Heubodens, die auf den Pferch hinausging, »habe ich fürchterlich viel zu tun gehabt, mit der Schule und damit, gleichzeitig die Farm wieder in Schwung zu bringen. Milli-gan ist oft unterwegs, weißt du, und dann muss ich ran.«

Reynie wusste Bescheid. Milligan war nicht nur Kates Vater, sondern auch Geheimagent, was sich beides erst kürzlich herausgestellt hatte. Nicht mal Kate hatte es ge-ahnt. Sie war noch zu klein gewesen, als Milligan bei einem Auftrag gefasst wurde, sein Gedächtnis verlor und nicht wieder zurückkam. Und da Kate keine Mutter mehr hatte, musste sie ins Waisenhaus. Alle dachten, ihr Vater wollte sie nicht mehr und hätte sich aus dem Staub gemacht. Kate ging schließlich zum Zirkus. Milligan gelang die Flucht, er lernte Mr Benedict kennen und arbeitete fortan für ihn, und so trafen die beiden am Ende wieder zusammen. Vor genau einem Jahr hatten sie sich zum ersten Mal wiedergesehen, es dauerte aber noch etwas, bevor Kate und Milligan die Wahrheit herausfanden.

»Die Farm war über die Jahre übel verwahrlost«, sagte Kate. »Da gab es genug Arbeit, um mich rund um die Uhr beschäftigt zu halten. Natürlich stört mich das nicht, aller-dings finde ich es echt schwierig, lange genug stillzusitzen, um einen guten Brief zu schreiben. Das sollte Kleber doch wissen, oder?«

»Wahrscheinlich schon«, gab Reynie zu. Er trat mit an

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die Tür, wo Kate etwas aus ihrem Eimer holte, der neuer-dings einen Klappdeckel hatte, wie Reynie bemerkte. Sie steckte sich das Etwas zwischen die Lippen, es war eine Art Pfeife, und griff gleich noch einmal in den Eimer.

»Aber das wirkliche Problem mit meinen Briefen«, fuhr Kate fort, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen, und streifte sich dabei einen dicken Lederhandschuh über die Hand, »das wirkliche Problem ist, dass die Regierung meine gesamte Post liest. Schließlich bin ich die Tochter eines ihrer Topagenten. Sie müssen sicher sein, dass ich keine Geheim-nisse verrate. Ich meine, es ist schon blöd genug, dass alles über unsere erfolgreiche Mission unter der Decke gehalten wird, eigentlich sollten wir berühmt sein, aber dass ich mei-nen besten Freunden nicht mal private Briefe schicken kann? Das schreit doch wohl zum Himmel!«

Wie um ihre Entrüstung zu demonstrieren, blähte Kate die Wangen auf und blies kraftvoll in ihre Pfeife, die ein helles Quieken von sich gab, wie ein überschriller Wasser-kessel.

»Ist die für das, was ich denke?«, fragte Reynie.»Bestimmt«, sagte Kate, »schließlich hast du fast immer

recht. Aber ehrlich jetzt, meinst du nicht, es ist unfair, wenn Kleber mir vorwirft, ich würde zu wenig schreiben?«

Reynie beschloss, mit der Wahrheit rauszurücken. »Ich muss zugeben, dass es mir ähnlich wie Kleber gegangen ist, aber nicht nur wegen deiner Briefe. Auch wegen seiner und Constances. Niemand hat je ein Wort darüber verloren, dass er … wie sehr … Nun, ich dachte schon, dass ich viel-leicht der Einzige bin, der euch … also …«

Kate sah ihn fragend an. »Reynard Muldoon! Ich hätte nie gedacht, dass gerade du …« Sie schüttelte den Kopf. »Nicht jeder kann sich so ausdrücken wie du, Reynie. Du

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hast ja keine Ahnung, wie sehr ich euch alle vermisst habe. Selbst Constance, Himmel noch mal!«

Reynie grinste. Genau darauf hatte er gehofft. Er war gerade mal fünf Minuten hier und fühlte sich schon hun-dertmal besser.

»Ah, da ist sie ja!«, sagte Kate und streckte den Arm aus. Einen Augenblick später schon war die Luft vor ihnen von einem wilden Durcheinander aus Krallen und Federn er-füllt. Reynie sprang zurück. Der Falke war vom Himmel gestoßen, um sich auf Kates Lederhandschuh zu setzen, der ihr fast bis zum Ellbogen reichte, und jetzt fuhr er mit dem Kopf hin und her und sah sie beide an. »Reynie, ich möchte dir Madge vorstellen.«

»Madge?«»Das ist die Abkürzung von ›Majestät‹. Ihr voller Name

ist ›Ihre Majestät, die Königin‹. Weil sie ja die Königin der Vögel ist.«

»Klar«, sagte Reynie. »Natürlich. Die Königin der Vö-gel.«

»Guck mich nicht so an! Das ist ein super Name, ob du ihn magst oder nicht. Habe ich recht, Madge?« Kate gab dem Falken einen Streifen Fleisch, den sie aus einem gut ver-schlossenen Beutel in ihrem Eimer holte. Sie drängte Reynie, dem Vogel über die Federn zu streichen (was Reynie ziem-lich nervös auch tat), und schickte Madge wieder los. »Milli-gan hat sie mir zum Geburtstag geschenkt, ich musste ihn nur ein Dutzend Mal mit der Nase draufstoßen und ihm einen Monat lang in den Ohren liegen. Ich trainiere sie. Sie ist echt schlau.« Kate senkte die Stimme, als könnte Madge, die längst hundert Meter weg war, sie noch hören. »Was für einen Raubvogel, unter uns gesagt, ziemlich ungewöhnlich ist. Was ich ihr natürlich nie sagen würde.«

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Reynie sah zu, wie der Falke über der Farm herumsegel-te. Das war typisch Kate Wetherall, dass sie dir so was Auf-regendes zeigte und so tat, als wäre es nichts, weswegen du überrascht sein solltest. »Ich dachte, man braucht eine Lizenz, wenn man einen Falken haben will«, sagte Reynie, »und eine jahrelange Ausbildung.«

»Oh, das stimmt«, sagte Kate und steckte den Leder-handschuh zurück in den Eimer. »Das hab ich alles im Zir-kus gemacht. Einer der Dompteure war auch Falkner, und er hat mich ausgebildet. Von ihm habe ich alles Mögliche gelernt … Aber darüber können wir später reden«, sagte sie und tat das Thema fürs Erste mit einer ungeduldigen Hand-bewegung ab. »Du wolltest mir von Kleber erzählen. Hast du in letzter Zeit von ihm gehört?«

Reynie zog ein Bündel Papier aus der Tasche. »Das hier hat er mir erst vor ein paar Tagen geschickt. Es ist ein Be-richt über unsere Mission, für die Nachwelt, sagt er, falls die Geschichte jemals nicht mehr als geheim eingestuft sein sollte. Er wollte, dass ich ihn dir zeige. Ihn interessiert unsere Meinung.«

»Willst du damit sagen, er hat alles bis in die Einzel-heiten aufgeschrieben? Wie ein Schriftsteller?«

»Nun … in etwa so.« Reynie faltete den Bericht ausein-ander und gab ihn Kate, die sich sofort ins Heu setzte, um ihn zu lesen. Es waren fünf Blätter, die auf beiden Seiten bis an den äußersten Rand mit winzigen, zusammengedrängten Buchstaben beschrieben waren. Schon der Titel war fast so lang wie einer von Kates Briefen.

»Wie die geheime Benedict-Gesellschaft die schreckliche

Gehirnfegemaschine mit dem Namen ›der Flüsterer‹

besiegte (und mit ihr ihren Erfinder Ledroptha Curtain,

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der sich als der lange verschollene eineiige Zwilling von

Mr Nicholas Benedict entpuppte, nach dem die Gesell-

schaft benannt ist): Ein persönlicher Bericht.«

»Heiliger Strohsack!«, sagte Kate.»Der Titel?«Kate nickte und las weiter:

»Für den Fall, dass Sie, lieber Leser, nichts von Mr Curtains

gescheitertem Plan wissen, sich mit Hilfe der bewusst-

seinsverändernden Kräfte des Flüsterers zum mächtigen

Weltherrscher aufzuschwingen, wird Sie dieser Bericht

darüber informieren.

Der Bericht beginnt mit der Bildung der geheimen Bene-

dict-Gesellschaft. Durch eine Serie von Prüfungen stellte

sich heraus, dass George ›Kleber‹ Washington (der Autor

dieses Berichts), Reynard Muldoon (dessen voller Name

mittlerweile Reynard Muldoon-Perumal lautet, da er

adoptiert wurde), Kate Wetherall und Constance Contraire

begabt genug waren, um in Mr Curtains Lerninstitut für die

besonders Erleuchteten (kurz LE.B.EN) aufgenommen zu

werden und dort als Agenten Mr Benedicts zu arbeiten.

Die Kinder entdeckten im besagten Institut eine Menge

verstörender Dinge. Dann setzten sie den Flüsterer außer

Kraft, wobei Mr Curtain und seinen engsten Mitarbeitern

(seinen ›Managern‹, wie er sie nannte) unglücklicherweise

die Flucht gelang. Aber damit bin ich bereits am Ende an-

gelangt. Erlauben Sie mir also, dass ich noch einmal von vorn

beginne und mich an den Verlauf der Ereignisse halte …«

Der Bericht ging immer so weiter, sprang wild voran, zu-rück und drehte endlose Schleifen, während Kleber sich

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mühte, eine genaue Zusammenfassung ihrer Abenteuer zu liefern. So diente ein ganzer Absatz dazu, der Herkunft des Begriffs »in Schrecken versetzt« nachzuspüren, ein anderer widmete sich dem sonderbaren Gefühl von Isolation, zu dem es auf Inseln kommen konnte (im Gegensatz zu Halb-inseln), und wieder ein anderer erörterte grausame Bestra-fungen in Schulen. Als Kate endlich zur zweiten Seite kam, hingen ihr die Schultern herunter. Sie blätterte zur letzten Seite und las den letzten Satz: »Und das ist das Ende dieses

Berichts.« Kate sah zu Reynie auf. »Ist das … ähm, alles so?«

»Ich fürchte, ja.«»Aber wie konnte er das aufregendste, gefährlichste und

wichtigste Ereignis seines Lebens, der ganzen Welt, so … so …«

»Langweilig machen?«Kate ließ sich ins Heu zurückfallen und fing an zu

kichern. »Oh, ich kann es kaum erwarten, ihn wieder-zusehen!«

»Mach es ihm nicht zu schwer. Er mag sich ja langsam aus seinem Schneckenhaus heraustrauen, aber er ist immer noch ziemlich empfindlich, weißt du.«

»Ich werde darauf achten, dass ich ihn erst einmal an mein Herz drücke, bevor ich ihn aufziehe«, sagte Kate.

Reynie erschauderte. Kates Umarmung würde Kleber wahrscheinlich mehr zusetzen als all ihre Sticheleien.

»Nun, genug mit der Faulenzerei«, sagte Kate, die viel-leicht drei Sekunden auf dem Rücken gelegen hatte. Sie sprang auf die Füße. »Willst du eigentlich nichts zu meinem Eimer sagen?«

»Das wollte ich gerade«, sagte Reynie. »Wie ich sehe, hast du ein paar Veränderungen an ihm vorgenommen.«

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Kate beeilte sich, ihm die Neuerungen zu zeigen. Der raffinierte neue Deckel ließ sich zwar leicht öffnen, ver-schloss den Eimer aber sicher, so dass ihre Sachen nicht mehr herausfallen konnten, wie es früher manchmal vor-gekommen war. Dazu hatte sie innen an den Seiten einzelne Taschen angebracht, die sich mit Klipsen, Bändern und Reißverschlüssen verschließen ließen, so dass alles seinen Platz hatte. Kates Seil lag wie immer auf dem Boden auf-gerollt, ordentlich unter den Taschen.

»Beeindruckend«, sagte Reynie, während er den verbor-genen Haken untersuchte, mit dem sich der Deckel öffnen ließ.

Kate strahlte. »Milligan hat den Deckel entworfen. Er meinte, ein Werkzeuggürtel wäre weniger hinderlich als ein Eimer, aber ich habe ihn daran erinnert, dass man sich auf einen Gürtel nicht draufstellen kann, um an Dinge heran-zukommen.«

»Und ein Gürtel lässt sich auch nicht mit Wasser füllen, um deine Verfolger damit zu bombardieren«, sagte Reynie, der daran denken musste, wie Kate genau das getan hatte, um Jackson und Jillson zu entkommen, den beiden üblen Managern von Mr Curtain, die sie im Institut so böse be-droht hatten.

»Genau! Und Milligan hat’s eingesehen und mir seine Hilfe dabei angeboten, den Eimer zu verbessern statt ihn zu ersetzen. Sieh doch«, sagte sie und stellte sich auf den ge-schlossenen Deckel. »Er muss jetzt nicht mehr ausgeleert und auf den Kopf gestellt werden. Das spart Zeit, weißt du.«

Es ließ sich nur schwer vorstellen, dass Kate etwas noch schneller tat als ohnehin schon, aber Reynie erkannte die Verbesserung an. »Und was hast du dieser Tage im Eimer drin? Ich meine, außer Falkenfutter und der Pfeife?«

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Tasche um Tasche führte Kate Reynie den Inhalt des Eimers vor. Glücklicherweise, sagte sie, sei es Milligan ge-lungen, ein paar der Dinge wiederzubeschaffen, die sie im Institut hatte zurücklassen müssen. Ihr Spionagefernglas zum Beispiel (das als Kaleidoskop getarnt war), ihr Schwei-zer Armeemesser, den Hufeisenmagneten und ihre Taschen-lampe. Darüber hinaus hatte sie einige Dinge ersetzt, die verloren oder kaputtgegangen waren, wie ihre Schleuder und die Glasmurmeln, ihren extrastarken Klebstoff und den Stift mit Lampe. Neulich erst hinzugefügt hatte sie einen bleistiftgroßen Pinsel und eine Flasche Zitronensaft.

»Ich musste warten, bis ich es dir persönlich sagen konn-te«, erklärte Kate ihm mit einem spitzbübischen Blick. »Du kennst doch den Zitronensafttrick, oder? Von jetzt an werde ich dir geheime Mitteilungen auf meine Briefe pinseln, ohne dass die Regierungsschnüffler sie entdecken können. Du musst die Briefe nur über eine Kerze halten, und die Worte werden lesbar.«

Reynie grinste. Natürlich kannte er den Zitronensaft-trick, hatte aber nie eine Gelegenheit gehabt, ihn anzuwen-den. »Und was ist in der letzten Tasche?«, fragte er und deutete auf die eine, die noch verschlossen war.

»Oh, nur die hier«, antwortete Kate gelangweilt und zog einen Ring mit wenigstens zwei Dutzend Schlüsseln hervor, alle verschieden groß, alle verschiedener Art. »Schlüssel fürs Haus und für den Laster, Schlüssel für das Vorhängeschloss der Scheune und das vom Hühnerstall, dann die Schlüssel für die Tore, die Schränke und Schuppen – was du dir vor-stellen kannst. Milligan hat alles gerne unter Verschluss.« Kate seufzte und stopfte die Schlüssel zurück in den Eimer.

»Was ist?«, fragte Reynie.»Ach, eigentlich nichts«, sagte Kate. »Wenigstens nichts

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Wichtiges, und ich glaube, genau das ist das Problem. Ich liebe die Farm, weißt du, und ich bin unglaublich gerne hier. Es ist nur so, dass es manchmal etwas langweilig wird. Nach all den aufregenden Dingen, die wir erlebt haben, all den wichtigen Sachen, die wir hingekriegt haben, nun, da-nach kommt einem alles andere schnell etwas gewöhnlich vor. Wir sind schließlich Geheimagenten, Reynie!« Als sie das Wort aussprach, leuchteten Kates Augen auf sehr ver-traute Weise auf. Dann lachte sie über sich selbst. »Da ist es nicht leicht, sich damit zufriedenzugeben, dass du den Schlüssel zum Kartoffelkeller am Bund hast. Das ist alles.«

»So geht es nicht nur dir«, sagte Reynie. »Seit Miss Peru-mal mich adoptiert hat, ist alles toll, aber trotzdem bin ich die ganze Zeit völlig rastlos. So als müsste ich was Dringen-des erledigen, nur weiß ich nicht zu sagen, was.«

»Echt?«, fragte Kate, und die beiden Freunde sahen sich einen Moment lang schweigend an. Es war ein Blick, der sie an alles erinnerte, was sie gemeinsam erlebt hatten, an die Gefahren, die Notlagen und natürlich auch an den Triumph ihrer Mission, ein Blick angefüllt mit dem Wissen, das sie isolierte, wenn sie allein waren, in der Gruppe aber mit einem prickelnden Gefühl erfüllte, dem Bewusstsein, dass sie Dinge über diese Welt wussten, von denen sonst nie-mand etwas ahnte, Dinge, über die sie vielleicht nie würden sprechen dürfen, außer miteinander.

»Ich denke, das war zu erwarten«, sagte Kate endlich und ging in die Ecke des Heubodens, »und so schlimm ist es auch wieder nicht. Ich tu jedenfalls, was ich kann, um das Leben interessant zu halten.«

Kaum hatte sie das gesagt, sprang sie hoch in die Luft und zog an einer Schnur, die vom Dachsparren über ihr herun terhing und eine Falltür unter ihr öffnete. Freundlich

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winkend, fiel Kate durch das Loch und war verschwunden. Reynie hörte sie mit einem dumpfen Schlag auf dem Lehm-boden unten landen. »Komm schon!«, rief sie zu ihm he-rauf. »Lass uns Äpfel pflücken gehen!«

Reynie schüttelte den Kopf und ging zur Leiter. Ja, Kate hielt das Leben interessant, und es hatte keinen Sinn, ver-gangenen Abenteuern nachzutrauern. Eigentlich sollte er dankbar dafür sein, und er war es auch, dass mit seinen Freunden zusammen zu sein nicht länger gleichbedeutend damit war, in Gefahr zu schweben. Wer brauchte schon Ge-fahren? Reynie ganz sicher nicht!

Aber wie es sich auch verhielt, und so wenig er es vor-aussehen konnte, die Zeit der Gefahrlosigkeit und Lange-weile würde für Reynie und seine Freunde bald schon wie-der vorbei sein.

Es sollte nicht mehr lange dauern.