Tschernobyl und die europ. Solidaritätsbewegung

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und die Tschernobyl europäische Solidaritätsbewegung

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Hrsg. Internationales Bildungs- und Begegnungswerk in Dortmund, Redaktion Dr. Isolde Baumgärtner,Marianne Wiebe und Ralph Järing, 238 S. Books on Demand, Norderstedt Leseprobe

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und die Tschernobyleuropäische Solidaritätsbewegung

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Bibliographische Information:

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Impressum

© 2011 Internationales Bildungs- und Begegnungswerk (IBB) Dortmund,

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Redaktion: Dr. Isolde Baumgärtner, Marianne Wiebe, Ralph Jährling

Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt

Gestaltung: Grit Tobis | www.grittobis.com

ISBN:

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3INHALT

INHALT

Vorwort 9Peter Junge-Wentrup

Die Katastrophe von Tschernobyl im Kontext einer europäischen Erinnerungskultur 15

Astrid Sahm

Tschernobyl und die Solidaritätsbewegung 33Isolde Baumgärtner

Historischer Kontext 34 Der grenzüberschreitende Charakter der Katastrophe und die historischen Gründe der Solidaritätsbewegung 38 Bürgerschaftliche Initiativen und Netzwerke 41 Wandel der Tschernobylhilfe: Von der Hilfe (1990) zur Projektpartnerschaft (ca. ab 2000) 44 Die Rolle der Medien und der Öffentlichkeit 46

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4 INHALT

Die Tschernobylbewegung in Europa (Länderbeispiele) 51

Deutschland Isolde Baumgärtner

Die gesellschaftliche Diskussion der Tschernobylkatastrophe in Deutschland und die Entwicklung einer Solidaritätsbewegung 52

Frankreich Karena Kalmbach

Die Wolke, die an der Grenze haltmachte. Zur Wahrnehmung der Auswirkungen von Tschernobyl in Frankreich 74

Niederlande Geert Metselaar

Tschernobyl als Beispiel für europäische Solidarität 89

Polen Michal Przeperski

Einige Worte über die polnische Solidaritätsbewegung mit den Opfern der Katastrophe von Tschernobyl 96

Großbritannien Victor Mizzi

Über die Arbeit von „Chernobyl Children’s Life Line“ 105Linda Walker

Die Arbeit von „Chernobyl Children’s Project (UK)“ 108 Ein Überblick über weitere Tschernobyl-Organisationen und Netzwerke in Großbritannien 112

IrlandSimon Walsh

Die Tschernobyl-Solidaritätsbewegung in Irland 117

SpanienManuel García Blázquez

Die Aufnahme von Kindern – Eine Therapie gegen das Vergessen 125

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5INHALT

Konzepte der Hilfe 135

I. Kindererholung 136Isolde Baumgärtner

1. Kindererholung im Ausland 138 Historische Erfahrungen und pluralistische Ansätze 141 Die unterschiedlichen Bewertungen der Kindererholung im Ausland 147 Die Wirkungen der Kindererholung – die Eigendynamik eines Hilfskonzeptes 149 Von der Kindererholung zur Projektarbeit und Kooperationen 151

2. Kindererholung im Inland 152 Der gesetzliche Anspruch auf Erholung für Kinder 152 Beispiele der Kindererholung im Inland 153 Das Modellprojekt „Nadezhda“ in Belarus 153 Die Therapie- und Sommercamps von Green Cross Belarus und Green Cross Schweiz 155 Das Rehabilitationszentrum „Zhdanowitschi“ 156 Besondere Formen der Erholung für Kinder mit Einschränkungen 157

II. Medizinische Hilfe und Projekte 160Isolde Baumgärtner

1. Unterstützung von Krankenhäusern, Gesundheitszentren (Beispiele) 164 Medizinische Versorgung und Zentren für Schilddrüsenkrebs und -erkrankungen 164 Kinderklinik Ochmatdet, Kiew 168 Neurochirurgische Kinderklinik, Kiew 159 Leukämiestation des Kinderkrankenhauses Nr. 16 in Charkiv 170 Kinderkrebsklinik in Borowljany (bei Minsk) 171

2. Erste Hilfe und Ambulanzen im ländlichen Raum 173

3. Diabeteszentren und –schulen 173

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6 INHALT

4. Sozialmedizinische Projekte: Rehabilitation, soziale Partizipation und palliative Pflege 176 Mutter-Kind-Rehabilitation in Sanatorien oder Sommercamps 176 Eltern-Kindhaus bei onkologischen Kliniken 176 Spezielle Kindergärten und Schulen für schwerkranke oder hörgeschädigte Kinder 177 „Palliative Care“- Hospizbewegung in Belarus 178

5. Fortbildungen: Medizinisches und therapeutisches Fachpersonal 180

6. Medizinische Einzelhilfen 182

Die Kinderklinik Nr. 1, Minsk 186Ein Beitrag von Herbert Schnoor, Staatsminister a.D.

III. Soziale Projekte 190Isolde Baumgärtner

1. Projekte für Menschen mit Behinderungen 193 Die Situation von Menschen mit Behinderungen 193 Beispiele der Behindertenarbeit 197 Die Projektgruppe „Kinder von Tschernobyl“ e.V. Bad Schwalbach 198 „Förderkreis Hilfe für strahlengeschädigte belorussische Kinder“, Berlin-Köpenick 199 Der belarussische Elternverein „BelapdiMi“ 200 Das „Mayflower-Centre“ in Gomel 201 Präventionsarbeit zur Verhinderung des Heimschicksals 202

2. Waisenkinder 203 Die Situation von Waisenkindern 203 Adoptionen 205 De-Institutionalisierung 207 Patenschaften und Förderung 208

3. Weitere soziale Projekte 209

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7INHALT

IV. Ökologische Projekte 214Isolde Baumgärtner

1. Sozial-ökologische Modellprojekte im Bereich der erneuerbaren Energien und der Energieeffizienz 217 Vom Lehmhaus zum Leuchtturmprojekt 217 Ökologische Maßnahmen im Kinderzentrum „Nadezhda“ 219 Die „Grüne Insel“ von Green Cross Belarus 219

2. Ökologische Bildungs-, Erziehungs- und Aufklärungsprojekte 220 Das Energieberatungszentrum beim Technopark Mogiljow 220 Die Internationale Sacharow-Umweltuniversität, Minsk 221 Der Fachbereich „Mensch und Umwelt“ bei der IBB „Johannes Rau“ Minsk 222 Ökologische Jugendbildungs- und Begegnungsprojekte 224

3. Beispiele einer weitergehenden ökologischen Projektarbeit 225 Wasser für Waisenhäuser 226 Saubere Nahrung 226 Was isst man in verstrahlten Gebieten? – Radiometrische und andere Projekte 227

Probleme, Wirkungen und Perspektiven 229Isolde Baumgärtner

Auswahlbibliographie 236

Zu den Autoren 239

Über das IBB 241

Bildnachweis 242

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9VORWORT

VoRWoRT

„Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ Friedrich Hölderlin

Tschernobyl hat 1986 die Bevölkerung in vielen europäischen Ländern erschüttert. Die radioaktive Wolke wurde zuerst in Schweden gemessen und breitete sich dann über ganz Europa weiter aus. Damals herrschte Unwissenheit, Unsicherheit und Angst um die eigenen Kinder. Spielplätze wurden gesperrt, Sandkästen abgedeckt und die Kinder durften nicht mehr draußen spielen. Bei Babynahrung achteten Mütter auf das Herstellungsdatum vor dem 26. April 1986, Konserven wurden gehortet, weil man nicht wusste, wann es wieder unbelastete Milch, Obst, Fleisch und Gemüse geben würde.

Der amerikanische Mediziner Robert Gale konnte 1986 als erster westlicher Helfer nach Moskau reisen und die akuten Strahlenopfer aus Tschernobyl behandeln. Das Buch, in dem er später von seinen Erfahrungen berichtete, trägt den Titel „Die letzte Warnung“. Zum ersten Mal erlebte die Menschheit eine Umweltkatastrophe, die globalen Charakter hatte.

Damals waren fast alle Länder in Europa betroffen, dennoch wurde Tschernobyl in unterschiedlicher Weise wahrgenommen.

In Belarus und der Ukraine, den Ländern, die am stärksten betroffen waren, herrsch-te eine völlige Informationssperre. Die Paraden zum 1. Mai wurden in der gesamten Sowjetunion wie üblich abgehalten, so, als wenn nichts passiert wäre. Gäste aus dem Ausland, die die Ukraine oder Belarus bereisten, erhielten keine Informationen zu Tschernobyl. Für alle Vorgänge galt die Geheimhaltung.

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10 VORWORT

Erst 1989 erfuhren die Menschen in der Sowjetunion die wahren Ausmaße der Ka-tastrophe. Dies war insbesondere das Verdienst von Wissenschaftlern aus Minsk und Kiew, die entgegen Moskauer Vorgaben selbständig Messungen in den verstrahlten Regionen durchführten. Erschrocken über die alarmierend hohen Messwerte und die erkennbare Zunahme von Krankheiten bei Kindern und Erwachsenen, begannen sie, die eigene Bevölkerung über die Gefahren zu informieren. Beeindruckende Kundge-bungen und Demonstrationen in Minsk und Kiew fanden in der Folge statt, und es entstanden zivilgesellschaftliche Initiativen oder Stiftungen, die unabhängig von dem System der kontrollierten Gesellschaft entscheiden und agieren konnten.

Zu diesen Menschen und Initiativen entwickelten sich Anfang der 90er Jahre Kontakte von Menschen aus dem Westen. Die Auflösung des Ost-West-Konfliktes und die neuen Reisemöglichkeiten erleichterten diese Kontakte und ließen neue Ko-operationen entstehen.

Heute wissen wir, wie viele Menschen aus allen europäischen Ländern in die Uk-raine und nach Belarus reisten und sich ein eigenes Bild von der Lage machten. Sie sahen, dass die Not groß war, und dass Hilfe schnell erfolgen musste.

Standen zunächst die humanitäre Hilfe und Kindererholungen im Mittelpunkt, so wurde dies später um die Zusammenarbeit in konkreten Projekten ergänzt. Natürlich standen für die einzelnen Initiativen ihre eigene Arbeit und die Kooperation mit ih-rem Partner im Mittelpunkt. Damit erklärt sich auch, dass die Solidaritätsbewegung eine dezentrale Bewegung ist, die ihre Stärke in einem aktiven Umfeld der jeweiligen Initiative hat – Menschen in den jeweiligen Initiativen wurden aktiv und sammelten für ihre Programme und Projekte Spendengelder vor Ort.

Heute, 25 Jahre nach Tschernobyl und 20 Jahre nach dem Beginn der europäischen Solidaritätsbewegung, sind wir in einer veränderten Situation.

Tschernobyl droht in Vergessenheit zu geraten. Junge Menschen verbinden keine eigenen Erfahrungen mehr mit der Reaktorkatastrophe und ihren Folgen. Tschernobyl wird als eine Katastrophe der Vergangenheit wahrgenommen wie viele andere Um-weltkatastrophen auch. Aktuelle Umweltkatastrophen halten die Gesellschaft in Atem, sie erfordern öffentliche Aufmerksamkeit und lassen damit Tschernobyl allmählich verblassen. Die „letzte Warnung“ von Tschernobyl wird verdrängt.

Die nachlassende Wahrnehmung der Tschernobyl-Katastrophe und ihrer Folgen erstreckt sich auch auf die nach Tschernobyl entstandene europäische Solidaritätsbe-wegung. Es ist das besondere Verdienst der Autoren aus verschiedenen europäischen Ländern, dass sie die Entwicklung und die Arbeit der Solidaritätsbewegungen in ihren Ländern porträtiert haben. Die jeweiligen Beiträge enthalten Informationen zu den Tschernobylinitiativen selbst, zu deren Schwerpunkte, zum Umfang der jeweiligen

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11VORWORT

Aktivitäten, zu den Gründen der Entstehung oder ihren unterschiedlichen Motiven. In ihnen wird auch der Frage nachgegangen, wie über Tschernobyl 1986 in den jeweiligen Ländern berichtet, wie die Katastrophe wahrgenommen und diskutiert wurde. Aber nicht nur in Frankreich, den Niederlanden, Polen, Großbritannien, Irland, Spanien und Deutschland, die im vorliegenden Buch in eigenen Kapiteln präsentiert werden, sind Tschernobyl-Initiativen aktiv. Solidarität hat sich in gleichem Maße in Italien, Belgien, Luxemburg, Österreich, Schweden und zahlreichen weiteren Ländern entwi-ckelt, wie den Kapiteln zu den thematischen Schwerpunkten der Tschernobyl-Arbeit zu entnehmen ist.

Ungeachtet der unterschiedlichen Bedingungen und Ausprägungen der Solidaritäts-bewegung in den einzelnen Ländern können heute folgende allgemeine Merkmale festgehalten werden:

Die europäische Solidaritätsbewegung ist eine Bewegung von unten; Men-•schen und Initiativen haben mit ihrem persönlichen Engagement Brücken der partnerschaftlichen Zusammenarbeit zu Menschen in der Ukraine, Belarus und zu den betroffenen Gebieten Westrusslands gebaut. In dieser Bürgerbewegung sind in Westeuropa mehrere Hunderttausend Men-•schen involviert. Auch in der Ukraine und in Belarus wird die Bewegung von mehreren Hunderttausend Menschen getragen.Die Stärke dieser Bürgerbewegung beruht auf dem ehrenamtlichen Engagement •der Menschen. In ihrem jeweiligen lokalen Umfeld sind sie gut verankert und sie erhalten für ihre Arbeit mannigfaltige Unterstützung. Die Bürgerbewegung hat das Wissen und die Bereitschaft gestärkt, dass Bür-•ger selber aktiv werden und bei der Lösung von Problemen selbst mitarbeiten und mitgestalten können.Die einzelnen Partnerschaften, der Austausch untereinander, die Teilnahme •am Leben der Partner in dem jeweils anderen Land und die gemeinsamen Programme und Projekte verbinden die Initiativen aus unterschiedlichen Kul-turen und Gesellschaften nachhaltig. Die im Laufe der Jahre entstandenen Beziehungen werden als Bereicherung für das eigene Leben gesehen. In den Partnerschaften ist inzwischen ein großes Expertenwissen vorhanden, •das sich auf zentrale Bereiche des Lebens und der Gesellschaft erstreckt: auf die Gesundheit, die Begleitung von Menschen mit Behinderungen, die Erziehung von Kindern und Jugendlichen und ihre Begleitung in das Erwachsenenalter, auf den ökologischen Umbau der eigenen Gesellschaften, der als Konsequenz aus Tschernobyl und angesichts der drohenden Klimakatastrophe heute not-wendiger denn je ist.

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12 VORWORT

Welche überwältigende Fülle an Programmen, Projekten und Hilfe die Solidaritäts-bewegung in ihrer zwanzigjährigen Geschichte im Einzelnen hervorgebracht hat, verdeutlichen die umfangreich recherchierten Beiträge von Frau Dr. Isolde Baumgärtner in den Themenbereichen der Kindererholung sowie der medizinischen, sozialen und ökologischen Arbeit. Die jahrzehntelange Kontinuität des Engagements zugunsten der betroffenen Menschen, die trotz der oftmals schwierigen Rahmenbedingungen bewundernswerte Beharrlichkeit und ebenso die inhaltliche Weiterentwicklung der Arbeit treten in diesen Kapiteln in eine lebendige Anschaulichkeit. Zu den Erfolgen der Tschernobyl-Arbeit gehören beispielsweise folgende Tatsachen:

Über eine Million Kinder aus den betroffenen osteuropäischen Ländern haben •Familien in Westeuropa besuchen können.Unzählige Krankenhäuser wurden umgebaut und neu ausgestattet. •Ärztefortbildungen haben den Alltag in Krankenhäusern verändert, Leben •konnte aufgrund der besseren medizinischen Versorgung gerettet werden.Menschen mit Behinderungen werden heute in anderer Weise wahrgenommen •und behandelt als vor 20 Jahren.Vorbildliche Modellprojekte für erneuerbare Energien und ökologisches •Wirtschaften sind entstanden.

Doch ebenso wichtig ist das gegenseitige menschliche Vertrauen, das aus der Zu-sammenarbeit erwachsen ist. Lebten in den 80er Jahren die Menschen noch in unterschiedlichen Blöcken und bestimmten Feindbilder ihr Verhältnis zueinander, so sind inzwischen unzählige Freundschaften entstanden. Reisen haben dazu beigetragen, sich realitätsnahe Vorstellungen von dem Leben der anderen zu machen.

Natürlich stellt sich auch die Frage, wie es in Zukunft weitergehen kann. Wie wird sich die Solidaritätsbewegung in den nächsten 25 Jahren weiter entwickeln? Welcher Bedarf wird als zentral erachtet, welche Prioritäten ergeben sich für ein gemeinsames Handeln? Wird es möglich sein, für einzelne Programme oder Projekte eine staatliche Förderung zu erhalten? Wird es in Belarus oder der Ukraine in Zukunft ein Gemein-nützigkeitsrecht geben, so dass Projekte im Lande selbst finanziert werden können? Alle diese Fragen sind heute noch offen und müssen weiterbearbeitet werden.

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13VORWORT

Der Beitrag von Frau Dr. Astrid Sahm macht jedoch deutlich, dass Tschernobyl und die beispiellose europäische Solidaritätsbewegung Gegenstand einer europäischen Erinnerungskultur werden sollten, die Grundlage dafür ist, dass sich eine europäische Zivilgesellschaft entwickeln kann. Tschernobyl mahnt, endlich ein Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell zu entwickeln, das nicht unsere Lebensgrundlagen oder die unserer Nachkommen zerstört. Das Fundament für diese Erinnerungskultur bilden dabei die zahlreichen Tschernobylinitiativen, die sich in ganz Europa Anfang der 90er Jahre gebildet haben und die zum großen Teil heute noch aktiv sind. Dr. Astrid Sahm hat damit eine wichtige Zukunftsaufgabe formuliert, die es gilt, gemeinsam zu diskutieren.

Münster, Februar 2011Peter Junge-Wentrup

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16 TScHeRNObyL Im KONTexT eINeR eUROpäIScHeN eRINNeRUNGSKULTUR

Die Katastrophe von Tschernobyl im Kontext einer europäischen Erinnerungskultur2

Astrid Sahm

2011 wird sich die Reaktorexplosion von Tschernobyl zum 25. Mal jähren. Damit wird eine Generation aufgewachsen sein, welche keine unmittelbaren Erinnerungen an die mit dem 26. April 1986 verbundenen Ereignisse mehr hat. Es besteht daher die Gefahr, dass der 25. Jahrestag der Reaktorkatastrophe und deren Folgen zum letzten Mal eine hohe Medienaufmerksamkeit mit einer Flut von Veröffentlichungen, Filmen, Ausstellungen etc. bescheren wird, ehe Tschernobyl endgültig dem Vergessen anheim fällt.

Dabei betraf die Reaktorexplosion im AKW Tschernobyl am 26. April 1986 prak-tisch alle Menschen in Europa und darüber hinaus. Bei zahlreichen Menschen löste die Reaktorkatastrophe eine Art „anthropologischen Schock“3 aus, der ihnen die allgegenwärtige Bedrohung menschlichen Lebens durch moderne Technologienutzung anschaulich machte. Bis heute können sich daher die meisten Menschen in Europa, welche die Reaktorexplosion bewusst erlebten, auf Nachfrage daran erinnern, womit sie sich in den Tagen nach Bekanntwerden der Katastrophe beschäftigt haben. In fast allen europäischen Ländern bildeten sich in den folgenden Jahren Initiativgruppen, die den betroffenen Menschen in Belarus, der Ukraine und – wenn auch in geringerem Maße – Russland bis heute Hilfe zur Minderung der Katastrophenfolgen erweisen. Aus diesem Grunde erscheint diese Katastrophe auf dem ersten Blick geradezu prä-destiniert zu sein, um essentieller Bestandteil einer europäischen Erinnerungskultur zu werden.

Um zu bestimmen, ob und wie die Tschernobyl-Katastrophe zur Entstehung einer europäischen Erinnerungskultur beitragen kann, müssen wir uns zunächst zwei grundsätzliche Fragen stellen:

Was heißt europäische Erinnerungskultur?a) Wie wurde die Katastrophe von Tschernobyl wahrgenommen und wie werden b) die Katastrophe und ihre Folgen erinnert?

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17TScHeRNObyL Im KONTexT eINeR eUROpäIScHeN eRINNeRUNGSKULTUR

Die Analyse bezieht sich dabei hauptsächlich auf öffentliche Medien als Träger von Erinnerungen sowie die Erinnerungspolitik von politischen und zivilgesellschaftlichen Akteuren. Die Tradierung von Erinnerung in privaten Zusammenhängen, wie Familien etc., kann hingegen nur am Rande berücksichtigt werden.

Was heißt europäische Erinnerungskultur?

Die Entwicklung einer europäischen Erinnerungskultur wird in den letzten Jahren von zahlreichen europäischen Politikern und zivilgesellschaftlichen Akteuren proklamiert. Damit ist die Erwartung verbunden, dass gemeinsames Erinnern an vergangene Ereig-nisse das Fundament für die Europäische Union als politisches Projekt stärken möge.

Inhaltlich konzentrieren sich die Versuche, eine europäische Erinnerungskultur zu befördern, auf die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges und insbesondere auf die Ver-nichtung der europäischen Juden während des Zweiten Weltkrieges. Der Holocaust wird daher häufig auch als negativer Gründungsmythos Europas bezeichnet.4 Hieran zeigt sich bereits eine grundsätzliche Schwierigkeit europäischer Erinnerungskultur, die nicht nur auf eine transnationale Sicht auf Geschichte zielt, sondern auch eine Art Paradigmenwechsel in der Reflexion von historischen Ereignissen und Zusam-menhängen anstrebt: Während traditionell nationale Identität vor 1945 und zum Teil auch noch danach durch die Darstellung von nationalen Heldentaten und heroischen Ereignissen der Nationalgeschichte gestiftet wurde, erfolgt gemeinsames Erinnern in Europa über Nationalgrenzen hinweg zumeist nur im Gedenken an die großen gesamt-europäischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts und deren Opfer.5 Dies erlaubt es einerseits, ein Nebeneinander der unterschiedlichen nationalgeschichtlichen Narrative vorerst weiterhin zu ermöglichen. Andererseits stellt sich die Frage, ob die Holocaust-Erinnerung einen ausreichenden Sinnzusammenhang für die Menschen in Europa vermitteln kann. Freilich wurden die Ansätze für eine europäische Erinnerungskul-tur in Zusammenhang mit dem 20. Jahrestag des Mauerfalls und der Auflösung des Eisernen Vorhangs um eine positive Dimension erweitert. Zudem gibt es weitere für den gesamten europäischen Kontinent prägende Ereignisse, welche in eine europäische Erinnerungskultur integriert werden können und dadurch wenigstens zum Teil eine positive Bezugnahme auf Freiheit und Emanzipation ermöglichen würden. Hierzu gehören die Jahre 1789 (Französische Revolution), 1848 (demokratische Revolutionen), 1914 (Erster Weltkrieg) und 1968 (Studentenbewegung). Allerdings werden diese Er-eignisse in der Regel lediglich zu runden Jahrestagen ausgiebig öffentlich gewürdigt, während das Gedenken an den Holocaust durchgängig präsent ist.

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zeigen. Entsprechende Prozesse lassen sich auf nationaler Ebene in den meisten west-europäischen Ländern nach 1990 beobachten, als eine kritischere Aufarbeitung von Geschichte in westeuropäischen Ländern, d.h. insbesondere eine Auseinandersetzung mit Kollaboration und Beteiligung an Deportation und Vernichtung der Juden erfolgte und dadurch die bis in die frühen 1990er Jahre hinein dominierende „schwarz-weiße Färbung“, die „ein Bild von einer im Widerstand gegen die äußeren und inneren Feinde geeinten Nation“ erschuf, aufgebrochen wurde.11 Dies erleichtert die Kompatibilität von nationalen Erinnerungskulturen mit einer europäischen Erinnerungskultur, d.h. die Entwicklung von „europäisch geöffneten nationalen Erinnerungskulturen“12.

Einer in diesem Sinne verstandenen Erinnerungskultur geht es somit nicht in erster Linie um ein Verurteilen der damaligen historischen Akteure, sondern vor allem um ein Lernen aus der Geschichte, um Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Gegenwart und Zukunft zu vermeiden. Erinnerungskultur ist insofern eng mit dem Begriff der politischen Kultur verbunden. Gemeinsame Erinnerungskultur kann es nur geben, wenn die Beteiligten gemeinsame demokratische Werte teilen, die eine Pluralität der Erinnerung zulassen und diese auf ihre jeweiligen Kontexte beziehen können. Eine solche Erinnerungskultur ist demnach eng mit der Existenz von funktionierenden de-mokratischen Beteiligungs- und Entscheidungsstrukturen verbunden. Konrad Jarusch zufolge kann sich eine gemeinsame Erinnerungskultur erst aus einer Vielzahl dezentraler Initiativen entwickeln, „die Vergangenheit nicht als Fortschrittsbewegung, sondern als Verpflichtung zum zivilisatorischen Lernen der Bewahrung des Friedens und der Menschenrechte versteht“.13 Angesichts der Existenz mehrerer autoritärer und hybrider politischer Systeme in Europa ist die entscheidende Frage somit, ob eine gemeinsame europäische Erinnerungskultur das Bestehen einer gemeinsamen politischen Kultur bereits voraussetzt oder ob nicht vielmehr das Arbeiten an einer gemeinsamen Erin-nerungskultur auch die Entstehung einer gemeinsamen politischen Kultur befördern kann. Letzteres, eher dialektisches Verständnis des Zusammenhangs von politischer Kultur und Erinnerungskultur scheint aus meiner Sicht angemessener zu sein.

Angesichts der Konfliktpotentiale, die mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust verbunden sind, stellt sich die Frage, welche historischen Ereignisse darüber hinaus geeignet sind, um eine europäische Erinnerungskultur zu befördern. Um zu überprüfen, ob die Tschernobyl-Katastrophe ein geeignetes Thema ist, müssen wir zunächst fragen, wie Tschernobyl derzeit in unterschiedlichen Ländern erinnert wird und welche unterschiedlichen Voraussetzungen für die Erinnerung in den einzelnen Ländern und zwischen den Ländern existieren, um zu ermitteln, ob es Konfliktpoten-tiale gibt, welche die Einbeziehung der Tschernobyl-Katastrophe in eine europäische Erinnerungskultur erschweren oder gar unmöglich machen.

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Wahrnehmungen der Tschernobyl-Katastrophe in Ost und West

Als sich die Reaktorexplosion im AKW Tschernobyl am 26. April 1986 ereignete, existierten die Sowjetunion und das Ost-West-Blocksystem noch. Die Perestrojka- und Glasnost-Politik war gerade erst vom KPdSU-Generalsekreträr Michail Gorbatschow deklariert worden und wurde durch die Katastrophe in ihre klaren Grenzen verwie-sen: Erst nachdem in Skandinavien erhöhte Radioaktivität gemessen wurde, gab die sowjetische Führung die Existenz einer „Havarie“ im AKW Tschernobyl zu. Dass tatsächlich eine Kernschmelze und damit der größte anzunehmende Unfall, abgekürzt GAU, stattgefunden hatte, erfuhren die Menschen in den westeuropäischen Ländern im Laufe der nächsten Wochen, in der Sowjetunion dauerte es hingegen drei Jahre, ehe die Menschen die wahren Ausmaße der Katastrophe erfuhren und erste Belas-tungskarten in den Zeitungen veröffentlicht wurden.14

Dementsprechend unterschiedlich waren die Reaktionen in den verschiedenen Ländern. In der Bundesrepublik Deutschland, wo es eine starke Anti-Atomkraft-Bewegung gab, erschien die Katastrophe als Bestätigung langjähriger Befürchtungen. Lebensmittel-konserven wurden in den Geschäften aufgekauft, Aussaaten vernichtet, Sandkästen umgegraben und den Kindern verboten, im Freien zu spielen, um die Strahlungsaufnah-me zu reduzieren. Just im Jahre 1986 veröffentlichte der Sozialwissenschaftler Ulrich Beck sein Buch über die Risikogesellschaft. Tschernobyl markierte für ihn „das Ende all unserer hochgezüchteten Distanzierungsmöglich keiten“: „Es gab Zäune, Lager, Stadteile, Militärblöcke einerseits, andererseits die eigenen vier Wände – reale und symbolische Grenzen, hinter die die scheinbar nicht Betroffenen sich zurückziehen konnten. Dies alles gibt es weiter und gibt es seit Tschernobyl nicht mehr.“15 Obwohl die öffentliche Reaktion auf die Tschernobyl-Katastrophe wohl in Deutschland am intensivsten ausfiel und auf den ersten Blick der radioaktive Fallout gleichsam an der Grenze zu Frankreich halt zu machen schien, löste Tschernobyl auch in anderen westeuropäischen Ländern öffentliche Besorgnis und staatliche Schutzmaßnahmen aus. So mussten in Schweden hunderte Tonnen Rentierfleisch vernichtet werden, in England, Wales und Schottland waren noch 15 Jahre nach Tschernobyl mehrere hun-dert Farmen von einem Schlachtverbot für Schafe betroffen, in 2010 galten nach wie vor Beschränkungen für 355 Schäfereien in Wales.16 Insgesamt wurde die Normalität des alltäglichen Lebens in Westeuropa durch Tschernobyl jedoch nur geringfügig und kurzfristig beeinträchtigt.

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Im Unterschied hierzu hatten sich die Menschen in der Sowjetunion kaum eine Vor-stellung von den Risiken der zivilen Atomenergienutzung gemacht. Die etwa 100.000 Menschen, die in den ersten Tagen und Wochen nach der Katastrophe evakuiert wurden, hatten keine Ahnung davon, dass sie ihre Häuser für immer verlassen mussten, und noch mehrere hundertausende weitere Menschen in den nächsten Jahren das gleiche Schicksal treffen würde. Sie gingen von einer Evakuierung von wenigen Tagen aus und ließen entsprechend den Anordnungen all ihr Hab und Gut einschließlich ihrer Haustiere zurück. Diese überwiegend durch Militärs organisierte kurzfristige Eva-kuierung rief bei vielen Menschen Assoziationen an die Flucht nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941 hervor. Auch in der Folgezeit blieb der Kriegsvergleich dominant, sowohl im heroischen Kampf der „Liquidatoren“, wie die Rettungsmannschaften zur Eindämmung der Katastrophenfolgen genannt wurden, als auch bei den Ausmaßen der Katastrophe: Wie im Zweiten Weltkrieg war jeder vierte Einwohner von Belarus durch die Katastrophenfolgen betroffen. Selbst die verlassenen Dörfer, in denen zahlreiche Holzhäuser niederbrannten, erinnerten an den 2. Weltkrieg. Denn auch von ihnen blieben nur die steinernen Schornsteine zurück, wie dies eindrücklich in der bekannten Gedenkstätte Chatyn zum Ausdruck gebracht wird, die zur Erinnerung an die während des 2. Weltkrieges vernichteten Dörfer errichtet worden war.17

Während in Westeuropa die Tschernobyl-Katastrophe somit als eine neuartige Katastrophe wahrgenommen wurde, welche für die zukünftigen globalen Risiken der modernen Technologiegesellschaft steht, wurde sie in der damaligen Sowjetunion überwiegend mit den Kategorien der Vergangenheit bearbeitet sowie als lokal begrenzt und liquidierbar dargestellt. Deutlich hat dies Swetlana Alexijewitsch in ihrem Buch „Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft“ herausgearbeitet, in dem die von ihr befrag-ten Zeitzeugen zwar das Besondere der Katastrophe erahnen, aber hierfür noch keine angemessene Sprache haben und die neue Realität nur notdürftig mit Kriegsverglei-chen etc. umschreiben können.18 Als es 1988 und 1989 im Rahmen der so genannten „Volksdiplomatie“ verstärkt zu offenen Begegnungen von belarussischen und deutschen Bürgern kam, herrschte auf belarussischer Seite oft Fassungslosigkeit darüber, dass in Deutschland wesentlich mehr erkennbare Vorsichtsmaßnahmen als im eigenen Lande mit der um ein Vielfaches höheren radioaktiven Belastung getroffen worden waren. Zudem hatten die Menschen in Deutschland und anderen westeuropäischen Staaten wesentlich mehr eigene Handlungsmöglichkeiten, da – im Unterschied zur Sowjet-union – beispielsweise Strahlenmessgeräte frei erwerbbar waren bzw. unabhängige Institute, wie das Öko-Institut in Darmstadt, existierten.

Ungeachtet der deutlichen Unterschiede in der Wahrnehmung von Tschernobyl zwischen Ost und West stellten die Menschen bei ihren Begegnungen gleichwohl

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fest, dass die Katastrophe bei ihnen ähnliche Ängste und Sorgen um die Gesundheit ihrer Kinder etc. auslösten. Hierzu gehörte auch, dass es in beiden Ländern vor allem die Frauen und Mütter waren, die durch Tschernobyl sensibilisiert wurden und sich zu aktivem Handeln aufgerufen sahen. In zahlreichen Ländern bildeten sich daher Initiativgruppen, welche durch praktische Hilfe einen Beitrag zur Milderung der Ka-tastrophenfolgen in Belarus und der Ukraine leisten wollten. Besonders ausgeprägt war diese Bewegung in Deutschland, wo die Hilfe häufig auch aus dem Streben nach praktischer Versöhnung für die von Deutschen während des Zweiten Weltkrieges begangenen Verbrechen motiviert wurde. Die in Belarus gängigen Kriegsvergleiche kamen dem entgegen.19

Neben den Kategorien der Gegenwart und der Vergangenheit ist für die Wahrnehmung der Tschernobyl-Katastrophe ihre Einordnung als Katastrophe des sowjetischen Systems oder als globale Katastrophe, die sich unabhängig von politischen Zusammenhängen in jedem Atomkraftwerk hätte ereignen können, von besonderer Bedeutung. Da das sowjetische Katastrophenmanagement nach Tschernobyl mit seiner mehrjährigen Schweige politik das Vertrauen der Sowjetbürger in ihr politisches System zutiefst erschütterte, nutzten die sich neu bildenden alternativen politischen Kräfte in der Sow-jetunion die Katastrophe zur Diskreditierung des herrschenden sowjetischen Systems. In Belarus und der Ukraine inszenierten die nationalen Kräfte sogar eine Art „zweiten Nürnberger Prozess“, indem sie im April 1991 „Volkstribunale“ in Kiew und Minsk durchführten.20 Damit verblieben sie im Rahmen des vorherrschenden öffentlichen Diskurses, der die Tschernobyl-Katastrophe mit Kategorien des Zweiten Weltkrieges verarbeitete – bzw. versuchten diesen in ihrem Interesse zu nutzen.

In Westeuropa wurde hingegen weiten Teilen der Öffentlichkeit deutlich, dass auch das Katastrophenmanagementsystem in den eigenen Ländern im Falle eines Supergaus hoffnungslos überfordert wäre und mit einer vergleichbaren Geheimhaltungspolitik zum Zwecke der Panikvermeidung zu rechnen wäre. Aus diesem Grunde diente die Katastrophe in den öffentlichen Debatten vieler Länder als zentrales Argument für den Ausstieg aus der zivilen Atomkraftenergienutzung, wie er beispielsweise in Italien im November 1987 per Volksabstimmung beschlossen wurde. In Deutschland schuf die schwarz-gelbe Koalition in Reaktion auf Tschernobyl das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Obwohl sich bereits damals ein öffentlicher Konsens entwickelte, der die Atomenergie als Übergangsenergie begriff, erfolgte der offizielle Beschluss zum Atomausstieg erst durch die 1998 gewählte rot-grüne Regierung. In anderen Ländern, wie beispielsweise Frankreich, wurde die zivile Atomenergienutzung nicht in Frage gestellt, während in weiteren Ländern, wie

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136 KONzepTe DeR HILFe ‑ KINDeReRHOLUNG

I. Kindererholung

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137KONzepTe DeR HILFe ‑ KINDeReRHOLUNG

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138 KONzepTe DeR HILFe ‑ KINDeReRHOLUNG

I. Kindererholung

Isolde Baumgärtner

1. Kindererholung im Ausland

In den verstrahlten Gebieten in Belarus, der Ukraine und in Westrussland leben heute immer noch über 5 Millionen Menschen, davon vermutlich weit mehr als eine Million Kinder und Jugendliche. Der Gesundheitszustand von 90% dieser Kinder wird von den Ärzten als sehr schlecht eingestuft. Der im Wachstum begriffene kindliche Körper reagiert auf ionisierende Strahlung sehr viel empfindlicher als Erwachsene.

Die häufigste Folgeerscheinung ist eine permanente Schwächung des Immunsystems (auch als Tschernobyl-Aids bezeichnet), die dazu führt, dass jede kleine Erkältungs-krankheit oder Entzündung sehr langwierig verläuft. Die Kinder sind in der Regel äußerst blass und abgespannt. Die Gefahr, dass bei bereits geschwächtem Immun-system sich chronische oder schwere Erkrankungen entwickeln, ist groß. So hängt die Sorge um die Gesundheit ihrer Kinder wie ein Damoklesschwert über den Eltern und erschwert jeden Versuch, ein „normales“ Familienleben zu führen. Die Kinder leben in einer erheblichen psychischen und seelischen Stresssituation, die schlichtweg daher rührt, in einer Welt von Verboten und Einschränkungen leben zu müssen. Wilde Beeren essen oder Pilze sammeln ist verboten. In diesem Wald oder auf jener Wiese herumzutollen ist nicht ratsam. Die im eigenen Garten angebauten Früchte und das selbstgezogene Gemüse ist nicht „sauber“, aber weil die Arbeitslosigkeit hoch ist, die Einkommen gering sind und die Menschen keine Möglichkeit haben, sich mit unver-strahlten Lebensmitteln zu versorgen, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als das zu essen, was sie selbst anbauen. Der einzige Schutz vor den schädlichen Strahleneinflüssen durch die Nahrungsaufnahme wäre die Umsiedlung all dieser Menschen in andere Regionen, aber die Aufgabe, für mehrere Millionen Menschen neue Häuser, Dörfer, Städte, Kindergärten, Krankenhäuser, Straßen usw. zu bauen sowie neue Arbeitsplätze zu schaffen – diese Aufgabe ist so gigantisch, dass die betroffenen Staaten nach den ersten großen Umsiedlungen der Jahre 1986 und 1991 aus den besonders verstrahlten

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Gebieten, die inzwischen zur Sperrzone gehören (über 40 Curie/km2) keine weiteren Umsiedlungen mehr durchgeführt haben.

1990/91, als bereits viele Kinder in den verstrahlten Gebieten ernsthaft krank waren und die Menschen endlich genaueres darüber wussten, welcher hohen Strahlenbelastung sie ahnungslos seit Jahren ausgesetzt waren, begannen auch die ersten Kindererholungsreisen nach Europa, Japan, USA, Kanada und anderswohin. Die ehemalige Friedensaktivistin Adi Roche, Gründerin von „Chernobyl Children International“ in Irland erzählt von dem SOS-Hilferuf belarussischer Ärzte, der in Form eines Faxes in ihr Büro flatterte. Er lautete: „Um Gottes willen, helft uns, unsere Kinder hier rauszuholen“.2

Andere Hilfsappelle von belarussischen und ukrainischen Ärzten, Wissenschaftlern oder Abgeordneten blieben nicht ungehört.

Nicht anders als in früheren Not- oder Kriegszeiten, in denen Kinder vor kriege-rischer Gewalt, Bombardement oder drohendem Hunger in sichere Gegenden oder Länder gebracht wurden – die umfangreichsten Kinderverschickungen fanden bis dahin während des Zweiten Weltkrieges statt – kam es nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl zu einer beispiellosen internationalen Hilfsaktion, bei der die „Kinder von Tschernobyl“ zur Erholung zumeist ins europäische Ausland eingeladen wurden. Der Unterschied bei den Erholungsmaßnahmen für die „Kinder von Tschernobyl“ ist allerdings, dass die Ausgangssituation – das Leben in einem verstrahlten Gebiet – auch für die nach 1986 geborenen Kinder im wesentlichen dieselbe ist, wie für jene ersten „Tschernobylkinder“, aus denen inzwischen junge Erwachsene geworden sind. So hat sich an der Notwendigkeit zur Kindererholung selbst im Laufe der letzten 20 Jahre nichts geändert.

Allein für Belarus lässt sich nach offiziellen Angaben konstatieren, dass seit 1990 rund 860.000 Kinder einen Erholungsaufenthalt im Ausland erlebt haben. Belarus ist das Land, das am meisten unter der Katastrophe zu leiden hat. 70% des radioaktiven Fallouts sind über dieses Land gekommen. Betroffen waren vor allem die Regionen Gomel und Mogiljow im Süden des Landes (die dem Kernkraftwerk Tschernobyl am nächsten liegen), aber aufgrund des radioaktiven „Flickenteppichs“, der ganz Belarus übersät, sind auch weit entfernt gelegene Regionen betroffen. Wenn man die Ukraine und Westrussland in die Schätzung einbezieht, so kann man sicherlich von weit über einer Million Auslandsaufenthalten von Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen 5 und 17 Jahren ausgehen, die die Chance hatten, sich ein oder mehrmals in einem fremden Land zu erholen.

Für die Gesundheit dieser Kinder bedeutet ein durchschnittlich vierwöchiger Erho-lungsaufenthalt in frischer Luft, mit Spiel und viel Bewegung, vitaminreicher, gesunder Nahrung eine enorme Stärkung ihrer seelischen und körperlichen Verfassung. Alle

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II. Medizinische Projekte

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II. Medizinische Hilfe und Projekte

Isolde Baumgärtner

Die tragische Dimension der Folgen von Tschernobyl lässt sich nicht alleine aus den Statistiken über rasant gestiegene Krebserkrankungen in Belarus und der Ukraine ermessen oder etwa in der Zahl der an ihrer Krankheit verstorbenen Strahlenopfer. Sie zeigt sich in der Gleichzeitigkeit zweier katastrophaler Entwicklungen, die weni-ge Jahre nach Tschernobyl einsetzten. Der wirtschaftliche Niedergang der einstigen Sowjetrepubliken und dessen drastische Folgen für die sozialen Sicherungssysteme, allen voran das Gesundheitswesen, vergrößerte die Not derer, die nach Tschernobyl so dringend einer guten medizinischen Versorgung oder auch psychologischen und sozialen Hilfe bedurften.

Das staatliche Gesundheitssystem der Sowjetunion blieb im Fachwissen und der medizintechnischen Ausstattung bereits vor der Katastrophe von Tschernobyl weit hinter dem westeuropäischen Stand der medizinischen Versorgung zurück – sieht man von einigen privilegierten Kliniken in Moskau oder Petersburg ab. Mit dem Zerfall der Sowjetunion und der wirtschaftlichen Deterioration der einzelnen Nachfolgestaaten verschlechterte sich das ohnehin marode Gesundheitssystem weiter bei gleichzeitig steigendem Bedarf an lebenswichtigen Medikamenten, hochwertiger medizinischer Versorgung und gut ausgebildeten Ärzten. Die Zustände in ukrainischen oder belarus-sischen Kliniken, von denen Tschernobylorganisationen in der ersten Hälfte der 90er Jahre berichten, sind haarsträubend, und sie sind es zum Teil bis heute geblieben, was den ländlichen Raum in einzelnen Gebieten angeht. Viele Organisationen erkannten, dass nicht allein humanitäre Güter wie Kleider, Nahrung, alltägliche Bedarfsartikel im Land gebraucht würden, sondern in aller erster Linie die medizinische Hilfe, die den Opfern von Tschernobyl und nicht nur diesen zugute käme.

So begannen in allen europäischen Ländern Tschernobylorganisationen und zum Teil auch die Regierungen selbst eine umfassende medizinische Hilfe zu leisten, die bis heute anhält. Sie umfaßt sowohl die Versorgung mit medizinischem Spezialgerät als auch die Vermittlung des nötigen ärztlichen und therapeutischen Know-hows in

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Weiterbildungsmaßnahmen, innovative Zugänge in zahlreichen sozialmedizinischen Projekten als auch die Einzelfallhilfe. Der Bedarf an medizinischer Hilfe sinkt trotz all dieser umfangreichen Anstrengungen keineswegs, denkt man nur an Krankheiten, die - zum Beispiel im Falle von Schilddrüsenkrebs - eine lebenslängliche postoperative Versorgung der Patienten mit Medikamenten oder, wie im Falle jugendlicher Diabetes, die ständige Verabreichung von Insulin erforderlich machen.

Was nach europäischem Maßstab eine Selbstverständlichkeit darstellt, ist in der Ukra-ine oder Belarus alles andere als dies. Das staatliche Gesundheitssystem kann vielfach schon allein die Grundversorgung mit lebenswichtigen Medikamenten nicht mehr ge-währleisten, von schwierigen Operationen bei lebensgefährlichen Erkrankungen ganz zu schweigen. In der Ukraine etwa, wo es keine staatliche Krankenversorgung mehr gibt, die auch nur annähernd die Kosten von langwierigen Behandlungen abdeckt, müssen die Menschen selbst für alles aufkommen. Bei einer akuten Leukämie zum Beispiel werden je nach Alter des Kindes mindestens 385 € monatlich (!) benötigt. Das Durchschnittseinkommen liegt bei 200 € monatlich. Da es sich bei Tschernobylop-fern hauptsächlich um chronisch oder schwer erkrankte Menschen handelt, können die Familienangehörigen selten aus eigener Kraft die Kosten bezahlen. Das spärliche Budget zum Leben wird durch die Kosten für die Behandlung oder die medikamentöse Grundversorgung so stark belastet, dass die weitere Verarmung unausweichlich ist. Umgekehrt ist es für die heimischen Ärzte oft unerträglich deprimierend, kranken Menschen allein aufgrund der medizinischen Unterversorgung oder fehlender Medi-kamente nicht helfen zu können, obwohl dies möglich wäre.

So unabsehbar, wie die gesundheitlichen Folgen für die vom Tschernobylunglück betroffene Bevölkerung immer noch sind, so unabsehbar bleibt auch der Bedarf an notwendiger medizinischer Hilfeleistung für die Zukunft. Dennoch hat die euro-päische Solidaritätsbewegung mit den Tschernobylopfern gerade in diesem Bereich auf beispiellose und umfassende Weise sowohl innovative als auch strukturelle Hilfe geleistet, die erheblich zur Linderung der Leiden der betroffenen Menschen und vor allem der Kinder beigetragen hat und weiterhin beiträgt.

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III. Soziale Projekte

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III. Soziale Projekte

Isolde Baumgärtner

Es ist der internationalen Tschernobyl-Solidaritätsbewegung und der Kontinuität ihrer Arbeit vor Ort zu verdanken, dass für besonders schutzbedürftige soziale Gruppen wie Waisen, Kinder und Erwachsene mit Behinderungen, aber auch alte Menschen, Frauen, Jugendliche oder kinderreiche Familien mancherorts erhebliche Verbesserun-gen ihrer oft dramatischen Lebenssituation erreicht werden konnten. Wenn es zum Beispiel heute das erklärte Ziel der belarussischen wie ukrainischen Regierung ist, in absehbarer Zeit staatliche Waisenhäuser zu schließen und den Kindern verstärkt Adoptiveltern zu vermitteln bzw. sie in Familien- oder Gruppenhäusern unterzu-bringen, so ist dies sicher auch auf die Verbreitung und Diskussion von alternativen Konzepten oder auf die Einrichtung von Modellprojekten zurückzuführen, die aus-ländische Organisationen zusammen mit ihren Partnern vor Ort und überwiegend in Kooperation mit staatlichen Behörden in den letzten zwei Jahrzehnten implementiert und durchgeführt haben. Gerade im sozialen Bereich haben sich Behörden der ver-schiedensten Ebenen aufgrund des Problemdrucks der Zusammenarbeit mit in- und ausländischen zivilgesellschaftlichen Partnern am verbindlichsten geöffnet, vom lo-kalen Sozialfürsorgezentrum bis hin zu den entsprechenden Ministerien für Soziales, Gesundheit oder Erziehung.

So kann man einerseits konstatieren, dass das internationale Engagement hier be-sonders nachhaltige Wirkungen gezeitigt hat und von der langjährigen Projektarbeit selbst neue Impulse für die Lösung sozialer Probleme ausgingen und weiterhin ausgehen. Andererseits zeigt sich aber besonders in diesem Bereich der Wandel der Solidaritäts-bewegung, den diese in zwei Jahrzehnten vollzogen hat – von der humanitären Hilfe der Anfänge hin zu einem auf Know-how gegründeten Expertenstatus, den inzwischen viele ausländische zivilgesellschaftliche Organisationen und ihre inländischen Partner bei staatlichen Stellen genießen. Dass sich diese internationale zivilgesellschaftliche Hilfe und Projektarbeit inzwischen nicht mehr nur auf die spezielle Gruppe der direkten Tschernobylopfer eingrenzen lässt, ist bei der in den betroffenen Ländern allgemein vorherrschenden wirtschaftlichen und sozialen Problemlage fast selbstredend.

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1. Projekte für Menschen mit Behinderungen

Die Situation von Kindern und Erwachsenen mit Behinderungen in staatlichen Heimen

Zu den schrecklichsten Folgen von Tschernobyl gehört der Anstieg bei der Zahl von Kindern mit körperlichen und geistigen Behinderungen, die nach 1986 in den kontaminierten Gebieten geboren wurden bzw. deren Mütter zu diesem Zeitpunkt der radioaktiven Strahlungen ausgesetzt waren. Nach manchen Schätzungen hat sich zum Beispiel allein in der Region Gomel die Zahl der mit Behinderungen geborenen Kinder seit der Katastrophe um 80% erhöht.2 Doch – ähnlich wie bei der mangelnden medizinischen Versorgungssituation nach Tschernobyl – ist die prekäre Lebenssitua-tion dieser besonders betroffenen Kinder und Jugendlichen durch die überkommene gesellschaftliche Haltung zu Menschen mit Behinderungen zusätzlich erschwert, die zu den dunkelsten Seiten des sowjetischen Erbes gehört. Ein Kind mit Behinderung zu haben, wurde in der Sowjetzeit als eine Schande oder ein Fluch betrachtet, und vor allem die Väter taten sich sehr schwer, ein behindertes Kind in der Familie groß-zuziehen. So rieten die Ärzte den Müttern in der Regel direkt nach der Geburt, ihr behindertes Kind in ein staatliches Heim – den sogenannten „neuropsychologischen Internaten“ – zu geben. Aus schlichtem Mangel an elementarer Unterstützung, ohne Medikamente, Therapiehilfen, Rollstühle, Tagesstätten oder anderen Betreuungs-möglichkeiten befolgten daher viele verzweifelte Mütter diesen Rat.

Was dies für das betroffene Kind bedeutete, erlebten ausländische Hilfsorganisa-tionen Anfang der 90er Jahre, als sie zum ersten Mal diese staatlichen Orte der „Verwahrung“ betraten. Simon Walsh von der irischen Freiwilligenorganisation „Chernobyl Children’s Trust“ erinnert sich bis heute an diesen Schock: „Kinder mit verschiedenen Behinderungen, die unter den entsetzlichsten Bedingungen lebten, dies gehört zu meinen frühesten und schrecklichsten Erinnerungen. Diese Kinder waren in einen „Schweinestall“ eingepfercht – nur so kann man das Innere jener riesigen Einrichtung irgendwo außerhalb von Minsk nennen. An diesem Ort ver-lebten die Kinder ihre Tage, meist ohne Zuwendung und Aufsicht, ohne auch nur die geringste Stimulation von außen. Ein überwältigender Gestank führte einen zu nackten Betonwänden und nackten Betonböden, die mit Urin und Exkremen-ten bedeckt waren. Einige Kinder waren durch niedrige Betonwände in einer Art Einzelzelle von anderen abgetrennt, während andere mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Behinderungen untereinander agierten. Das war das Leben, das sie kannten, das war ihre Wirklichkeit.“

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