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BM ‚Politische Systeme‘

Wie wandeln sich politische Systeme?

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Gliederung der Vorlesung

I. Was ist Politik?II. Was ist ein ‚politisches System‘?III. Warum und wie vergleicht man politische

Systeme?IV. Wie läßt sich politische Macht ausüben und

bändigen?V. Welche Arten politischer Systeme gibt es?

VI. Wie wandeln sich politische Systeme? VII. Welche Strukturen und Funktionen besitzen die

zentralen Elemente moderner politischer Systeme?

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Gliederung des Gedankengangs

Ko-Evolution von System und Systemumwelt

Theorie der RevolutionDie Einzelformen von Systemwandel und

Systemwechsel im Zusammenhang:EvolutionRevolutionTransformation ‚Verfassungskreisläufe‘

scheiternde Staatlichkeit

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System, Umwelt und Wandel

Reaktion des Systems auf Wandel in seiner Umwelt

Wandel

Wandel

Wan

de

l

Anpassung

Ausweichenoder Überleben in NischenEndeder Selbst-reproduktion

zentrales politisches

Entscheidungssystem

Gesellschaft

inter-nationales

System

globale Umwelt

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Basis und Überbau

Produktivkräfte:Technik & Bildung

Produktionsverhältnisse:Funktionslogik unabhängig von Wertungen und Wünschen

gesellschaftliche Basis

politische Institutionen

systematisierte gesellschaftliche Leitideenund Wertemuster

Überbau

Produktivkräfte:Technik & Bildung

Produktionsverhältnisse:Funktionslogik unabhängig von Wertungen und Wünschen

gesellschaftliche Basis

Entwick

lung

‚Widerspruch‘

Reform oder Revolution

erneuerterÜberbau

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Die Revolution

Wandel:

• Desynchronisation von politischem Prozeß und Umweltwandel

Funktionsdefizite des zpES

verfügbareInstitutionen

Steuerungsmuster

der Eliten

‚Auslöser‘

Autoritätsverlust des zpES

Systemerhaltung durch

Repression

Ergebnis abhängig von den Machtverhältnissen

und derTatkraft der Akteure

revolutionäre Erhebung

durchbricht die Abschreckungslogik

des zpEsProtest:System ändern!

Protest:Wandel stoppenoder korrigieren!

rascher Systemumbau

Gesellschaft

zpEs

Polarisierung

endogen exogen

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‚Antizipationsschleifen-Politik‘Wenn ...

die Adressaten einer Handlung wissen, daß diese Handlung eintreten und sicher ganz bestimmte Folgen haben wird

oder wenn ...der Autor einer Handlung weiß, daß die Adressaten

seiner Handlung (darum) ganz sicher auf eine bestimmte Weise reagieren werden

dannreicht es für den Autor der Handlung meist aus, seine

Handlung nur anzudeuten oder zu symbolisieren,aber nur solange wie ...

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Exogener Wandel

= in der Umwelt des Systems:politische Umwelt: etwa Nachbarstaat wird

aggressiv, neue Fernwaffen schaffen Bedrohung

wirtschaftliche Umwelt: Krise im internationalen Wirtschafts- und Finanzsystem

gesellschaftliche: Bevölkerungsdruck in anderen Staaten und Migration aus ihnen nimmt zu

natürliche Umwelt: Klimawandel, Überflutungen, Erdbeben, GAU

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Endogener Wandel

= erzeugt im System selbst: technischer Wandel: neue Techniken verändern

die Struktur der Arbeitswelt (Produktivkräfte Produktionsverhältnisse)

wirtschaftlicher Wandel: Gesellschaft verliert internationale Konkurrenzfähigkeit, Inflation

gesellschaftlicher Wandel: Überalterung, Einwanderung ohne Lösung des Integrationsproblems, Klassenkonflikt

kultureller Wandel: Zerfall alter Wertgrundlagen, Ausbreitung neuer, mit dem bisherigen System nicht kompatibler handlungsleitender Werte

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Funktionsdefizite des zpEs Fixierung auf ideologische (Wunsch-)Vorstellungen

Festhalten an bisherigen Sichtweisen und ‚politisch korrekten‘ Lagebeurteilungen

Verlust an Responsivität Parteien, Interessengruppen, Medien entwickeln weniger

Initiative und Kritik Input wird eher abgeschottet als gesucht

Verlust an Steuerungsleistung politische Klasse befaßt sich eher mit eigenen Interessen

als mit gesellschaftlichen Problemen die politischen Institutionen funktionieren nur mit großen

Reibungsverlusten

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Desynchronisation von politischem Prozeß und Umweltwandel

unbeseitigbare Uneinigkeit über konkrete Zielsetzungen

‚Schönwetter-Institutionen‘ funktionieren nicht mehr richtig (z.B. anhaltende Regierungsinstabilität wegen verantwortungsscheuer Parteien)

friedliche Konfliktbeilegung (etwa durch allgemein

akzeptierte Mehrheitsentscheidung) gelingt nicht mehrVermittlung systemstabilisierender

politischer Wertemuster und Verhaltensweisen mißlingt bei Eliten und Bürgerschaft mehr und mehr

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Bewältigung von Wandel und politische Institutionen

in der Regel gut geeignet, Wandel zu verarbeiten und sich ihm entsprechend selbst weiterzuentwickeln: Institutionen einer pluralistischen Demokratie

Probleme: allzu konsensabhängiges zpEs fortgeschrittener informeller Verfall der formalen

Institutionen in der Regel schlecht geeignet, Wandel zu

verarbeiten und sich ihm entsprechend selbst weiterzuentwickeln: Institutionen einer autoritären Diktatur Ausnahme: entschlossen und kompetent geführte

Entwicklungsdiktaturen während ihrer ‚Aufbruchsphase‘

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Bewältigung von Wandel und die Steuerungsmuster politischer Eliten

Reformismus: systembewahrender Wandel ‚Der wahre Konservative ist ein Reformer!‘

Einbinden der Führer von Protestgruppenzielgerichtete Responsivitätssteigerungsymbolisch-befriedende Wirkung

‚Durchwursteln‘ ‚Politik der pragmatischen Aushilfen‘

‚harte Linie‘ abnehmender Nutzen

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Begriffe

Zentrale Begriffe für die Analyse von Systemwandel sind:

EvolutionRevolutionTransformation

Ergebnis: Systemwechsel

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Evolution

schrittweise Weiterentwicklung bestehender Strukturen oder Ausdifferenzierung von Sub- bzw. Suprasystemen (‚Inkrementalismus‘)

unter den Bedingungen von Versuch und Irrtum, mit der Umwelt als ‚Überprüfungsinstanz‘ und Selektor

ohne jegliche Erfolgsgarantie, sondern mit dem Risiko, in Sackgassen der Entwicklung zu geraten

sowohl kontingent als auch pfadabhängig keinesfalls teleologisch (Historizismus) im Fall immer wieder erfolgreicher

Umweltanpassung retrospektiv erschließbar als Prozeß ‚institutionellen Lernens‘

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Kontingenz

Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716): „Contingens est quod nec impossibile nec necessarium“deutsch: „Kontingent ist, was weder unmöglich noch notwendig ist“

D.h.: ‚Kontingenz‘ meint, daß den Lauf der Dinge verändernde Ereignisse und Prozesse ... aus gleich welchen Gründen mit gleich welchen Wahrscheinlichkeiten zwischen 0 und 1 in einem System oder in dessen Umwelt

auftreten und so die Entwicklung eines Systems, oder von dessen Umwelt, in wenig vorhersehbarer Weise beeinflussen.

Folgenreich für Systementwicklung und Systemgeschichte: ‚doppelte Kontingenz‘ – einesteils im System, andernteils in dessen Umwelt.

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Pfadabhängigkeit t4: zwei längst getrennte Pfade kommen wieder zusammen!

nur im Nachhinein, bei der historischen Analyse, klar erkennbare Entwicklungen

Geschichte

t4

t2: Pfade A und B trennen sich von C und

D

A

B

C

D

t3t2t1

t1: noch istalles möglich!

t3: Pfade A und B trennen sich

„kein

Weg

füh

rt meh

r von

A n

ach

D, u

nd

d

och

....!“

nicht vorhersehbare Ergebnisse

kontingente Abzweigungen

man schleppt mit, w

as man

wurde

Prägekraft ‚der Evolution‘

off

ene Z

uku

nft

irre

vers

ible

r Abla

uf

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Teleologie und Teleonomie

Unterschied zu verstehen analog zu dem zwischen Astrologie und Astronomie

Teleologie: ein System trägt sein Ziel in sich d.h.: es hat eine notwendige Entwicklungsrichtung und

Geschichte Teleonomie:

ein System hat eine bestimmte Struktur und Funktionslogik die Freiheitsgrade seiner Weiterentwicklung sind darum

eingeschränkt, d.h.: es kann nicht zu jedem beliebigen Zeitpunkt alles werden

anders formuliert: seine Entwicklung ist nicht notwendig, sondern kontingent, und dabei pfadabhängig

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Historizismus

(Irr-)Lehre, daß die Geschichte einen objektiv notwendigen Verlauf nimmt

Folgerungen aus dieser (Irr-)Lehre: Man kann den notwendigen Verlauf der Geschichte objektiv

erkennen. Das Ziel von Geschichts- und Sozialwissenschaft besteht darin,

den notwendigen Gang der Geschichte objektiv zu erkennen. Politik soll solche Erkenntnis beherzigen und – auf der Grundlage

einer derartigen ‚wissenschaftlichen Weltanschauung‘ – das geschichtlich objektiv Notwendige herbeiführen ( Gemeinwohl a priori)

NB: Nicht zu verwechseln mit ‚Historismus‘, d.h. einer geschichtswissenschaftlichen Schule und Epoche, welche ihren Gegenstand möglichst genau beschreiben und aus sich selbst heraus, am besten entlang seines Selbstverständnisses, verstehen wollte.

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Revolution

tiefgreifende Umgestaltung eines politischen Systems samt Austausch der obersten Schichten politischer Eliten

zu unterscheiden von ‚Staatsstreich‘, ‚Putsch‘ oder ‚Palastrevolution‘, bei denen nur die oberste politische Führungsgruppe ausgetauscht, in der Regel aber nicht das System verändert wird

Ausgangspunkt ist in der Regel eine – mitunter recht zufällig eingetretene – Systemkrise

ob friedlich oder gewaltsam vollzogen, hängt ganz von den je besonderen Umständen ab

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Transformation

= jener Prozeß, in demnach einem revolutionären Regimewechsel in einem sehr raschen evolutionären Prozeß

die gesamte politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Struktur einer Gesellschaft insgesamt oder in wesentlichen Teilen

umgeformt wird ... umfangreiche Theoriebildung zur

Transformationsforschung; etwa: P.

Merkel

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Transformation

Wichtige Formen von Systemwechseln

Verfall eines freiheitlichen Verfassungsstaates; Ersetzungdurch autoritäre Diktatur

Aufbau und Abklingen vonTotalitarismus

Wandel von autoritären Diktaturenzu freiheitlichen Verfassungsstaaten

ferner: ‚Scheitern‘ von Staaten

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Historische Tatsachen I ‚Staatlichkeit‘ ist eine Ausnahmeform politischer Ordnung

Beispiele: Ägypten, Hethitisches Reich, mesopotamische Reiche, Persien, griechische Poleis, Karthago, Rom/Byzanz; europäische ‚Staaten‘ seit dem Frankenreich, Rußland; China, Japan; mittelamerikanische Staaten (Maya, Azteken), Inka; Äthiopien, Timbuktu, Benin …; arabische Reiche, osmanisches Reich …

viel häufiger: ausgedehnte herrschaftslose Räume mit instabilen und oft eher clanartigen als fest institutionalisierten machtausübenden Gruppen Beispiele: große Teile des Mittelmeerraums bis zur phönizischen und

später griechischen Kolonisation; Nordeuropa bis zum (Früh-) Mittelalter, Sibirien bis zum russischen Imperialismus; große Teile von Afrika, Amerika und Australien bis zum Kolonialismus/Imperialismus

nicht selten auch: ‚Übergangszustände‘ zwischen ‚autonomen Stammesstrukturen‘ und ‚loser Oberherrschaft einer Hegemonialgewalt‘ Beispiele: Peripherie der antiken Großreiche, große Teile West- und

Mitteleuropas zwischen Völkerwanderung und Frühmittelalter, große Teile Afrikas in den ersten gut zwei Jahrhunderten des Kolonialismus

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Historische Tatsachen II ‚Moderne Staatlichkeit‘ entstand in Europa seit den Religions- und Bürgerkriegen

des 16./17. Jahrhunderts. Kulturelle Voraussetzungen u.a.: sehr konkretes Nachwirken von römischer Reichsidee

und römischem Recht, Institutionenmodell und Regierungspraxis der römischen Kirche. Mit der außergewöhnlichen technischen Entwicklung Europas und dem so möglich

gewordenen Kolonialismus / Imperialismus werden die Leitideen und institutionellen Formen europäischer Staatlichkeit über einen Großteil der Erde verbreitet. Achtung: zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren außer v.a. China, Japan, Thailand und

Äthiopien nur sehr wenige Gebiete der Erde nicht unter die (indirekte) Regierungsgewalt europäischer Staaten geraten!

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schaffen Entkolonisierung und kommunistische Revolutionen in den allermeisten Ländern der Erde politische Strukturen, die der europäischen Staatlichkeit nachgebildet sind. Wichtiger Stabilisierungsfaktor: weltweit prägender Ost/West-Konflikt samt ‚Kaltem Krieg‘. In genau dieser Zeit wird das System der modernen internationalen Beziehungen immer

komplexer, dessen Rechtsgrundlagen auf der Annahme beruhen, alle bewohnten Gebiete der Erde gehörten zu für sie verantwortlichen souveränen Staaten.

Seit dem Ende des Ost/West-Konflikts beobachten wir den Wegfall von dessen Stabilisierungsleistung sowie Prozesse, in denen Staatlichkeit zusammenbricht (etwa: Somalia), mühsam von außen stabilisiert wird (z.B. multinationale Protektorate wie auf dem Balkan) oder sich nach Zerstörung von außen kaum mehr wieder errichten läßt (z.B. Afghanistan, Irak).

Faustformel: „Staatlichkeit ist ein europäischer Exportartikel, dessen Import oft mehr Probleme schuf als löste!“

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Warum brechen Staaten zusammen?

Aufpfropfen der europäischen Form von Staatlichkeit auf Gesellschaften, die dafür weder eine Notwendigkeit noch die Voraussetzungen haben und denen auch noch die Idee einer festen Einheit von Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt fremd ist (= mangelnde ‚governmentality‘) trifft auf fast ganz Afrika und auf Teile Asiens zu Zusammenbruch der dortigen ‚Quasi-Staatlichkeit‘ bei Einschränkung von materieller

und militärischer Unterstützung der jeweils regierenden Eliten zu kurze Zeiten einer ‚geschützten‘ Entwicklung, bei der die einmal

implementierten ‚europäischen‘ Institutionen ihrerseits ein sich ihnen anpassendes gesellschaftliches und kulturelles Umfeld hätten schaffen können in Europa: 350jähriger Staatswerdungsprozeß zwischen Hochmittelalter und Neuzeit! Weltweites Problem hingegen:Befreiungskriege, sozialistische Revolutionsversuche,

Invasionen von Nachbarstaaten, Bevölkerungsdruck, Zerstörung des traditionellen Sozialgefüges durch neue industrielle und urbane Siedlungen, Zerstörung des regionalen Wirtschaftsgefüges durch dichten Anschluß an den Weltmarkt und seine Dynamik

ungünstiges Verhältnis zwischen dem Nutzen und den Kosten von Staatlichkeit gerade während solcher – so die Hoffnung – ‚Übergangsperioden‘

Wegfall von innerem Stabilisierungsdruck, wie ihn eine Diktatur ermöglicht etwa: Sowjetunion, Jugoslawien, Afghanistan, Irak …

Achtung: Keine einfachen Zusammenhänge zwischen diesen Faktoren und dem Zusammenbruch von Staatlichkeit!

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Nachfolgeprobleme des einstigen Siegeszugs ‚europäischer Staatlichkeit‘

Zerstörung der Tradition alternativer politischer Ordnungsformen seit dem imperialistischen Institutionentransfer und den kommunistischen Revolutionen auf allen vom europäischen Kolonialismus und Imperialismus betroffenen Kontinenten ‚problemlos‘ nur dort, wo lange Zeit auch eine neu und vor allem aus Europa

zugewanderte Bevölkerung dominierte: USA, Kanada, Australien; mit Einschränkungen: Südamerika

Verbindung ‚europäischer‘ Institutionenruinen mit regionalen Traditionen zu wenig lebensfähigen politischen Systemen, v.a. in Afrika

Fehladaptation des internationalen Staatensystems auf die sehr brüchige Voraussetzung gesicherter Staatlichkeit in weiten Teilen der Erde

Umsetzung des Glaubens an den Wert europäischer Staatlichkeit (mit u.a. Gewaltenteilung, weltanschaulichem Pluralismus und Demokratie) in abenteuerliche Programme der Staatenbildung und Demokratisierung, die … ihrerseits den ‚clash of civilizations‘ auslösen (können): arabische Welt, China mangels gegebener oder willentlich schaffbarer Voraussetzungen scheitern:

Afghanistan, Irak, viele afrikanische Staaten

Das heißt: ‚scheiternde Staaten‘ sind (auch) Opfer des Scheiterns der europäischen Staatsidee unter Bedingungen, für die sie wenig

geeignet ist !

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Einige Einsichten Staatlichkeit entsteht aus dem Zusammentreffen sehr spezieller und

keineswegs allenthalben verfügbarer Vorbedingungen. Staatlichkeit ist darum keine universell anwendbare politische

Ordnungsform, sondern hat – vielleicht! – lebensfähige Alternativen. Problem: Wir kennen bislang nur die traditionelle Formen von ‚Staatlichkeit‘

oder ‚Reichsbildung‘ und wissen nicht, was von ihnen auch künftig akzeptabel oder wirksam ist (etwa wegen der Verfügbarkeit von ABC-Waffen und optimalen Bedingungen für international agierenden Terrorismus)

‚Scheitern von Staaten‘ ist darum vielfach keine Abweichung von einem Normalfall, sondern das Ende einer geschichtlichen Ausnahmesituation.

Stimmt das, so … sind bereits die normativen Grundlagen unserer internationalen Ordnung

brüchig kehren als ‚geschichtlich überwunden‘ geglaubte Formen

zwischenstaatlicher Politik wieder als aktuelle Herausforderungen zurück: Bildung einesteils von Protektoraten, andernteils von Reichen langfristige Zusammenarbeit von freiheitlichen Staaten mit Diktaturen ohne

Versuche, dort auf Systemwechsel hinzuwirken Versuche einer Abschottung gegen die nicht beseitigbaren ‚Slums der Weltpolitik‘

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Folgerungen Die vorrangige Aufgabe ist es wohl weniger, gescheiterte Staatlichkeit

‚wiederherzustellen‘, als vielmehr Möglichkeiten zu finden, mit Weltgegenden zurechtzukommen, in denen … es keine Staatlichkeit gibt Staatlichkeit so schlecht funktioniert, daß die zentralen Staatsfunktionen eben nicht

erfüllt werden (v.a.: Durchsetzung von Recht und Ordnung im Inneren). Es ist einzusehen, daß dieses Problem kleiner ist, als es zunächst erscheint:

‚Staatlichkeit‘ ist kein Entweder/Oder, sondern es gibt immer schon Übergangsstufen. Also ist ein eher traditionelles Problem zu lösen, für das wir viele geschichtliche Erfahrungswerte besitzen.

‚Entstaatlichung‘ muß nicht zu sozialer Unordnung führen. Im Gegenteil scheint erst die Einführung des Staates in Gesellschaften ohne staatliche Tradition viele Formen sozialer Unordnung erzeugt zu haben. Also kann vermutet werden, daß sich jenseits von Staatlichkeit aufs neue stabile Ordnungsformen einspielen werden.

Viele wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozesse brauchen gar keinen staatlichen Ordnungsrahmen ‚vor Ort‘: etwa benötigen Technik, Währung und Gerichtsbarkeit nur irgendwelche funktionierenden Staaten zur ihrer Nutzbarkeit, nicht aber notwendigerweise den Staat, in dem man sich gerade aufhält.

Bei Bedarf läßt sich seitens von NGOs oder von Staaten mit oder ohne UN-Mandat zur Behebung dringender Probleme zweckbezogen und begrenzt in staatsfreien Regionen intervenieren.

Ende des westlichen Traums einer ‚demokratischen Staatenwelt‘;freilich: kein schönes Erwachen!

Obendrein ist unklar, wohin, wie weit und wie gut die

Reise mit ‚poststaatlichen Strukturen‘ gehen wird!

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Schlußfolgerungen insgesamt

Ein demokratischer Verfassungsstaat ist eine überaus voraussetzungsreiche und darum seltene Form

eines politischen Systems; ein zwar leistungsstarker, doch auch leicht zerstörbarer

Systemtyp; der Typ eines politischen Systems, der freien, selbstbewußten

und kritikfähigen Menschen am besten angepaßt ist.

Einmal zerstört, ist es unwahrscheinlich, daß er sich bald wieder aufrichten läßt.

Darum ist es vernünftig, einen Systemwandel weg von demokratischer Verfassungsstaatlichkeit zu unterbinden.

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Damit sollte klar sein,

warum es sowohl zum Wandel als auch zum Scheitern politischer Systeme kommt

welche Systemtypen und politischen Handlungsstrategien angesichts von Wandlungsdruck am konstruktivsten sind

wie insbesondere Prozesse der Evolution und Revolution verlaufen

mit welchen Pendelschlägen zwischen Verfassungsstaatlichkeit und Diktatur zu rechnen ist

wie man mit dem Problem ‚scheiternder Staatlichkeit‘ wohl umgehen sollte

weiter mit: ‚Repräsentation und Parlamentarismus‘

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Basismodul‚Politische Systeme‘

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Bitte!