ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten

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„Gute Architektur kann Wunden heilen!“ 04 -2011 DAS MAGAZIN FÜR KINDHEIT UND KULTUREN SCHWERPUNKT: DORFSCHÖNHEITEN „Gute Architektur kann Wunden heilen!“ Chelvadurai Anjalendran baut SOS- Kinderdörfer in Sri Lanka Interview S. 12 Bin ich schön? Moderne Dorfschönheiten in der Einwandererstadt Toronto S. 22 Typisch Mädchen? S. 34 Elfen und Geister. Besser, man stellt sich gut mit Islands ältesten Bewohnern S. 44 Theater aus dem Totenreich. Jugendliche Flüchtlinge auf der Bühne S. 58

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Ubuntu: Das Magazin für Kindheit und Kulturen der SOS-Kinderdörfer weltweit. Thema der aktuellen Ausgabe: Dorfschönheiten.

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„Gute Architektur kann Wunden heilen!“

04-2011

DAS MAGAZIN FÜR KINDHEIT UND KULTUREN

SCHWERPUNKT: DORFSCHÖNHEITEN

„Gute Architektur kann Wunden heilen!“

Chelvadurai Anjalendran baut SOS-

Kinderdörfer in Sri Lanka Interview S. 12

Bin ich schön? Moderne Dorfschönheiten

in der Einwandererstadt Toronto S. 22

Typisch Mädchen? S. 34

Elfen und Geister. Besser, man stellt sich

gut mit Islands ältesten Bewohnern S. 44

Theater aus dem Totenreich. Jugendliche

Flüchtlinge auf der Bühne S. 58

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Editorial / Contributors Impressum Orte der Kindheit Kurzgeschichten Schwerpunkt Dorfschönheiten„Gute Architektur kann Wunden heilen!“Dorfschönheiten der anderen Art: Der Architekt Chelvadurai Anjalendran

baut SOS-Kinderdörfer in Sri Lanka. Interview

150 Pfauenfedernund andere schöne Dinge

Bin ich schön? Die Dorfschönheiten von heute sind selbstbewusst und fest entschlossen,

sich selbst zu mögen. Man findet sie zum Beispiel in Toronto.

Fragen an Ulrich Sommer: der Eltern-Ratgeber Seite 31: So wertvoll können 31 Euro sein Eine Frage geht um die Welt Müssen Hungersnöte sein? Essay

Typisch Mädchen? Typisch Junge?Seit den 70ern wird diskutiert, ob die Unterschiede zwischen den Geschlechtern

angeboren oder anerzogen sind. Wir haben den Stand der Forschung recher-

chiert.

Geschichten, wie sie nur ein Spanier erzählen kann Meine Welt von morgen Einer kommt – Einer geht Vorsicht, hier leben Elfen und Geister!In Island weiß jedes Kind, dass die Natur von geheimnisvollen Wesen bewohnt

ist. Wer zweifelt, muss sich nicht wundern, wenn seltsame Dinge passieren.

40 Jahre SOS-Kinderdörfer in Afrika Der Tag der Löwentorte Glosse

ubuntu-Spendenprojekt: Theater aus dem TotenreichDie jugendlichen Flüchtlinge des SOS-Clearing-House haben ihre eigene

Geschichte auf die Bühne gebracht. ubuntu ruft zu Spenden auf!

Die Kinder von Croustillier im Oderbruch Wissen Wie waren Sie als Kind, Susanne Schmidt?

Die modernen Dorfschönheiten leben in modernen Dörfern, zum Beispiel in den unzäh-ligen ethnischen Vierteln der Einwanderer-stadt Toronto. Seite 22

Lichtdurchflutet, farbenfroh und lebendig – das sind die Dorfschönheiten, für die der Architekt Chelvaduraj Anjalendran zuständig ist. Er baut SOS-Kinderdörfer in Sri Lanka. Interview Seite 12

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70An Islands Wasserfällen fächert sich das Licht märchenhaft zum Regenbogen auf. Was dort sonst noch passiert, ob der Felsen links ein Gesicht hat und ob hier ein Hermit lebt, ist Glaubenssache. Seite 44

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ubuntu Inhalt

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Von links nach rechts:Ingrid Famula, Andrea Seifert, Simone Kosog

Nächste AusgabeJuni 2012

Beigelegt beiTagesspiegel, sowie Teilaus-gaben der Frankfurter Allge-meinen Sonntagszeitung, der Süddeutschen Zeitung und der ZEIT

Liebe Leserinnen und Leser,

kurz vor Druck erreichte uns die schlimme Nach-richt, dass ein Mitarbeiter der SOS-Kinderdörfer in Somalia durch eine Granate getötet wurde. Ali Shabye arbeitete seit 1994 in der Wäscherei. Er geriet zwischen die Fronten der somalischen Übergangsregierung und der Al Shabaab-Milizen. Seit 1994 ist SOS kontinuierlich in Somalia tätig und im Land hoch angesehen. So dramatisch wie jetzt war die Lage noch nie, aktuell mussten sämtliche SOS-Einrichtungen evakuiert werden. SOS wird bleiben, weitermachen!

Lesen Sie auch in ubuntu über die Situation in Somalia. In der Rubrik „Einer kommt – einer geht“ schimmert auch ein anderes Bild des Landes durch: bunt und voller Poesie.

Ihre ubuntu-Chefredaktion

P S: Wir freuen uns über unseren ersten Preis! ubuntu ist mit dem „Best of Corporate Publishing 2011“ ausgezeichnet worden.

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Impressum

ChefredaktionIngrid Famula, Simone Kosog

BildredaktionAndrea Seifert

SchlussredaktionAdelheid Miller

Mitarbeiter dieser AusgabeChristian Bleher, Naomi Buck, Angelika Dietrich, Hubert Filser, Susanne Frömel, Paul Hahn, Feisal Omar Hashi, Martina Koch, Carolin Reiter, Volker Seitz, Ulrich Sommer, Louay Yassin

Kaufmännischer BereichIngrid Famula, Andrea Seifert

GestaltungANZINGER | WÜSCHNER | RASPMünchen

LithografieMXM, München

LeserserviceTel. 089/17 914-140 [email protected]/ubuntu

HerausgeberSOS-Kinderdörfer weltweit –Hermann-Gmeiner-FondsDeutschland e. V.Ridlerstraße 5580339 MünchenVorstand:Dr. Wilfried Vyslozil

AnzeigenGroßmann.KommunikationGabriele GroßmannGrünwalder Straße 105 c81547 MünchenTel.: 089/64 24 85 64Fax: 089/64 24 93 99grossmann.kommunikation@ t-online.de

DruckAppl – Echter DruckDelpstr. 15, 97084 Würzburg

Verantwortlich für den redaktionellen Inhalt:Ingrid Famula (Adresse s. Herausgeber)

Die Zeitschrift ubuntu und alle darin veröffentlichten Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede durch das Urheberge-setz nicht ausdrücklich zugelassene Nutzung oder Verwertung bedarf der schriftlichen Einwilligung des Her-ausgebers. Eine Vermietung oder ein Nachdruck, auch auszugsweise, sind nicht gestattet. Insbesondere ist eine Einspeiche-rung oder Verarbeitung der auch in elektronischer Form vertriebenen Zeitschrift in Datensystemen ohne Zustimmung des Herausgebers unzu-lässig. Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Fo tos wird keine Haftung übernommen.

Leserbriefe an:SOS-Kinderdörfer weltweit –ubuntuRidlerstraße 5580339 München

Auf den Spuren der Dorfschön-

heiten (S. 22) von Toronto

haben die Journalistin Naomi

Buck und der Fotograf Paul

Hahn die Stadt bis in den letzten

Winkel kennengelernt. Für

Naomi Buck war es nach 12 Jah-

ren Berlin eine neue Annä-

herung an ihre Heimat. Und so

sehr sie Berlin vermisst – es war

ihr kaum möglich, sich nicht

von der Begeisterung der jungen

Leute mitreißen zu lassen, die

aus aller Welt gekommen sind,

um genau hier zu leben.

Naomi Buck & Paul Hahn

fühlt sich prinzipiell Gespens-

tern näher als Trollen. Zumin-

dest war das so bis zu jenem

Erlebnis am Stein des Hermiten

in Island, als es ihr unverse-

hens die Füße wegzog. (S. 44)

Inzwischen hat sie auch den

norwegischen Film „Trollhun-

ter“ gesehen – und schließt

nicht mehr aus, dass es Trolle

und andere wollige Wesen

wirklich gibt.

Susanne Frömel

Feisal Omar, 29, liebt seine

Heimat Somalia, auch, wenn

es derzeit kaum einen gefähr-

licheren Ort gibt. Als Leiter des

Büros der Nachrichtenagentur

Reuters in Somalia gerät er im-

mer wieder in kritische Situa-

tionen. Feisal Omars Foto eines

Mannes, der einen Haifisch

geschultert durch die zerstörten

Straßen Mogadishus trägt, wur-

de zum „World press photo“ des

Jahres 2011 gewählt. Feisal Omar

recherchierte für uns „Einer

kommt – einer geht“, S. 42.

Feisal Omar

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ubuntu Editorial/Contributors

Page 5: ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten

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Patricia Geis ist Illustratorin, Grafi kerin und Mutter von drei Kindern. Sie hat ein zauber-haftes Buch gestaltet, das die Faszination des geheimnisvollsten Lächelns der Kunst-geschichte lebendig macht.

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ubuntu Orte der Kindheit

Page 7: ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten

Busse donnern durch Janinas SchlafzimmerFoto Toby Binder

Janina und ihr Papa Roque schlafen.

Durch ihr Schlafzimmer, das gleichzeitig

Wohnzimmer, Küche und Kinderzimmer ist,

donnern neben Tausenden Autos rund 150

Busse pro Stunde. Dach der Behausung ist

eine weitere Autobahn.

Fünf Jahre ist es her, dass Roque seinen Ar-

beitsplatz als Anstreicher verloren hat und die

Familie sich das Haus nicht mehr leisten

konnte. Seitdem leben Vater, Mutter und die

drei Kinder, von denen das jüngste sieben

und das älteste 13 Jahre alt ist, auf den Straßen

der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires.

Den Platz an der vielbefahrenen Avenida 9

de Julio hat die Familie vor zwei Monaten ein-

genommen. Immerhin gibt die Brücke ein

bisschen Schutz, auch, wenn es hier furchtbar

laut ist.

Wie Janina und ihrer Familie geht es immer

mehr Menschen in Argentinien. Die Gesell-

schaft fällt auseinander und während die Wirt-

schaft wächst, steigt gleichzeitig auch die

Armut. Die Verlierer dieser Entwicklung landen

entweder in den Armutsvierteln, den „villas“,

wo sie immerhin toleriert werden, oder aber

auf der Straße und erfahren Missmut und

Feindseligkeit. Von der Polizei werden die Ob-

dachlosen regelmäßig vertrieben. Auch Ja nina

und ihre Familie kann es jeden Tag, jede Nacht

wieder erwischen, aber Roque hofft, dass sie

noch ein bisschen im Schutz der Avenida 9 de

Julio bleiben können.

Vor allem mit Altpapier-Sammeln hält sich

die Familie über Wasser. Nachts durchstöbern

Eltern und Kinder den Abfall der Großstadt

nach Papier und Kartonagen, die sie am Mor-

gen an Sammelstellen abgeben. Deshalb

nennt man Menschen wie sie auch die „carto-

neros“. Aber Janina und ihre Geschwister

haben noch weitere Jobs, die ein bisschen Geld

einbringen: Sie putzen Autoscheiben oder

jonglieren an roten Ampeln. Früher sind sie

zur Schule gegangen.

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WENN DIE SCHÖNSTEN

GESCHICHTEN DAS

LEBEN SCHREIBT, DANN

GILT DAS AUCH FÜR DIE

GANZ KLEINEN. ZUM

BEISPIEL DIESE.

KINO IDario kann es kaum er-

warten, zum ersten Mal

ins Kino zu gehen, aber

als er hört, dass es

stockdunkel im Saal wird,

sobald der Film beginnt,

ist er nicht mehr sicher.

Schließlich findet er

eine Lösung: Als er mit

seiner Mutter im Kino-

saal sitzt und das Licht

ausgeht, schaltet Dario

seine Stirnlampe an. Die

anderen Zuschauer neh-

men es gelassen hin.

KINO IIAuch Paul hat Sorge, dass

es im Kino zu unheimlich

ist. Seine Strategie: Er

zieht sein Drachenkostüm

an und nimmt Platz auf

Papas Schoß. Angst ver-

gangen!

VERLOGENE

TECHNIKJurij kommt aus dem Kin-

dergarten nach Hause und

schaut skeptisch auf das

iPhone seiner Mutter.

Schließlich sagt er: „Es

gibt Handys, die lügen,

und Handys, die nicht lü-

gen!“ – „Wie bitte?“ – Du

hast doch gestern auf

dem Handy rausgefunden,

dass Nilpferde gar nicht

gut schwimmen können,

sondern in Wahrheit über

den Boden laufen.“ –

„Ja?“ – Und das habe ich

Benni aus dem Kindergar-

ten erzählt.“ – Ja?“ –

„Und jetzt sagt Benni: „Es

gibt Handys, die lügen.“

WORTGEWALTIGAuf einem Campingplatz

in Südengland. Unter der

Dusche probiert ein klei-

ner Junge sein neuestes

Wort aus: „Fuck … fuck …

fuck …“ Die Mutter stöhnt

und versucht ihn davon

abzubringen. „Kannst du

nicht irgendetwas anderes

sagen? Warum sagst du

nicht etwas wie „nett“ –

„nice“? Für kurze Zeit ist

Stille, dann ist wieder

die Stimmt des Jungen zu

hören: „Nice … fuck, fuck,

fuck …“

VATERSCHAFTSTESTEin kleines Mädchen steht

weinend am See, weil

die Mutter alleine hinaus-

geschwommen ist. Der

Vater steht daneben, tut

nichts. Nach einer Weile

spritzt er seine Tochter

mit der Wasserpistole

an, sie hört kurz zu wei-

nen auf, fängt wieder

an. Der Vater sagt: „Mach

nicht so einen Zirkus.“

Schließlich kommt die

Mutter wieder, fragt:

„Was ist denn los?“ Vater:

„So geht das schon die

ganze Zeit.“ Mutter: „Hast

du sie mal in den Arm

genommen?“ Vater sagt

nichts. Mutter: „In den

Arm nehmen, sagen, ich

hab dich lieb – sowas

hilft.“ Der Vater geht

zurück zum Handtuch,

liest Zeitung.

SALZARME KOSTBei einem Gartenfest un-

terhalten sich zwei Mäd-

chen mit einem der Gäste.

Sehr sachlich erzählt

eine der beiden: „Früher

haben die Lilli und ich

unsere Popel immer geges-

sen. Die schmecken so

schön salzig. Aber jetzt

machen wir das nicht

mehr.“

EINSAME CHINESISCHE BABYS SUCHEN FREUNDE

Weil viele Chinesen finden, dass ihre Einzelkinder einsam sind, suchen sie mit Anzeigen Freunde für ihren jungen Nach-wuchs. „Kinderverlobung“ nennt sich dies. Anders als früher ist damit aber nicht mehr eine Ehe nach Vorstellungen der Eltern gemeint, sondern bezeichnet eine von Eltern arrangierte Freund-schaft, meldet der „China Obser-ver“. Auf speziellen Webseiten stellen Eltern Fotos ihrer Babys online, um nach geeigneten Gleichaltrigen zu suchen. Dabei schreiben die Eltern auch, wel- che Merkmale die künftigen „Ver-lobten“ haben sollen und infor-mieren über ihre eigenen Kinder. So heißt es zum Beispiel in einer Präsentation: “Mein Baby ist so ein-sam. Ich möchte deshalb einen kleinen Jungen für das Kleine in der Nähe meiner Wohnung fin-den. Dann könnten die zwei Fami-lien zusammen Picknick machen oder in die Berge gehen.“

„Einsames Kleinkind sucht Freund!“ In China überlassen die Eltern nichts dem Zufall, und wenn der Nachwuchs Freunde braucht, wird das eben arrangiert.

Foto

: Benno N

eele

man

Ein elfjähriger Junge aus Ghana will

13 Millionen Dollar sammeln, um zu verhin-

dern, dass Tausende von Kindern am Horn

von Afrika verhungern, meldet die Huffing-

ton Post. Andrew Adansi Bonnah, Schüler

aus Accra, sagte: „Ich will helfen Essen, Me-

dizin, Kleidung und Wasser zu bekommen.

Ich will, dass die Kinder wieder in die Schule

gehen können.“ Anlass für Andrews Aktion

waren Fernsehbilder von hungernden So-

malis und abgemagerten Kindern. Zunächst

KREATIVER SPENDEN - SAMMLER AUS GHANA

trat Andrew bei einem Karateturnier an,

um anschließend das Preisgeld zu spenden.

Leider wurde er nur Fünfter. Daraufhin

nahm er an einer Tanz- und Talentshow teil.

Weil er auch da keinen Erfolg hatte, wandte

er sich an das Büro des Welternährungs-

programms der Vereinten Nationen in Accra.

Nun gründete Andrew die „Save Somali

Children from Hunger“ Initiative. Während

seiner Ferien sammelte er Spenden in den

Büros in Ghanas Hauptstadt Accra. Bisher

hat er 4.000 Dollar gesammelt – und ist

in seiner Heimat inzwischen eine kleine

Berühmtheit.

Sag das nochmal!

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ubuntu Kurzgeschichten

Page 9: ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten

Wie es früher war

DIE DEUTSCHE TEILUNG AUS SICHT DER SCHÜLERZEITUNGEN Die deutsch-deutsche Teilung war auch Thema in westdeutschen Schülerzei-

tungen. So schrieben Schüler des Gottlieb-Daimler-Gymnasiums in Stuttgart-Bad

Cannstatt in ihrer Zeitung „Der Schwamm“: „Warum sind … in unserer Schülerbiblio-

thek die Werke von Marx, Engels, Lenin und Stalin nicht vertreten? … Man begegnet

einer Gefahr nicht, indem man den Kopf in den Sand steckt …! Nein, man blickt ihr

mutig entgegen und zwingt sie zum Kampf. … In einem solchen Kampf wird die

Demokratie nie der Diktatur unterliegen, wenn jedermann die Kampfweise und die

Gedanken des diktatorischen Gegenüber kennt.“

Und Schüler aus Mettmann machen sich Gedanken über die Ostdeutsche Presse,

deren Ziel Indoktrination sei statt freier Meinungsbildung. An der Georg-Büchner-

Schule in Darmstadt analysierte man den Stil der ostdeutschen Presse: „Da ist lau-

fend von dem ‚Kerl‘ Brandt bzw. dem ‚aufgeblasenen Frosch, der quakte und nun ge-

platzt ist‘, die Rede; dass er und der ‚Oberstänker‘ Strauß nun ‚einen Tritt in den

Hintern‘ bekommen hätten, und dass man sich auch sonst von ‚dem gemeinen Pack‘

der ‚Strolche‘, ‚Lügenbolde‘ und ‚politisch Halbstarken‘ in Bonn nicht bescheißen …

lasse.“

Die Ausstellung „Freiheit! Der Mauerbau im Spiegel bundesrepublikanischer

und West-Berliner Schülerzeitungen“ ist noch bis 11. November in der Bibliothek

für Bildungsgeschichtliche Forschung in Berlin zu sehen.

Solarstrom für SOS-Kinderdorf und Umgebung

Das SOS-Kinderdorf in Mombasa,

Kenia, hat jetzt eine sichere und umwelt-

freundliche Stromquelle: die Sonne. Eine

große 60-kWp-Solaranlage macht das Kin-

derdorf zum energieneutralen Null-Emis-

sionen-Dorf. Die drittgrößte Solaranlage in

Ostafrika erzeugt Strom für das Kinderdorf

sowie für die Kleinunternehmen der Um-

gebung. In Kenia ist die Stromversorgung

sehr unzuverlässig. Mehrmals täglich

bricht sie zusammen. Zudem sind nur rund

20 Prozent aller kenianischen Haushalte

an das öffentliche Stromnetz angeschlossen.

Die Realisierung des Projekts wurde von

der Deutsche Gesellschaft für Internationa-

le Zusammenarbeit (GIZ) im Rahmen der

„Exportinitiative Erneuerbare Energien“

des Bundeswirtschaftsministeriums unter-

stützt. Ein deutsches und ein kenianisches

Solarunternehmen installierten die Anlage

gemeinsam, Know-how-Transfer inklusive.

WAISENHÄUER ALS TOURISTEN-ATTRAKTION

Immer mehr Freiwillige kommen in den Ferien in Länder wie Kambodscha, um dort für kurze Zeit in Waisenhäusern oder anderen sozialen Einrichtungen zu arbeiten. Doch Experten fürch-ten, das könne den Kindern mehr schaden als nützen, schreiben die „Gulf News“. Oft bleiben die Frei-willigen nur ein paar Tage, bevor sie weiter reisen. Die ständig wechselnden Bezugspersonen be-deuten einen emotionalen Verlust für die Kinder. Zudem sei eine Waisenhaus-Besichtigung fast so etwas wie eine Attraktion gewor-den, sagt Marie Courcel von der Organisation „Friends Interna-tional“.

Foto

: GIZ

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Die Solaranlage im SOS-Kinderdorf Mombasa in Kenia

ist die drittgrößte in Ostafrika.

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ubuntu Kurzgeschichten

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PHILIPPINEN GEGEN KINDER-HANDEL

Auf den Philippinen nimmt der

Kinderhandel zu. Nach Angaben der Orga-

nisation „Philippines Against Child Traf-

ficking“ wurden mehr als 7.000 Fälle regis-

triert. Sprecher Salome Ujano sagt: „Wir

erwarten, dass jetzt weitere Fälle öffentlich

werden, weil Präsident Benigno Aquino

eine harte Haltung gegen Kindesmissbrauch

zeigt.“ Ujano dankte der Regierung für ihre

offensiven Maßnahmen, die bereits 33 Ver-

urteilungen von Kinderhändlern bewirkt

hat. Präsident Aquino hatte geschworen, den

Kinderhandel zu bekämpfen, nachdem

ihm eine Non-Profit-Organisation eine Peti-

tion mit über 470.000 Unterschriften über-

reicht hatte.

AFGHANISTAN GELOBT STAN-DARDS BEI KINDERARBEIT

Da Afghanistan ausländische Inves-

toren ins Land holen will, um die uner-

schlossenen Mineralvorkommen des Landes

nutzbar zu machen, wurden die Standards

für Kinderarbeit im Bergbau verschärft, mel-

det der „Oman Daily Observer“. Derzeit

arbeiten Tausende Kinder für zwei Dollar am

Tag in den Kohleminen – ohne Sicherheits-

ausrüstung und offizielle Richtlinien.

Künftig soll das Mindestalter für Bergwerks-

arbeiter 18 sein. Wahidullah Shahrani,

Minister für Bergbau, erklärte, dass in den

nächsten Monaten Minen-Inspektoren los-

geschickt werden sollen, um sicherzustel-

len, dass die Regeln eingehalten werden.

Bitte nachmachen!

Lieblingstiere und andere Ungeheuer …

… vorgeführt von Carina und

Sarah, 18 und 19 Jahre alt. Die beiden

machen derzeit eine Ausbildung zur

Kindergartenpädagogin in Innsbruck

und waren im August als Betreu erin-

nen im SOS-Feriendorf Caldonazzo.

Material: Was der Haushalt hergibt.

Hasendraht, normaler Draht, Zangen,

um den Draht zu bearbeiten, Luftbal-

lons, Schachteln, Karton, farbiges Papier,

Kleister und jede Menge Kreativität.

Spielbeschreibung: Jedes Kind denkt

sich ein Lebewesen aus, einen Schmetter-

ling, eine Schlange, einen Hirschkäfer …

Denk darüber nach, wie du den Körper

und Flügel oder Fühler mit Hasendraht

und Draht formen kannst. Der Hasen-

draht ist relativ spitz, am besten ist ein

Erwachsener dabei. Kleinere Kinder

können auch Luftballons und Schachteln

für den Körper verwenden, das ist ein-

facher.

Das farbige Papier auf den Draht, Kar-

ton oder Luftballon kleistern. Nicht ent-

mutigen lassen: Die erste Schicht hält

manchmal nicht so gut. Oft genügen aber

dann doch ein oder zwei Schichten.

Fühler, Augen und Beine aus Draht oder

Karton nicht vergessen! Dann in die

Sonne oder auf die Heizung zum Trock-

nen legen. Zum Schluss kann man aus

dem Lebensraum des Tieres noch Sachen

dazubasteln: Etwa ein Blatt aus Karton

ausschneiden und mit buntem Papier

bekleben.

Schwierigkeitsgrad: Mit Hasendraht

mittel, sonst einfach.

Alter: Mit Luftballons und Schachteln

ab 5, mit Hasendraht älter.

Mit Hasendraht und Papier lassen sich Käfer, Bienen und Schlangen basteln. Wer Lust hast, baut gleich die Umgebung der Tiere dazu.

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ubuntu Kurzgeschichten

Page 11: ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten

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SOS-Kinderdörfer Werke geschaffen. Mit

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Weitere Informationen zu unserer

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Bleib bei mir Der SPIEGEL-Schülerzei-

tungswettbewerb zeichnete in diesem Jahr Mario Stoeck, 19, mit dem Preis für das beste Foto aus. Mario Stoeck geht auf die Schule am Rhododendron-Park in Bremen für geistig und mehr-fach behinderte Kinder. Da viele der Schüler nicht lesen oder schreiben können, drücken sie sich oft bildlich aus, malen oder fotografieren. Mario Stoeck por-traitierte einen Mitschüler, dessen Lebenserwartung vor sieben Jah-ren gemäß den Ärzten nur noch ein Jahr betrug und der nur mit Hilfe seiner Krankenschwester den Unterricht besuchen kann. Entgegen der Prognose ist er am Leben.

Das Siegerfoto beim SPIEGEL-Schülerzeitungs wettbewerb: Ein schwerkranker Junge mit seiner Kranken schwester, fotografiert von Mario Stoeck.

DEUTSCHLAND LEUCHTET FÜR KINDER IN NOT

Die SOS-Kinderdörfer leuch-ten für Kinder, und ganz Deutsch-land leuchtet mit. Mit der neuen „Licht an!“-App der SOS-Kinder-dörfer weltweit kann sich jeder eine echte brennende Kerze aufs Handy laden. Die Flamme reagiert auf Wackeln, Schütteln und kann sogar ausgepustet werden. Sie eig-net sich hervorragend für den ersten Advent; wenn zwei Handys zusammenkommen, für den zwei-ten … Oder, oder. Zusammen mit der Kerze bekommt jeder Nutzer eine Deutschlandkarte, die die Standorte aller anderen Kerzen in Deutschland anzeigt – und auf der hoffentlich bald das ganze Land leuchtet. Die SOS-App gibt es für 79 Cent im Android Market und im Apple AppStore. Jeder Down-load unterstützt die Arbeit der SOS-Kinderdörfer weltweit.

Mehr Informationen unter www.sos-lichterkette.de

Die „Licht an!“-App der SOS-Kinderdörfer weltweit lässt eine echte Kerze auf dem Handy aufflackern. Bitte vor Wind schützen!

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ubuntu Kurzgeschichten

Page 12: ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten

„Gute Architektur kann Wunden heilen!“

DORFSCHÖNHEITEN DER ANDEREN ART: DER ARCHITEKT CHELVADURAI

ANJALENDRAN BAUT SOS-KINDERDÖRFER IN SRI LANKA.

Fotos David Robson und Waruna Gomis Text Simone Kosog

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ubuntu Dorfschönheiten

Page 13: ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten

Links: Für Kinder wie diese, die den Bürgerkrieg erlebt und

ihre Eltern verloren haben, kann man gar nicht schön genug

bauen, sagt Anjalendran. Oben: Die Farm in Malpotha

haben SOS-Jugendliche nach den Plänen Anjalendrans

eigenhändig gebaut. Hier lernen sie, Gemüse anzupflan-

zen und Tiere zu versorgen.

Page 14: ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten

Mr. Anjalendran, Sie sind nicht nur

Architekt, sondern auch Origami-Künst-

ler. Wir haben Ihnen Papier mitgebracht …

Ich soll etwas falten? Gerne!

(Mit geübten Handgriffen knickt, faltet und formt Anjalendran das Papier, bis er ein kleines Gebilde in den Händen hält …)Ein Vogel! Und er bewegt sogar die Flügel,

wenn man am Schwanz zieht …

Ja, er kann fliegen. Das ist die Idee von Ori-

gami: aus etwas Gewöhnlichem etwas Ma-

gisches zu machen. Genau darum geht es

auch in der Architektur!

Das scheint Ihnen zu gelingen: Ihre Bau-

werke sind viel gerühmt und Sie haben

viele Preise gewonnen, aktuell den „Gol-

den Award for Global Contribution to Ar-

chitecture“, der einmal im Jahr in Indien

vergeben wird. Dabei ist auffällig, dass

Ihre Gebäude eher einfach sind, alles an-

dere als monumental.

Ich war gerade von meinem Studium aus

England nach Sri Lanka zurückgekommen,

als 1983 in Sri Lanka der Bürgerkrieg be-

gann. Das hatte großen Einfluss auf meine

Arbeit. Ich habe mich immer wohler damit

gefühlt, für die einfachen Menschen zu

bauen. Bis heute habe ich kein Firmenge-

bäude entworfen, sondern hauptsächlich

für Privatleute oder Nichtregierungs-Orga-

nisationen gearbeitet.

Ihr erster Auftrag für die SOS-Kinderdör-

fer war der Bau einer Schule in Piliyandala

nahe der Hauptstadt Colombo.

Das Kinderdorf selbst war von einem indi-

schen Architekten gebaut worden. Ich fand

es nicht ganz optimal: Die Häuser waren zu

hoch und zu aufwendig.

Es ist ja eigentlich auch Standard, dass der

Architekt eines SOS-Kinderdorfs aus dem

jeweiligen Land stammt.

Was sinnvoll ist! Es ist wichtig, sich mit den

Begebenheiten, den klimatischen Bedingun-

gen und der Mentalität der Menschen auszu-

kennen! Die Schule baute ich schließlich für

die Hälfte des angesetzten Budgets, so dass

SOS Geld für zusätzliche Klassenzimmer

hatte und mehr Kindern Platz bieten konnte.

Wie schafft man das, mit wenig Geld an-

spruchsvolle Gebäude zu errichten?

Gute Architektur muss nicht teuer sein.

Man muss lediglich etwas mehr Zeit und

Mühe investieren.

Können Sie ein Beispiel geben?

Das sind oft kleine Sachen. Traditionell ist in

Asien die Küche häufig im hinteren Teil des

Hauses angesiedelt. Wenn man sich nun aber

vorstellt, dass die Familienhäuser, in denen

die Jungen und Mädchen mit ihrer SOS-Mut-

ter leben, um den zentralen Platz herum an-

gesiedelt sind, auf dem die Kinder spielen,

ist das nicht sinnvoll. Die Mutter, die ja viel

Zeit in der Küche verbringt, muss die Mög-

lichkeit haben, nach den Kindern zu schau-

en. Also habe ich die Küche nach vorne ver-

legt. Oder nehmen Sie das SOS-Kinderdorf

in Galle, das aus einem flachen Abschnitt

und dem Beginn eines Hügels besteht. Der

erste Impuls wäre vielleicht, das Dorf in der

Ebene zu bauen, aber ich habe es auf dem

Hügel angesiedelt. Dort sorgt der Wind für

Kühlung und hält die Moskitos fern.

Die Dörfer wirken alle sehr edel …

… aber kosten nicht viel! Wenn Sie sich die

Dachkonstruktion der Schule in Piliyandala

anschauen, werden Sie sehen, dass ich ein-

fache Betonbalken verwendet habe, die aller-

dings in verschiedenen Farben gestrichen

sind. Eine schöne Farbe ist ja nicht teurer

als eine hässliche! Oder ich habe einen Ze-

mentboden eingebaut, ebenfalls günstig.

Damit er nicht langweilig wirkt, habe ich die

Ränder geschwärzt und schwarze Kacheln

eingesetzt. Ich habe Natursteine aus der Um-

gebung verwendet und alte Kirchentüren.

Wenn Sie für Privatleute tätig sind, arbei-

ten Sie viel mit Kunstwerken, die natür-

lich Geld kosten.

Dafür gibt es bei SOS aber kein Budget! Also

habe ich einen Kunstlehrer gesucht, der mit

den Kindern gearbeitet hat. Anschließend

haben sie ihr eigenes großes Wandbild ge-

malt. Es sieht toll aus!

Thema dieses Heftes ist ja die Schönheit.

Würden Sie sagen, dass Sie schöne Dörfer

bauen?

Zunächst einmal: Wenn die Menschen über

Waisenkinder sprechen, ist da oft ein Ge-

fälle. Man unterscheidet zwischen denen

Oben: Für Chelvadurai Anjalendran geht es darum, aus etwas Gewöhn lichem etwas Magisches zu machen.

„Eine schöne Farbe ist ja nicht teurer als

eine hässliche!“

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ubuntu Dorfschönheiten

Page 15: ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten

und uns. Aber ein guter Architekt hat keine

zwei Klassen! Ich habe selbst manches Mal

im Kinderdorf übernachtet und mein eige-

nes Haus ist fast genauso gebaut wie ein

SOS-Gebäude: sehr einfach und klar struk-

turiert. Mein Büro ist meine Veranda, ich

habe auch kein Auto und kein Handy. Meine

eigenen Wertmaßstäbe sind alles andere als

abgehoben!

Sie zitieren gerne den berühmten Archi-

tekten Le Corbusier: „Das Problem besteht

darin, das Einfache in all dem Komplexen

zu finden.“ Geht es darum?

Ja, und dabei ist das vorrangige Ziel nicht

die Schönheit. Ich betreibe keine ästheti-

sche Architektur, durch die ich die entspre-

chende Funktion einzufangen versuche.

Was ich baue, sind funktionale Gebäude,

aber jede dieser Funktionen führt zu einem

ästhetischen Erlebnis!

Wie wirkt sich das auf die Menschen aus,

die dort leben? In diesem Fall auf die Kin-

der, die zum großen Teil schwere Trauma-

ta erlitten haben?

Ich bin realistisch genug, um die Wirkung

von Architektur nicht zu überhöhen, aber

ich bin überzeugt, dass gute Architektur

Wunden heilen kann!

Wie geht das?

In dem man eine Atmosphäre der Ruhe, des

Friedens schafft. Viele Kulturen und Religi-

o nen vermögen es, ihren Gebäuden eine

friedvolle Wirkung zu geben. Besonders

stark erlebt man das in buddhistischen

Klöstern. Außen herum kann es noch so

turbulent zugehen, sobald man durch die

Tür tritt, ist man in einer anderen Welt. In

Sri Lanka gibt es viele solcher Orte, aller-

dings sind das meistens monumentale

Gebäude.

Wie überträgt man so eine Atmosphäre

auf ein Kinderdorf, in dem 120, manchmal

140 Jungen und Mädchen aufwachsen und

immer etwas los ist?

Ganz wichtig ist die Organisation des Rau-

mes. Dazu gehören nicht nur die Gebäude,

sondern auch der Platz dazwischen, die

Bäume, das Zusammenspiel mit der Natur.

Wenn das stimmig ist, fühlen sich die Men-

schen wohl.

Die Betonbalken im Dach des SOS-Kindergartens in Anuradhapura kosten nicht viel, aber wirken durch ihre besonderen Farben.

Oben und links: Typischerweise sind die Familienhäuser im SOS-Kinderdorf Anurad-hapura um einen zentralen Platz herum gebaut. Damit die Mütter jederzeit nach den Kindern schauen können, hat der Architekt die Küche nach vorne versetzt.

Page 16: ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten

Links: Zuhause im SOS-Kin derdorf Galle. 120 Kinder leben hier in kleinen Familien mit einer SOS-Mutter und SOS-Geschwistern.Rechts: Die Holztiere der Kinder-krippe in Piliyandala haben Jugendliche gemeinsam mit Ena de Silva hergestellt, für die Farbge-staltung ist Barbara Sansoni verant-wortlich. Anjalendran arbeitet schon seit Jahren mit den beiden Künstlerinnen zusammen.

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ubuntu Dorfschönheiten

Page 17: ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten
Page 18: ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten

Man sieht auch buddhistische Elemente

wie einen Schrein oder einen Stupa in Ih-

ren Kinderdörfern.

Das stimmt, aber genauso finden Sie Elemen-

te aus anderen Religionen oder der singha-

lesischen Tradition. Zum Beispiel steht im

Eingangsbereich des SOS-Kinderdorfs Galle

ein „Ambalama“, das ist ein einfacher Pa vil-

lon, der traditionell Reisenden zur Übernach-

tung zur Verfügung gestellt wurde. Ich finde

es entscheidend, nicht eine einzige Religion

zu bevorzugen, denn das ist ja ganz wichtig

bei SOS, dass jedes Kind in seiner eigenen

Kultur und Religion aufwachsen darf.

Von Ihrem Lehrmeister Geoffrey Bawa,

dem bedeutenden Architekten Asiens, ha-

ben Sie vor allem auch die Achtung für die

Natur übernommen. Nur ist Bawa durch

seine Hotels und durch den Bau des Parla-

ments bekannt geworden.

Alles, was ich mache, ist, Bawas Ideen auf

ein einfaches Level zu bringen. Der inten-

sive Dialog mit der Natur ist in der Tat für

uns beide von großer Bedeutung, allerdings

nicht, weil das schick ist, sondern weil es

sinnvoll ist und in einem Land wie Sri Lanka

absolute Notwendigkeit.

Sie haben einmal gesagt: „Wenn ich drei

Bäume habe, dann habe ich drei Klimaan-

lagen!“

So ist es! Es ist so einfach, die Bäume zu in-

tegrieren. Sie geben Schatten, kühlen, man

kann die Gebäude drum herum bauen.

Dank der Bäume und einer guten Zirkulati-

on brauchen wir in den Häusern tatsächlich

keine Klimaanlagen!

Aktuell sind Sie auf Europa-Reise und ha-

ben sich auch das allererste SOS-Kinder-

dorf angesehen, das Hermann Gmeiner

Oben: Die Schule im SOS-Kinderdorf Piliyandala, hier gezeichnet von einem Kind, war Anjalendrans erstes Pro- jekt für SOS. In Piliyandala baute er außerdem ein Jugendhaus (rechts) mit dem atmosphärischen Regenbogen-Raum.

Oben: Der Eingang zur Schule in Piliyandala. Um den Zementboden interessanter zu gestalten, hat der Architekt die Ränder eingefärbt und schwarze Kacheln eingesetzt.Rechts: Am Rande des Kinderdorfs liegen die Häuser für ehemalige SOS-Mütter, die hier ihren Ruhestand genießen.

„Wenn ich drei Bäume habe, dann habe ich drei

Klimaanlagen!“

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ubuntu Dorfschönheiten

Page 19: ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten

der ersten urbanen Kinderdörfer, das mit-

ten in der Stadt liegt. Die einzelnen Kin-

derdorf-Familien sind auf verschiedene

Wohnanlagen verteilt. Eine gute Idee?

Das Entscheidende an SOS ist, dass die Kin-

der dabei unterstützt werden, groß zu wer-

den und sich in die Gesellschaft zu integrie-

ren, aber dafür gibt es nicht nur einen Weg!

Ich bin froh, dass SOS verschiedene Varian-

ten ausprobiert, und ich glaube, dass die

Organisation auch deshalb so stark ist, weil

sie immer wieder Dinge verändert!

Sie glauben nicht, dass die Kinder besser

auf dem Land aufwachsen?

Es leben so viele Kinder in Städten, die sind

doch nicht alle unglücklich! Und auch in der

Stadt kann man Gärten schaffen, Bäume

pflanzen. Vielleicht gelingt es den SOS-Kin-

dern in der Stadt ja sogar besser, sich zu inte-

grieren.

Wenn Sie selbst vor die Aufgabe gestellt

würden, ein urbanes Kinderdorf zu bauen?

… würde ich die gestellten Bedingungen

nicht als Begrenzung, sondern immer als

Herausforderung sehen, und mich fragen,

wie ich das Ziel erreiche!

Oben: Zum Sitzen und Spielen: bunte Elemente, entworfen von Anjalendran.

vor über 60 Jahren gebaut hat. Wie hat es

Ihnen gefallen?

Ich hatte schon lange den Wunsch, einmal

nach Imst zu fahren, an den Ort, an dem al-

les begann. Ich finde, dieser bescheidene,

atmosphärische Platz ist ein guter Ursprung!

Hermann Gmeiner, der Gründer der SOS-

Kinderdörfer, hat das Grundstück damals

geschenkt bekommen. Es gab weder Was-

ser, noch Strom, noch führte eine Straße

zu diesem abgelegenen Ort.

Was aus diesem Anfang entstanden ist, ist

fantastisch. Die Gebäude sind sicher anders

als in Sri Lanka, wo wir aufgrund der klima-

tischen Bedingungen sehr viel offener bau-

en können. Das einzige, was wir brauchen,

ist ein Dach! Aber mir gefällt an dem Kin-

derdorf in Imst, dass es nichts vorgibt, was

es nicht ist. Ich finde das ganz entschei-

dend, dass Architektur nicht mit Täuschung

arbeitet! Eine schillernde Fassade interes-

siert mich nicht!

Es kommt immer wieder vor, dass Spender

aus Deutschland oder Österreich im Ur-

laub eines Ihrer Kinderdörfer anschauen

und anschließend irritiert anrufen: Sie

haben Sorge, dass die Dörfer im Gegensatz

zu der oft ärmlichen Umgebung zu schön

und zu teuer sind.

Ich kenne die Diskussion! Aber Sie können

jeden einzelnen Baustein, jede Fliese, jedes

Fenster nehmen und Sie werden nichts

Teures finden! Und wenn ich bedenke, dass

hier Kinder leben, die ihre Eltern verloren

haben und teilweise schlimme Erfahrun-

gen im Krieg gemacht haben, kann ich nur

sagen: Die Dörfer können gar nicht schön

genug sein!

Wie reagiert die Umgebung?

Sehr positiv, sie profitiert ja auch davon! Es

gibt viele Programme für die Nachbarschaft,

und die Hermann-Gmeiner-Schulen zum

Beispiel stehen ja auch den Kindern aus

dem Umfeld offen. Auch die Sicht auf Archi-

tektur ändert sich durch die Kinderdörfer.

Viele Nachbarn achten verstärkt darauf, um-

weltfreundlich zu bauen. Und plötzlich ist

es modern, einen bestimmten Stein zu ver-

wenden, den wir schon lange benutzt haben.

Er wurde bisher weggeworfen und war des-

halb kostenlos! Nun wollen ihn alle haben!

Ich glaube auch, dass die Jungen und Mäd-

chen, die in so einer Umgebung aufwach-

sen, die erleben, wie wichtig es ist, sorgsam

mit den Dingen umzugehen, vieles davon

in ihr späteres Leben mitnehmen werden.

Auch davon profitiert die Gesellschaft.

In Wien-Floridsdorf wurde vor fünf Jahren

ein völlig neues Kinderdorf eröffnet: eines

Die SOS-Kinderdörfer in Sri LankaIn Sri Lanka gibt es fünf SOS-Kinderdörfer und acht Sozialzentren, von denen die SOS-Familienhilfe ausgeht, die Familien in Not dabei unterstützt, wieder Fuß zu fassen.Literatur zu Chelvadurai Anjalendran: David Robson, Waruna Gomis: Anjalendran. Architect of Sri Lanka. Tuttle Pub, 39,99 Euro

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ubuntu Dorfschönheiten

Page 20: ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten

3.500Parfüm und Salben für den Körper hat erst die Pharaonin Hatsche-psut so richtig bekannt gemacht. Davor war es scheinbar unüb- lich, den lebendigen Körper mit Kosmetikartikeln zu behandeln. In Bonn ist ein 3.500 Jahre alter, verschlossener Flakon aufge-taucht, der noch Spuren des ältes-ten, bekannten Parfüms enthält. Im Eau de Pharao ist zum Beispiel Weihrauch enthalten.Quelle: Ägyptisches Museum Bonn

Als in Melbourne in diesem Sommer der

erste Schönheitswettbewerb für Mädchen

startete, löste dies in Australien eine hitzige

Debatte aus. Bei Protesten vor dem Veran-

staltungsort wurden Gesetze gefordert, die

solche Shows verbieten. Gefordert wurde

auch, dass Mädchen erst ab 16 an solchen

Wettbewerben teilnehmen dürfen. Nach

Angaben des Senders ABC News hatten Eltern

auch ihre Babys für den Wettbewerb an-

gemeldet. Der Kinderpsychologe Michael

Carr-Gregg sagte, die Veranstaltung grenze

an Kindesmissbrauch. „Diese Kinder wer-

den nicht ohne psychische Schäden aus der

Sache herauskommen, und wir sitzen alle

herum und schauen zu wie Voyeure“, sagte

Carr-Gregg dem Sender ABC News. Vorbild

waren ähnliche Shows in den USA.

E = mc ²Nicht alle Menschen bringen Mathematik

und Physik mit Schönheit in Einklang.

Dabei können physikalische und mathema-

tische Formeln ihre eigene Eleganz und

Charme haben. Die bekannteste physika-

lische Formel ist Einsteins E = mc ², Ener-

gie ist gleich der Masse mal dem Quadrat

der Lichtgeschwindigkeit. Auch der Un-

schärferelation von Werner Heisenberg,

, wird eine gewisse Schönheit

zugesprochen. Sie besagt, dass Ort und

Impuls eines Teilchens nicht gleichzeitig

beliebig genau gemessen werden können.

Die Mathematik hat den Goldenen Schnitt

anzubieten: Die Längen a und b zweier

Strecken stehen genau dann im Verhältnis

des Goldenen Schnitts, wenn die Gleichung

erfüllt ist. Als richtig elegant

gilt die Eulersche Identität. Sie bringt in der

Gleichung e i � = – 1 vier wichtige mathema-

tische Konstanten zueinander in Beziehung:

Die Eulersche Zahl e, die Kreiszahl �, die

imaginäre Einheit i sowie die reelle Einheit

− 1. Norwegische Forscher der Universität

Bergen haben gezeigt, dass wir schöne For-

meln in Physik und Mathematik eher für

wahr halten. Unter Zeitdruck mussten Stu-

denten, die nicht Mathematik studiert

hatten, beurteilen, ob die Lösung einer Glei-

chung richtig oder falsch ist. Symmetrisch

und damit schöner aussehende Gleichun-

gen wurden eher als richtig bewertet, egal,

ob sie es waren oder nicht.

Quelle: Rolf Reber et al., University of Bergen, Psychonomic Bulletin and Review

150Du bist eitel wie ein Pfau – nicht gerade ein

Kompliment! Der Pfau schlägt ein Rad aus

seinen 150 Federn und dreht sich dabei um

die eigene Achse, um die Hennen zu beein-

drucken. Weniger bekannt ist, dass Pfauen

einen hervorragenden Geruchs- und Gehör-

sinn haben. Sie können etwa nahende

Unwetter spüren oder auch vor heranschlei-

chenden Raubtieren warnen. In ihrer Hei-

mat Indien werden die Tiere mit den unzäh-

ligen Augen im Federkleid sehr verehrt.

„Pfauen sind der schiere Luxus, den die Na-

tur sich leistet“, schreibt der Evolutions-

biologe Josef Reichholf in seinem Buch „Der

Ursprung der Schönheit“. Weltweit gelten

die Vögel als Symbol der Schönheit, des

Reichtums und der Liebe, aber eben auch

der Eitelkeit.

Quelle: Der Ursprung der Schönheit, Reichholf

Attraktivität war in der Evolution schon früh ein Selektionsvorteil. Dabei geht es nicht nur um das sub-jektive Empfinden von Schönheit, sondern offenbar auch um kon-krete, damit verbundene Vorteile. Amerikanische Forscher haben gezeigt, dass Frauen mit einem niedrigeren Verhältnis von Tail-len- zu Hüftumfang höhere kogni-tive Fähigkeiten haben. Diese Frauen gelten übrigens in allen Kulturen weltweit als schön.Quelle: Evolution and Human Behaviour, University of California

SareDer weibliche Vorname Sare bedeutet im Türkischen sowohl Schönheit als auch Königin und Prinzessin.Quelle: www.baby-vornamen.de

8.536.379Schönheitsoperationen haben die Ärzte im Jahr 2009 weltweit aus-geführt. Die Vereinigten Staaten führen die Statistiken mit 18 Pro-zent aller Operationen an, gefolgt von Brasilien (14 Prozent), China (13 Prozent) und Indien (5 Pro-zent). „Schwellenländer wie Indi-en und China, deren Wirtschaft boomt, produzieren eine Menge neuen Reichtum und mit der Verteilung dieses Reichtums gibt es immer mehr Menschen, die ihr Geld für Schönheitseingriffe ausgeben“, sagt der Präsident der Internationalen Gesellschaft für Schönheitschirurgie, Dr. Foad Nahai aus Altanta. Deutschland folgt hinter Mexiko, Japan und Südko-rea auf Rang 8, dahinter finden sich Italien und Russland.Quelle: Internationale Gesellschaft für Schönheitschirurgie ISAPS, Zahlen für 2009

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ubuntu Dorfschönheiten

Page 21: ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten

12,743Milliarden Euro gaben die Deut-schen 2010 für Kosmetika aus, das waren pro Kopf 156,27 Euro.Gekauft wurden:

Haarpflegemittel 2,958Hautpflegemittel 2,951Dekorative Kosmetik 1,474Zahn-/Mundpflegemittel 1,332Damen-Parfums/-Düfte 1,00Herren-Kosmetik 0,895Bade-/Duschzusätze 0,830Deodorantien 0,705Seifen/Syndets 0,216Sonstige Körperpflege 0,382(in Mrd. Euro)Marktbericht des Instituts für Körperpflege- und Waschmittel (IKW e. V.) 2010 Quelle: IKW. Stand: 11. Mai 2011

Wer schon mal beobachtet hat, wie junge Männer auf dem Land aus dem fahrenden Auto heraus weißen Kalk auf die Straße rinnen lassen, hat möglicherweise einem alten Brauch beigewohnt. In der Nacht vor der Hochzeit streuen Be-kannte des Brautpaares in Dörfern Süddeutschlands und Österreichs gern Kalkspuren, die von einstigen Liebhabern direkt zum Haus von Braut und Bräutigam führen. Oft kilometerlang führen die verräte-rischen Linien über die Landstra-ßen. Dabei wird so manche ehe-malige Beziehung publik, die die Brautleute doch lieber geheim gehalten hätten. Beim Kalkstreu-Ritual handle es sich um einen Rügebrauch, sagt der Münchner Volkskundler Michael Ritter.Quelle: Bayerischer Verein für Heimatpflege

46%Warum manche Menschen nach dem Haare schneiden weniger gut aussehen, können Forscher der University of California und der University of Toronto erklären: Bei der Schönheit von Gesichtern spielen auch Proportionen eine große Rolle. So gilt das Antlitz von Frauen dann als besonders schön, wenn der Abstand zwischen der Augenlinie und dem Mund rund 36 Prozent der gesamten Länge des Gesichts entspricht und wenn der Abstand zwischen den beiden Augen etwa 46 Prozent der Ge-sichtsbreite ausmacht. Werden nun die Haare kürzer, verändert sich optisch auch die Gesichtslänge, und damit das Verhältnis der Pro-portionen.Quelle: Vision Research, 2009

Schönheitsschlaf funktioniert tatsächlich.

Erstmals haben schwedische Forscher

belegt, dass sich ausreichende Schlafdauer

positiv auf die Attraktivität eines Menschen

auswirkt. Wir empfinden ein Gesicht als

gesünder und damit schöner, wenn jemand

ausgeschlafen ist. Schlafmangel dagegen

ist ein echter Schönheitskiller. Die Forscher

haben für ihre Studie 23 männliche und

weibliche Teilnehmer zweimal fotografieren

lassen: einmal ausgeschlafen, einmal nach

wenig Schlaf. Beide Male wurden die Pro-

banden auf gleiche Weise zurechtgemacht

und positioniert. Sie zeigten außerdem

einen möglichst identischen Gesichtsaus-

druck. Testpersonen beurteilten anschlie-

ßend das Aussehen der Teilnehmer.

ErgebnisUnausgeschlafen wurden die Personen auf den Fotos deutlich schlechter beurteilt in Bezug auf Ausgeschlafenheit, Gesund-heit und Attraktivität.Quelle: British Medical Journal, Dez. 2010, Karolinska Institutet, Stockholm

Die häufigsten Schönheits-operationen in Deutschland bei Männern:

Laserchirurgische Eingriffeim Gesicht

42.623Nasenkorrekturen 3.473Tätowierungen (Entfernungen) 3.338Fettabsaugungen 2.638Lidplastiken 2.057Quelle: Gesellschaft für Ästhetische Chirurgie Deutschland e. V., Zahlen für 2009

Die häufigsten Schönheits- operationen in Deutschland bei Frauen:

Laserchirurgische Eingriffeim Gesicht

38.117Fettabsaugungen 16.599Lidplastiken 10.426Nasenkorrekturen 7.331Brustvergößerungen 6.553

Ein Koreaner hat die Scheidung einge-

reicht, als er herausfand, dass seine Frau

schon einige Schönheitsoperationen hin-

ter sich hatte. Er fühlte sich betrogen, vor

allem, weil das gemeinsame Baby so gar

nicht seiner schönen Frau glich. Sein Vor-

wurf: Sie habe ihn im Bezug auf ihre Gene

getäuscht. In Südkorea lässt sich jede zweite

Frau zwischen 20 und 30 Jahren chirurgisch

verschönern, vier Milliarden Dollar geben

die Koreaner jährlich für Schönheits-OPs

aus. Südkorea hat die größte Dichte an

Schönheitskliniken. Koreanische Männer

versuchen sich jetzt besser abzusichern:

Viele bitten ihre Auserwählte um ein Foto

aus Kindheitstagen.

Quelle: KBS World Radio, Korea

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ubuntu Dorfschönheiten

Page 22: ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten
Page 23: ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten

Bin ich schön?DIE GUTE NACHRICHT: DORFSCHÖNHEITEN GIBT ES NOCH –

IN ALLEN KULTUREN. SIE SIND SELBSTBEWUSST UND

FEST ENTSCHLOSSEN, SICH SELBST ZU MÖGEN. MAN FINDET

SIE DORT, WO SICH AUCH DAS DORF NEU ERFINDET,

ZUM BEISPIEL IN DER EINWANDERERSTADT TORONTO.

Fotos Paul Hahn Text Naomi Buck

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ubuntu Reportage

Page 24: ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten

Aditi: „Wenn du du selbst bist, bist du schön!“

An einem strahlenden Herbsttag ist die Bücherei in „Thorncliffe

Park“ gut besucht. Sikhs mit akkuratem Turban auf dem Kopf

schlendern an den Regalen entlang, chinesische Mütter lesen ihren

Kindern vor und eine Gruppe Schüler sitzt am lichtdurchfluteten

Fenster, brütet über ihren Mathe-Hausaufgaben. Unter ihnen ist die

16-jährige Aditi Zahir, die vor drei Jahren aus Bangladesch nach Ka-

nada kam. Aditis Mutter ist Soziologin und seit einem Monat hat sie

endlich auch einen Job, die Zeit davor verbrachte sie damit, verschie-

dene Qualifikationen nachzuholen, die die kanadischen Arbeitge-

ber verlangen. Aditis Vater hat früher als leitender Archivar an einer

Universität gearbeitet, jetzt verdient er sein Geld als Verkäufer in

einem Schuh-Discounter.

Thorncliffe Park ist einer von Torontos Ankunftsorten. Seine Hoch-

häuser wurden in den 50 er Jahren gebaut, die Ansammlung gilt

als eine der ersten auf dem Reißbrett geplanten Siedlungen. Heute

leben hier dreimal so viele Menschen wie ursprünglich vorgesehen,

90 Prozent davon sind Immigranten, die erst kürzlich angekommen

sind.

Aditi wird so gut wie alle ihrer kommenden Wochenenden in der

Bibliothek verbringen, egal, ob die Sonne scheint oder ob es schneit.

Sie ist im letzten Highschool-Jahr und hat es sich zum Ziel gesetzt,

mit Bestnote ab zuschließen. „Im letzten Jahr sind meine Noten auf

87 Prozent gefallen!“, klagt sie, dabei ist dies ein Wert, für den die

meisten kanadischen Schüler alles tun würden. Aber Aditi ist ehr-

geizig, sie will mehr, ohne dabei auch nur

eine Spur verbissen zu wirken. Sie lacht

viel, mag Musik, geht gerne ins Fitnessstu-

dio und zum Tanzen – wenn sie denn dazu

kommt, denn außerdem arbeitet sie ehren-

amtlich in der Bücherei, einem Kinderhort

und in Sommercamps. Oder lernt. Aditi

möchte Biologie studieren, und nur die Al-

lerbesten bekommen einen der ersehnten

Plätze. Gefragt nach Schönheit, antwortet

Aditi mit Natürlichkeit. „Wenn du, du selbst bist, bist du schön!“

Aditi interessiert sich nicht besonders für Mode, sie macht keine Di-

äten, trägt kein Make-up. Ihre Freunde in der Bücherei auch nicht.

Mairah und Munazza kommen aus Pakistan, sie tragen Schleier,

aber keineswegs nur, weil es der Glaube so vorsieht. „Der Schleier

unterstützt die natürliche Schönheit“, sagen die Mädchen. Gleich-

zeitig sei er eine Sicherheitsbarriere, da er eines ihrer wichtigsten

Schönheitsmerkmale verhüllt: ihre Haare. Muhammed, 17, mit ei-

nem charmanten Lächeln, ergreift das Wort. Er möchte gerne Model

werden, er mag gerne blaue Augen und persische Frauen, beeilt sich

aber zu sagen, dass Schönheit jede Form annehmen kann. „Letzt-

endlich hat Schönheit mit Selbstbewusstsein zu tun!“ Sein Freund

Rafatur ergänzt, dass Schönheit bedeute, auch das Unperfekte an

sich selbst zu akzeptieren, selbstbewusst zu seinen Eigenheiten zu

stehen.

Die Antworten klingen reif, fast abgeklärt! Ist es nicht die Charak-

teristik der Jugend, sich um sich selbst zu drehen, eitel zu sein

und begierig darauf, sich der Mehrheit anzupassen? Ist dies nicht

die Zeit stundenlanger Sitzungen vor dem Spiegel und ausgedehnter

Shopping-Touren? Und wenn die äußere Schönheit angeblich so

wenig zählt, wer wäre dann noch eine Dorfschönheit? Wir fragen

weiter.

Dorfschönheiten. Noch bevor ich begann, in meiner Heimat-

stadt Toronto nach ihnen zu suchen, wollte ich wissen, was der Be-

griff für die unterschiedlichen Menschen bedeutet. Von deutschen

Freunden bekam ich im Wesentlichen zwei Antworten. Für die ei-

nen war eine Dorfschönheit einfach das schönste Mädchen des

Dorfes, der Stadt, der Klasse, des Clubs, der Clique. Bewundert, be-

gehrt, beneidet. Für die anderen war die Dorfschönheit eher eine

Möchte-Gern-Schönheit mit zuviel Schminke, deren Gespür und

Geschmack immer eine Spur daneben liegt.

Ich forschte weiter in den Lexika, die den Terminus etwas hilflos

mit „village beauty“ übersetzten und erstaunlicherweise als „iro-

nisch“ klassifizierten. Es schien, als habe die Dorfschönheit ihre

Unschuld verloren oder zumindest einen Teil davon – aber wann

ist das passiert?

Vielleicht als das Dorf aufhörte, ein Bilderbuchdorf zu sein: eine

kleine, heile Welt mit dem Schulhaus, der Kirche und dem Markt-

platz als Mittelpunkt. Als aus Hühnerställen Legebatterien wurden,

der Bäcker und der Metzger durch das Einkaufszentrum im Außen-

bezirk ersetzt wurden, als die Dorfbewohner sich immer weiter

auseinanderdividierten und so mobil wurden, dass sie sie immer

seltener trafen. Als also das Dorf zu wanken begann, wankte die

Dorfschönheit mit.

In der Welt, in der wir leben, wachsen die Städte schneller als je

zuvor. Mehr und mehr Landbewohner verlassen den Ort, an dem

ihre Familie seit Generationen gelebt hat und ziehen in die Stadt.

Diese Entwicklung bedeutet nicht das Ende

der Dörfer, sondern ihre Wiederauferste-

hung und Neuerfindung in einem städti-

schen Kontext. In den armen Ländern fin-

det man sie in Form von Favelas und Slums,

in den wohlhabenderen sind es ethnisch

geprägte Stadt viertel und Straßenzüge und

vor allem in Einwandererländern sind es die

„arrival cities“, die Ankunftsorte, wie sie

der kanadische Journalist Doug Saunders in

seinem aktuellen Buch benennt.

Welcher Ort wäre besser, um dieses Phänomen zu untersuchen, als

Kanadas Hauptstadt Toronto, auf deren DNA Multikulti fest veran-

kert ist. Wie das gesamte Land, wurde Toronto von Einwanderern

gegründet. Mehr als die Hälfte der 5 ½ Millionen Einwohner der

Region „Greater Toronto“ wurden außerhalb Kanadas geboren. 1982

ist die Vielfalt der Kulturen sogar als besonderer Wert in die kana-

dische Verfassung eingeschrieben worden.

Wir beginnen unsere Suche in der öffentlichen Bibliothek. Das

kanadische Bücherei-System hat den höchsten Pro-Kopf-Umlauf

weltweit, hier kommen die Menschen zusammen. Wenn es also ein

Zentrum für die städtischen Dörfer gibt, dann ist es hier.

Aditi „Wenn du du selbst bist,

bist du schön!“

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ubuntu Reportage

Page 25: ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten

Ort der bunten Kleider, klingelnden Armreifen, Tempel statuen: die Gerrard Street in Little India

Aditi Zahir, 16, aus Bangladesch, interessiert sich mehr für einen guten Schulabschluss als für Mode.

Esther Okeke, 19, aus Nigeria, findet, dass es auf den Charakter ankommt, verwendet

aber dennoch einige Mühe auf ihr Äußeres.

Früher war Chinatown die erste Anlaufstation für Migranten aus China. Mittlerweile leben sie in sechs weiteren Gebieten in Torontos Außenbezirk.

Page 26: ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten

Die Freundinnen Yasmin Duri, 16, aus

Äthiopien, Efrah Mohamud, 16, und Maymun Muse,

16, aus Somalia, heben die von Allah

geschenkte Schön- heit mit Make-up und

gemusterten Kopf-tüchern hervor.

TongTong Theng, 15, wurde in der Fujian- Provinz in China ge-

boren. Als ein gutaus-sehender Junge vor-

beikommt, schlägt ihr Kichern in helle Auf-

regung um.

Anita Paryam, 19, (oben) arbeitet in einem Geschäft im Viertel „Little India“ (unten). Die westliche Begeisterung für ausgemergelte Körper versteht sie nicht.

Page 27: ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten

Für die drei Mädchen hat Schönheit mit Bescheidenheit und Selbst-

achtung zu tun. Über Frauen, die ihren Körper einsetzen, um Män-

ner zu verführen, reden sie verächtlich. „Um schön zu sein“, sagen

sie, „musst du lieben, was Allah dir gegeben hat.“ Allerdings spricht

offensichtlich nichts dagegen, die von Allah geschenkte Schönheit

hervorzuheben. Alle drei tragen Make-up, ihre Schuhe glitzern und

ihre Schleier sind mit Blumen bedruckt.

Männer sind für sie schön, wenn sie die Haare so lang tragen wie

der Prophet. Und sie sollen sich wie richtige Männer verhalten.

Heißt? „Sie sollen Herr im Haus sein, die Mutter und die Kinder

unterstützen.“

TongTong: „Groß, dünn, große Augen, moderner Haarschnitt.“

Zwei Blöcke weiter, in Torontos Chinatown, treffen wir TongTong

Theng, die vor 15 Jahren in Chinas Fujian-Provinz geboren wurde

und heute mit ihrer Familie in Downtown Toronto lebt. Früher war

dies der Ort der Chinesen schlechthin in Toronto, aber längst haben

sich in den Außenbezirken weitere chine sische Viertel gebildet, ins-

gesamt sind es sechs und jedes mit eigener Ausprägung. TongTong

trägt Latzhose und Kapuzenpul lover, an ihrem Schulranzen bau-

melt ein Plüschhase. Sie macht sich nichts

aus Schönheit. Sagt sie. Aber als sie von

dem schönsten Mädchen ihrer Klasse

spricht, schwärmt sie von dessen großen

Augen, dem schmalen Gesicht, der blassen

Hautfarbe. Helle Haut mag TongTong ger-

ne, „so wie bei der kleinen Meerjungfrau“.

Dann kichert sie und ihre Freundinnen ki-

chern mit, so anhaltend, dass man meinen

könnte, sie verbringen ganze Tage damit.

Dann kommt plötzlich eine Gruppe Jungen

aus dem Park gegenüber, und das Gekicher

schlägt in helle Aufregung um. „Schau …

schnell: Der da – der ist schön!“ Sie zeigen auf einen schlaksigen

Jungen in einem gestreiften T-Shirt. Und plötzlich weiß TongTong

ganz genau, was für sie Schönheit ist, zumindest in Bezug auf Jun-

gen. „Groß, dünn, große Augen, moderner Haarschnitt.“

Als Jielong Xie, die Ursache aller Aufregung, zu den Mädchen he-

rüberschlendert, kommt es zu kollektivem Erröten. Der junge Mann

ist 18 und, wie sich herausstellt, selbst ziemlich schüchtern. Was

Schönheit ist? Auch Jielong sagt, dass Schönheit damit zu tun hat,

wer du bist, und nicht, wie du aussiehst. Aber so ganz egal ist auch

ihm sein Aussehen nicht. Als Jielong sich die Bilder anschaut, die

der Fotograf eben von ihm gemacht hat, kann nur eines bestehen:

das, auf dem seine Haare die Ohren verdecken.

Anita: „Inder mögen runde Gesichter und kurvenreiche Körper.“

Wie in Chinatown sieht man heute auch in den anderen ethnisch

geprägten Vierteln eine Menge Touristen, die nach dem authen-

tischen Charme suchen: In Greektown, Little Italy oder auf dem in-

dischen Basar, der sich an der Gerrard Street in East End entlang

zieht. Früher haben hier tatsächlich viele Inder gelebt und gearbei-

tet, aber inzwischen kommen die Bewohner all dieser Viertel von

überall her und sind vor allem wohlhabend genug, dass sie sich die

hohen Mieten der Innenstadt leisten können. Auf der Suche nach

Schönheit sind wir im indischen Basar an der richtigen Stelle. Alles

funkelt und glitzert hier, dies ist die Welt der erlesenen Stoffe, klin-

Esther:„Es kommt auf den Charakter an!“

Der Parkplatz der „Toronto International Celebration Church“ im

East End sieht aus, als sei er einem Werbeblatt für kulturelle Vielfalt

entnommen. Ein stämmiger Prediger steht auf einer Plattform und

posaunt seine Botschaften heraus: „Wir sind alle Kinder Gottes, egal,

welchem Volk wir angehören, welche Hautfarbe und welchen Glau-

ben wir haben …“ Er steht hier jeden Sonntag, zumindest bei gutem

Wetter. Das Publikum hört willig zu, hin und wieder holt der Pries-

ter einen seiner Anhänger auf die Bühne, der den Zuhörern von sei-

nem persönlichen Weg zu Gott erzählt. Auch Esther Okekes Mutter

nimmt das Mikro in die Hand. Die Afrika nerin ist eine auffällige

Erscheinung, groß, mit schriller Sonnenbrille und buntem Kleid.

Während sie erzählt, wie sie von ihrer Familie in Nigeria ausge-

grenzt wurde, nachdem sie zum christlichen Glauben übergetreten

war, passt Esther, 19, auf ihre fünf Geschwister auf. Sie macht das

souverän – schließlich ist sie die Älteste und da die Kinder ohne Vater

aufwachsen, muss sie öfter einspringen und ist geübt in ihrer Rolle.

Esther besucht die katholische Schule und träumt davon, Kranken-

schwester zu werden – „wenn meine Mutter es sich leisten kann“. Was

Schönheit für sie bedeutet? Sie antwortet schnell: „Kinder sind schön!“

Und: „Es kommt auf den Charakter an, nicht

auf die äußere Erscheinung!“ Man staunt

ein bisschen, denn ganz offensichtlich legt

Esther dennoch viel Wert darauf, diese äuße-

re Erscheinung zu gestalten: Sie trägt lange

Ohrringe und ein körperbetontes Kleid in

Schwarz und Pink, ihre Haare sind mit hel-

len Strähnchen durchzogen. Esther ist min-

destens so auffällig wie ihre Mutter und ihr

im Stil ziemlich ähnlich, und das ist sicher

kein Zufall: Man kann sich vorstellen, dass

eine starke Frau wie Esthers Mutter, allein-

erziehend in einem fremden Land, sorgsam

darauf achtet, dass ihre älteste Tochter nicht vom Weg abkommt.

Efrah, Maymun und Yasmin: „Liebe, was Allah dir gegeben hat!“

Es ist nicht ungewöhnlich, dass Familien in der Fremde auseinan-

der brechen. Für viele mag Kanada das gelobte Land gewesen sein,

aber einmal in der neuen Realität angekommen, müssen die Ein-

wohner große Verluste verkraften: Familie, Freunde, Nachbarn feh-

len, der Status geht verloren und die Sicherheit. Manche Ehen schei-

tern unter diesem Druck.

Efrah Mohamud, Maymun Muse und Yasmin Duri sind Klassenka-

meradinnen an einer Schule im Zentrum Torontos. Alle drei sind 16

Jahre alt, Muslime und stammen aus Ostafrika (Efrah und Maymun

aus Somalia, Yasmin aus Äthiopien). Nur der Vater von Yasmin lebt

bei seiner Familie, die anderen beiden Mädchen wachsen zusam-

men mit ihren Geschwistern bei ihrer Mutter auf. Eine der drei Müt-

ter geht selbst wieder zur Schule, die zweite stellt orthopädische

Einlagen her, die dritte trägt Zeitungen aus. Yasmins Vater ist LKW-

Fahrer. Efrah möchte später Anwältin werden, Maymun Ärztin,

Yasmin Innendekorateurin.

Efrah, Maymun und Yasmin

„Liebe, was Allah dir gegeben hat!“

-27-

ubuntu Reportage

Page 28: ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten

gelnden Armreifen, bunten Statuen. In ei-

ner kleinen Gasse begutachtet eine Gruppe

Männer ein Dutzend Hindu-Gottheiten, die

in einer Garage stehen und auf den ersten

Blick alle gleich aussehen – für die Männer

nicht. Sie suchen die richtige Statue für ih-

ren Tempel und da kommt es auf Feinheiten

an: die Rundungen der Wangen, die Aus-

prägung der Jochbeine, die Farbe und Po-

litur des Marmors. Als wir gehen, diskutie-

ren die Männer immer noch auf Hindu; Schönheit wird hier sehr

genau genommen.

Anita Paryam,19, arbeitet in einem Einrichtungsladen nebenan. Sie

sagt, dass Inder runde Gesichter, kurvenreiche Körper und helle

Haut für schön empfinden. Wie in allen Gesellschaften, in denen

Teile der Bevölkerung immer wieder vom Hunger bedroht sind, ist

ein wohlgenährter, runder Körper Zeichen für Wohlstand und Si-

cherheit. Wenn Filmplakate aus Hollywood in Indien an kommen,

werden die Stars häufig dem lokalen Schönheitsideal entsprechend

bearbeitet. Mit Farbe und Pinsel werden die Körper etwas üppiger

gemacht. Anita ist seit drei Jahren in Kanada, aber die westliche Be-

geisterung für braungebrannte, ausgemergelte Körper und schmale

Gesichter kann sie immer noch nicht nachvollziehen.

Irene: „Sich hübsch anziehen, gut verhalten und immer lachen.“

Irene Meleniuk, 11, ist in Kanada geboren, ihre Familie kam 1990

aus Kiew hierher, als die Sowjetunion auseinanderbrach. Seitdem

versucht ihr Vater, die Wurzeln lebendig zu halten – sein persönli-

ches Dorf zu bewahren. Kanada ist jetzt die Heimat der Meleniuks,

es geht ihnen besser hier, vor allem weil sie eines haben, sagt der

Vater: „Freiheit!“ Regelmäßig statten sie der Ukraine einen Besuch

ab, aber für immer zurückkehren wollen sie nicht. Um in Toronto

die Balance nicht zu verlieren, bewahren sie ihr ukrainisches Erbe

und geben es an ihre Kinder weiter. Irene geht auf eine Schule der

Ukrainischen Katholischen Kirche. Jeden Tag wird dort mindestens

eine Stunde Ukrainisch gesprochen und

jeden Samstag bekommt sie Sprachunter-

richt. Im Sommer schicken die Eltern sie

ins ukrainische Ferienlager und regelmäßig

hat sie ukrainische Tanzstunden.

Heute Nachmittag wird ihre Gruppe bei ei-

nem ukrainischen Straßenfestival im West-

end auftreten. 350.000 Besucher kommen

jedes Jahr und feiern drei Tage lang mit

Musik, Tanz und Gerichten, die nach Hei-

mat schmecken. Irene freut sich. Zurecht-

gemacht in ihrem traditionellen Kostüm,

dezent geschminkt mit einem Hauch blau-

em Eyeliner, fühlt sie sich hübsch. Schön-

heit, das bedeutet für Irene: „Sich hübsch

anziehen, gut verhalten und immer lachen.“

Unwillkürlich fragt man sich, ob Irenes En-

kelkinder, falls sie denn ebenfalls in Toron-

to aufwachsen sollten, noch die ukrainische

Schule besuchen und die Tänze aus der frü-

heren Heimat lernen werden. Es scheint

unausweichlich, dass das schöne Kostüm

irgendwann in einer Kiste auf dem Dach-

boden vor sich hin staubt und Ukrainisch für die Folgegeneration

nur noch diese eigenartige Sprache sein wird, die Großmutter

manchmal spricht.

Marie-Claire: „Die größte Hässlichkeit entsteht durch mensch-

liche Eingriffe!“

Für Marie-Claire Perotto sind ihre europä ischen Wurzeln nur noch

Teil der eigenen Geschichte, biografische Fakten. Bereits ihre Eltern

sind in Kanada geboren, während ihre Großeltern aus Schottland,

Irland, Holland und Italien kamen. Marie-Claire ist 18 und studiert

Fotografie. Wir treffen sie vor der „Art Gallery of Ontario“, wo sie

eine Skulptur des Bildhauers Henry Moore abzeichnet. Immer,

wenn sie etwas zeichnen soll, sucht sie sich Objekte aus der Natur,

oder solche, die, wie in diesem Fall, die Natur widerspiegeln. „Die

größte Schönheit findet man in der Natur und die größte Hässlich-

keit entsteht durch menschliche Eingriffe“, sagt sie.

Das Gleiche gelte für Menschen. Zwar könne menschliche Schönheit

verschiedene Formen annehmen, aber sie habe immer zu tun mit

Einfachheit, Natürlichkeit und dem Selbstbewusstsein, das man aus-

strahlt. All die Mode-Statements, verrückten Frisuren und gewagten

Kleidungsstücke, von denen es auf dem Gelände der Kunstgalerie nur

so wimmelt, findet sie spannend zu beobachten, manchmal regel-

recht kunstvoll, aber selten schön.

Es ist fast unglaublich: All die jungen Leute scheinen fest ent-

schlossen, sie selbst zu sein und eben nicht Sklave der Bilder, die

die Mainstream-Medien täglich liefern. Das

mag daran liegen, dass auch die Main-

stream-Medien heute nicht mehr die Wir-

kung haben, die sie einmal hatten und

fast ihren Namen nicht mehr verdienen.

Denn durch das breite digitale Angebot ge-

winnt die Vielfalt an Boden. Und es mag

daran liegen, dass all diese Jugend lichen

aus ihrer Immigrationsgeschichte gelernt

haben, wie wichtig es ist, in beständige

Dinge zu investieren, um in ihrer neuen

Heimat weiterzukommen. Und dass es in

ihrer vielschichtigen Welt darauf ankommt,

den eigenen Platz, die eigene Identität zu

finden.

Wenn sie also tatsächlich meinen, was sie

sagen, wenn es ihr Ernst ist – dann haben

wir sie gefunden: die Schönen ihrer neuen

Dörfer.

Irene „Sich hübsch anziehen,

gut verhalten und immer lachen.“

TorontoDer Anteil an Einwanderern in Kanadas Haupt-stadt ist noch höher als in Städten wie London, Los Angeles oder New York. Toronto ist ein Patchwork aus zahlreichen Vierteln, die alle ihre eigene ethnische Prägung haben. 1982 wurde die Vielfalt der Kulturen sogar in der kanadischen Verfassung verankert.

Zum WeiterlesenDoug Saunders: Arrival City. Über alle Grenzen hinweg ziehen Millionen Menschen vom Land in die Städte. Von ihnen hängt unsere Zukunft ab. Karl Blessing Verlag, 2011 22,95 Euro

-28-

ubuntu Reportage

Page 29: ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten

Die Restaurants in Chinatown sind vor allem bei Touristen beliebt. Wohnen kann im Viertel nur noch, wer sich die teuren Innenstadt-Mieten leisten kann.

Marie-Claire Perotto, 18, ist gebürtige Kanadierin. Schönheit

hat für sie mit Natürlichkeit und Einfachheit zu tun.

Die Familie von Irene Meleniuk, 11, stammt aus der Ukraine. Irene gefällt sich in ihrem traditionellen Kostüm.

Blick vom CN Tower auf die multi-kulturelle Stadt. Jeder zweite Einwohner Torontos ist im Ausland geboren.

Page 30: ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten

ihn dabei durch zusätzliche Informationen

zu verunsichern oder zu verwirren. Wenn

Sie zum Beispiel andere, mehr oder weniger

dramatische Unfälle als Vergleich herneh-

men würden, könnte es passieren, dass die

Angst Ihres Kindes nur noch größer wird.

Was Sie ebenfalls nicht tun sollten, ist, Ih-

ren Sohn zu vertrösten oder seinen Fragen

auszuweichen. Ablenken ist nur dann in

Ordnung, wenn Sie merken, dass sich Ihr

Sohn sehr hineinsteigert und so davon ein-

genommen wird, dass kein anderes Thema

mehr Platz hat und keine Aktivitäten mit

Spass und Freude mehr möglich sind.

Prinzipiell aber handelt es sich um eine in-

tensive und wichtige Phase der Auseinan-

dersetzung. Wie lange sie andauert, ist indi-

viduell sehr unterschiedlich. Das kann und

soll man nicht von außen zu verkürzen ver-

suchen.

Natürlich ist es für Eltern schwer auszu-

halten, wenn ihr Kind schlecht schläft und

Ängste hat. Und sie wollen ihrem Kind die-

se Ängste verständlicherweise möglichst

schnell nehmen. Aber das können sie leider

nicht! Sie können ihrem Kind nur helfen,

mit diesen Ängsten besser zurechtzukom-

men und sie letztendlich selbst zu überwin-

den. Ängste gehören zum Leben dazu. Sofern

sie nicht einschränkend und unserer Ent-

wicklung hinderlich sind, haben sie auch

wichtige Funktionen. Sie warnen uns. Sie

lassen uns vorsichtiger und achtsamer sein.

Und sie fördern bei Ihrem Sohn die Ausein-

andersetzung mit diesem lebenswichtigen

Thema und damit seine Entwicklung und

sein Reifen. Ihre Aufgabe als Eltern ist es,

ihn in dieser Auseinandersetzung zu beglei-

ten und zu unterstützen.

WENN ES UM FRAGEN DER PÄDAGOGIK,

ELTERN-KIND-KONFLIKTE UND

IHRE LÖSUNG GEHT, HABEN DIE SOS-

KINDERDÖRFER EINE MENGE ZU

SAGEN! 60 JAHRE INTENSIVE ARBEIT

MIT KINDERN SIND DIE BASIS

DAFÜR. ULRICH SOMMER, PSYCHOTHE-

RAPEUT FÜR KINDER UND JUGEND-

LICHE, GIBT RAT!

Ulrich Sommerist Psychotherapeut für Kinder und Jugend-liche und Pädagogischer Leiter des Diagnose- und Therapiezentrums „Bienenhaus“ der SOS-Kinderdörfer in Hinterbrühl, Österreich. Kindern und Jugendlichen mit massiven Pro-blemen wird dort stationär geholfen.

Haben auch Sie eine Frage an Ulrich Sommer?Dann schreiben Sie an:Redaktion ubuntu, SOS-Kinderdörfer weltweit, Ridlerstr. 55, 80339 München oder [email protected]

Sehr geehrter Herr Sommer, tragi-

scherweise ist der Vater eines Jungen, der

gemeinsam mit meinem Sohn in den Kin-

dergarten geht, bei einem Motorradunfall

gestorben. Meinen Sohn beschäftigt das

sehr. Er hat seitdem Angst, dass uns, sei-

nen Eltern, auch etwas passieren könnte,

er träumt schlecht und spricht das Thema

immer wieder an. Mein Mann und ich

versuchen zwar, ihn zu beruhigen, aber

das scheint ihm nicht wirklich zu helfen.

Wie spricht man denn einfühlsam über

den Tod? Und wie kann ich meinem Sohn

die Angst nehmen? Dankbar für Ihren Rat,

Marina D., Berlin

Wozu raten Sie mir?

Liebe Frau D., grundsätzlich ist die

Reaktion ihres Sohnes völlig normal. Er er-

lebt mit, wie ein anderes Kind durch ein tra-

gisches Ereignis seinen Vater verliert. Das

löst in allen Menschen tiefe Betroffenheit

und Mitgefühl aus. Und es löst Ängste aus,

dass einem selbst das Gleiche zustoßen

könnte. Insofern ist die Reaktion ihres Soh-

nes sehr menschlich und gesund.

Was Kinder in solchen Situationen brau-

chen, ist Verständnis und Sicherheit. Sie

müssen die Möglichkeit haben, ihr Mitge-

fühl, ihre Trauer und auch ihre eigenen

Sorgen aussprechen zu dürfen. Möglicher-

weise braucht Ihr Sohn auch Hilfe, seine

vielleicht widersprüchlichen Gefühle und

Gedanken zu sortieren. Es mag zum Beispiel

sein, dass er froh ist, dass es nicht ihm,

sondern einem anderen Kind passiert ist.

Dann ist es es gut, ihm klarzumachen, dass

er deshalb kein schlechtes Gewissen haben

muss. Kinder brauchen das Gefühl, dass

ihre Gefühle nachvollziehbar sind.

Hilfreich sind auch Gespräche darüber, wie

es dem anderen Kind und seiner Familie

jetzt geht, wie so etwas passieren kann,

welche Gefahren es gibt, wie groß sie sind

und wie man Unfälle vermeiden kann. All

diese Informationen tragen dazu bei, die

Dinge besser verstehen und einordnen zu

können.

Allerdings sollte man diese Gespräche nicht

aufdrängen, sondern ermöglichen. Seien Sie

aufmerksam und gehen Sie achtsam mit

Fragen ihres Sohnes um. Beantworten Sie

diese ehrlich und altersentsprechend, ohne Illu

stra

tion:

Uli

Knörz

er

Wie spreche ich mit meinem Sohn über den Tod?

Fragen an Ulrich Sommer

-30-

ubuntu Ratgeber

Page 31: ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten

*FÜR 31 EURO IM MONAT WERDEN SIE SOS-PATE UNTER

www.sos-kinderdoerfer.deFoto

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onast

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EURO KOSTEN VIER

MUND GEBLASENE CHRIST BAUMKUGELN AUS OBERFRANKEN

QUELLE: WWW.MONASTERIO.DE

31

-31-

ubuntu Preisvergleich

Page 32: ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten

Was macht dir gute Laune?

Eine Frage geht um die Welt

Illu

stra

tion:

Tania

Seif

ert

Ich bin glücklich, wenn ich reisen kann! Bisher war ich nur in Monte-negro, aber später würde ich gerne viele Länder sehen. Dacha, 11

Kraljevo, Serbien

Ich bin nicht der Beste in Mathe, deshalb steigt meine Laune bei jeder guten Mathe-Note.Nidza, 10

Kraljevo, Serbien

Ich bekomme gute Laune beim Malen.William, 11

Kapstadt, Südafrika

Beten, in der Bibel lesen und das Wort Gottes hören – das versetzt mich in gute Laune.Memory, 14

Harare, Simbabwe

Am liebsten bin ich auf dem Berg Nagarkot. Dort ist die Landschaft toll und es gibt ganz viel zu sehen: hohe Berge, grüne Felder, große Bäume, Dörfer.Rama, 18

Jorpati, Nepal

Weihnachtsgeschenke kaufen! Wenn ich das Geld hätte, würde ich meiner ganzen Familie große Geschenke machen.Patricia, 12

Harare, Simbabwe

Ich bekomme gute Laune, wenn ich bei meiner Großmutter sein kann.Analía, 11

Asunción, Paraguay

Ich fühle mich gut, wenn ich mit meinen Freunden am Fluss Uruguay zum Angeln gehe. Vor allem, wenn ich einen großen Fisch fange.Luis, 11

Salto, Uruguay

Meine Laune wird schlagartig bes-ser, sobald die Schule vorbei ist! Svetlana, 15

Bauska, Lettland

Singen! Mein Lieblingslied heißt „Joy, Joy, Joy“ – Freude. Wenn ich es singe, fühle ich mich froh.Merci, 8

Nairobi, Kenia

Mein Vater schafft es immer, mich aufzuheitern. Er ist cool und wirklich witzig.Tainara, 12

Santa Maria, Brasilien

Es macht mir gute Laune, wenn mir jemand ein Kompliment macht – oder, wenn ich jemand anderen fröhlich machen kann.Sukhbataar, 18

Ulan Bator, Mongolei

Musik! Sie lässt mich die Realität vergessen. Manchmal brauche ich das.Alkida, 14

Tirana, Albanien

Ich kriege gute Laune, wenn ich koche. Ich habe das Gefühl, ich selbst zu sein, wenn ich in der Küche stehe und die wundervolle Welt der Geschmäcker erforsche. Ilirjan, 13

Tirana, Albanien

Immer, wenn ich ein Cricket-Spiel gewinne, ist meine Laune bes-tens! Aber auch, wenn wir verlie-ren, habe ich oft gute Laune.Sameer, 13

Faridabad, Indien

Meine Stimmung wird besser, wenn ich bei meiner Mutter auf dem Schoß sitzen kann. Kenu, 11

Keila, Estland

Krässu macht mir gute Laune! Er ist der Hund unserer Nach-barn. Zwar liebe ich eigentlich Katzen noch mehr als Hunde, aber Krässu zu streicheln ist für mich was ganz Besonderes.Viktoria, 7

Keila, Estland

-32-

ubuntu Global

Page 33: ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten

Ernährungsprobleme der hungernden Be-

völkerung lösen. In Ghana ist es dank des

Anbaus ertragreicher Manioksorten in den

letzten 30 Jahren gelungen, die Unterer-

nährung rascher zu verringern als in jedem

anderen afrikanischen Land! Das stärke-

haltige Wurzelgemüse ist wenig anspruchs-

voll und kann über das ganze Jahr geerntet

werden. Die Pflanze toleriert auch karge Bö-

den und übersteht längere Trockenperioden.

Nicht Ereignisse wie Dürre, Missernten

oder Überschwemmungen sind die Haupt-

ursachen für den Hunger, sondern Ent-

wicklungen, die voraussehbar sind – wie das

rasante Bevölkerungswachstum, das von

den Regierungen ignoriert wird. Beispiels-

weise hatte Tansania 1961 noch 8 Millionen

Einwohner, jetzt sind es 45 Millionen und

2030 werden es 80 Millionen sein. Es ist

absehbar, dass die Länder ohne Familien-

planung ihre Bevölkerung nicht mehr

ernähren werden können.

30 Prozent der Nahrungsmittel verrotten

Weitere Ansatzpunkte: Es fehlt an Krediten

für Landwirte, an Regenwasser-Speichern,

Trocken- und Reinigungsmaschinen und

Fachwissen zur Züchtung resistenter Getrei-

desorten. Durch verbesserte Anbaumetho-

den könnten die Erträge leicht verdoppelt

werden. Auch die Infrastruktur müsste

ausgebaut werden. Dadurch, dass Straßen

nicht ganzjährig befahrbar sind und die

Lagerung sowie der Vertrieb nicht optimal

funktionieren, verrotten aktuell dreißig

Prozent des Getreides, Obstes und Gemüses

auf dem Weg vom Acker zur Ladentheke.

Zwar arbeiten achtzig Prozent der Bevölke-

rung in der Landwirtschaft und Viehzucht,

aber die Ernährung der eigenen Familie steht

dabei im Mittelpunkt. Der Bedarf des Kon-

tinents an Nahrungsmitteln kann so nicht

gedeckt werden. 30 Tonnen Lebensmittel

müssen jedes Jahr eingeführt werden.

Wirkungslose UN-Politik

Regelmäßig finden Ernährungsgipfel statt.

Auf diesen fordert Jacques Diouf, General-

direktor der Welternährungsorganisation der

UN, weitere Milliarden für das Armenhaus

Afrika. Die Organisation gilt als schwerfällig

und bürokratisch und hat trotz hohem

Budget noch keine wirkungsvollen Änderun-

gen hervorgebracht. In der Vergangenheit

haben die UN-Gremien Welternährungs-

organisation (FAO), das Welternährungspro-

gramm (WFP) und der International Fund for

Agricultural Development (IFAD) ihre Ar-

beit unzureichend koordiniert. Sie scheinen

sich nicht zu ergänzen, sondern miteinan-

der zu konkurrieren.

Krise als Chance

Die Krise in Ostafrika, die wir derzeit er-

leben, ist nicht gänzlich negativ, wenn sie

dazu führt, dass künftig langfristig in die

Landwirtschaft investiert wird und so die

Armut konkret und dauerhaft bekämpft

wird. Solche und andere Maßnahmen könn-

ten die Hungersnöte verhindern, wie am

Beispiel Malawi zu sehen ist. Das Land hat

sein Hungerproblem gelöst. Statt die von

den internationalen Ökonomen empfohlene

Privatisierung einzuführen, hat Malawi

seit 2005 Saatgut und Düngemittel subven-

tioniert, die Ausbildung der Bauern und den

Ausbau der Infrastruktur gefördert. Heute

exportiert das Land Nahrungsmittel in die

Nachbarländer.

Deutschland muss seine Unterstützung

künftig mit nachvollziehbaren Zwischen-

schritten verknüpfen. Wenn die Zielvor-

gaben nicht erfüllt werden, muss das spür-

bare Konsequenzen haben, notfalls den

Ausstieg aus der Hilfe. Wenn wir in so einem

Fall nicht handeln, bestätigen wir die zyni-

schen Machteliten, die behaupten: „Nicht

wir, sondern ihr habt ein Problem. Eure

Entwicklungshelfer wollen sich nie wieder

entbehrlich machen.“

Wir müssen uns Afrika ungezwungener

nähern und den Afrikanern zutrauen,

dass sie ihre Schwierigkeiten selbst lösen

können.

Müssen Hungersnöte sein?

Essay: Volker Seitz Ehem. deutscher Botschafter

Warum gibt es Armut in Afrika?

Man darf nicht ausblenden, dass einheimi-

sche Politikerkasten sich am Vermögen ih-

rer eigenen Länder bereichern. Ihr einziges

Ziel scheint Organisation und Erhalt von

Macht zu sein. Einkommensungleichheiten

hängen stark davon ab, was Regierungen

tun oder getan haben, um auf ein höheres

Wirtschaftswachstum zu kommen. In ei-

nem guten Investitionsklima mit leistungs-

freundlichen Steuersystemen und einem

funktionierenden Rechtswesen entwickeln

sich Länder schneller, andere nicht. Nobel-

preisträger Amartya Sen hat darüber hinaus

nachgewiesen, dass in Demokratien Hun-

gerkatastrophen kaum noch entstehen.

Weniger Fatalismus

Die afrikanischen Machthaber müssen

sich den Fatalismus abgewöhnen, ihr Schick-

sal auf Gott oder das Wetter zu schieben,

und stattdessen die Verhältnisse durch eige-

ne Anstrengung ändern. So sind die Soma-

lier wohl das einzige Küstenvolk, das keinen

Fisch mag. Dabei könnte der reichlich vor-

handene Fisch, der von den Nomaden kul-

turell nicht akzeptiert wird, die größten

Foto

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ux

Volker Seitzwar als deutscher Botschafter in verschie-denen afrikanischen Ländern tätig. Zuletzt erschienen: „Afrika wird armregiert“, dtv, 14,90 Euro

-33-

ubuntu Essay

Page 34: ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten

Typisch Mädchen?SEIT DEN 70ER JAHREN WIRD HEFTIG DARÜBER GESTRITTEN, OB DIE UNTERSCHIEDE

ZWISCHEN JUNGEN UND MÄDCHEN ANGEBOREN SIND ODER OB DIE GESELLSCHAFT

SIE ERST HERVORBRINGT. WAS STIMMT DENN NUN? UBUNTU-AUTOR CHRISTIAN BLEHER

HAT DEN AKTUELLEN STAND DER FORSCHUNG RECHERCHIERT UND KAM

ZU FOLGENDEM ERGEBNIS: TATSÄCHLICH GIBT ES ANGEBORENE UNTERSCHIEDE –

ABER SIE SIND MINIMAL.

Fotos Joi Kjartans und Gabriele Galimberti Text Christian Bleher

Oben:Das Mädchenglück ist rosa. Oder? Forscher warnen:

Wenn Rollenklischees von Eltern und Umfeld betont werden, kann ein Kind nicht sein volles Potenzial entwickeln.

-34-

ubuntu Report

Page 35: ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten

Wer um die grundsätzliche Unterschiedlichkeit zwischen

Menschen männlichen und Menschen weiblichen Geschlechts

weiß, kann es bis zum Friedensnobelpreis bringen. Mohammed

Junus, der Nationalökonom aus Bangladesch, hatte beobachtet:

Frauen sind verlässlicher als Männer. Geld, das man ihnen leiht,

kommt mit größter Wahrscheinlichkeit zurück. Seit Yunus’ Gra-

meenbank ihre Mikrokredite fast ausschließlich an Frauen vergab,

erreichte die Rückzahl-Quote nahezu 100 Prozent. Die Gender-Poli-

tik trug wesentlich bei zum Erfolg des Kreditinstituts und Junus

erhielt 2006 in Oslo die ehrwürdige Auszeichnung.

Es ist nun mal so: In den ärmsten Ländern bleiben die Frauen

mit den Kindern im Dorf, sorgen sich um deren Zukunft und unter-

stützen sich dabei gegenseitig. Und es ist nun mal nicht nur in

armen Ländern so: Männer ziehen lieber los, neigen zu Konkurrenz

statt zu Solidarität und führen mehrheitlich eher ein riskanteres

Leben im Hier und Jetzt, statt die Folgen ihres Handelns zu beden-

ken. In reicheren Ländern heißt ihr Motto: „No risk, no fun“. Das

ist einer jener fundamentalen Geschlechterunterschiede, die die

Neurobiologin Lise Eliot in ihrem Werk „Wie verschieden sind sie –

die Gehirnentwicklung bei Mädchen und Jungen“ (Berlin Verlag,

2010) erklärt. Männer haben Wirtschaftsforschern zufolge „nicht

halb soviel Vorbehalte wie Frauen, ihre Ersparnisse für den Ruhe-

stand in Wertpapieren anzulegen“, heißt es darin. Männer sind es

auch, die mit Tunnelblick auf einen Spielautomaten ihre Ersparnis-

se auf direktem Wege verspielen.

Und doch: Eliot ist, wie einige andere

Forscher-Kolleginnen und -Kollegen, angetre-

ten zu beweisen, dass die Geschlechterunter-

schiede geringer ausfallen als angenommen.

Sie sagt, dass eine Vielzahl von Studien zu

Fehlannahmen beitragen und dass Eltern und

Pädagogen gut daran tun, sich der tatsäch-

lichen Geschlechterunterschiede ebenso be-

wusst zu werden wie der Stereotype – um sie

nicht unbewusst noch zu verstärken.

Zu den ewigen Gender-Wahrheiten gehört, dass sich Männer

besser orientieren können. Tatsächlich haben sie leichte Vorteile bei

der räumlichen Wahrnehmung. Nur ist die Begründung nicht zwin-

gend: Angeblich können sie dank der stärker entwickelten rechten

Hälfte ihres Gehirns, das um immerhin acht bis elf Prozent größer

ist als das weibliche und rund zwei Jahre länger wächst, besser

räumlich denken. Die Zahlen sind unbestritten, sie täuschen aber

über die Tatsache hinweg, dass frühzeitiges Training vieles wett-

machen kann. Die Kurzschlüsse aber, zu denen solche Zahlen verlei-

ten, werden in Comedy-Shows ebenso genüsslich verbreitet wie in

witzig gemeinten Büchern. In „Warum Männer nicht zuhören und

Frauen schlecht einparken“ etwa bekommt der Mann den Rat: „Wol-

len Sie ein glückliches Leben führen? Dann bestehen Sie niemals

darauf, dass eine Frau eine Karte oder einen Stadtplan für Sie liest.“

Die entscheidenden Fragen lauten: Wie viele Individuen ent-

sprechen wirklich dem Klischee? Und: Ist die Gehirnstruktur wirk-

lich Programm? Beantworten lassen sie sich logischerweise nur,

wenn man weiß, wie groß die Unterschiede von Geburt an sind. Und

wie sie sich durch Kindheit und Jugend entwickeln. Gängige Popu-

lär-Titel aber auch zahlreiche Studien gehen kurzerhand vom Status

quo des gereiften Gehirns aus und vernachlässigen das Werden, wie

Eliot, Professorin an der Universität von Chicago und Mutter von

zwei Söhnen und einer Tochter, nachweist. Sie argumentiert: Das

Gehirn ist „plastizierbar“. Anlage und Umwelt sind nicht „einander

ausschließende Pole“, sondern „unauflöslich ineinander verwobene

Einflussgrößen“. Ihre naturwissenschaftliche Beweisführung mün-

det ein ums andere Mal in die Erkenntnis: Die durchaus vorhande-

nen, aber eher geringen Unterschiede zwischen den Geschlechtern

müssen nicht zu bedrohlich großen Unterschieden werden. Genau

dazu aber tragen Titel wie „Das weibliche Gehirn: Warum Frauen

anders sind als Männer“ bei, die sich hervorragend verkaufen, aber

ihren Lesern einen schlechten Dienst erweisen. Autorin Louann

Brizendine behauptet darin: „Mädchen neigen von ihrer neurobiolo-

gischen Struktur her zum Austausch von Blicken, Jungen aber

nicht.“ Derartige Äußerungen hält Eliot nicht nur für falsch, son-

dern auch für gefährlich: „Stellen Sie sich Eltern vor, die nicht er-

warten, dass ihr neugeborener Sohn eine enge Bindung zu ihnen

aufbauen kann! Sie würden ihm gar keine Gelegenheit dazu geben.“

Auf die Tatsache, dass das Gehirn ein wandelbares Organ ist,

hat schon die Münchner Entwicklungspsychologin Doris Bischof-

Köhler in ihrem Standardwerk „Von Natur aus anders. Die Psycholo-

gie der Geschlechtsunterschiede“ (Kohlhammer, 2002) hingewiesen.

Unterschiedliche Anlagen bedeuten demzufolge nicht „Determinie-

rung“. Eliot wie Bischof-Köhler betonen: Typische Veranlagungen

gelten als Mittelwert, dem aber nicht jeder Vertreter des jeweiligen

Geschlechts im selben Maß entsprechen muss. Eliot zufolge fallen

die meisten Unterschiede, auch die psychischen, innerhalb der je-

weiligen Geschlechtergruppe größer aus als im Vergleich zwischen

den Geschlechtern.

Das blau-rosa-Denken beginnt aber

schon mit den ersten Lebenstagen: Der Junge

ist kaum geboren, da empfangen die Eltern

Glückwunschkarten, die nach Eliots Beobach-

tung ein „aktives Kind zusammen mit Bällen,

Autos oder Sportgeräten“ zeigen. Das Mädchen

ist kaum geboren, da kommen Karten, die ein

passives Kind zeigen – mit typischem Klein-

kind-Spielzeug wie Rasseln oder Mobiles. Im

Begleittext finden sich Adjektive wie „süß“

und „hübsch“. Solche Art, Kinder zu betrachten, führt im Extrem zu

Erlebnissen, wie sie Eliot dem Eltern-Magazin „Nido“ geschildert

hat: Ihr jüngerer Sohn sei drei Mal wegen kleinerer Verletzungen

im Krankenhaus gewesen, zweimal habe der Arzt vor dem Nähen

gesagt: „Na, immerhin ist es kein Mädchen.“

Wie stark Erwachsene mit unreflektierten Erwartungshaltun-

gen das Verhalten der Kinder in Richtung Rollenklischee lenken,

beweist ein Experiment der New York University: Elf Monate alte

Kinder sollten eine im Neigungsgrad stufenlos verstellbare Krab-

belstrecke bergab bewältigen. Die Mütter sollten einschätzen, wel-

ches Gefälle sich die Kinder zutrauen würden. Mädchen und Jungen

erprobten in etwa dieselben Neigungen. Mädchen bei Schrägen zwi-

schen 10 und 46 Grad, Jungen bei Schrägen zwischen 12 und 38 Grad.

Die Unterschiede waren statistisch kaum relevant. Relevant war die

unterschiedliche Art, wie die Mütter ihre Kinder einschätzten: Die

der Jungen lagen mit einer Abweichung von nur einem Prozent

ziemlich richtig, Mütter einer Tochter unterschätzten die Fertigkei-

ten im Durchschnitt um neun Prozent.

Fatal wirken sich solche Annahmen später aus, wenn es um

die Frage geht, zu was Mädchen etwa in Mathematik fähig sind

und was Jungs auf dem Gebiet des Sprechens und Lesens erreichen

können. So ergab eine kulturübergreifende Studie amerikanischer

Psychologen, dass Eltern schon von einem Sohn im Kindergartenal-

ter eine geringere Lesekompetenz als von einer Tochter erwarten,

Das blau-rosa-Denken beginnt schon mit den ersten Lebenstagen.

-35-

ubuntu Report

Page 36: ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten

Typisch Junge?

Unten:Was man oft genug hört, glaubt man schließlich

selbst: Jungen halten sich bereits im Grundschulalter für das stärkere Geschlecht.

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ubuntu Report

Page 37: ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten

obwohl die messbare Geschlechterdifferenz zu dieser Zeit faktisch

kaum ins Gewicht fällt. Vielleicht kein Zufall, dass einer der fein-

fühligsten Dichter deutscher Sprache, Rainer Maria Rilke, einen

weiblichen Zweitnamen bekam und bis ins Grundschulalter in Mäd-

chenkleidern herumlaufen musste, weil seine Mutter den Säug-

lingstod ihrer Wunschtochter nicht verkraftet hatte.

Die negative Macht der Rollenbilder macht sich besonders in

den Leistungen in Mathematik bemerkbar. So haben in Eliots ame-

rikanischer Heimat Mädchen in landesweiten Vergleichstests bereits

zu den Jungen aufgeschlossen. Dennoch zeigten selbst die besten

Mädchen geringes Selbstbewusstsein: Jungen schreiben ihre Leis-

tungen einer natürlichen Begabung zu, Mädchen ihrem Fleiß. Das

„schwache Geschlecht“ macht sich selbst schwach.

Jungen halten sich bereits im Grundschulalter für das stärkere

Geschlecht. Diesen Schluss legt eine langfristige Untersuchung der

Humboldt-Universität von Berlin nahe. Im Jahr 1980 sollten Kin-

der im Alter von etwa zehn Jahren einen Text unter dem Titel

schreiben: „Warum ich gern ein Mädchen/Junge bin“, 2010 wurde

die Aufgabe mit rund 100 Kindern im selben Alter wiederholt und

einer der kleinen Aufsatzschreiber begründete typischerweise: „weil

Jungen stärker sind, weil ich besser mit Holz bauen kann, ich kann

besser schwimmen, (…) und weil ich besser auf Bäume klettern

kann“. Zufrieden sind sie auch, weil „in den Busch pullern einfacher

geht“. Mädchen betonen schon früh das Äußere: Mädchen seien

meist „ordentlicher als Jungs“, können „schö-

ne Sachen anziehen“ und „sich schminken“.

Renate Valtin, Professorin für Grund-

schulpädagogik, fasste das Ergebnis im „Tages-

spiegel“ so zusammen: „Die Annahme, die

Kinder seien heute weit weniger von alten

Stereotypen beeinflusst, erwies sich als falsch.

Gegenüber 1980 sei wesentlich stärker das

Kriterium äußerliche Attraktivität genannt

worden. Genau das empfinden Jungen, zu-

mindest in diesem Alter, als triftigen Grund,

Mädchen igitt zu finden. Kostprobe: „Weil ich nicht so einen

Schuhtick haben will und nicht so viel Schminke und Puder haben

will und keine Röcke, die so kurz sind, dass man sie gar nicht

braucht.“ Der Sozialpädagoge Lothar Böhnisch hat es einmal so

ausgedrückt: Der Mann definiere sich „über die Außenwelt“ und

kultiviere „die Abwertung des Weiblichen“. Nach dem Motto: „Auch

wenn du der letzte Underdog bist, ausgegrenzt und niedergehalten,

bist du immer noch ein Mann und damit im Prinzip mehr wert als

jede Tussi.“

Warum Kinder traumwandlerisch sicher der Klischee-Spur

folgen, liegt für Valtin daran, dass jede Kultur soziale Differenzierung

über das Geschlecht vornimmt und Kinder eben schon früh lernen,

welche Merkmale ihrer Kultur als „männlich“ angesehen werden,

welche als „weiblich“ – und welches Verhalten vor diesem Hinter-

grund als abweichend gilt. Dieser Lernprozess zeigt sich schon bei

der Wahl des Spielzeugs: Noch im Alter von einem Jahr sind Mäd-

chen und Jungen gleichermaßen fasziniert von Bällen und greifen

fast gleichermaßen zu Puppen oder Autos. Mit drei Jahren will kein

Junge mehr von Puppen etwas wissen, mit fünf Jahren spielen mehr

als zwei Drittel der Mädchen mit der Puppe und ebenso viele Jungen

mit dem Auto. Eliot aber warnt davor, den Fehler der 68 er-Zeit zu

wiederholen und zu sagen: Puppen für Jungen, Autos für Mädchen,

dann wird alles gut! So einfach nämlich lassen sich die Klischees

nicht überlisten.

Stereotyp ist auch der Berufswunsch: Jungen träumen früh

davon, Polizist zu werden, Techniker, Informatiker oder Fußball-

Profi. Der Traum vom Dasein als Polizist hindert sie freilich nicht

daran, schon früh mit Wollust Regeln zu brechen. Als Kleinkind,

um Grenzen zu erfahren. Als Kindergarten-Pimpf und Grundschul-

Dreikäsehoch, um damit angeben zu können. Wenn Vernachläs-

sigung oder Verwahrlosung ins Spiel kommt, kann Delinquenz

daraus werden. Fast 90 Prozent der inhaftierten Mörder sind Män-

ner. 95 Prozent der rund 60.700 Strafgefangenen in Deutschland

sind männlich. Andererseits werden nicht mehr als rund vier Pro-

zent der Männer straffällig. Eliot schließt: Jungen sind nicht dazu

bestimmt, gewalttätig zu sein. Und gegen alle, die gleich mit der

Testosteron-Überschuss-Erklärung bei der Hand sind, referiert sie

die neueste wissenschaftliche Hypothese: Die Ausschüttung des

Männlichkeitshormons sei nicht Ursache typisch männlicher Ag-

gression und Gewalt, sondern Folge. Es komme allemal darauf an,

„ob und wann gewalttätiges Verhalten akzeptiert oder sogar gut-

geheißen wird“.

Mangelt es männlichen Wesen aber nicht doch grundsätzlich

an Empathie? Jeder kennt einen smarten Ignoranten aus der Be-

kanntschaft, der diesen männlichen Makel ganz klar beweist. Eliot

zeigt am Beispiel einer der berühmtesten Studien, wie fadenscheini-

ge Forschungsergebnisse Klischees befeuern können: Psychologen

aus Cambridge hatten vermeintlich bewiesen, dass neugeborene

Jungen länger ein Mobile betrachteten als das

Gesicht einer Frau – die Mädchen umgekehrt.

Der Unterschied war aber nicht groß: Jungen

schauten zu 52 Prozent der Zeit auf das Mobile

und zu 46 Prozent auf das Gesicht, bei den

Mädchen lag das Verhältnis bei 41 zu 49. Den-

noch: Der im Jahr 2000 veröffentliche Versuch

fand laut Elitot bei all jenen „begeisterten An-

klang, die für angeborene Geschlechterdiffe-

renzen plädieren“.

Seitdem muss der Versuch dafür her-

halten, nicht nur Differenzen beim Einfühlungsvermögen zu erklä-

ren, sondern auch geringe Vorteile von Mädchen beim Spracher-

werb, männliche Vorteile in mathematischem und technischem

Verständnis, sowie einen Vorsprung der Mädchen bei allen sozialen

und kognitiven Fähigkeiten. Der Schwachpunkt der Studie aber

war: Die Versuchsperson kannte das Geschlecht des jeweiligen Kin-

des, das sie anlächelte – und konnte es so unwillkürlich beeinflus-

sen. In einer späteren Untersuchung blickten sowohl Mädchen als

auch Jungen länger auf das Mobile, in einer weiteren blickten die

Jungen sogar länger in das Gesicht als die Mädchen. Und: Schon we-

nige Wochen später gleichen sich die Unterschiede ohnehin kom-

plett aus.

Aber nicht nur um der Kinder selbst willen sei es dringend

geboten, auf unnötige Rollenzwänge zu verzichten, sondern auch

um der weltweiten gesellschaftlichen Entwicklung willen, sagt

Eliot. Denn das weibliche Rollenmerkmal „Zurückhaltung“ etwa

führt vielleicht dazu, dass Frauen kreditwürdig erscheinen. Aber

sicher nicht dazu, dass sie in Führungspositionen aufsteigen, in

denen sie an den Umständen etwas ändern können, die solche Kre-

dite überhaupt erst nötig machen.

Mit einem Jahr spielen Mädchen und

Jungen fast glei-chermaßen mit Autos

und Puppen.

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ubuntu Report

Page 38: ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten

Ein Morgen

Es war am Morgen. Wir hockten in dem Karren, und der roch nach

Heu und reifen Äpfeln. Die Eselin hieß Manolina und war grau.

Grau. Wir fuhren zum Bahnhof, um die Cousins abzuholen, die

von Madrid in die Ferien kamen. Der Karren gehörte dem Gärtner,

der hieß Manuel und wachte über den Garten, damit kein Unkraut

zwischen den Blumen wuchs. Manuel der Gärtner roch nach Wein,

und wenn wir in sein Häuschen kamen, und er aß gerade zu

Abend, dann schenkte er uns ein Glas ein, hob es gegen das Licht

und sagte sehr ernst: „Christi Blut“ und hinterließ Fingerabdrücke

auf dem Glas, und er trieb die Eselin mit einem glänzenden Hasel-

nussstecken an.

Einige Wiesen sind noch voller Tau, andere schon voller Sonne und

Mohnblumen.

Es riecht nach Maierdbeeren und blauer Sonne. Don Robustiano

fährt mit quietschenden Pedalen auf seinem Fahrrad vorbei, er fährt

immer mit dem Fahrrad zum Büro, denn er ist Republikaner und

Spiritist und hat nicht kirchlich geheiratet, und sein graues Haar ist

zerwühlt wie das vom Heiligen Johannes, und er sieht aus wie der

Fakir Flormax, der Gedanken lesen kann.

Er überholt uns, und wir rufen: „Robustiano, bist kein Christ und

stinkst nach Mist“, und dann bekreuzigen wir uns und singen den

Königsmarsch. Zu Hause sagt man, wir sollten statt „stinkst nach

Mist“ lieber „verloren bist“ singen; das reimt sich zwar auch, ist aber

langweilig. Da es ziemlich windig ist, versteht Don Robustiano

nicht richtig, was wir rufen, lächelt breit und hebt zum Gruß eine

Hand vom Lenker, da er aber schlecht Fahrrad fährt, gerät er ins

Kippen und knallt genau vor unserem Karren hin.

Dann steht er auf, tut so, als ob er lacht, und klopft sich die Knie ab,

so wie die Männer bei der Messe nach dem Gebet.

„Das ist nichts mehr für unsereins“, sagt er zu Manuel und schaut

uns irgendwie traurig an. Nun, da er uns gut hören konnte, war der

Augenblick gekommen, „du stinkst nach Mist“ zu wiederholen, aber

wir schafften es nicht, denn obwohl wir wussten, es war eine Tod-

sünde, den Atheisten Don Robustiano für einen guten Menschen zu

halten, tat er uns fast leid, und es machte keinen Spaß, ihn zu be-

leidigen, auch nicht zu wissen, dass er später einmal in die Hölle

kommen würde. Plötzlich fuhr der Wind vom Meer unter die Wa-

genplane und ließ sie knattern. Bei der Einfahrt in Gijón sprangen

und juchzten wir im Karren.

Die Straßen von Gijón liegen in einem frischen, lilafar-

benen Schatten, und auf den morgendlichen Straßen,

die nach Algen riechen, ist kaum ein Mensch zu sehen.

Ein Tankwagen, der die Straßen sprengt, kommt vorbei,

ein perlgrauer Laster, dessen Reifen nach nassem Gummi

riechen, und wir kreischen ihm zu, „der Schlauch spritzt“, da-

mit er uns anspritzt und die schwitzende Manolina erfrischt

und den Staub vom Karren spült. Der Fahrer achtet nicht auf uns

und fährt ernst vorbei.

Er hat einen schwarzen Schnurrbart und einen erloschenen Stum-

mel im Mund. Als wir den Bahnhof erreichen, ist der Zug schon

angekommen, und die Vetter stehen mit Helena da, die sehr blass

und ernst ist, ein trauriges Gesicht macht. Ich lächle sie an, und sie

reagiert nicht.

Die Erwachsenen sind schon etwas früher mit dem Auto einge-

troffen, sie reden alle durcheinander und küssen nach links und

rechts. Tante Honorina, das verrückte Huhn, kreischt mit weiner-

lich gackernder Stimme, als wollten die Worte nicht aus der Kehle:

„Nein doch, wie diese armen Kinder daherkommen.“

Halb so wild. Ein Bahnhofsbeamter, der Belarmino heißt und auch

nach Belarmino aussieht, weil er dick ist, langsam spricht, ein rotes

Gesicht hat und eine Mahon-Jacke trägt, aus deren Tasche eine

Milchflasche schaut, sagt: „Die Schlingel muss man wie die Zick-

lein aufwachsen lassen“ und lacht breit, aber Tante Honorina und

die anderen Damen schauen ihn erbost an, worauf Belarmino

schweigt und sich trollt.

„Wer hat den denn nach seiner Meinung gefragt?“, fragt eine. Aber

niemand weiß es, denn keiner hat gefragt. Ein unbekannter Herr,

der aus Madrid angekommen ist, sagt, in Deutschland und den Ver-

einigten Staaten sei es der letzte Schrei, die Kinder ihr eigenes Leben

führen zu lassen. Die Frauen beginnen eine Diskussion darüber, wie

man die Kinder auf Häuser und Autos verteilt. Wir Kinder wollen

im Overland fahren, der schneller ist als die arme Nuckelpinne von

Onkel Arturo. Der unbekannte Herr will, dass die Mütter die Kleinen

den ganzen Tag über in ein Ställchen sperren, so wie sie das im Aus-

land machen. „Damit sie später herumstreunen und sich amüsie-

ren …“, antworten die Damen mit einem sardonischen Lächeln.

«Solche neumodischen Dinge mögen wir hier nicht.»

Und schon beginnen sie, uns abzuküssen. Der neumodische Herr gibt

klein bei und hilft Onkel Arturo, seine alte Karre in Gang zu brin-

Geschichten, wie sie nur ein Spanier

erzählen kann – Helena oder das Meer

des SommersText Julián Ayesta

Illustration Andreas Lechner

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ubuntu Literatur

Page 39: ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten

bittet Belarmino

darum, an der Kurbel zu drehen,

während er von drinnen den Gashebel bearbeitet. Ein Lächeln

breitet sich langsam auf Schweinchen Belarminos Gesicht aus, das

nun wie ein Mond aussieht, und als das Auto endlich anspringt,

sieht er uns selbstzufrieden an, während er sich die Hände an einem

dreckigen Lumpen abwischt, den er aus der Tasche gezogen hat.

Die Karre von Onkel Arturo zittert und bebt wie ein nasser Hund,

und Onkel Arturo fragt von drinnen:

„Na, will denn keiner bei mir mitfahren?“

Da tut uns Onkel Arturo leid, eigentlich gehört er ja auch nicht rich-

tig zu den Erwachsenen, er spielt mit uns und verteidigt uns, und

jetzt wollen wir alle in der zittrigen Karre fahren, und die Mädchen

drängeln kreischend von einem Auto ins andere. Die Damen stehen

da und sind beleidigt, weil wir sie allein lassen, und gurren wie fette

Tauben:

„Diese Launen, du liebe Güte.“ Aber sie sollen sich ruhig ärgern und

allein fahren. Die alte Karre fährt an, und wir lassen die wütenden

gen,

der Mo tor

hustet aber nur,

läuft nicht regelmäßig.

„Wie brächte man dieses Ding

denn in Deutschland oder den Vereinigten

Staaten zum Anspringen?“, fragt Onkel Arturo den neu-

modischen Herrn, und alle lachen, besonders die Frauen.

„Na ja, der Haarschnitt der Damen spricht Bände“, erwidert der

neumodische Herr.

Alle Augen richten sich auf Tante Honorina, die sich in Paris einen

Garçon-Schnitt hat machen lassen. Ein Garçon-Schnitt ist neumo-

disch, und Tante Honorina war sauer geworden, weil eine Frau auf

der Konferenz zu ihr gesagt hatte, der Papst habe alles Neumodische

exkommuniziert. Onkel Arturo lacht im stillen über Tante Honori-

na, aber wenn sie ihn ansieht, schaut er ganz ernst, und die Mäd-

chen, die außer Helena alle albern sind, fangen an zu schnattern

und laut zu lachen, sie sitzen im Overland, hüpfen auf den Sitzen

herum und kitzeln einander. Die Frauen, hocherzürnt, geben ihnen

Backpfeifen, aber keine weint, wie sie es gern gehabt hätten. Wie-

der kommt Belarmino mit seiner grünlichen Milchflasche in der

Tasche aus der Tür des Stationsvorsteherzimmers und sagt sehr

vornehm im Vorbeigehen: „Möge es eine erquickliche Sommer-

saison geben“, worauf es ein großes Gelächter gibt und Belarmino

uns verärgert anschaut. Zum Glück kommt gerade Onkel Arturo und

Page 40: ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten

Damen hinter uns, die in einer blauen Auspuffwolke herumwedeln

wie sterbende Kakerlaken im Insektengift.

Lebt wohl, ihr Damen, auf Nimmerwiedersehen! Aber die Frauen

steigen in den Overland, den Saturnino, Großvaters Chauffeur,

fährt, und sie kommen näher und näher.

Ein aufregendes Rennen. Rasend im Fahrtwind passieren wir Zonen

mit gelber Sonne, Orte, an denen die Sonne eher weiß scheint,

fahren durch grauen, warmen Schatten, es riecht nach Algen, Pini-

en, Schmieröl, es geht durch die Straße der Frau mit dem gepunk-

teten Morgenmantel und den Hunden, unter dem Türmchen des

Angestellten vorbei, der morgens bei offener Balkontür Opernarien

singt, während er sich die Krawatte bindet, durch die Orte des Win-

ters, die jetzt, im Sommer, so ganz anders sind.

Helena sitzt vorn neben Onkel Arturo und sagt kein Wort. Sie ist

sehr ernst, sehr erwachsen. Ab und zu, wenn Onkel Arturo sie an-

sieht, lächelt sie. Ich möchte ein Gespräch mit ihr anfangen, aber

die Worte bleiben mir im Hals stecken. Onkel Arturo pfeift beim

Fahren, und ab und zu macht er absichtlich einen Schlenker, um

die Frauen im Auto hinter uns zu erschrecken. Im übrigen pfeift er

einfach und singt:

In deinem Land gibt es kein Licht, seitdem du hergekommen bist …

und schlägt den Takt mit der Hand auf die Wagentür. Wenn er ra-

sant eine Kurve nimmt, klatschen und kreischen wir, und die Leute

gucken uns staunend nach. Es wäre schön, wenn am Straßenrand

lauter Herren in dunklem Anzug mit Goldrandbrille stünden und

wir dann nach rechts und links spucken könnten, und die Spucke

landete genau auf den Brillengläsern.

Der Kai ist voller Möwen. Die Masten und die Taue der Schiffe glän-

zen weiß, rot, grün in der goldenen Sonne. Es weht eine frische,

fröhliche Brise. Der Himmel ist blau, ganz blau. Die Stauer schreien

bei den Ladekränen. Ein blutrot gestrichenes Schiff läuft tutend

aus. Lebt wohl! Das sind die älteren Damen, die uns überholen.

Onkel Arturo lächelt geheimnisvoll. Lasst ihnen den Sieg nur zu

Kopf steigen. Jetzt, wo niemand uns von hinten überwacht, ist

der Augenblick gekommen. Bei der Ausfahrt aus Gijón bogen wir

rechts ab und landeten bei einem Ausflugslokal unter Bäumen. Wir

setzten uns, und Onkel Arturo bestellte zwei Flaschen

Cidre, eine für ihn und eine für uns. Wir saßen

an einem Tisch draußen, unter Eichen. Onkel

Arturo konnte den schäumenden Apfelsekt

sehr gut einschenken, und es machte

Spaß, das Prickeln des Sekts am Glas-

rand zu hören und den gelben,

gol denen Strahl zu sehen, der manchmal, wenn die Sonne ihn traf,

auffunkelte, und die dunkelgrüne Flasche, die immer heller und

durchsichtiger wurde.

Helena setzte sich neben mich, und ich nahm unter dem Tisch ihre

Hand. Sie zog sie nicht weg und begann zu lächeln. Ich war glück-

lich, hätte vor Glück platzen können. Am Nebentisch tranken vier

dicke, rotgesichtige Männer ihren Cidre und aßen Seespinnen.

„Ihre Kinder?“ fragten sie Onkel Arturo. „Nein, Neffen.“

Da lachten sie und nannten Helena ein hübsches Ding, und sie war

geschmeichelt. Sie kamen an unseren Tisch und boten uns mit

schmutzigen, klebrigen Fingern Seespinnen an. Helena schmiegte

sich an Onkel Arturo und drückte meine Hand fester. Die vier

Männer blieben vor uns stehen, beugten sich ein wenig vor, steck-

ten die Köpfe zusammen und fingen an zu singen. Sie sangen

vierstimmig, sehr gut, und es war ein trauriges, schönes Lied:

Dein Vater, Kind, war lieb und gut, Silberkettchen hätt’ er dir ge-

schenkt … Nun kann es nicht sein, mein Kind, nein, nein, nun

kann es nicht sein. Onkel Arturo hörte aufmerksam zu, und ich

sah Helena an, die Tränen in den Augen hatte und sich an Onkel

Arturo drückte, als hätte sie Angst. Die Sänger machten den Mund

auf und zu, pumpten sich voll und leer und waren sehr ernst, als

beteten sie, die Augen nach innen gerichtet. Und einer hielt die

Cidre-Flasche in der Hand, und die Flasche bebte. Sie wurden plötz-

lich lauter:

Nun kann es nicht sein, mein Kind … Und dann langsam wieder

leiser, sehr traurig, sehr schön. Unter den Eichen lag ein grünlicher

Schatten, und Sonnentupfer liefen über den Boden und die Tische.

Am Eingang des Lokals lag ein Hund mit müden, roten Augen und

kratzte sich schläfrig. Die Hitze setzte allmählich ein, und Wespen

und glänzende Fliegen surrten herum. Im Hintergrund sah man

durch die Bäume grüne Wiesen, Bauern, die auf den Maisfeldern

arbeiteten, blassblaue Karren, Ochsen und ein Stück Meer. Ein

Duft von feuchtem Gras, das von der Mittagssonne erhitzt wird,

wehte herüber, ich hätte sterben können vor Glück mit Helena

an meiner Seite und versank mit halbgeschlossenen Augen in mei-

nen Gedanken. Ich dachte an den Sommer, der vor mir und Helena

lag, unter diesem Himmel, zwischen grünen Wiesen,

Flüssen und Bäumen, und ich wusste, dass sie

mich lieb hatte, und mir kamen fast die

Tränen.

„Helena oder das Meer des Sommers“ von Julián Ayesta, erschienen 1952,

zählt zu den zehn wichtigsten Werken spanischer Prosa des 20. Jahr-hunderts. Verlag C. H. Beck, München, 2004, 112 Seiten, gebunden, 12,90 Euro

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ubuntu Literatur

Page 41: ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten

Foto

: Bir

git

Betz

elt

Meine Welt von Morgen „Ich bin froh, wenn ich endlich keine Tabletten mehr neh-

men muss und mein Bauch nicht mehr so komisch drückt. Immer,

wenn dieses Drücken kommt, habe ich das Gefühl, dass ich nie

wieder Lust auf Essen haben werde. Das Trikot hat mir Cacao, der

Fußball-Nationalspieler, geschenkt – ich fand das ganz toll! Aber

ich möchte jetzt keine Geschenke mehr, sondern lieber mit meinen

Freunden draußen spielen. Ich möchte wieder Kraft haben und

schnell sein und endlich im Fußballverein spielen! Seit einem Jahr

habe ich neue Fußballschuhe, aber ich habe sie noch nie getragen.

Ich möchte wieder Haare haben, damit mir niemand ansieht, dass

ich Krebs habe.“ Nick Salzer, 9 Jahre alt.

Unter www.tapferer-nick.de berichten Nicks Eltern regelmäßig

über den Kampf ihres Sohnes gegen seine Krankheit.

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ubuntu Ansichten

Page 42: ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten

Abdifatah Abdiqadir Omar war

winzig, als er auf die Welt kam, in je-

ner Nacht im Flüchtlingslager, und

seine Mutter Rahmo Nor Muktar hatte

so viel Blut verloren, dass sie glaubte,

weder sie noch ihr Baby würden über-

leben. Am Abend hatten die Wehen

eingesetzt und Rahmo Nor Muktar

hätte sich gewünscht, in einer Klinik

zu entbinden oder mit Hilfe einer

ausgebildeten Hebamme, aber für die

Klinik fehlte ihr das Geld und eine

Hebamme war nicht zu finden, so dass

sie unterstützt von einer traditionellen

Geburtshelferin ihr Kind bekam. Die

Frau erweiterte den Geburtskanal mit

Hilfe einer Rasierklinge, fast wäre Rahmo

Nor Muktar verblutet.

Nach einigen Tagen hatte sich die junge

Frau erholt, aber ihr kleiner Junge, das

zweite Kind der Familie, war krank. Er hatte

Durchfall, war stark dehydriert. Das einzi-

ge, was seine Mutter bezahlen konnte, wa-

ren Tabletten aus einer nahen Apotheke.

Diese gab sie ihm nun und betete zu Gott,

dass ihr Sohn überleben würde.

Abdifatah Abdiqadir Omar schaffte es. Ei-

nen Monat nach seiner Geburt ist er wohl-

genährt und lebhaft. „Er sieht beinahe aus

wie das Kind reicher Leute“, sagt seine Mut-

ter stolz und glücklich. Dann beginnt sie

ein Lied zu singen, den ganzen Tag kann sie

ihrem Sohn vorsingen.

Dass der Kleine die kritische Zeit überlebt

hat, ist für Rahmo und ihren Mann ein

Zeichen der Hoffnung – dringend nötig

nach einer Flucht aus der Heimat, die sie in

dieses ärmliche Flüchtlingslager gebracht

hatte. Rahmo Nor Muktar, ihr Mann Ab-

diqadir Omar Aden und ihre kleine Tochter

hatten in der Bay-Region im südlichen So-

malia gelebt, als die Dürre kam und die

Tiere starben, als auch für die Menschen

Wasser und Nahrung knapp wurden und

plötzlich das eigene Leben bedroht war.

Hilfsorganisationen wurden von den El

Shabaab-Truppen abgewiesen, und so sah

die Familie keinen anderen Ausweg, als in

die Hauptstadt Mogadischu zu gehen. „Uns

war klar, dass wir die nächsten wären, die

sterben würden, wenn wir weiter hierblie-

ben“, sagt Rahmo.

Einen ganzen Tag dauerte die Reise mit dem

Truck, die sie an diesen ärmlichen Platz

brachte. Immerhin gab es im Lager genug

Wasser, aber die Nahrung war auch hier

knapp. „Wären da nicht die Soldaten aus

Burundi gewesen, die gleich nebenan sta-

tio niert sind und uns wenigstens zweimal

am Tag übriggebliebenes Essen über die

Mauer warfen, weiß ich nicht, was mit uns

passiert wäre“, sagt Rahmo.

Abdifatah ist der ganze Stolz seiner

Eltern und Großeltern, denn er ist

der einzige männliche Nachkomme

der Familie. Lange Zeit haben die So-

ma lier Söhne den Töchtern vorgezo-

gen. Wird ein Mädchen geboren, wird

traditionell eine Ziege geschlachtet,

wird ein Sohn geboren, sind es zwei

Ziegen – Abdifatahs Familie möchte

das irgendwann, in besseren Zeiten,

nachholen. Aber generell ändere sich

die Haltung seit einiger Zeit, sagt

Rahmo. „Viele Familien möchten in-

zwischen sogar lieber Mädchen be-

kommen, weil sie sehen, dass von den

Kindern, die im Ausland leben, die

Mädchen ihre Eltern deutlich zuverläs siger

unterstützen. Außerdem bekommen Eltern,

wenn ihre Tochter heiratet, den Brautpreis,

während sie für einen Jungen bezahlen

müssen.“

Rahmo und ihr Mann möchten sich in Mo-

gadischu ein neues Leben aufbauen. Ganz

oben auf der Liste ihrer Wünsche und Träu-

me: Abdifatah und die zwei Jahre ältere

Sarah sollen zur Schule gehen, wozu weder

Vater noch Mutter Gelegenheit hatten.

„Abdifatah soll einmal Lehrer werden“,

sagt seine Mutter, „und Sarah Gynäkolo-

gin!“ Die Mutter lächelt. „Aber jetzt freue

ich mich erstmal darauf mitzuerleben, wie

Abdifatah größer wird: zu krabbeln be-

ginnt, zu laufen, zu rennen.“

Seine Eltern haben große Pläne für

Abdifatah: Er soll zur Schule gehen und

Lehrer werden.

Links: Abdifatah ist ein zufriedenes Baby mit runden Bäckchen – seine

Mutter zeigt ihn stolz vor. Rechts: Daahir (li.) und

Abdi leben jetzt bei ihrer Großmutter. Den Esel

hat ihr Vater ihnen hin-terlassen.

ABDIFATAH ABDIQADIR OMAR WURDE KLEIN UND SCHWACH IN EINEM

FLÜCHTLINGSLAGER IN MOGADISCHU GEBOREN. HEUTE IST ER WOHLGENÄHRT

UND LEBHAFT – FÜR SEINE ELTERN EIN ZEICHEN DER HOFFNUNG.

Texte und Fotos Reuters / Feisal Omar

Einer kommt

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ubuntu Portrait aus Somalia

Page 43: ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten

Abdi Barre Ali, 13 Jahre alt, erin-

nert sich: „Einmal, als mein Bruder

und ich die Ziegen hüteten, kam ein

großes Tier aus dem Busch und packte

sich ein Zicklein. Schreiend liefen wir

davon und holten unsere Mutter. Als

wir zusammen wieder bei der Herde

ankamen, war das wilde Tier ver-

schwunden, das Zicklein zur Hälfte

aufgefressen. Mama schaute sich die

Fußabdrücke an und erklärte, dass sie

von einer Hyäne stammten. Mein Bru-

der und ich hatten große Angst, dass

sich die Hyäne beim nächsten Mal

auf uns stürzen würde. Also erzählte

Mama uns die Geschichte von der jun-

gen Hyäne, die ihre Mutter um ihren Segen

bat. Die alte Hyäne sagte: ‚Jage jeden, der

vor dir wegläuft, und laufe vor jedem weg,

der dich jagt.‘ Mama schloss lächelnd mit

den Worten: ‚Seid mutig, beschützt die Zick-

lein und rennt nie vor einer Hyäne weg!‘ “

Das war damals, als alles noch gut war. Jetzt

sitzen Abdi Barre Ali und sein zwei Jahre

jüngerer Bruder Daahir Barre Cali ernst und

schweigsam mit ihrer Großmutter vor ihrer

Baracke aus Holz, Planen und Decken in ei-

nem Lager in Somalias Hauptstadt Mogadi-

schu. Es ist weit weg, dieses andere Leben,

in dem es eine Mutter gab, die lächelte. Die

während der Arbeit Gedichte rezitierte und

ihre Söhne zum Lernen ermutigte. In dem

es einen Vater gab, der mit den Söhnen her-

umalberte und am Abend Rätsel löste. Abdi

Barre Ali sagt: „Unsere Eltern haben nie mit

uns geschimpft.“

Als Nomaden zogen sie in Gemeinschaft mit

anderen in der Bay-Region Somalias umher.

Zu tun gab es viel, die Arbeit teilte man sich

auf: Einige der Männer holten das Wasser,

anschließend führten andere die Tiere, im-

mer fünf zur gleichen Zeit, an die Tränke.

Die Kinder hüteten die Jungtiere, die Frauen

molken Ziegen und Kühe.

„Am schönsten war die Regenzeit“, erzählt

Großmutter Yaqulu Mohamed Hassan, die

einzige, die den Brüdern geblieben ist.

„Wenn überall saftiges Gras wuchs und es

nicht nötig war, nach Wasserquellen zu su-

chen.“ An manchen Abenden traf man sich

dann zum Dhaanto, einem traditionellen

Fest, bei dem die Luft knisterte. Es wurde

viel getanzt und viel geschaut. Während die

Mädchen Lieder sangen, forderten sich die

Jungen gegenseitig zum Ringkampf heraus.

Anschließend trugen die Jungen improvi-

sierte Gedichte über ihre Gefühle vor. Man-

che Mädchen verguckten sich an solchen

Abenden in den Stärksten, andere in den

größten Poeten.

Es war vor einem Jahr, als die Männer tiefer

und tiefer bohrten, ohne Wasser zu finden.

Kühe starben, Ziegen starben. Für sei-

ne letzte von 40 Kühen und eine

Handvoll Ziegen bekam Vater Barre

Cali Abdule immerhin noch genug

Geld, um die Traktorfahrt ins Lager

nach Mogadischu zu bezahlen. „Wer

Tiere verliert, hat keinen Platz im No-

madenleben“, hatte der Vater früher

oft gesagt. Jetzt hatte die Familie

plötzlich kein einziges Tier mehr –

aber ihr Lebensmut war ungebrochen,

von irgendwoher holten sie Zuver-

sicht. Mutter Rahmo Aden Abdi ver-

diente Geld mit Wäsche waschen, Va-

ter Barre kaufte von seinem letzten

Geld zwei Esel und einen Karren, mit

denen er alle möglichen Arbeiten erledigte.

In seiner Vorstellung würde er so viel Geld

sparen, dass er bald ein eigenes kleines Ge-

schäft eröffnen könnte. Dann wurde Rahmo

krank, schwer krank. Malaria vermutlich.

Bevor sie starb, sagte sie zu ihrem Mann:

„Nun musst du Vater UND Mutter sein.“ Er

bekam wenig Gelegenheit dazu. 45 Tage

später tauchte am Abend ein Mann mit ei-

ner Pistole auf, schoss auf Barre. Der Mann

hatte geglaubt, dass die beiden Jungen in

sein Haus eingebrochen waren. Ein Irrtum,

wie sich später herausstellte. Barre Cali Ab-

dule starb auf einer Schubkarre auf dem

Weg ins Krankenhaus.

„Jetzt müssen wir uns noch mehr anstren-

gen“, sagt Daahir Barre Cali, der jüngere

Bruder. „Niemand nimmt uns das ab.“

„Jetzt musst du Vater UND Mutter

sein“, sagte Rahmo zu ihrem Mann,

bevor sie starb.

UnterstützenSie die Nothilfe der SOS-Kinderdörfer

in Ostafrika

Spendenkonto 1 111 111(siebenmal die Eins)

BLZ 700 700 10,Deutsche Bank München,Stichwort: SOS-Nothilfe

DIE BRÜDER ABDI UND DAAHIR LEBTEN MIT IHREN ELTERN ALS NOMADEN.

SIE HÜTETEN DIE TIERE UND IN DER REGENZEIT FEIERTEN SIE FESTE.

ALS DIE DÜRRE KAM, FLOH DIE FAMILIE NACH MODADISCHU, WO UNTER

DRAMATISCHEN UMSTÄNDEN BEIDE ELTERN STARBEN.

Einer geht

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ubuntu Portrait aus Somalia

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Vorsicht, an diesem Ort leben Elfen und Geister!

Fotos Thomas Linkel Text Susanne Frömel

IN ISLAND WEISS JEDES KIND, DASS DIE

NATUR VON GEHEIMNISVOLLEN WESEN BEHEIMATET IST.

BESSER ALSO, MAN STELLT SICH GUT MIT IHNEN.

WER ZWEIFELT, BRAUCHT SICH NICHT ZU WUNDERN,

WENN SELTSAME DINGE PASSIEREN!

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ubuntu Reportage

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Erla Stefánsdóttir sagt, dass der Her-

mit, der gleich dort wohnt, wo die Straße

nach Afkranes führt, ein friedlicher, lieber

Kerl sei. Fast ein Opa, sagt sie, „er ist schon

sehr alt. Früher habe ich meine Kinder mit

zu ihm genommen, aber jetzt nicht mehr.“

Erla Stefánsdóttir sagt auch, dass sie die

Aura sehen kann von jedem, der in ihrer

Nähe ist. Es ist also gut, jetzt nicht zu viel

Unwohlsein zu verraten. Oder Zweifel.

„Verzeihung, was genau ist ein Hermit?“ Sie

kramt in einem Stapel von Zeichnungen.

Sie hat alle selbst gemalt. Auf dem Blatt, das

sie einem hinhält, ist ein knautschiges Kerl-

chen zu sehen mit großer Nase und einem

wuscheligen Haarschopf, der bis zum Rü-

cken hinunterwächst. Ein wenig wie die

Gestalten aus dem Kinderbuch „Wo die wil-

den Kerle wohnen“. Man müsste eigentlich

lachen über die Zeichnung, bitte, so etwas

gibt es doch nicht wirklich! Aber da ist die

Sache mit der Aura und wahrscheinlich

kann Erla Stefánsdóttir auch Gedanken le-

sen oder Unglück heraufbeschwören, und

darum sagt man: „Aha, ein Troll.“ Sie

schüttelt den Kopf, ungeduldig und auch

ein bisschen traurig. Dass man das nicht

versteht. „Nein, kein Troll“, sagt sie, „ein

Hermit. Das sagte ich doch schon.“

„Und sie können diese Wesen wirklich se-

hen?“ „Unter anderem, ja.“

Sie sucht wieder in den Zeichnungen, zieht

ein paar hervor. Feen, die in langen zarten

Kleidern auf Wiesen stehen, Elfen vor Stein-

hügeln, in die kleine Fenster eingelassen

sind. Hermite, die Felsstücke bewohnen, in

denen Türen zu sehen sind und Fenster. Und

über allem schwebt wie ein Regenbogen

bunt und herrlich die Aura des Ortes. „Sie

müssen wissen, die Welt der Elfen ist von

wunderschöner Musik erfüllt. Dort muss

man nichts fürchten.“ Zumindest nicht,

wenn man die Grenzen der Elfenwelt res-

pektiert. Wenn man glaubt. Das ist schwer,

denn die Welt, die Erla Stefánsdóttir sieht,

ist für fast alle anderen unsichtbar.

Erla Stefánsdóttir ist die Elfenbeauftragte

von Island. Natürlich ist sie das nicht offi-

ziell, das wäre selbst für isländische Ver-

hältnisse ein bisschen zu viel. Aber wenn es

Probleme auf Baustellen gibt oder man

nicht weiß, ob ein Baugrund wirklich zum

Hausbau geeignet ist, dann holen sie die

alte Frau. Es ist zum Beispiel manchmal so,

dass auf einer Baustelle permanent Gerät-

schaften kaputt gehen, und zwar ohne er-

sichtlichen Grund. Oder dass Arbeiter krank

werden, wieder und wieder. Dass es einfach

nicht voran geht. Erla Stefánsdóttir steht

Erla Stefánsdóttirs Wohnung in Reykjavik

ist vollgestopft mit allerlei Nippes, Buddha-

figuren, Kreuzen, Büchern, Engelsbildern.

Sie ist jetzt eine alte Frau mit müden Gelen-

ken, aber sie blickt einen so durchdringend

an, dass man automatisch zappelig wird.

Sie sagt nicht: „Sie glauben wohl nicht,

wie?“, aber sie weiß es natürlich. Die Zeich-

nungen tun ihr übriges, so kindlich sehen

die Figuren darauf aus, so sehr nach „Herr

der Ringe“, dass man sich fast veralbert vor-

kommt. Aber irgendetwas muss an ihr und

ihren Geschichten dran sein, oder nicht? Sie

hat Karten gezeichnet, auf denen man ge-

nau sehen kann, wo sich Elfenbehausun-

gen befinden und solche anderer Naturwe-

sen. Die Karten gibt es für ein paar Kronen

in der Touristeninformation. Die Elfen sind

ja längst ein Wirtschaftsfaktor.

„Gehen Sie jetzt“, sagt Erla Stefánsdóttirs

plötzlich und schiebt die Zeichnungen zu-

sammen. „Gehen Sie zu dem Hermiten, ma-

chen Sie ein Foto und grüßen Sie ihn herz-

lich von mir.“

Die Straße windet sich an der Küste ent-

lang. Von vorne kommt ein unangenehmer

Wind, der einem an der Haut zerrt und die

Haare zaust. Es ist kalt, obwohl die Sonne

scheint, und das Gestein scheint plötzlich

unnatürlich schwarz. Der Stein, an dem der

Hermit wohnen soll, ist nicht leicht zu fin-

den. Man muss ein bisschen suchen und den

Berg hochsteigen, um dann festzustellen,

dass er gleich neben einer riesigen Auffahrt

steht, an der das Tourismusministerium ein

sehr großes Hinweisschild angebracht hat.

So viel Gewicht hat das Wort von Erla Ste-

fánsdóttir.

Der Stein ist unten schmal und oben oval,

ein Ei, das auf einem Stängelchen balan-

ciert. Abgesehen davon ist er nicht beson-

ders ungewöhnlich. Die Erde drum herum

ist plattgetreten und eben. Wenn man den

Stein berührt, fühlt er sich warm an, wohl,

weil den ganzen Tag die Sonne geschienen

hat. Der Fotograf macht ein paar Fotos,

stellt sich neben den Stein und sagt: „Ich

habe ein ganz komisches Gefühl in der

Magengegend. Du auch?“ Und gerade, als

man antworten will: „Machst Du Witze? Ich

merke ü-b-e-r-h-a-u-p-t nichts!“, zieht es

einem plötzlich die Füße weg, und man

liegt der Länge nach im Dreck. Als wäre

man auf einer Bananenschale ausgerutscht.

Als hätte einem einer die Füße weggezo-

gen. Aber da ist nichts, worauf man hätte

ausrutschen können, kein Steinchen, kein

Matsch, keine abschüssige Stelle. Und man

muss an Erla Stefánsdóttirs Worte denken,

dann an der Baustelle, betrachtet das vul-

kanische Gestein eine Weile und sagt: „Hier

könnt ihr nicht bauen. Das ist ein Elfen-

schloss.“ Und dann bauen sie die Straße

oder den Tunnel oder die Tiefgarage eben

um den Stein herum. Mit den Wesen der an-

deren Welt legt man sich ungerne an. Wie

damals auf der Baustelle eines Autohauses

in Hafnafjördur. Ständig fiel der Bagger

aus, Schaufeln zerbrachen ohne Vorwar-

nung, Zement wurde bröselig. Also riefen

sie die Elfenbeauftragte. Sie sah sich kurz

um und sagte dann: „Die Steine, auf die ihr

immer euren Schutt kippt, sind Elfen-

behausungen.“ Also brachten sie den Schutt

woanders hin. Danach gab es keine Pro-

bleme mehr.

Weil normale Menschen Wesen wie diesen Hermiten nicht sehen können,

fertigt Islands Elfenbeauftragte Erla Stefánsdóttir Zeichnungen von

den Unsichtbaren an.

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ubuntu Reportage

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Oben: Die Hekla gehört zu den aktiven Vulka-

nen. Viele Isländer sind überzeugt: Sie sind

nicht die einzigen Na-turgewalten der Insel. Unten links: In diesem Stein wohnt ein Hermit, sagt Erla Stefánsdóttir

(unten rechts). Die Elfenbeauftragte wird immer wieder um Rat

gefragt, wenn es Proble-me auf einer Baustelle gibt. Manchmal stellt

sich dann heraus, dass mitten auf einem Elfen-

schloss gebaut wird.

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ubuntu Reportage

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Linke Seite:Auf diesem Grundstück hätte

ein Haus gebaut werden sollen, aber nachdem unerklärli-

cherweise immer wieder die Bagger streikten, hat man

davon abgesehen. Ohnehin hätte das Gesicht im Felsen eine Warnung sein sollen.

Rechte Seite:Ein verlassenes Haus und die

wild-schöne Landschaft Islands: Der ideale Nährboden

für Gespenstergeschichten.

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In diesem Haus (oben links) soll der Geist

Móri umgegangen sein. Später soll er sich an

einer Straßenkreuzung (oben rechts) angesie-delt haben, wo seitdem viele Unfälle passieren.Thor Vigrússon (unten rechts) führt Touristen zu den spektakulären

Punkten der Insel (unten links). Den Un-

terschied zwischen Engländern und Deut-schen erklärt er so:

„Die Engländer glauben mir am ersten Tag, die Deutschen am dritten.“

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die sie mit einem Lächeln ausgesprochen

hat: „Sie werden schon sehen.“ Ein Zufall,

sicherlich. Aber der Samen ist gesät.

Plötzlich sieht alles irgendwie unheimlich

aus. Dort oben, auf dem Berg! Steht da je-

mand mit einem Umhang und sieht her-

unter? Quatsch, das ist nur ein Stein. Bist

Du sicher? Und was ist mit den Raben? Die

ganzen Raben, die waren doch vorher noch

nicht da!

Wenn man einen Isländer fragt, ob er an

Geister oder Elfen glaubt, sagt er entweder

„Natürlich!“ Oder er sagt „Es gibt so vieles,

was man nicht versteht. Wer weiß?“ Jedes

Kind hier weiß schließlich, was die Elfen

mit einem anstellen, wenn man sie ver-

neint oder sich gar über sie lustig macht.

Sie verstecken Gegenstände im Haushalt,

Socken oder Töpfe, Besteck und Hemden,

schlimmstenfalls bringen sie sogar Unglück

über die Familie. Von den Geistern ganz

zu schweigen. Sie zu verlachen, kann zu

Bösem führen, schlimmstenfalls sogar den

Tod bringen.

Das Wissen wird an die Kinder weiter ge-

geben. „Spiel nicht dort auf der Wiese, da

leben Elfen!“, ist ein Satz, „Du darfst nicht

auf anderer Wesen Behausung herumtram-

peln!“, ein anderer, der widerstandslos

akzeptiert und hingenommen wird. Auch

wenn auf der Wiese nur ein paar Gesteins-

brocken herumliegen. Über Elfen wird nicht

diskutiert. Schon die Großväter haben jene

Wiese gemieden, ebenso Vater oder Mutter

und nun tun es die Kinder ihnen gleich.

Dass Elfen und andere Naturgeister auf der

Insel leben, ist für alle selbstverständlich.

Island ist ein hartes Land. Die Winter sind

dunkel und scheinen endlos, der Wind zerrt

an allem, auch an den Nerven, selbst das

Gras fühlt sich rau an zwischen den Fin-

gern. Aber wenn im Sommer die Pferde über

die Ebenen galoppieren und sich den Win-

ter aus den Knochen rennen, dann legt sich

eine Lieblichkeit über die Landschaft, die

schwer zu beschreiben ist. An den Wasser-

fällen bricht sich das Licht und fächert sich

zu Regenbogen auf. Und dann, wenn sich

die Sonne für kurze Zeit senkt und man im

Zwielicht auf das Land hinausblickt, fühlt

man sich wie in einen Traum versetzt. Das

muss die Landschaft sein, die Tolkien im

Sinn hatte, als er „Herr der Ringe“ schrieb.

Es ist der ideale Nährboden für Gespenster-

geschichten.

Fabelwesen haben eine lange Tradition in

Island. Es gibt riesenhafte Trolle, Elfen,

Feen, Hermite, winzige Zwischenwesen al-

ler Art und Farbe – und natürlich Geister.

Wer einmal im Leben mit dem Auto über die

„Elfen und Geister waren immer schon da. Sie machen das Leben

spannender.“

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ubuntu Reportage

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eisigen, kargen Ebenen des Sprengisandur

fährt, hinter Versalir Halt macht und dann

Richtung Vatnajökull blickt, der bekommt

ein gutes Gefühl dafür, was die Fantasie mit

einem macht, wenn man alleine dort sitzt

und Geräusche hört, die man nicht erklären

kann, und huschende Schatten, die nie-

manden zu gehören scheinen.

„Zweifel sind gefährlich“, sagt Thor Vigrús-

son. „Wer die Gespenster verleugnet, dem

werden sie ihre Existenz schon beweisen.“

Der 75-jährige ehemalige Deutschlehrer

führt heute Touristen über die Insel, Schau-

er geschichten inklusive. „Die Elfen und

Geister waren immer schon da. Sie sind fes-

ter Bestandteil unserer Kultur. Das macht

das Leben spannender.“ Der Unterschied

zwischen englischen und deutschen Tou ris-

ten ist einfach erklärt: „Die Engländer glau-

ben mir am ersten Tag, die Deutschen am

dritten.“ Einmal sei er mit einem hartnä-

ckigen Zweifler im Hotel gewesen, der woll-

te und wollte ihm nicht glauben. „Wenn du

jetzt nicht endlich glaubst, dann wird etwas

passieren“, habe Thor Vigrússon gesagt,

und prompt sei das Licht ausgegangen.

Thor Vigrússons Lieblingsgeist ist der brau-

ne Móri. Der Legende nach handelt es sich

um einen jungen Mann, der im Winter

nach dem Ausbruch des Lakagigar im Jahr

1783 hungrig und ohne Obdach von Haus zu

Haus ging und um Obdach bat. Nachdem er

am letzten Haus von einem reichen Bauern

abgewiesen worden war, starb er schließ-

lich nicht weit vom Hof entfernt. Jahrelang

soll der Móri die Familie verfolgt haben, tö-

tete Vieh und Kinder, und als das letzte Fa-

milienmitglied tot war, zog er sich an eine

Straßenkreuzung zurück, an der seitdem

immer wieder Unfälle oder Missgeschicke

passieren. Thor Vigrússon zeigt die Stelle

auf einer Karte. Sie liegt auf dem Weg von

Selfoss nach Fludir, genau dort, wo die Stra-

ße rechts nach Hella abbiegt. „Einmal, da

war ich noch ein junger Mann, wollte ich

trampen. Es war kalt und es herrschte we-

nig Verkehr. Ich betete, dass mich bald einer

mitnehmen würde. Dann kam endlich ein

Wagen. Der Fahrer sah mich an und fuhr

einfach weiter. Er kam aber nicht weit, nach

200 Metern ging einfach der Motor aus. Das

war der Móri.“

Für einen Freund führt Thor Vigrússon die

Reisegruppen auch immer wieder in dessen

Gespenstermuseum in Stokkseyri. Dort wur-

den mit viel Liebe zum Detail und einer

Menge Schaufensterpuppen die populärs-

ten Geisterwesen Islands in einer Art Geis-

terbahn arrangiert. Die Geschichten ähneln

da der gemeine Troll gerne Menschen ver-

speist. „Sehr selten töten sie“, hatte Erla

Stefánsdóttir gesagt, „sie tun das äußerst

selten. Man muss sich dennoch in Acht

nehmen.“ Aber wie soll man sich in Acht

nehmen, wenn man sie doch nicht sehen

kann? Das weiß Erla Stefánsdóttir auch

nicht genau: „Einfach vorsichtig sein, höf-

lich. Nicht gedankenlos in der Natur her-

umtrampeln.“

Thor Vigrússon fühlt sich in der Welt der

Geister wohler. Ein Untoter, das klingt we-

niger verrückt. Einmal habe ihm einer er-

zählt, dass ein befreundeter Bauer seinem

Nachbarn immer sofort zur Hilfe geeilt sei,

wenn der angerufen habe. Jeder wusste,

dass es auf dessen Hof spukte. Hätte er nicht

geholfen, so seien bei ihm selbst Sachen ka-

putt gegangen und das wolle man schließ-

lich nicht.

Man könnte sagen, dass Wesen wie der Móri

das Leben auf Island leichter machen. Es er-

klärt vieles, was unerklärlich scheint, und

strukturiert das Leben in Geschehnisse, auf

die man Einfluss hat, und solche, bei denen

man schlicht nichts tun kann. Als bei einer

Reisegruppe auf dem Johann Helgi-Hof

Vatsnholt eines Abends der Reisebus nicht

anspringen will, ist der Móri Schuld. Da

kann man nichts machen, das ist Schicksal,

also geht man eben wieder rein und trinkt

noch ein Schnäpschen, huldigt dem Móri

und wartet, bis der Bus ein paar Stunden

später doch anspringt.

Nun kann man die Straße sehr oft hin und

her fahren und hoffen, dass der Móri sich

irgendwie zeigt. Mit einem Reifenplatzer

vielleicht oder einem Motorschaden. Damit

man einen Beweis hat. Aber so oft man auch

vorbei fährt, nichts passiert. Bitte, Thor Vi-

grússon, sind das nicht nur Geschichten? Er

schüttelt den Kopf. „Ich würde nie wagen,

etwas gegen ihn zu sagen. Es gibt eine hüb-

sche Geschichte über die Physiker Bohr und

Heisenberg. Bei Bohr hing ein Hufeisen

über der Tür. Und Heisenberg sagte, ‚Was

soll das, glaubst Du etwa daran?‘ Da sagte

Bohr, ‚Nein, aber ich habe gehört, dass es

auch hilft, wenn man nicht dran glaubt.‘

Das trifft die Sache im Kern.“

sich: Einem Mann oder einer Frau wider-

fährt Unrecht, und dafür rächt sie sich über

die Jahrhunderte an den Nachkommen des

Missetäters. Und dann an allen anderen.

Die Tour ist fast stockdunkel und hin und

wieder springt einem aus dem Nichts ein

professioneller Erschrecker an, der die

Schulmädchen zum Weinen bringt.

Der gleiche Erschrecker führt einen dann

auch in das Elfen- und Trollmuseum, das

gleich darunter liegt. In riesigen Höhlen

schlafen dort Trolle und andere Wesen,

Warnschilder raten, nicht zu laut zu sein,

Die ehemalige Fischfabrik in Stokkseyri hat es in sich: Sie beher-

bergt das Gespenstermuseum inklusive Geisterbahn und professio-

nellem Erschrecken.

IslandIsland, im Nordatlantik gelegen, ist die größte Vulkaninsel der Erde. Die Isländer gelten als besonders kinderfreundlich. Seit 1992 gibt es auch einen isländischen Verein der SOS-Kinderdörfer, der zwar keine eigenen Dörfer betreibt, aber für Unterstützung für die welt-weite Arbeit wirbt. Mit viel Erfolg: Erstaun lich viele Einwohner haben eine SOS-Patenschaft übernommen.

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ubuntu Reportage

Page 53: ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten

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Der Tag, an dem ich mich der Löwentorte stellen musste …

Schon die Einladung

hätte eine Warnung sein müs-

sen. Ich meine, wer bastelt

schon für die Party eines Vier-

jährigen für alle zehn geladenen

Kinder ein klitzekleines Schloss aus

Papier, hinter dessen putzig-delikater Fall-

tür sich Angaben zu Ort und Zeit des Geschehens

finden? Wir kamen hin, normal gekleidet, mit einem normalen Ge-

schenk in der Hand und das war falsch. Die Frau, die uns die Tür

öffnete, war nicht mehr die etwas trutschige Hella aus dem Kinder-

garten, sondern offenbar eine entfernte Verwandte von Anne Netreb-

ko. Sie musterte uns von oben nach unten mit einem heiteren Ge-

sichtsausdruck und sagte: „Ihr seht ja herrlich bodenständig aus!“

Das größere Problem war die Torte. Der übliche Standard, Schokola-

denkuchen mit Glasur und Smarties obendrauf, war offenbar out.

Stattdessen stand dort auf dem Tisch ein dreistöckiges Zuckerwerk,

auf dessen verschiedenfarbigen Plateaus

winzige Löwen aus essbarer Modelliermasse

tänzelten. Löwen – genau wie der Name der

Kindergartengruppe. Natürlich. „Wow!“,

schrie mein Kind, „guck mal, eine Löwen-

torte! So eine will ich auch zum Geburts-

tag!“ Als wir nach vier Stunden perfekter

Unterhaltung („Ich habe euch Hähnchen-

schenkel mit Honigglasur gemacht. Würst-

chen sind viel zu ungesund.“) die selbstge-

staltete Partytüte in Empfang nahmen,

wusste ich, dass ich geliefert war.

Deko-Moms sind die Pest. Ich verachte sie.

Sie gestalten alles, nicht nur das Leben ihrer

Kinder, sondern auch meines. Sie setzen

Standards, die ich nicht hal-

ten kann. Bekleben T-Shirts

für Motto-Partys und schmin-

ken so kunstvoll bunte Schmet-

terlinge und Löwenmäuler in Kin-

dergesichter, dass die bemalten Kinder

zwei Tage lang vor Ehrfurcht auf dem Rü-

cken schlafen, um ja nichts zu verwischen.

Was die Handarbeit betrifft, bin ich eine Null. Deko-Moms machen

mir Angst. Einmal habe ich ein Gespensterkostüm genäht, auf einer

Nähmaschine, die ich bei „Tchibo Prozente“ erstanden habe. Das älte-

re Kind sah mit dem Kostüm aus wie ein Vollmitglied des Ku-Klux-

Clans und ließ sich öffentlich zu der Bemerkung hinreißen: „Meine

Mama kann sehr gut backen, aber sie kann überhaupt nicht nähen.“

Das mit dem Backen stimmte nur halb. Es kam der Tag, an dem ich

mich der Löwentorte stellen musste. Ich be stellte ein paar Kilo Mo-

delliermasse bei einem Tortenversand, Farbe, klitzekleine Spatel.

Ich buk mehrere Stunden Biskuitböden,

rührte Cremes nach amerikanischem Re-

zept und überzog das ganze Konstrukt mit

plattgewalzter Zuckermasse in Blau und

Gelb, die sofort rissig und oll wurde. Die

kleinen Löwen, die ich vorher geformt hat-

te, klemmte ich dekorativ an die Kanten.

Kurz, bevor die Gäste kamen, stellte ich die

Partytüten aus Plastik bereit. Zum Basteln

hatte die Zeit nicht gereicht, allein das Aus-

formen der Löwen hatte die halbe Nacht ge-

dauert. Es klingelte, die Gäste kamen. Das

Kind warf noch einen Blick auf die Torte.

„Mama“, sagte es. „Warum sind die Löwen

eigentlich alle tot?“

Text Susanne Frömel

Illu

stra

tion:

Anna K

ath

ari

na D

übi

„Deko-Moms sind die Pest! Sie setzen

Standards, die ich nicht halten kann.“

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ubuntu Glosse

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Spiritualität für SkeptikerAufklärer

nze Menschen

er Wissenschaftler Harald Walach efi niert Spiritualität als gültige Erfah-ng von Wirklichkeit, die jeder Mensch nnt: Intuition für das Richtige, Gespür r die Lebensaufgabe, Bewusstsein der erbundenheit. Für ihn ist spirituelle

fahrung die unverzichtbare Grund-ge für ein erfülltes, gesundes Leben.

arald Walachs Plädoyer für eine neue ultur der Ganzheit bricht ein Tabu: Die ufklärung ist ohne refl ektierte, undog-atische Spiritualität unvollständig.

Gute Wissenschaft und ufrechte Spiritualität ind beide einer radikalen

Offenheit verpfl ichtet.«

Warum wir die Aufklärung

weiterführen müssen

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Fotos Michael Maro Walter Text Carolin Reiter

Theater aus dem Totenreich

Abend für Abend durch-leben die Flüchtlinge

auf der Bühne ihr eigenes Drama aufs Neue: die

Trennung von der Familie, die Gefahr, die Ankunft

in einer fremden Welt. Für sie ist das eine Chance,

das Erlebte zu verarbeiten.

IN EINEM VIELBEACHTETEN THEATERSTÜCK HABEN

JUGENDLICHE FLÜCHTLINGE IHRE EIGENE GESCHICHTE

AUF DIE BÜHNE GEBRACHT. „WAS WIR TRÄUMEN“

IST EIN PROJEKT DES SOS-CLEARING-HOUSE, DAS

DEN JUGENDLICHEN HILFT, IN IHRER NEUEN HEIMAT

SALZBURG FUSS ZU FASSEN. UBUNTU RUFT AUF:

UNTERSTÜTZEN SIE DIESE WICHTIGE ARBEIT!

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ubuntu Spendenprojekt

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Nicht der einzige Schock, den Chidi und die anderen Jugend-

lichen bei ihrer Ankunft hatten. Vielen war von den Schleppern das

Paradies versprochen worden, stattdessen empfing man sie mit

kühlen Blicken. Jetzt befinden sie sich in einer Warteschleife, an

deren Ende, wenn sie Glück haben, die Aufenthaltsgenehmigung

steht. Immerhin: Im Clearing-House der SOS-Kinderdörfer haben

sie ein Zuhause gefunden. Einen Ort, an dem sie sein dürfen. Sich

halbwegs sicher fühlen.

Die Idee für das Theaterprojekt kam vom Landeskulturbeirat

Salzburg, der dem SOS-Clearing-House zu mehr Akzeptanz in der

Bevölkerung verhelfen wollte. In Kooperation mit der Theater(Off)-

ensive entstand innerhalb eines Jahres ein multimediales Stück:

Bemerkenswert professionell bewegen sich die Jugendlichen auf der

Ein langer Blick ins Leere, ein banger Blick. „Es ist sehr ris-

kant mit dem LKW“, sagt der Junge auf der Bühne und aus dem Off

pocht laut ein Herz. Der Somalier sinkt zu Boden und spricht nüch-

tern weiter: „Man muss schnell hinunter kriechen. Und das, wäh-

rend der LKW fährt. Wenn man zu langsam ist … kann es sein …

dass einen das Auto überrollt.“

Nicht gerade leichte Unterhaltung,

die das Salzburger Theaterpublikum an

diesem Sonntagabend geboten bekommt.

Das Stück „Was wir träumen“ erzählt von

jungen Menschen auf der Flucht: in Kisten

und Kofferräumen, festgeklemmt im Ge-

stänge unter einem LKW. Auf verworrenen

Wegen sind sie unterwegs in Richtung

Freiheit, oft tagelang ohne Essen, ohne

Wasser, der Willkür ihrer Schlepper aus-

gesetzt. Das Besondere: Die jungen Dar-

steller aus Afghanistan, Somalia, Pakistan

oder Nigeria spielen ihr eigenes Leben.

Auf der Bühne trennen sie sich noch einmal von ihren Familien,

begeben sich noch einmal auf den gefährlichen Weg, der in die

Fremde führt. In ein Land namens Österreich, eine Stadt namens

Salzburg. „Als ich ankam, sah ich zum ersten Mal in meinem Le-

ben Menschen mit weißer Hautfarbe“, erinnert sich Chidi, 17, aus

Nigeria. „Ich dachte, dies sei das Totenreich. Ich dachte, ich sei

gestorben.“

Bühne; im einen Moment formieren sie in

Zeitlupe undurchdringliche Menschenzäu-

ne, im nächsten präsentieren sie tempo-

reich und taktsicher einen Breakdance. Die

meisten Texte werden dabei von den drei

österreichischen Schauspielern des Offthea-

ters übernommen. Sätze, die die Flüchtlin-

ge ihnen gegeben haben:

„Wenn dein Vater nicht da ist, wenn

deine Mutter nicht da ist, dann kann dir

keiner sagen, wann du auf die Welt gekom-

men bist.“

Oder: „Der größte Schmerz ist, die El-

tern zurücklassen zu müssen. Und dann kommst du hierher und bist

nicht erwünscht.“

Oder: „In meinem Land ist meistens Farbe, die Farben sind

hell. Die Gegenwart hat keine Farbe, wegen der Unsicherheit. Wenn

alles unsicher ist, gibt es keine Farben.“

In diesem Patchwork aus Wörtern, Licht, Geräuschen und

Videoprojektionen verdichtet sich die Atmosphäre, die Angst greift

„Wenn ich an mein Land denke,

denke ich an den Duft von Rosen.“

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ubuntu Spendenprojekt

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über, die Hilflosigkeit, aber dann auch die Hoffnung, der Mut und

tatsächlich die Lebensfreude. Genau das wollte Autorin Petra Na-

genkögel zeigen: dass es da nicht DIE Gruppe Asylbewerber gibt,

sondern einzelne Menschen, denen zuzuhören wahrhaftig lohnt.

Dabei waren die allerersten Zuhörer österreichische Oberschüler

und –schülerinnen. Sie interviewten auf Bitte Petra Nagenkögels

die gleichaltrigen Asylbewerber und schrieben die Gespräche auf.

Die Autorin baute auf dieser Grundlage das Stück.

Für sie war klar, dass die jugendlichen Flüchtlinge auch auf

der Bühne ein Maximum an Bühnenpräsenz haben sollten. Eine

Herausforderung für Regisseur Alex Lange, der sonst nur mit Profis

arbeitet. Auch die kulturellen Unterschiede kamen bei der Arbeit

deutlich zum Vorschein. „Einmal gab ich ihnen die Aufgabe, zum

33 Bewohner leben momentan im SOS-Clearing-House. Hier

meint man es gut mit ihnen. Das dreistöckige Gebäude liegt in

einer Vorort-Wohnsiedlung. Es ist ein gemütliches Haus mit Bal-

kon, Garten und Zweibettzimmern, an den Wänden hängen Poster,

selbst gemalte Bilder und Fotos von Festen. Die minderjährigen

Flüchtlinge genießen psychologische Betreuung und juristische Be-

ratung, sie können sich austauschen und an verschiedenen Pro-

grammen zur Integration teilnehmen, während ihr Aufenthaltssta-

tus geklärt wird. Und sie dürfen so alt sein wie sie sind: 14, 15, 16, 17.

Jugendlich. Sie dürfen lernen, kreativ gestalten, albern sein. Manch-

mal weicht dann auch der ernste, traurige Blick für eine Weile.

Es ist halb elf am Vormittag, im Treppenhaus unterhalten

sich ein paar Jungs, andere stehen draußen und rauchen. Alle tragen

Thema ‚Urlaub‘ eine Improvisation zu ma-

chen“, erzählt der Regisseur. „Aber schon

während ich es aussprach, fiel mir ein,

dass diese Kids gar nicht wussten, was Ur-

laub bedeutet.“ Er schüttelt den Kopf über

sich selbst. „Bei der ersten Probe saß einer

der Jungs am Bühnenrand. Als der Schein-

werfer anging, hob er plötzlich den Arm

vor’s Gesicht und wich zurück. Ein anderer

warf sich beim Völkerballspiel immer zu

Boden und schützte mit den Händen sei-

nen Kopf. Da wurde mir klar, wie trauma-

tisiert jeder einzelne in dieser Gruppe ist.“

Es wurde eine Produktion der Unvorhersehbarkeit. „Die Motivation

war immer hoch, aber das Zeitgefühl grundsätzlich unterschied-

lich“, sagt Alex Linse. „Warum Pünktlichkeit bei den Proben wichtig

ist, war schwer zu vermitteln, und unsere Geduld wurde manchmal

ganz schön strapaziert. Aber dann kam einer plötzlich gar nicht

mehr. Nicht weil er unpünktlich war, sondern weil er abgeschoben

wurde.“

moderne T-Shirts und Jeans, eigenwillige

Frisuren. Ein wenig erinnern sie an den

fröhlichen Ethno-Mix in MTV-Fernsehsen-

dungen. „Es würde keinem hier einfallen

nachlässig herumzulaufen“, sagt Waltraud

Krassnig, Bildungskoordinatorin des Clea-

ring-House. „Sie finden immer etwas Mo-

disches, auch wenn das Bekleidungsgeld

mit 25 Euro im Monat knapp ist.“ Auf

keinen Fall wollen die Jugendlichen, dass

ihre Vorgeschichte schon an der Kleidung

sichtbar wird.

Im Schulzimmer im zweiten Stock

gibt Waltraud Krassnig Grundbildungsunterricht. Die Jugendlichen

sitzen aufmerksam vor ihren Heften. Zum Allgemeinwissen ge-

hören Geographie und Mathematik, aber auch wichtige Alltags-

dinge: Wie liest man einen Busfahrplan, wie zieht man die richtige

Fahrkarte? „Wie heißen die Nachbarländer von Österreich?“ fragt

Waltraud Krassnig. „Schweiz“, sagt ein Afghane. „Tschechien“, ein

junger Iraner. Der 17-jährige Chidi zeigt auf der Weltkarte, wo Afrika

„Man muss durch Flüsse schwimmen oder

in Booten fahren. Das ist gefährlich. Ich

hatte immer Angst, dass das Boot kentert.“

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ubuntu Spendenprojekt

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Bewegungen in Zeitlupe, beklemmende Texte und aus dem Off ein pochendes Herz: kaum ein Theater-besucher kann sich der Atmosphäre entziehen.

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ubuntu Spendenprojekt

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und seine Heimat Nigeria liegen. Die Stimmung ist heiter, man

freut sich gemeinsam über jede richtige Antwort. Einerseits. Aber

immer ist auch Schwermut spürbar. „Sie sehen reifer aus, als sie

sind“, sagt Waltraud Krassnig. „Das Anlehnungsbedürfnis ist

enorm.“

Chidi zum Beispiel. Er ist hochgewachsen, muskulös, wirkt

besonnen, erwachsen. Nach dem Unterricht setzt er sich in den

Garten, während andere Volleyball spielen. Als er hier ankam, war

er von Mitarbeiterin zu Mitarbeiterin gegangen. „Bitte sei meine

neue Mama!“ Als er einsehen musste, dass das nicht geht, hat er

sich in eine ernste Starre geflüchtet. „Zu Hause war mein Leben

nichts wert. Und hier in Österreich ist es auch nichts wert“, zitiert

er sich selbst aus dem Theaterstück. Daheim in Nigeria lebte

Chidi, so erzählt er, zusammen mit seiner Mutter, seiner Zwillings-

schwester und einem Bruder in einem Dorf

im afrikanischen Busch. Schon als Kind war

er re ligiös, war Ministrant und verbrachte

die meiste Zeit in der Dorfkirche. Bis er

plötzlich, aus einem Grund, von dem er sagt,

dass er ihn heute noch nicht kennt, ins Vi-

sier religiöser Fanatiker rückte. Es geht um

Menschenopfer und ein großes Feuer, grau-

same Sachen fallen ihm ein. Er würgt und

spuckt, sagt: „Seitdem kann ich nicht mehr

schlafen.“

Der Dorfpfarrer schickte ihn, verklei-

det als Frau, mit einem Schlepper außer

Landes, Chidi konnte sich nicht einmal von

seiner Familie verabschieden. Er starrt vor

sich hin. „Das Schlimmste ist, dass ich nicht weiß, wo meine Mut-

ter ist. Lebt sie noch? Leben meine Geschwister noch? Ich zerbreche

mir Tag und Nacht darüber den Kopf.“ Er zupft an seinem Lederarm-

band. Versehentlich trifft ihn der Volleyball und fast ist er froh, das

Gespräch einen Moment unterbrechen zu können.

Chidi ist vor allem froh, nun in Si-

cherheit zu sein. „Ich habe Freunde aus

Afghanistan und Pakistan, auch wenn sie

keine Blutsverwandten sind. Aber bei den

Theaterproben sind wir richtig zusammen-

gewachsen, wie eine Familie.“

Vom Haus her weht ein köstlicher

Duft von orientalischem Essen herüber.

Die Kochgruppe bittet zu Tisch. Koch And-

reas Heidenthaler hat zusammen mit zehn

Jugendlichen Rindsgulasch-Curry mit Spi-

ralnudeln zubereitet. „New School“ nennt

Heidenthaler die Kreationen, die hier täg-

lich auf den Tisch kommen: eine Mischung

aus lokaler Hausmannskost und exotischen

Spezialitäten, vieles pikant gewürzt. „Ich lerne selbst jeden Tag

dazu“, sagt er. „Erst gestern fand ich heraus, dass man mit Salep,

einer asiatischen Orchideenknolle, Suppe kochen kann.“

„In Nigeria machen wir oft Fufu“, erzählt Chidi bei Tisch.

„Das ist Grieß, den man eine ganze Woche in einem Eimer ein-

Jeder der Jugendlichen hier hat so eine Geschichte zu erzäh-

len. Es sind schreckliche Geschichten, von Entführungen durch

die Taliban, vom Dasein als Kindersoldat, nächtlichen Ausbrüchen

aus Militärlagern. Von Missbrauch und dem Zerfall fliehender

Fami lien. Von Schlauchbooten, auf die geschossen wird, von

Hunger, Durst und auch von Tricks, ohne die man nicht überlebt

hätte. Einer bestätigt die Schilderung des anderen durch wissendes

Kopfnicken. Auf der Bühne durchleben sie die schmerzhaften

Stationen ihrer Flucht und ihrer Gegenwart immer wieder neu.

Doch so in Szene gesetzt, aufs Podest gestellt, ernst genommen,

wichtig genommen, scheint es ihnen zu gelingen, das Erlebte zu

verarbeiten. Minutenlang applaudiert das Publikum nach jeder

Aufführung. Eine Anerkennung, die auch hilft anzukommen in

dieser Gesellschaft.

„Manchmal frage ich mich, ob ich noch

am Leben bin. Wenn ich schlafe, träume ich,

dass ich gestorben bin in meinem Land. Ich

wache auf und weiß nicht, ob ich lebe.“

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ubuntu Spendenprojekt

Page 65: ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten

weicht und dann im Mörser zerstampft und zu einem festen Brei

kocht.“ Die Starre ist plötzlich aus seinem Gesicht gewichen. „Man

nimmt ein Stück Fufu und dippt es in die Suppe – das schmeckt

klasse.“ Er gerät ins Schwärmen, doch nun unterbricht Jubel und

Beifall seine Schilderung. Waltraud Krassnig hat Geburtstag und

das muss gefeiert werden. Die Bildungskoordinatorin ist beliebt.

Früher war sie als promovierte Historikerin in der Geschichtsfor-

schung, im Sozialwesen und als Gymnasiallehrerin tätig, jetzt

geht sie voll in ihrer Tätigkeit im SOS-Clearing-House auf. Als ihr

die Idee zu dem Theaterstück vorgetragen wurde, sei sie sofort Feu-

er und Flamme gewesen, sagt sie. „Ich wusste, dass das Stück ein

Sprachrohr für die Jugendlichen sein würde. Eine großartige Mög-

lichkeit für unsere Mitbürger, sie kennen zu lernen und zu verste-

hen.“ Im Alltag gibt es ansonsten nicht viele Berührungspunkte.

Doch der Lehrer von der Salzburger Musikschule kommt nur

einmal die Woche für einen Kurs. „Wenn ich nur selbst Unterricht

geben dürfte“, sagt er. Doch bis sein Asylantrag endgültig geprüft

ist, kann es noch Monate dauern. „Und bis dahin muss ich sitzen

und warten, sitzen und warten.“ Wieder ein Zitat aus dem Stück,

so redet es sich deutlich leichter über das eigene Leben. Selbst

wenn sein Asylantrag bewilligt wird, wird Chidi, wie die meisten,

nur den sogenannten subsidiären Schutz bekommen, eine Dul-

dung auf Zeit, die jedes Jahr aufs Neue beantragt werden muss.

Einen Pass und damit eine echte Perspektive bekommen die we-

nigsten. „Ich möchte endlich mein neues Leben beginnen“, sagt

Chidi frustriert. „Wenn sie mich nach Nigeria zurückschicken,

was soll dann aus mir werden?“

Nach jeder Aufführung fallen sie sich hinter den Kulissen

Nur die unter 15-Jährigen sind gesetzlich

schulpflichtig und müssen – oder dürfen –

den Unterricht besuchen. Für die Älteren

gibt es immerhin Alternativen wie das EU-

Bildungsprojekt „Minerva“, das Jugendli-

chen den Hauptschulabschluss ermöglicht.

Oder wie das Theaterstück.

Nach dem Mittagessen schaut sich

Chidi zusammen mit einem afghanischen

Freund an einem Computer Youtube-Videos

an. Ein blonder Sänger breitet auf glitzer ge-

schmückter Bühne die Arme aus und singt

ein schmalziges Lied in Pashtu. Chidi kann

damit wenig anfangen. Er klickt auf das

Video einer Trommelkombo in Stammes-

tracht, gefilmt im Grün des nigerianischen Dschungels. Er legt

den Kopf leicht zurück, drückt das Kreuz durch und wiegt sich im

Rhythmus der Musik – soll der Afghane ruhig verlegen schauen.

Chidi ist selbst ein begeisterter und äußerst talentierter

Trommler. Stundenlang könnte er sich in der Musik vergessen.

ausgelassen um den Hals. Dann servieren

Ahmed, Khaled, Chidi und die anderen den

Theaterbesuchern stolz Selbstgekochtes

aus Afghanistan, dem Iran, Pakistan und

Nigeria, zubereitet in der Clearing-House-

Küche. Am Ende legen sie noch ein leiden-

schaftliches Trommelkonzert hin, von dem

sich die Salzburger gar nicht mehr losrei-

ßen wollen.

Waltraud Krassnig hofft, dass das

Theaterstück noch lange weiterlebt, bisher

waren alle Vorstellungen ausverkauft. Auf-

führungen an Schulen und bei Workshops

sind bereits geplant. „Wir könnten sogar

Auftritte in Deutschland geben“, sagt sie.

„Nur können die Darsteller ohne Pass ja nicht reisen. Wir bräuch-

ten eine Sondergenehmigung des Innenministeriums.“ Das wär’s!

SOS-Kinderdörfer weltweit

Spendenkonto 1 111 111

(siebenmal die Eins), BLZ 700 700 10,

Deutsche Bank München,

Stichwort:

ubuntu Clearing-House

Unterstützen Sie die minderjährigen Flüchtlinge und das SOS-Clearing-House!

Ausschnitte aus dem Theaterstück können Sie unter www.sos-kinderdoerfer.tv sehen.

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ubuntu Spendenprojekt

Page 66: ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten

Von wegen ausster-bendes Dorf: In

Croustillier siedeln sich immer mehr Familien mit Kindern an. Jonas

und Niklas (2. u. 3. v. l.) können sich den ganzen

Tag mit Traktoren be-schäftigen. Jessi (Mitte)

weniger! Sie träumt davon, mal Musical-Dar-

stellerin zu werden.

Croustillier im Oderbruch

Die Kinder von …

Text und Foto Paul Hahnul Hahn

ber-Paule wolle er

werden. „Das sind

die Jungs, die auf

den riesigen Tre-

ckern sitzen und grubbern“, erklärt er,

holt sogleich seinen Mini-Traktor und

hängt den „Grubber“ an. Während er

nun haarklein erklärt, wie dieser mit

seinen Schneidetellern den Ackerboden

bearbeitet, hüpft ein Frosch über den

Sandhaufen, den Jacob, 2 ½, gerade mit

seiner Plastikschaufel umgräbt. Der

Klei ne kräht vor Begeisterung, aber

schon bugsieren Jonas und Niklas das

Fröschlein geschickt in einen Eimer.

Während die Jungs den Frosch in die

Freiheit bringen, erzählen ihre Mütter

vom Dorfleben. Doreen, Mutter von

Jonas und Jacob, kommt aus der Klein-

stadt und war anfangs skeptisch. „Die

Entfernung zu den Läden, die spärliche

Busverbindung, Dörfer nur mit Rent-

nern …“ Heute sagt sie: “Besser kann es

gar nicht sein. Wir können die Kinder

im Dorf alleine lassen, ohne dass wir

gleich Angst haben.“ Anke, die Mutter

von Niklas, mag die Ruhe auf dem Dorf

und ist glücklich, dass hier viele Famili-

en wohnen. Gut möglich, dass irgend-

wann die eine Familie die nächste ange-

zogen hat, bis sich plötzlich immer mehr

junge Leute hier ansiedelten – ganz an-

ders als in vielen anderen Dörfern.

Eben biegt Jessi, 10, mit dem Fahrrad um

Es ist nicht viel los

in Croustillier, wenn man

einem Oderbruch-Reise-

führer von 2008 glauben

mag: „Das Dorf besteht aus größeren

Bauernhöfen und ziegelroten Scheunen.

Kein Bewohner ist zu sehen, und würde

nicht allerlei Hofgetier gurren, schnattern

und blöken, … könnte der Besucher glau-

ben, das Ende der Zivilisation erreicht zu

haben.“ Doch jetzt erfüllt Maschinenlärm

die Luft und passt so gar nicht zum Klischee

vom sterbenden Landstrich.

Croustillier wurde von französisch spre-

chenden Siedlern aus der Schweiz vor gut

250 Jahren gegründet. Zuvor hatte Preußen-

könig Friedrich der Große die Oderniede-

rung trocken legen lassen. 56 Erwachsene

und 16 Kinder leben hier heute, und das

sind sogar mehr denn je. Der Maschinen-

lärm kommt von einem der Hausdächer, wo

in der Spätsommerhitze schwitzende Män-

ner Solarmodule installieren.

Auch auf dem Hof der Familie Jendritzki

wird an der Zukunft gewerkelt. Jonas, 9,

und sein Kumpel Niklas, 10, montieren das

Schneidwerk an einen Mähdrescher. Dabei

ist Fingerspitzengefühl gefragt, schließlich

ist die grüne Spielzeug-Landmaschine 50

mal kleiner als das Original. „Ich will Land-

wirt werden wie mein Opa!“, sagt Niklas.

Man glaubt es ihm sofort, auch, wenn er mit

Basecap und Brille eher Harry Potter als

einem Bauern gleicht. Ein richtiger Grub-

die Ecke. Mit Niklas geht sie im Nachbarort

Altreetz in die fünfte Klasse, aber damit

enden schon die Gemeinsamkeiten. Niklas

findet Schule „eher doof“, Jessica ist Klas-

senbeste. „Musical-Darstellerin“, das wäre

ihr Traumberuf, „aber erstmal Abi machen“.

Die quirlige Zehnjährige ist nicht zu halten.

„Cool, das ist mein erstes Interview!“ Sie

erzählt von den zwanzig Pferden auf der

Weide ihrer Eltern, dass sie reitet und Fuß-

ball spielt. Ihr Topverein ist der FC Bayern.

Als Schalke-Fan verzieht Niklas das Gesicht.

Unbeeindruckt plaudert Jessica weiter. Was

ihr am Dorfleben gefällt? „Man kennt sich,

das ist gut … aber manchmal ist es langwei-

lig.“ Ihre Freundinnen sieht sie nur in der

Schule, oder wenn die Eltern sie ins Nach-

bardorf fahren.

Jessicas Augen leuchten, als sie von Berlin

erzählt, wo ihr Onkel wohnt. „Da sind viel

mehr Leute und man kann shoppen gehen.

Bald bekomme ich Hackenschuhe“, froh-

lockt sie. Niklas wird’s zuviel. „Ihr Mäd-

chen wollt immer nur schön sein!“ – Jessica

kontert: “Und ihr Jungs denkt bloß ans

Treckerfahren!“ Bei Niklas trifft sie damit

voll ins Schwarze.

Das Portal www.oderbruchpavillon.deist sicher die beste Plattform, die es zum Thema gibt. Hier werden Ideen, Konzepte, Fak-ten und Sichtweisen auf das Oderbruch ge-sammelt. Es kommen Naturschützer, Landwirte, Künstler und Bewohner der Region zu Wort.

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ubuntu Portrait

Page 67: ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten

WO DIE VIELEN KINDER WOHNEN

Weil das Berlin-Institut für Bevöl-

kerung und Entwicklung immer wieder

gefragt wird, wo wieviele Kinder wohnen,

veröffentlichte es zum Internationalen

Kindertag eine Statistik: Derzeit leben über

1,8 Milliarden auf der Welt. Die 0 – 14-Jähri-

gen machen damit 27 Prozent der Weltbe-

völkerung aus. Die meisten Kinder leben in

Asien und Afrika. In manchen afrikani-

schen Ländern, wie Mali, Niger und Uganda,

sind fast die Hälfte der Einwohner Kinder.

Besonders in afrikanischen Ländern südlich

der Sahara hemmen jedoch Krankheiten,

Unterernährung und mangelnde Bildungs-

möglichkeiten die Entwicklung der Kinder.

Weltweit sterben Schätzungen zufolge jedes

Jahr rund 850.000 Kinder unter fünf Jahren

an Malaria, 90 Prozent von ihnen in Afrika.

Und auch über 90 Prozent der 2,5 Millionen

Kinder, die mit Aids infiziert sind, leben in

Afrika südlich der Sahara.

GLÜCK IST LERNBARWirkt sich das Schulfach „Glück“, das mehrere Heidelberger Schulen vor vier Jahren eingeführt haben, positiv auf das Wohlbefinden der Schüler aus? Das wollte Alex Bertrams, Juniorprofessor für Päda-gogische Psychologie der Universi-tät Mannheim, wissen. Er befragte 106 Schüler danach, wie viele positive und negative Gefühle sie in einem bestimmten Zeitraum empfunden hatten, wie optimistisch und zufrieden sie sind und wie gut sie mit Herausforderungen um-gehen können. Heraus kam, dass der „Glücks“-Unterricht tatsäch-lich positive Auswirkungen hatte – allerdings hauptsächlich auf die-jenigen Schüler, die schon vorher emotional relativ stabil waren. Bertrams vermutet, dass „die Aus-einandersetzung mit ihren eige-nen Emotionen die Schüler dazu angeregt hat, nun stärker so zu handeln, wie es ihnen gut tut.“

Kinder sind immer

seltener auf eigene Faust

unterwegs. Das haben Geo-

graphen der Ruhr-Universi-

tät Bochum zusammen mit

dem Policy Studes Institute

der Universität Westminster

in England herausgefunden.

In ihrem Projekt „Selbst-

ständige Mobilität von Kin-

dern“ untersuchten die For-

scher die Mobilitätsmög-

lichkeiten von 7 – 15-jährigen

Kindern aus zehn Schulen

in Nordrhein-Westfalen.

Immer häufiger bringen El-

tern ihre Kinder per Auto

zur Schule oder begleiten

sie zu Fuß. Ein Grund da-

für sei, dass Kinder oft wei-

tere Wege als früher zur

Schule zurücklegen müssen.

Aber auch die Angst der

Eltern vor dem Straßenver-

kehr und fremden Perso-

nen spielt nach Ansicht des

Geographen Andreas Re-

decker eine Rolle. Fazit der

Forscher: Es sei durchaus

positiv, Kinder vor Gefahren

zu schützen, allerdings

führe die geringere Mobili-

tät der Kinder auch zu

einer schlechteren körper-

liche Konstitution und feh-

lender Raumkenntnis. Re-

decker empfiehlt: Das Auto

nur benutzen, wenn es

gar nicht anders geht. Denn

Verkehrsverhalten lernt

man nur im Verkehr.

LESESTUNDE FÜR HUNDE

Schüler profitieren, wenn sie Hunden

vorlesen – das haben Forscher aus Boston

herausgefunden. Das Institut für Tiermedi-

zin der Tufts University begleitete ein

Leseprojekt der gemeinnützigen Organisa-

tion „Intermountain Therapie Animals“.

18 Schüler lasen jede Woche 30 Minuten

vor – neun davon einem ausgebildeten The-

rapie-Hund, neun einem Erwachsenen.

Tatsächlich verbesserten die Kinder, die dem

Hund vorgelesen hatten, nicht nur ihre Le-

sefähigkeit, sondern auch leicht ihren Wis-

sensstand. Außerdem standen sie dem

Lesen an sich positiver gegenüber. Bei den

Kindern, die den Erwachsenen vorgelesen

hatten, waren keine Unterschiede feststell-

bar. Sechs dieser Kinder brachen das Pro-

jekt sogar ab. Die Vermutung der Forscher:

Die Tiere wirken beruhigend auf die Kin-

der, denn sie stellen keine Ansprüche und

bewerten die Leistung nicht.

Kinder sind gute Zeugen

Kinder sind bessere Augenzeugen als ge-

dacht. Zu diesem Ergebnis kommt eine

Untersuchung der Psy-chologin Gunilla Fredin

an der schwedischen Lund-Universität. Fredin befragte dazu 8 – 9-jäh-

rige Kinder, 11 – 12- Jährige und Erwachsene.

Sie stellte fest, dass die jüngeren Kinder das

Geschehen gut nach-erzählen können. Zwar schildern sie weniger detailreich als ältere Kinder oder Erwach-

sene, aber das, was sie sagen, ist präziser.

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ubuntu Wissen

Page 68: ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten

Interview mit dem Potsdamer

Klimaforscher Stefan Rahmstorf

Herr Rahmstorf, wie kamen Sie

dazu, ein Kinder-Buch über Wetterphäno-

mene und das Klima zu schreiben? Weil

ich Wind und Wetter liebe, weil ich Kinder

liebe und Spaß daran habe, mein Wissen

weiterzuvermitteln. Wir kennen viele Tiere

und Pflanzen, aber die verschiedenen

Wolkenarten kennt kaum noch einer. Dabei

macht es Freude, wenn man Cumulustypen

und Cirruswolken kennt, die Abläufe ver-

steht, die sich am Himmel abspielen und

Prognosen wagen kann.

Was ist die Herausforderung, wenn

ein Wissenschaftler plötzlich für Kinder

schreiben muss? Das ist viel schwieriger.

Man muss witziger sein, braucht originelle-

re Einfälle, um die Kinder bei Stange zu

halten. Ich habe mein Manuskript auch Kin-

dern zu lesen gegeben – denen gefielen

witzige Ideen und Anekdoten und persön-

liche Erlebnisse am besten: Etwa wie

eine Hirschkuh die Messdaten von Charles

Keeling klaute, dass die Celsius-Skala ur-

sprünglich auf dem Kopf stand, oder wie ich

einmal in einen Schneesturm in New York

geriet.

In Ihrem Buch beantworten Sie Fragen,

wie „Ruht sich der Wind jemals aus?“

oder „Warum sind die Wolken flauschig?“.

Welche Erklärung war die schwierigste?

Der erste Hauptsatz der Thermodynamik.

Dieses Gesetz der Energieerhaltung ist die

physikalische Grundlage, um das Klima zu

verstehen. Kurz gesagt geht es so: Die

Energie kommt von der Sonne und die Erde

muss die von der Sonne aufgenommene

Energie wieder abstrahlen – so stellt sich die

globale Temperatur ein. Das Abstrahlen

wird dadurch erschwert, dass Treibhausgase

die Wärme unterwegs auffangen und teil-

weise zur Erde zurückstrahlen. Daher wird

es an der Erdoberfläche wärmer.

Haben Kinder ein anderes Verständnis für

Klima als Erwachsene? Ja. Wenn ich Vor-

Ruht sich der Wind jemals aus?

träge in Schulen halte, wollen die Kinder

nicht nur wissen, warum sich das Klima ver-

ändert, sondern sie fragen immer: „Was

können wir selbst tun?“ Das fragen Erwach-

sene seltener.

Was raten Sie dann? Auf die eigene Ener-

giebilanz achten. Mit dem Fahrrad fahren

oder zu Fuß zur Schule gehen, anstatt sich

chauffieren zu lassen. Das Licht ausschalten,

wenn man nicht im Zimmer ist. Aber die

Kinder müssen auch wissen, dass man das

Problem als Einzelner nicht in den Griff

kriegt – sondern, dass es ein politisches Pro-

blem ist. Deshalb erkläre ich auch, warum

Klimakonferenzen wichtig sind und was da

passiert.

Zum Schluss noch eine Frage meiner

Tochter. Sie wollte wissen, ob der Kom-

pass nicht mehr funktioniert, wenn die

Pole schmelzen. Doch, weil das Magnet-

feld der Erde aus dem Erdinneren kommt –

ganz egal, ob die Pole vereist sind.

Stefan Rahmstorf:„Wolken, Wind & Wetter. Alles, was man über Wetter und Klima wissen muss.“ Mit Illustrationen von Klaus Ensikat. Ein Kinder-Uni-Buch. Deutsche Verlags-Anstalt, 224 S., 19,99 Euro, ab 10 Jahren.

35%WAS DENKEN DIEJUNGEN DEUTSCHEN?

Die Demonstrationen der jungen Generation in Spanien, Chile, England und in Nordafrika lassen auch bei uns die Frage aufkommen, wie es unseren jun-gen Leuten geht. Was bewegt sie? Wo wollen sie im Leben hin? Antworten dazu liefert eine Stu-die von Simon Schnetzer, 34. Der Volkswirt ist im vergangenen Jahr 3.000 Kilometer durch die BRD geradelt und hat sich persönlich und online die Antworten auf die wichtigsten Fragen bei den 18 – 34- Jährigen abgeholt. Unter ande-rem fragte Schnetzer danach, wo-rauf es der Generation im Job ankommt. Die allermeisten fanden wichtig, dass die Arbeitsatmo-sphäre stimmt. 35 Prozent der Be-fragten gaben an, dass eine aus-geglichene Work-Life-Balance für sie wichtig sei, 28 Prozent beton-ten die Bedeutung von Eigenver-antwortung.Weitere Informationen unter www.jungedeutsche.de

Autositze im Test Bei der nationalen „Child Passenger

Safety Week“ in den USA haben mehrere

Städte Checks der Kindersitze angeboten.

Eltern konnten von Fachleuten überprüfen

lassen, ob ihre Kinder im Auto in den rich-

tigen Sitzen fahren. Wie die Sprecherin des

Straßensicherheitsbüros in Oklahoma,

Sabrina Mackey, sagte, sei der häufigste Feh-

ler, dass Eltern keine Sitze in der richtigen

Größe benutzten und Gewicht und Sitzgröße

nicht übereinstimmten. Oder dass sie die

Sitze nicht korrekt nach der Anleitung ein-

bauten. Laut US-Bundesbehörde für Stra-

ßen- und Fahrzeugsicherheit sind Autoun-

fälle die Hauptursache für den Tod von

3 –14-jährigen Kindern. Knapp 9.000 Kin-

derleben wurden zwischen 1975 und 2008

durch Kinder-Rückhaltesysteme gerettet.

An bedürftige Familien wurden kosten-

lose Kindersitze verteilt. Foto

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ubuntu Wissen

Page 69: ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten

IN MAMAS NACHBARSCHAFT Wenn Jugendliche ausziehen, dann

gehen sie selten weit weg: Im Durchschnitt

liegt die neue Wohnung nur 9,5 Kilometer

vom Elternhaus entfernt. Jeder zehnte zieht

sogar nur bis zu 500 Meter weiter, meldet

das Deutsche Institut für Wirtschaftsfor-

schung (DIW), Berlin.

Eine Forschergruppe um den Sozialwissen-

schaftler Thomas Leopold von der Universi-

tät Bamberg hatte Daten des Sozio-ökono-

mischen Panels ausgewertet – der größten

und am längsten laufenden interdiszipli-

nären Längsschnittuntersuchung in Deutsch-

land, für die jährlich 20.000 Personen

befragt werden. Vor allem wenig gebildete

Jugendliche bleiben in der Nähe der Eltern.

„Selbst wenn es in der Region an Arbeits-

plätzen mangelt, ist das offenbar kein

Grund, weiter weg zu ziehen“, sagt Leopold.

Besonders stark verwurzelt seien junge

Männer in Ostdeutschland. Ob sich die Ju-

gendlichen auf diese Weise abnabeln kön-

nen, ist für Leopold fraglich – sie bleiben ja

in ihrem gewohnten Umfeld.

ZUR STRAFE FERNSEHVERBOT Die meisten Eltern lehnen heutzutage

körperliche Strafen ab, das zeigt eine Stu-

die im Auftrag des AOK-Bundesverbandes,

bei der 1.000 Eltern befragt wurden. Den-

noch haben 57 Prozent der Befragten ihren

Kindern schon mal eine Ohrfeige oder ei-

nen Klaps auf den Po gegeben. Wenn Eltern

zur Strafe Verbote aussprechen, dann in

56 Prozent der Fälle Fernsehverbot, gefolgt

von Computer- und Videospielverbot

(42 Prozent). Haus- und Zimmerarrest gibt

es auch noch (27 Prozent bzw. 20 Prozent).

Erst dann folgt ein Verbot von Süßigkeiten

(15 Prozent). 11,6 Prozent der Eltern strei-

chen das Taschengeld und zu Strafarbeiten

wie Rasenmähen oder Hilfe im Haushalt

greifen 10,8 Prozent. An letzter Stelle des

Strafenregisters steht früher ins Bett ge-

hen – so strafen nur 2,8 Prozent der Mütter

und Väter.

Spielen mit Anton

Das neue Webportal www.antonspielt.de

gibt Kindern und Eltern hilfreiche Tipps für

neue Brett- und Gesell-schaftsspiele. Das

Besondere: Bei „Anton spielt“ testen die Kinder

selbst die Spiele. Die Idee wurde an der Uni-versität Erfurt entwi-ckelt und wird von der Bundes-Initiative „Ein

Netz für Kinder“ und dem Bundes-Familienminis-

terium gefördert.

„Ich bin

weil wir sind

und wir sind

weil ich bin !“

Nach diesem Motto - es ist unsere Übersetzung des Zulu-Wortes UBUNTU - arbeiten, lernen und leben wir zusammen!

Über Fragen oder Anmeldungen zum Circus oder Circusjahr freuen wir uns:

Soziale Projekte e.V.An der Heide 1-3 * 25358 Horst (Holstein)Fon 04126 - 395512 * Fax 04126 - 395511

wwwubuntu.de * [email protected]

UBUNTU -der Circuserfreut seit 17 Jahren die Herzen und

Gemüter der Menschen in Norddeutschland! -Für Kinder und Jugendlichen zwischen 11 und

17 Jahren, die in ihrem familiären oder schulischen Umfeld Belastungen ausgesetzt sind, die der Freude am Leben und Lernen entgegenstehen, gibt es seit 10 Jahren für

eine „Auszeit“ unsere Circusschule

UBUNTU -das Circusjahr.

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ubuntu Wissen

Page 70: ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten

Frau Schmidt, was ist Ihre schöns-

te Kindheitserinnerung? Die Ferien am

Brahm see. Meine Eltern hatten zusammen

mit Freunden dort ein Grundstück gekauft.

Ein Jahr später gab es eine sehr kleine Holz-

hütte, nicht einmal 30 Quadratmeter groß

inklusive des Plumpsklos draußen vor der

Tür. Am Brahmsee wurden alle Schulferien

verbracht und die waren immer herrlich.

Was war so herrlich? Im Sommer im See zu

baden, im Herbst Früchte zu sammeln und

zu Grütze zu kochen. Und da es in den ersten

Jahren kein fließend Wasser gab, sondern

nur eine Pumpe, wurde es mit dem Waschen

nicht so genau genommen, das erfreute

mein Herz!

Klingt nach eher bescheidenen Verhältnis-

sen, dabei denkt man doch erstmal, dass

Geld bei der Familie Schmidt kein Thema

war … Das ist eine absurde Vorstellung.

Wir waren eine sehr normale Familie und

die materiellen Verhältnisse waren damals

erheblich eingeschränkter als man sich das

heute noch so vorstellen kann.

In den 50 er Jahren sollen Sie sich bei Ihrer

Mutter beschwert haben, immer die von

ihr genähten Röcke tragen zu müssen. Das

war aber nur eine ganz kurze Zeit, als ich

nämlich in den ersten zwei oder drei Ober-

schuljahren in eine Mädchenschule ging,

wo eine ganze Reihe der Eltern buchstäblich

sehr „betucht“ war. Da kamen die Mit-

schülerinnen häufiger mit neuen Anzieh-

sachen an, und die wollte ich dann auch

gerne haben.

Sie selbst sagten einmal, dass Sie als Kind

vielleicht ein bisschen zu vernünftig

gewesen seien. Haben Sie Ihre Eltern nie

richtig auf die Palme gebracht? Als kleine-

res Kind habe ich meiner Mutter mal voller

Wut einen Löffel an den Kopf geschmissen.

Ich muss schrecklich sauer gewesen sein.

Offensichtlich hat sie sehr verständnisvoll

reagiert, denn dass ich mich hinterher

sehr geschämt habe, weiß ich noch genau.

Waren Sie eher ein Mama- oder ein Papa-

Kind? Ich sage immer, Kopf eher wie Vatern,

Herz eher wie Muttern. Mein Vater war ja

viel unterwegs oder als MdB in Bonn, wes-

halb ich mehr Zeit mit meiner Mutter ver-

bracht habe.

In einem Interview war eher beiläufig

zu lesen, dass Ihr Vater Sie aufgeklärt

hat. Wie ging das vonstatten? So wie ich

meinen Vater und mich kenne, war

das bestimmt sehr nüchtern und sachlich.

Sie nannten Ihren Vater einmal einen

Mann „von rustikaler Zuneigung“. Loki

Schmidt behauptete scherzhaft, zu

schmusen läge weder bei Ihrem Vater

noch bei Ihnen in den Genen. Was war

denn Ihr Kuschelersatz mit Ihrem Vater?

Da wurde gerangelt, vorzugsweise auf dem

Fußboden, und auf Bäuche geboxt – war

immer prima, wenn ich meinen Vater unvor-

bereitet erwischte und er die Bauchmus-

keln nicht anspannen konnte. Volltreffer!

Ihre Mutter wurde als kleines Mädchen

in Anlehnung an den berühmten Boxer

„Schmeling“ genannt, weil sie auch mal

ordentlich zuschlagen konnte. Waren Sie

auch ein Schmeling? Ein kleines bisschen.

Ich kann mich entsinnen, dass es in der

Grundschule zwei Jungs in meiner Klasse

gab, die von den anderen nicht besonders

gemocht wurden. Der eine roch nach Fisch,

weil sein Vater ein Fischgeschäft hatte,

der andere war eher weich und musisch.

Nachdem die beiden einige Male auf dem

Nachhauseweg von anderen Jungs verprü-

gelt worden waren, bin ich häufig mit dem

einen oder anderen ein gutes Stück in sei-

ne Richtung gegangen, und wehe, wenn da

jemand auflauerte. Da konnte ich rabiat

werden.

Sicher gingen bei Ihnen zu Hause viele

bekannte Politiker ein und aus. Es kamen

häufiger Politiker ins Haus, und es wurde

viel über Politik gesprochen. Dabei haben

sich meine Eltern immer darauf verlassen,

dass ich den Mund halte und draußen nicht

erzähle, was drinnen gesprochen wurde.

Haben sie auch nie bereuen müssen. Ich

fand solche Gespräche immer sehr interes-

sant, aber eben auch völlig normal.

Es ist bekannt, dass Sie wegen des RAF-

Terrors nicht bei einer deutschen Bank

arbeiten konnten und deswegen nach

London gegangen sind. Haben Sie den Be-

ruf des Vaters auch als Last empfunden?

Die Zeit des RAF-Terrors war schrecklich,

viele Familien haben geliebte Menschen

verloren, die kaltblütig ermordet worden

sind. Klar, ich wäre gut ohne den VIP-

Status meines Vaters ausgekommen. Aber

so war das nun mal. Kein Grund, irgend

etwas als „lästig“ zu empfinden.

„Ich wäre gut ohne den VIP-Status meines

Vaters ausgekommen.“

Susanne Schmidt

Wie waren Sie als Kind …

Interview Martina Koch

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Susanne Schmidt, 64,ist die Tochter von Altkanzler Helmut Schmidt und seiner im vergangenen Jahr verstorbenen Frau Loki. Sie ist Bankerin und Wirtschafts-journalistin und lebt mit ihrem Mann in Süd-england. 2010 erschien ihr Buch „Markt ohne Moral: Das Versagen der internationalen Finanzelite“ (Droemer Verlag).

-70-

ubuntu Interview

Page 71: ubuntu 04/2011: Dorfschönheiten

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377Spendenaktionen gibt es auf www.meine-spendenaktion.de

600Schilling Startkapital hatte Hermann Gmeiner für den Bau des ersten SOS-Kinderdorfes in Imst in Tirol.

2,2 Mio.Kinder, Jugendliche und deren Familienangehörige werden weltweit von den SOS-Kinderdör-fern unterstützt.

50.000Kinder und Jugendliche sind bisher in den SOS-Kinderdörfern aufgewachsen.

214Schulen in Deutschland betei-ligten sich 2011 an der Laufinitia-tive „Kinder laufen für Kinder“ zugunsten der SOS-Kinderdörfer.

Der Südsudan ist das 133. Land mit SOS-Kin-derdörfern.

In Mogadischu werden jährlich 170.000 Kinder und Frauen in der SOS-Mutter-Kind-Klinik behandelt.

In Somaliahelfen 252 SOS-Mitarbeiter den Notleidenden.

In Ostafrika kann mit 45 Euro einer sechs- bis achtköpfigen notleidenden Familie das Überleben für einen Monat gesichert werden.

26.254junge Frauen und Männer erlernen in 103 SOS-Berufsbil-dungszentren einen Beruf oder werden weitergebildet.

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