Überlegungen zur Beziehung von Normalität und Aufmerksamkeit bei E. Husserl
Transcript of Überlegungen zur Beziehung von Normalität und Aufmerksamkeit bei E. Husserl
Die Normativitat der Erfahrung – Uberlegungen zurBeziehung von Normalitat und Aufmerksamkeit beiE. Husserl
Maren Wehrle
Published online: 22 July 2010
� Springer Science+Business Media B.V. 2010
Zusammenfassung Aus kulturgeschichtlicher Perspektive steht der Begriff
Normativitat in einer engen Verbindung mit der vermeintlich deskriptiven
Kategorie der Normalitat. Erweist sich diese Relation aber bereits auf der Ebene der
sinnlichen Erfahrung als grundlegend, hat dies weitreichende Konsequenzen. Wie
Husserl zeigt, ist Normalitat im Sinne der formalen Kriterien von Einstimmigkeit
und Optimalitat selbst konstitutiv fur jede Erfahrung. Um daruber hinaus die
Normativitat innerhalb der Erfahrung in den Blick zu bekommen, soll in diesem
Beitrag die phanomenologische Beschreibung um einen wichtigen Aspekt erganzt
werden: die Aufmerksamkeit. Zu den formalen Normalitatskriterien muss eine
konkrete subjektive Praferenz hinzu treten, die eine Differenzierung der
Wahrnehmungsinhalte leistet. Anders lasst sich eine normale und koharente
Erfahrung nicht hinreichend erklaren. Husserls fruhe Arbeiten zur Aufmerksamkeit
und Intentionalitat sollen daher mit spateren genetischen Analysen zu einer
umfassenderen Konzeption von Aufmerksamkeit verbunden werden. Hierbei wird
deutlich, dass jede subjektive Erfahrung durch ihre praferenzielle Struktur
charakterisiert ist, die sowohl von individuellen als auch kulturellen
Interessenshorizonten des leiblichen Subjekts motiviert ist. Dies erlaubt es, von
einer rudimentaren Form der Normativitat innerhalb der Erfahrung zu sprechen.
Diese immer schon intersubjektiven Interessensdimensionen beeinflussen weiterhin
jedes Aufmerksamkeitsverhalten von den untersten Stufen der Wahrnehmung bis
hin zu hoheren Geistesakten. Normativitat in einem starken Sinne meint damit
nicht nur, dass sich die Spuren intersubjektiver Normen bereits innerhalb der
Wahrnehmung finden lassen. Vielmehr bestimmen diese Normen, was wir im
Einzelfall uberhaupt sehen konnen.
M. Wehrle (&)
Husserl-Archiv, Albert-Ludwigs-Universitat Freiburg, Platz der Universitat 3, 79098 Freiburg,
Germany
e-mail: [email protected]
123
Husserl Stud (2010) 26:167–187
DOI 10.1007/s10743-010-9075-5
Abstract From a historico-cultural point of view the notion of normativity is
closely tied to the apparently descriptive category of normality. This relation seems
even tighter on the level of experience. As Husserl shows that normality, in the form
of concordance and optimality, is a constitutive feature of experience itself. But in
what sense can we speak of normativity in the realm of experience? Husserl himself
saw no need to pose this question. But to explain the possibility of normal and
coherent perception one needs more than merely formal criteria (like concordance
and its adjustment to an optimum): one must also take into account the attentional
nature of perception. In this regard, the present paper will consider Husserl’s early
treatment of attention and integrate it with its genetic implications on the level of
affection. Doing so shows that subjective experience is characterized by a prefer-
ence-structure, motivated by the embodied subject’s individual and cultural hori-
zons of interest. It is this that allows one to speak of a precursor to normativity in the
realm of experience. Moreover it can be argued that interest not only influences
perception from the lowest level, but can be seen as a precondition for any current
attention. Thus to speak of normativity in experience in this stronger sense, means
not only that perception already contains traces of intersubjective norms; it also
means that such norms determine what you can see at all.
1 Einleitung
Von Normativitat ist ,normalerweise‘ im Bereich der Ethik, Politik und Soziologie
die Rede. Normative Grundsatze wie Menschenrechte werden in Politik- und
Rechtsdiskursen, in der Wirtschafts- und Medizinethik sowie in der gegenwartigen
Anthropologie diskutiert. Normativitat erweist sich außerdem vor dem Hintergrund
machtanalytischer und genderorientierter Perspektiven als diskursiver Prozess der
Normierung und Normalisierung, durch den ein Subjekt im vollen rechtlichen Sinne
erst hervorgebracht wird. Hinter dem Problem der Normativitat steht in all diesen
Bereichen die Frage, nach welchen Richtlinien wir unser Leben und Handeln
ausrichten wollen, sollen oder konnen. Wer sich mit dem Thema Normativitat
beschaftigt, muss sich demnach sowohl mit dem Bereich der Anwendung von
geltenden Normen als auch mit der Entstehung und moglichen Veranderung dieser
Normen auseinandersetzen.
Es klingt daher zunachst ungewohnlich, von Normativitat bereits auf der basalen
Ebene der Erfahrung zu sprechen, da Normativitat doch augenscheinlich von rein
gesellschaftlicher bzw. ethischer Bedeutung ist oder allenfalls auf einen metaphy-
sischen Kontext verweist. Der Begriff der Norm hingegen geht kulturgeschichtlich
auf das Winkelmaß und die Richtschnur der antiken Baukunst zuruck. In diesem
Zusammenhang bezeichnete er ursprunglich eine willkurliche und einmalige
Festlegung, die den Maßstab fur eine einheitliche Bauweise darstellen sollte. Die
derart praktisch motivierte Norm, die zur Erleichterung der intersubjektiven
Zusammenarbeit ausgebildet wurde, gewann im weiteren geschichtlichen Ver-
lauf zunehmend allgemeinen Charakter und loste sich von ihrer konkreten
Zweckgebundenheit fast vollstandig ab. Als unabhangiger Maßstab menschlicher
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Handlungen fungierten nun wahlweise die Natur, Gott und spater die Vernunft.1
Was die menschliche Normalitat ausmacht, wird insofern mit den Attributen
naturlich, gottgewollt oder vernunftig versehen. Wie eng Normalitat mit einem
solchen außeren normativen Maßstab verknupft ist, lasst sich anhand des
kulturgeschichtlichen Beispiels der Gesundheit zeigen: Das ,Gesunde‘ im Sinne
der naturlichen Beschaffenheit bemisst sich zwar am tatsachlichen Durchschnitt
einer Gesellschaft, bezieht sich aber zugleich auf einen Idealzustand. Wie das Ideal,
d.h. die Natur, im Einzelnen konkret bestimmt wird, weist dabei eine große
kulturgeschichtliche Variabilitat auf. Als Ideal gilt so einmal ein Korper, der
wohlgenahrt und rundlich ist, wahrend zu einer anderen Zeit schlanke und
athletische Korper Naturlichkeit und Gesundheit reprasentieren. Normalitat ist keine
rein deskriptive oder messbare Kategorie, sondern vielmehr ein fortlaufender
Prozess, der sich ausgehend von geltenden Normen auf ein zukunftiges Ideal hin
ausrichtet. Die scheinbar rein deskriptive Feststellung von Normalitat steht somit
kulturell in einem engen Verhaltnis zum wertenden normativen Urteil.Doch welcher Sinn liegt darin, von Normalitat und Normativitat bereits auf der
Ebene der sinnlichen Erfahrung zu sprechen? In Bezug auf den ersten Punkt lasst sich
in Husserls Phanomenologie eine uberzeugende Antwort finden. Wie Husserl
feststellt, spielt Normalitat als formale Kategorie der Einstimmigkeit bereits auf den
untersten Stufen der Erfahrung eine konstitutive Rolle. Gleichzeitig muss die
normale Erfahrung nicht nur einstimmig verlaufen, sondern zugleich auf ein
Optimum ausgerichtet sein. Hier scheint sich eine Verbindung von Normalitat und
Normativitat anzudeuten, die sich aber im Rahmen von Husserls Normalitatsana-
lysen insofern nicht einlosen lasst, als die Kriterien – Einstimmigkeit und
Optimalitat2 –, mit denen Husserl die Normalitat bestimmt, rein formaler Natur sind.
Um die Normativitat innerhalb der Erfahrung in den Blick zu bekommen, soll die
phanomenologische Beschreibung der Erfahrung um einen entscheidenden Aspekt
erganzt werden: die Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit wird in diesem Beitrag nicht
nur im Ausgang von Husserls fruhen Texten als spezielle intentionale Form und
personales Interesse verstanden, sondern in einen umfassenderen Zusammenhang
mit den genetischen Konzepten der Leiblichkeit und Affektivitat gesetzt. Mit
Husserl, und zugleich uber diesen hinaus, wird angenommen, dass auf den
untersten Stufen der Erfahrung zusatzlich zu den formalen Normalitatskriterien die
Rolle der subjektiven Praferenz treten muss, die eine Differenzierung der
Wahrnehmungsinhalte leistet. Anders lasst sich eine koharente subjektive Erfahrung
nicht hinreichend erklaren. Die formale Verankerung der Normalitat in unseren
grundlegenden Erfahrungsstrukturen, die Husserl vornimmt, soll darum mit der
materialen, d.h. konkreten, Ebene der individuellen Erfahrung verbunden werden.
Aus diesem Zusammenhang ergibt sich einerseits die normative Tendenz jeder
Erfahrung aufgrund ihres selektiven Wesens und andererseits tritt die enge
Verbindung der passiv-sinnlichen Erfahrung mit dem Bereich der kulturellen und
1 Vgl. hierzu den Artikel ,,Norm‘‘ und ,,Normal, Normalitat‘‘ im Historischen Worterbuch der
Philosophie (Bd.6), Hofmann (1984) und Kudlien (1984).2 Fur eine detaillierte Darstellung von Husserls Konzept der Normalitat als Einstimmigkeit und
Optimalitat sowie seiner konstitutiven Rolle fur die Erfahrung siehe Steinbock (1995).
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gesellschaftlichen Normen zu Tage. Da Aufmerksamkeit auf all diesen Ebenen
wirksam ist, kann sie als Verbindungsglied zwischen sinnlich-leiblicher Erfahrung
und hoheren kognitiven Bereichen, Passivitat und Aktivitat sowie Individuum und
Gesellschaft fungieren.
In der Konsequenz gliedert sich die Argumentation des vorliegenden Beitrags
wie folgt. Zunachst soll mit Husserl gezeigt werden, welche Rolle die Normalitat
auf den unterschiedlichen Ebenen der Erfahrung einnimmt (Punkt 2), d.h. der
allgemeinen Passivitat (a), der individuellen Leiblichkeit (b) und der
Intersubjektivitat (c). Daruber hinaus wird das Kriterium der Aufmerksamkeit
eingefuhrt, das fur einen koharenten Wahrnehmungsverlauf des Subjekts notwendig
ist, indem es die individuelle Differenzierung des Gegebenen gewahrleistet. Zu
diesem Zweck werden Husserls Uberlegungen zur Aufmerksamkeit vorgestellt, die
er erstmals explizit in den Vorlesungen von 1904/1905 aufgreift. Zusatzlich zur
formal-eidetischen Bestimmung der Bewusstseinsstrukturen kommt hier ein
Gefuhlsmoment ins Spiel, das lediglich gegenuber gewissen Erfahrungsgehaltenvon Bedeutung ist: das Interesse (Punkt 3). Da die selektive Funktion der
Aufmerksamkeit sich nicht auf den Bereich des personalen Interesses beschrankt,
sondern bereits auf den passiven Ebenen der Erfahrung maßgeblich ist, sollen
weiterhin Husserls fruhe Aufmerksamkeitsanalysen mit seinen genetischen
Betrachtungen uber das Interesse in Erfahrung und Urteil in Bezug gesetzt werden.
Der Wirkbereich des Interesses umfasst unterschiedliche Ebenen, von der Passivitat
zur leiblichen Erfahrung bis hin zur Intersubjektivitat (Punkt 4). Daran anschließend
soll die Thematik der Aufmerksamkeit mit Husserls genetischen Analysen zur
Affektion zusammen gedacht werden. Hierbei stehen das enge Wechselverhaltnis
von passiven und aktiven Formen der Erfahrung und der dadurch begrundete
Einfluss von lebensweltlichen Normen auf die Affektion im Zentrum (Punkt 5).
Von Normativitat innerhalb der Erfahrung ist dabei auf zweierlei Weise die
Rede.3 In erster Hinsicht soll dies darauf hindeuten, dass Normativitat im vollen
begrifflichen Sinne genetisch in der normativen Tendenz der sinnlich-passiven
Erfahrung fundiert ist. Wie anhand einer schwachen Normativitatsthese argumen-
tiert werden soll, zeichnet sich die subjektive Erfahrung gerade durch ihre
praferentielle, d.h. bevorzugende und differenzierende Struktur aus, die als
rudimentare Form von Normativitat im Sinne einer Wertung, Selektion oder
Antizipation aufgefasst werden kann. Diese schwache Annahme lasst sich durchaus
noch im Rahmen von Husserls eigenen phanomenologischen Analysen rechtfertigen
3 Man kann bei Husserl außerdem von einer versteckten Normativitat sprechen, da sich seine
Beschreibungen des Bewusstseins und der Erfahrung geistesgeschichtlich am Maßstab der Vernunft
orientieren. Diese fungiert bei Husserl nicht unabhangig von der Erfahrung im Sinne eines reinen
Vernunftgebots, sondern bestimmt das Wesen der Erfahrung selbst, da diese durch Intentionalitat und
Evidenz gekennzeichnet ist. In Form eines intentionalen Strebens nach Erfullung verkorpert sich das
Gesetz der Vernunft in der Erfahrung, das uns implizit zur richtigen Erkenntnis der Sachen antreibt. Dies
zeigt sich in Husserls Annahme eines inharenten Drangs zur Klarheit und eines Strebens zum Ideal der
Adaquation bzw. der optimalen Gegebenheit, das er methodisch in seiner phanomenologischen
Forderung, zu den Sachen selbst zu gelangen, ubernimmt. Als normatives Vorurteil erweist sich diese
Annahme insofern, als auch andere Charakterisierungen der Erfahrung denkbar sind. So muss Erfahrung
nicht auf Erkenntnis ausgerichtet sein, sondern im Sinne des Pragmatismus oder der Kritik Heideggers
konnte vielmehr die Zweck- und Handlungsorientierung des Menschen im Zentrum stehen.
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und wird bereits in ahnlicher Weise von anderen Autoren vertreten (Lohmar 2008;
Lotz 2007; Varela and Depraz 2005).4 Hinsichtlich der Frage nach der Normativitat
der Erfahrung ist aber nicht nur die hier thematisierte wertende und antizipierende
Struktur der Erfahrung von Interesse, sondern daruber hinaus das konkrete
Zusammenspiel von passiven und personalen (Interessens-) Ebenen in der
Wahrnehmung. Da subjektive Interessen sich wiederum nur im Kontext eines
lebensweltlichen, d.h. intersubjektiven Interessenshorizontes ausbilden, soll hierbei
deutlich werden, dass innerhalb der konkreten Erfahrung bereits auf der Stufe der
Affektion intersubjektive Normen Eingang finden. Der Bereich der Affektion wurde
sich damit als eine Schnittstelle zwischen individuellen, sozialen und kulturellen
Faktoren erweisen.
Im Anschluss soll eine uber Husserl hinaus gehende starke Normativitatsannahmevertreten werden, in der das wechselseitige Verhaltnis von passiver und personaler
bzw. intersubjektiver Ebene im Zentrum steht. In diesem Zusammenhang wird der
Frage nachgegangen, wie subjektive und intersubjektive Interessens- und
Handlungshorizonte sowohl passiv-habituell als auch explizit unsere Wahrnehmung
beeinflussen. In einem doppelten interpretatorischen Ruckgriff auf die fruhen
Aufmerksamkeitsanalysen Husserls sowie seine genetischen Grundeinsichten soll
gezeigt werden, in welchem Maße die genetische Gegenstandskonstitution von
subjektiven Praferenzstrukturen, wie z.B. leiblich-passiven oder kulturellen
Interessenshorizonten, abhangt. Dabei wird argumentiert, dass die Bildung von
affektiven Einheiten sich nicht allein durch die genetischen Prinzipien der
Homogenitat und des Kontrastes erklaren lasst, sondern sich jede Affektion
interessegeleitet vollzieht. Homogenitat und Kontrast konnen sich demnach nur
innerhalb eines subjektiven Interessens- und Handlungszusammenhanges herstellen.
Das Interesse beeinflusst damit nicht nur jede gegenstandliche Wahrnehmung,
sondern bestimmt, was uns zum gegebenen Zeitpunkt uberhaupt affizieren bzw.
,wecken‘ kann. Innerhalb der lebensweltlichen Interessenshorizonte, die unsere
Affektionsbereitschaft modellieren, ist dadurch eine strikte Unterscheidung
zwischen individuellen, intersubjektiven oder kulturellen Einflussen kaum moglich.
Die starke Normativitatsthese besagt in der Folge, dass geltende gesellschaftliche
Normen bereits auf der untersten Stufe der Erfahrung bestimmen konnen, was wir
sehen und was nicht. In Anbetracht dieser Sachlage werden in einem abschließenden
Ausblick die ethischen Implikationen und Moglichkeiten reflektiert. Es wird fur eine
zusatzliche thematische epoche pladiert, die es ermoglicht, unsere habituellen
Aufmerksamkeitsmuster in den Blick zu bekommen (Punkt 6).
4 Der Gedanke der wertenden bzw. antizipierenden Struktur der Erfahrung ist nicht neu, er wird unter
anderem von Lohmar (2008, S. 47) vertreten, der mit A. Schutz von einer ,,neigungsregierten
Relevanzstruktur der Lebenswelt‘‘ spricht, sowie von C. Lotz (2007, S. 58f.), der die gelebte Erfahrung
des Wertens als implizite Struktur jedes Bewusstseins ansieht. Auch Depraz verbindet zusammen mit
dem Neurowissenschaftler Varela unter dem Aspekt der Valenz/Wertigkeit phanomenologische und
neurobiologische Erklarungsebenen. So sind die untersten Stufen der Erfahrung durch ein Zusammenspiel
von situationsbedingter Affektion und Bewegung konstituiert (Varela and Depraz 2005). Klaassen
definiert dieses Konzept der situierten Normativitat wie folgt: ,,[V]alence can be understood to be a
precursor to directed discontent and the first moment of an event-related-instinctive normative act‘‘
(Klaassen et al. 2009, S. 2).
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2 Husserls Konzept der Normalitat
2.1 Allgemeine passiv-genetische Grundlagen
Husserls Begriff der Normalitat eignet sich wie kein anderer zur Beantwortung der
Frage, welche konstitutive Rolle die Normalitat sowohl fur die koharente
Wahrnehmung des Einzelnen als auch fur die Erfahrung einer gemeinsamen Welt
spielt. Die Einstimmigkeit der subjektiven wie intersubjektiven Wahrnehmung stellt
damit als Kriterium der Normalitat nicht nur eine besondere Kontinuitat dar,
sondern ist insofern die Voraussetzung fur Erfahrung uberhaupt, als ohne sie kein
einheitlicher Gegenstandsbezug moglich ware. Ein weiterer Aspekt der Normalitat
besteht nach Husserl in dem Bezug jeder Wahrnehmung auf ein Optimum. Im
lebensweltlichen Alltag nimmt dies die Gestalt eines relativen Optimums an, das
sich je nach Situation und Interesse des Wahrnehmenden qualitativ bestimmt.5
Husserl spricht in diesem Zusammenhang etwa von einem Berufsinteresse oder
einem Lebensinteresse.6 So stellt sich z.B. die optimale Gegebenheit eines Hauses
fur den Spazierganger, den Kaufer oder den Architekten jeweils anders dar.7
Zugleich sind Husserls Beschreibungen der Erfahrung implizit auf ein ideales
Optimum im Sinne einer adaquaten Gegebenheit ausgerichtet. Dies verdeutlicht,
inwiefern sich die Bedeutung der Normalitat aus dem Konzept der Evidenz ergibt.
Beide Aspekte der Normalitat, Einstimmigkeit und Klarheit der Erfahrung, sind als
Momente der Evidenz zu denken, die insbesondere in ihrer intersubjektiven
Bedeutung die Objektivitat der Welt verburgen. Die gesamte phanomenologische
Beschreibung der Wahrnehmung orientiert sich in dieser Hinsicht am normativen
Ideal der Erkenntnis in Form einer moglichst klaren, deutlichen und differenzierten
Wahrnehmung. Diese letzte Evidenz gilt zwar lediglich als regulative Idee, fungiert
bei Husserl aber implizit als Motivation im Prozess der Wahrnehmung. Husserl
selbst gibt in einer fruhen Vorlesung zu, dass solche Ideale zumindest fur die
Beschreibung unerlasslich sind.
Es sind Ideale, die das Denken in Beziehung auf die Wahrnehmungsphano-
mene konstruiert, die aber nicht durch bloße Wahrnehmung aufzuklaren sind.
5 In der Einteilung von Husserls Normalitatskonzept gemaß der beiden Kriterien Einstimmigkeit bzw.
Unstimmigkeit und Optimalitat orientiere ich mich an Steinbock (1995). Nach Steinbock ermoglicht uns
dieses zweite Kriterium, die Entstehung von Normen innerhalb der Erfahrung zu verstehen: ,,The optimal
enables us to understand how through experience norms are instituted and can take on a normative sense‘‘
(ebd., S. 2).6 Siehe Hua XV, 1973, S. 394, 397, 408, 414f. und Hua XXXIX, 2008, S. 365, 368, 378, 592–596,
596–601. Im dritten Teil der Intersubjektivitatsvorlesungen wird Interesse insbesondere im Zusammen-
hang mit Aspekten der individuellen und intersubjektiven Erfahrungstypik behandelt, wahrend in den
Texten im Lebensweltband der Zusammenhang von Interesse und Horizont bzw. Weltkonstitution im
Zentrum steht. Interesse wird hier als praktisches leibliches Interesse verstanden, das uber die Richtung
entscheidet, in welcher der jeweilige praktische Horizont realisiert wird. Daruber hinaus wird die Welt als
offener Universalhorizont angesehen, der sich als Interessenwelt bestimmt: ,,Die Welt, die jeweils fur
mich da ist […], ist fur mich da als Interessenwelt, und die Weise ihres Fur-mich-Seins ist jeweils Weise,
wie sie mich interessiert.‘‘ (Hua XXXIX, 2008, S. 597)7 Ein ahnliches Beispiel, indem die Relativitat der optimalen Gegebenheit eines Objektes in Bezug auf
das jeweilige Interesse des Wahrnehmenden illustriert wird, findet sich in Hua XI, 1966, S. 23–24.
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Innerhalb der Phanomenologie der Wahrnehmung sind sie kaum entbehrlich,
will man die Vorkommnisse dieses Gebiets rational ordnen und beschreiben.
Aber die Ehrlichkeit erfordert es, dass wir nachtraglich betonen, dass die
Gruppierung nach Idealen des phanomenologisch Gegebenen nicht die Ideale
selbst in Anspruch nehmen kann. (Hua XXXVIII, 2004, S. 58).
In der genetischen Phanomenologie tritt an die Stelle der Evidenz mehr und mehr
das instinktive Streben. Der Trieb wird als Motivation der Erfahrung thematisiert,8
wobei dieser in Husserls Beschreibungen nicht als Gegenbegriff zur Vernunft
erscheint, sondern als ihr ursprunglichster Ausdruck.
Demzufolge konnte man Husserl vorwerfen, dass die Bedeutung der Normalitat
an die Annahme der Vernunft des Menschen gekoppelt ist, die sowohl Grundlage
als auch Ziel jeder Erfahrung kennzeichnet. Dieses ,rationale‘ Motiv zeigt sich
sowohl in der Beschreibung der Intentionalitat im Sinne einer Spannung zwischen
Intention und Erfullung9 als auch in deren Evidenzkriterium, der Bewahrbarkeit
jeder Erfahrung. Das Bewusstsein selbst in seiner formalen, zeitlichen Ordnung
fungiert dabei als transzendentale Norm, die eine einstimmige, klare und deutliche
Erfahrung der Welt erst ermoglicht. Husserl versteht darunter die universale
Synthese des Zeitbewusstseins, das alles Urimpressionale retentional erhalt und fur
das Ich eine feste Gegenwart und Vergangenheit konstituiert. Das Wesen des
Bewusstseins gibt demnach eine Ordnungsregel fur die Erfahrung vor und ist ,,ganz
ohne Organisation uberhaupt nicht denkbar‘‘ (Hua XI, 1966, S. 216). Fur das bereits
Erfahrene liegt die ,,Norm in mir fest beschlossen‘‘ (ebd., S. 211), wahrend die
Zukunft in ihrer Bewahrung zwar gewissen Einstimmigkeitsnormen unterliegt, sich
aber daruber hinaus durch inhaltliche Offenheit auszeichnet.
2.2 Leiblichkeit
Eine weitere konstitutive Stufe der Normalitat stellt die kinasthetische und sinnliche
Ausstattung des Subjekts dar, welche die konkrete Bewahrung innerhalb der
Wahrnehmung ermoglicht. Die formale Organisation und Regelhaftigkeit unseres
Bewusstseins sowie seine kinasthetischen Moglichkeiten sind damit fur Husserl
transzendentale Voraussetzung fur jede kontinuierliche Erfahrung10 und stellen somit
die Norm fur jede weitere Unterscheidung in normale oder anomale Erfahrungen dar.
Die allen Menschen gemeinsame Leiblichkeit fungiert außerdem als Bindeglied
8 Zur Triebintentionalitat als Motivationsgrundlage der Wahrnehmung siehe die Darstellung von
Pugliese (2009).9 Diese Formulierung stellt eine Vereinfachung der Sachlage dar, die in Hua XXXVIII benutzt wird.
Demgegenuber musste zwischen Intuition und Signifikation unterschieden werden, die beide den Akt der
Intention kennzeichnen. Es gibt erfullte und unerfullte Signifikationen, d.h. Aktanteile. Die Erfullung
eines ganzen Aktes stellt dabei nur einen Idealfall dar. Eine Intention ist demnach allein durch eine
partielle Deckung von Intuitionen und Signifikationen zu charakterisieren.10 Wie Husserl betont, steht jede Erfahrung und Dingwahrnehmung notwendig in Beziehung zum
erfahrenden Leib (vgl. Hua IV, 1952, S. 69–75). Die moglichen kinasthetischen Ablaufe werden zur
transzendentalen Organisation des Bewusstseins gezahlt (vgl. Hua XI, 1966, S. 214–215), und die
leibliche Beschaffenheit spielt eine zentrale Rolle fur Husserls Konzept der Normalitat; sie ermoglicht die
intersubjektive Erfahrung einer gemeinsamen Welt (vgl. Hua XXXIX, 2008, S. 638, 648f, 662, 651).
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zwischen ,,einzelsubjektiven‘‘ und ,,intersubjektiven Erscheinungssystemen‘‘, die aus
diesem Grund in einem ,,gesetzmaßige[n] Zusammenhang‘‘ (Hua XXXIX, 2008,
S. 651) stehen.
Hieraus wird verstandlich, warum bei Husserl das Anomale nur als Modifikation
des Normalen angesehen werden kann: Es bezeichnet immer eine Kontrasterfahrung
innerhalb der Einstimmigkeit, die eine Unterscheidung in Normal und Anomal erst
ermoglicht. Normalitat im Sinne der Einstimmigkeit ist ein notwendiges Kriterium
der Erfahrung, wahrend das Anomale lediglich eine Abweichung auf der Grundlage
des Normalen darstellt. Eine vollstandig unstimmige Erfahrung ist fur Husserl nicht
denkbar. Die Modifikation des Normalen kann sich auf den Inhalt der Erfahrung
beziehen, indem innerhalb eines Wahrnehmungsverlaufes eine Unstimmigkeit
auftritt. Eine andere Moglichkeit der Modifikation zeigt sich in der Veranderung der
Wahrnehmungsumstande, d.h. der leiblichen Organe oder der Sichtverhaltnisse. Bei
alledem steht die leibliche Anomalitat, z.B. der ,,verbrannte Finger‘‘ (vgl. Hua
XXXIX, 2008, S. 640; Hua XI, 1966, S. 215), immer im Kontext einer vormals
normalen Leiblichkeit. Im Vergleich zu fruheren Tastwahrnehmungen werden
diejenigen mit dem verbrannten Finger als anomal empfunden. Dementsprechend
werden auch bleibende anomale Erfahrungen, wie die eines Blinden oder eines
Verruckten, ebenso wie die Erfahrung von Tieren und Kindern als Grenzfall
thematisiert, zu der man nur im Ausgang von der eigenen normalen Erfahrung
einfuhlenden Zugang hat.
2.3 Intersubjektivitat
Die Problematik dieses Ansatzes wird auf der Ebene der intersubjektivenEinstimmigkeit deutlich. Hier soll jede individuelle Erfahrung auch intersubjektiven
Normalitatsanspruchen genugen. Um fur die sinnlich-kinasthetischen
Einzelbewahrungen auch intersubjektive Gultigkeit beanspruchen zu konnen, muss
Husserl von einer Gleichheit der Ausgangsbedingungen, d.h. einer Normalitat der
Leiblichkeit, ausgehen. Ein blinder Mensch kann sehr wohl eine individuell
einstimmige Erfahrung haben, wenn diese nach Husserl auch keine intersubjektive
Gultigkeit hat. Husserl gebraucht zusatzlich zum Kriterium der Einstimmigkeit das
der wechselseitigen intersubjektiven Bewahrbarkeit, um seinem Normalitatskonzept
objektive Bedeutung zu verleihen. Die Erfahrung des Blinden weicht in diesem
Sinne in ,,bleibender Weise von der bewahrten oder wahren Erfahrungswelt der
Anderen‘‘ (Hua XXXIX, 2008, S. 657) ab. Gleichzeitig kommt hier aber auch ein
qualitatives Argument zum Tragen, wenn Husserl anmerkt, dass der Blinde sich der
intersubjektiven Erkenntnis in gewisser Weise ,unterzuordnen‘ hat, da ,,die bessere
Wahrheit, das bessere Recht auf Seiten der normalen Menschengemeinschaft steht‘‘
(ebd.).
Normalitat kann aber keineswegs rein als intersubjektive Einstimmigkeit
bestimmt werden, sondern folgt dem Maßstab einer optimalen Wahrnehmung der
Welt und liegt damit in der Struktur der Erfahrung selbst begrundet. Selbst wenn
alle Menschen blind waren, galte dies nach Husserl nicht als normal, sondern als
,,Ungluck eines allgemeinen Anomalseins‘‘ (ebd., S. 658). Die intersubjektive
Einstimmigkeit muss sich demnach ebenso in formaler Weise auf ein Optimum
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beziehen. Dieses manifestiert sich im normativen Ideal der objektiv richtigen
Wahrnehmung und Erkenntnis. Husserl sagt dies ganz deutlich: ,,Der Blinde
sieht schlechter, weniger, unterschiedsloser, verschwommener usw. als der
Normalsichtige und beide wissen davon‘‘ (ebd., S. 658). Mit Husserl lasst sich in
der Konsequenz zwar zum einen der Begriff der Normalitat in der Erfahrung
fundieren, zum andern scheint es, als ob auch er sich an einer Norm orientiert, die
nicht allein durch die Erfahrungsanalyse gewonnen werden kann.
In der intersubjektiven Normalitat gibt es außerdem ein gemeinschaftliches
Optimum, das sich durch Wechselverstandigung und den Einfluss der Tradition
ergibt. Die Erfahrung kann hierbei durch technische Hilfsmittel erweitert werden,
wie z.B. durch ein Fernrohr oder ein Mikroskop. Auch an dieser Stelle gilt die
Verbesserung und Erweiterung der Wahrnehmung als Normalitat. Es finden sich
nach Husserl demnach verschiedene Stufen der Erfahrungsvollkommenheit des
Einzelnen innerhalb der intersubjektiven Gemeinschaft, die sich entsprechend in
,,Fortgeschrittene‘‘ und ,,Zuruckgebliebene‘‘ (ebd., S. 660) unterteilt.11 Relativ zu
der normalen Entwicklungsstufe existiert fur den konkreten Menschen ein
intersubjektives bzw. kulturelles Optimum, das den Maßstab fur alle individuellen
Meinungen darstellt und so fur das intersubjektive Zusammenleben die
,,bestmogliche Praxis ermoglicht‘‘ (ebd., S. 661).
Normalitat ist bei Husserl schließlich wie folgt definiert: 1) die transzendentale
Voraussetzung der Erfahrung in Form einer regelhaften Organisation des
Bewusstseins, 2) ein Prozess der Einstimmigkeit und Bewahrung in der Erfahrung
und 3) das Ziel dieses Prozesses in Form eines regulativen Erkenntnisideals.
In Bezug auf die drei unterteilten Stufen der Passivitat, Leiblichkeit und
Intersubjektivitat stellt sich dies folgendermaßen dar:
Zunachst bezieht sich Normalitat auf die Ebene der transzendentalen Voraus-
setzung jeder Erfahrung (s. Punkt 1). Zu den formal-allgemeinen Gesetzmaßigkei-
ten der Erfahrung gehort aber neben den passiven Grundprinzipien (Passivitat) auch
ihr kinasthetischer Charakter (Leiblichkeit). Normalitat bezeichnet weiterhin die
konkret erfahrene Einstimmigkeit (s. Punkt 2), die sich individuell (Leiblichkeit)oder intersubjektiv (Intersubjektivitat) vollziehen kann. Daruber hinaus ist die
Normalitat durch ihre teleologische Ausrichtung charakterisiert (s. Punkt 3). Das
,Ziel‘ der Normalitat zeigt sich in der individuell-leiblichen Erfahrung jeweils als
relatives Optimum (Leiblichkeit), in der intersubjektiven als kulturelles Optimum
(Intersubjektivitat) und uberdies als allgemeines Optimum (Passivitat), das in der
teleologischen Ausrichtung der Erfahrung selbst begrundet liegt.
Normalitat ist folglich einerseits definiert als Tatsache und Faktum in Form des
bereits Erlebten, andererseits als Maßstab, der das Ziel und den Ausgang im Prozess
der Bewahrung darstellt.
11 Die in diesem Sinne zuruckgebliebenen Menschen innerhalb einer Gemeinschaft sind aus irgendeinem
Grunde nicht in der Lage den technischen Fortschritt anzuwenden und fallen daher hinter die aus dieser
Entwicklung hervorgegangene neue Wahrnehmungsnorm zuruck: ,,Die Menschen scheiden sich in
Zuruckgebliebene (unvollkommen Erfahrende) und Fortgeschrittene; und die Fortgeschrittenen repra-
sentieren nun die Norm, sie sind Subjekte der relativ besser bestimmten, aber selben Welt.‘‘ (Hua
XXXIX, 2008, S. 660).
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Da Wahrnehmung im Sinne Husserls ohne Einstimmigkeit und Ausrichtung auf
ein jeweiliges Optimum undenkbar ist, erscheint Normalitat als wichtigste
Grundvoraussetzung jeder Erfahrung. Wie gezeigt werden soll, sind Ein-
stimmigkeitsverlaufe jedoch schon auf der untersten Stufe der Erfahrung durch
normative Faktoren der Aufmerksamkeit, d.h. Interesse und Affektion, motiviert.
Eine koharente Erfahrung bedarf nicht nur der formalen Einstimmigkeit, sondern
setzt bereits eine subjektive Strukturierung des Vorgegebenen voraus, z.B. eine
Differenzierung dessen, was gerade Thema und was Horizont der Wahrnehmung ist.
Die Erfahrung von zeitlicher und inhaltlicher Einstimmigkeit des Gegebenen lasst
sich nur verstandlich machen, wenn sie innerhalb eines subjektiven Erlebniszusam-
menhanges steht. Das subjektive Erleben zeichnet sich aber gerade dadurch aus, dass
es zu jedem Zeitpunkt nur bestimmte Teile des momentanen Erfahrungsfeldes zum
Thema hat, wahrend andere noch nicht, nicht mehr oder nur nebenbei bewusst sind.
Die Wichtigkeit der subjektiven Beziehung auf das Gegebene wird von Husserl
erstmals in der Unterscheidung in Noesis und Noema aufgegriffen. Nach dieser
Unterscheidung in subjektive und gegenstandliche Momente erscheint der Aus-
gangspunkt der Intentionalitat nicht mehr nur als formaler Ich-Pol, sondern in Form
eines mehr und mehr genetisch und inhaltlich bestimmten Erfahrungssubjektes.
Zugleich treten infolgedessen der Gegenstand der Intentionalitat und seine
Gegebenheit in das Zentrum der Untersuchung. Mit Husserls Entdeckung der
verschiedenen subjektiven Bezugsweisen auf das Gegebene gehen insofern
notwendigerweise eine graduelle Abstufung der Bewusstseinsweisen in Vorder-
grund- und Hintergrundbewusstsein sowie eine Unterscheidung in passive und aktive
Arten der Zuwendung einher. Aus diesen Tendenzen entwickelte sich spater in
der genetischen Phanomenologie der Horizontbegriff, der die perspektivische
Wahrnehmung in ihrem zeitlichen Verlauf und ihrer raumlichen Organisation
beschreibt und damit die wesensmaßige Unabgeschlossenheit jeder
(Ding-)Wahrnehmung sowie jeder intentionalen Bezogenheit auf ,Etwas‘ aufzeigt.
Einen Horizont kann es aber nur geben, wenn bereits eine subjektive Praferenz,
eine Bevorzugung stattgefunden hat, die das Wahrnehmungsfeld in Gegenstand und
Horizont unterteilt. Um eine koharente und damit individuell einstimmige Wahr-
nehmung zu ermoglichen, muss ein qualitativer Bezug des Erfahrungssubjektes zur
Umwelt bestehen bzw. hergestellt werden, der diese zu seiner Lebenswelt macht.
Dieser gelebte subjektive Bezug zeigt sich bei Husserl schon vor der oben erwahnten
Unterscheidung in Noesis und Noema, wenn er in den Vorlesungen von 1904/1905
das Phanomen der Aufmerksamkeit in Form von Meinung und Interesse thematisiert.
3 Husserls fruhe Uberlegungen zur Aufmerksamkeit: Meinung und Interesse12
In den Vorlesungen zu Wahrnehmung und Aufmerksamkeit differenziert Husserl
zwischen verschiedenen Stufen der Wahrnehmung. Zunachst muss eine
12 Die folgenden Ausfuhrungen beziehen sich ausschließlich auf Husserls Darstellungen zur
Aufmerksamkeit, die im Band XXXIX der Husserliana veroffentlicht sind. Weitere fruhe Stellen zum
Thema finden sich z.B. in Hua XIX/1, 1984, S. 142–170, Hua III/1, 1976, § 35, und Hua XXVI, 1987,
S. 18–22. In diesen Texten findet keine systematische Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von
176 Husserl Stud (2010) 26:167–187
123
grundlegende Ebene der vorgegenstandlichen Empfindung angenommen werden,
die das Material fur eine gegenstandliche Auffassung vorgibt. Diese dient aber nur
als Grenzbegriff, da das Empfundene stets nur als Aufgefasstes zuganglich wird.
Die Auffassung fungiert damit als erste Stufe der Intentionalitat (vgl. Hua XXXVIII,
2004, S. 12). Eine zweite Stufe stellt eine spezielle Form der Intentionalitat dar, die
Husserl als Meinung bezeichnet. Sie hebt innerhalb eines gegenstandlichen
Zusammenhanges etwas besonders hervor und macht es thematisch (vgl. ebd., S.
73). Dies kann eine bestimmte Seite eines Gegenstandes sein oder auch mehrere
Gegenstande, die durch die Meinung eine kollektive Bedeutung erlangen, d.h.
zusammen gemeint werden (vgl. ebd., S. 75). Die Meinung hat damit eine
bevorzugende, abgrenzende, gestaltende und zugleich objektivierende Funktion.
Husserl beschreibt sie als einen ,,merkwurdigen bevorzugenden und gestaltenden
Faktor‘‘ (ebd., S. 75) der Wahrnehmung; der Akt der Meinung sorgt demzufolge fur
eine Unterscheidung in das aktuelle Bemerkte und den unbemerkten Hintergrund.
Die gesamte, zu einer gegebenen Zeit auffassbare Gegenstandlichkeit ist dabei das
momentane Blickfeld, aus dem die Meinung etwas herausgreift (vgl. ebd., S. 90f.).
Als Ziel der Meinung wird von Husserl die klare und deutliche Gegebenheit des
Gegenstandes angegeben, die durch eine explizierende nahere Betrachtung in einem
Prozess von Intention und Erfullung gewahrleistet werden soll.
Jedoch stellt die heraushebende Funktion der Meinung nur die formale bzw.
strukturelle Voraussetzung der Aufmerksamkeit dar - hinzu kommen muss der
Gefuhlsaspekt des Interesses. Wenn Aufmerksamkeit nach Husserl ,,etwas Aus-
zeichnendes in Beziehung auf einen wahrgenommenen Gegenstand‘‘ ist, dessen
Funktion darin besteht, ,,unter der jeweiligen Mannigfaltigkeit prasenter Objekte
gewissen einen Vorzug zu erteilen‘‘, wodurch diese von ,,wahrnehmbaren zu fur
sich wahrgenommenen Objekten werden‘‘ (ebd., S. 86), dann bedarf es eines
Interesses, das diese subjektive Beziehung motiviert und stabilisiert.
Hiermit ist nicht das theoretische Interesse gemeint, sondern ein fundamentaler
Aspekt der Wahrnehmung selbst, auch wenn Husserl sich an dieser Stelle noch
erkenntnistheoretischer Metaphern zur Erlauterung des Phanomens bedient.13 Das
Footnote 12 continued
Wahrnehmung und Aufmerksamkeit statt. In Hua XXVI verwendet Husserl zwar den Begriff des
Interesses und beschreibt seinen Bezug zur Intentionalitat, eine Unterscheidung zwischen bloßer
Intentionalitat (Auffassung) und einer speziellen Intentionalitat (Meinung) findet sich dort aber nicht.
Interesse wird als ein Aspekt des Gefuhls angesehen, der sich im Unterschied zur neutralen Intentionalitat
durch ein Leben in den Dingen auszeichnet. Zur Thematik der Aufmerksamkeit in diesen fruhen Texten,
siehe Begout (2007). Er unterscheidet zwei Faktoren der Aufmerksamkeit, die bei Husserl eine Rolle spielen:
den strukturellen (Intentionalitat) und den thematischen Aspekt (Interesse). Diese Charakterisierung trifft
ebenso auf die Beschreibungen in Hua XXXIX zu, die Begout in seinem Artikel leider nicht berucksichtigt
hat. Dies fuhrt zu einer Unvollstandigkeit seiner ansonsten sehr zutreffenden Uberlegungen. Unabhangig
davon teilt die Autorin dieses Artikels die Annahme, dass die Dynamik des thematischen Aspekts in der
genetischen Phanomenologie zunehmend ins Zentrum ruckt und die formale Bestimmtheit der
Aufmerksamkeit als Intentionalitat an Bedeutung verliert (vgl. Begout 2007, S. 28).13 Die Vorlesungen zu Wahrnehmung und Aufmerksamkeit konnen als erste explizite Auseinandersetzung
Husserls mit dem Phanomen der Wahrnehmung ,,unter Absehung von bedeutungstheoretischen oder
logischen Fragestellungen‘‘ (Hua XXXVIII, Einleitung T. Vongehr, xxiii) gelten. Der Begriff Interesse wird
infolgedessen auch nicht in einem theoretischen Sinne gebraucht, wie Husserl in Abgrenzung zum Begriff
des theoretischen Interesses von C. Stumpf ausdrucklich betont (vgl. ebd., S. 103). Trotzdem zeigt sich in
Husserl Stud (2010) 26:167–187 177
123
Interesse ist zwar in der Wahrnehmung fundiert und selbst ein meinendes Erlebnis,
gleichzeitig aber treibt es den Wahrnehmungsverlauf voran, indem es ,,Schritt fur
Schritt‘‘ (ebd., S. 108) zu neuen Wahrnehmungen fuhrt. Meinung und Interesse
treten nach Husserl ,,Hand in Hand‘‘ (ebd., S. 119) auf und sind beide konstitutiv fur
das Phanomen der Aufmerksamkeit. Das Interesse wird in diesem Kontext
allerdings von der Funktion der Meinung unterschieden, da seine eigentlichen
,,Motoren und Quellen‘‘ (ebd., S. 108) die Gefuhle sind. Intentionalitat aus der Sicht
des Interesses orientiert sich nicht am Maßstab der jeweiligen Erfullung, sondern am
Grad der gefuhlsmaßigen Intensitat. Durch seine direkte Relation zu den Gefuhlen
erzeugt das Interesse im Rhythmus von Spannung und Losung nach Husserl einen
regelrechten ,Lustaspekt‘. Im Gegensatz zur Meinung wird es durch das Neue
angezogen, ein Umstand, der dazu fuhren mag, dass das Interesse nach einer
,,allseitigen und erschopfenden Betrachtung‘‘ (ebd., S. 108) abnehmen kann: ,,Sind
die Wahrnehmungszusammenhange ofters durchlaufen und uns jede Einzelheit
vertraut geworden, so ,verliert die Sache an Interesse‘, sie wird langweilig.‘‘ (ebd.)
Statt einer adaquaten Wahrnehmung, die als ideales Ziel der Aufmerksamkeit
angenommen wird, kann es demnach durch das Interesse zu einem ,,Wettstreit um
das Bemerken‘‘ (ebd.) kommen. Das Interesse ist zwar eine das Bemerken fordernde
Kraft, die zum normativen Ziel einer besseren Wahrnehmung beitragt, zugleich aber
kann es dieser Ausrichtung zuwider laufen, wenn das allzu Bekannte die Intensitat
mindert und sich so neuen Eindrucken hingibt. Wahrnehmung ganzlich ohne
Interesse ware dagegen nicht denkbar, weil es ,,niemals an Motiven der Bevorzu-
gung fehlen kann‘‘ (ebd.).
Durch das Interesse entsteht in der Wahrnehmung nicht nur eine gegenstandliche,
sondern auch eine subjektiv gelebte Einheit. Sie konstituiert fur uns aus einem
gegenstandlichen Zusammenhang, wie Husserl spater sagen wird, eine Lebenswelt.Obwohl in den Vorlesungen von 1904/1905 Aufmerksamkeit nur als Erlebnis
thematisiert wird und dessen habituelle Motivationsgrundlage außen vor bleibt, wird
dennoch die Notwendigkeit einer genetischen Erganzung deutlich. Warum wir gerade
dies und nicht jenes bemerken, kann nur durch unsere situative Handlungsintention,
unsere vergangenen Erfahrungen, kinasthetischen Fahigkeiten, Gewohnheiten,
Habitualitaten und daraus folgenden Antizipationen geklart werden.
4 Die genetische Bedeutung des Interesses
Husserl selbst nimmt das Thema der Aufmerksamkeit in der Spatphase seines
Werkes nicht mehr explizit auf. Dennoch taucht ein durch die genetische
Phanomenologie gepragter Begriff des Interesses in dem von L. Landgrebe
herausgegebenen Werk Erfahrung und Urteil auf. Im Zentrum steht hierbei die
Frage nach der genetischen Verbindung von Affektion und Aufmerksamkeit.
Footnote 13 continued
den folgenden Beschreibungen des Interesses und den in diesem Zusammenhang benutzten Beispielen
teilweise Husserls eigenes erkenntnistheoretisches Interesse. So soll das Interesse vor allem das
Bemerken fordern und das richtige Erkennen der Dinge vorantreiben (vgl. z.B. Hua XXXVIII, 2004,
S. 110, 118).
178 Husserl Stud (2010) 26:167–187
123
Aufmerksamkeit wird in diesem Zusammenhang als eine ,,Ichtendenz‘‘ bzw. ein
,,Tendieren des Ich auf den intentionalen Gegenstand hin‘‘ definiert, das zur
Wesensstruktur jedes ,,Ichaktes‘‘ gehort (EU, 1954, S. 85). Das Ausmaß dieser
Tendenz zur Hingabe und Erfassung des Gegebenen hangt von der Starke der
jeweiligen Affektion ab. Eine strikte Unterscheidung zwischen bloßer Affektion und
expliziter Aufmerksamkeit scheint jedoch nur schwer moglich. Zwar wird der
Affektion in genetischer Hinsicht insofern ein Vorrang eingeraumt, als zunachst das
Gegebene einen ,,Zug‘‘ auf das Ich ausuben muss. Jedoch steht diesem zeitgleich die
Tendenz des Ich zur ,,Hingabe‘‘ gegenuber (ebd., S. 82). Der Ubergang von der
passiven Affektion uber das tatsachliche Affiziertsein des Ich bis hin zu seiner
aktiven Zuwendung kann demzufolge allenfalls graduell bestimmt werden.
Zugleich vollzieht sich die Unterteilung in das momentane Vordergrunderlebnis,
dem die aktuelle Zuwendung des Ich gilt, sowie in das inaktuelle Hintergrunder-
lebnis, von dem gegebenenfalls ein Reiz auf das Ich ausgehen kann. Die Intensitat
der jeweiligen Zuwendung ist es, die hier den Unterschied macht: einmal ,,lebt‘‘ das
Ich in tatiger Weise ,,in‘‘ dem Erlebnis und ist mit der intentionalen
Gegenstandlichkeit ,,beschaftigt‘‘, wahrend dies beim Hintergrunderlebnis nicht
der Fall ist (ebd., S. 85–86). Aufmerksamkeit beschreibt in seiner genetischen
Bedeutung verschiedene Grade der Ichzuwendung, die zwar einerseits das
Gegebene aktiv strukturieren, aber andererseits von passiven und inaktuellen
Bereichen umgeben und motiviert sind.
Das Interesse nimmt in diesem Kontext die Rolle der konkret ,,erfahrenden
Ichtendenz‘‘ (ebd., S. 86) ein und ist vor allem durch seine praktische Orientierung
gekennzeichnet. Im Gegensatz zu seiner fruheren Bestimmung wird das Interesse
nun nicht mehr als Gefuhlsaspekt verstanden, der zur gegenstandlichen Auffassung
hinzukommt, sondern als wesentlicher Bestandteil der Intentionalitat anerkannt. Als
praktische Ichtendenz bezieht sich das Interesse nicht mehr nur statisch auf einen
bestimmten Gegenstand, sondern tragt zur Gegenstandskonstitution selbst bei,
indem es als kontinuierliches und verwirklichendes Streben die Horizonte des
Gegebenen aufdeckt. Mit der Zuwendung zum Gegenstand ist nach Husserl ,,ein
Interesse am Wahrnehmungsgegenstand als seiendem erwacht‘‘ (ebd., S. 87), das
eine kontinuierliche Gerichtetheit auf diesen gewahrleistet und parallel zu der
Erfahrung der Einstimmigkeit der Wahrnehmungserscheinungen verlauft. Das
Interesse stellt fur Husserl in gleicher Weise wie die Normalitat eine Grundvor-
aussetzung fur jede konkrete Erfahrung dar, da sie den subjektiven Bezug zum
Gegebenen damit motiviert und vorantreibt, dass sie weitere Horizonte ,,weckt‘‘ und
kinasthetisch verwirklicht (vgl., ebd.). In diesem Kontext erscheint sie als
Bestandteil einer erweiterten Intentionalitatskonzeption, die durch die genetischen
Konzepte der Leiblichkeit und des Horizontes erganzt wurde. Der Wirkbereich des
Interesses wird nicht mehr auf eine explizite intentionale Handlung reduziert,
sondern umfasst samtliche Bereiche der Passivitat und Aktivitat.
Husserl nimmt an dieser Stelle eine graduelle Differenzierung verschiedener
Bewusstseinsstufen vor. Als primare Form der Zuwendung gilt das oben dargestellte
kinasthetisch verwirklichende Streben. Dieses passive Interesse kann dann auf einer
hoheren Stufe auch die Form eines ,,Willens zur Erkenntnis‘‘ annehmen (ebd.,
S. 92). Zusatzlich unterscheidet Husserl zwischen einem ,,vorichlichen‘‘ und
Husserl Stud (2010) 26:167–187 179
123
,,ichlichen Tun‘‘ (ebd., S. 90f.) Das Tun vor der Ichzuwendung ist gekennzeichnet
durch eine kinasthetisch-leibliche Zuwendung, die sich durch rein apperzeptive
Verlaufe charakterisieren lasst, z.B. in Form von Augenbewegungen. Eine
Zuwendung ,mit Ich‘ ist dagegen zwar explizit bewusst, muss aber keine vollstandig
willkurliche Handlung darstellen. So bewegt man mitunter unwillkurlich die Augen,
wahrend man einem Gegenstand aufmerksam zugewendet ist (vgl. ebd., S. 91).
Gegenuber einem engen Begriff von Interesse, der sich nur auf das thematische
Interesse beschrankt, welches das Beschaftigtsein mit einer wissenschaftlichen Arbeit
kennzeichnen kann, pladiert Husserl fur einen weiten Begriff von Interesse, weil
Thema und Gegenstand der Ichzuwendung nicht immer zusammenfallen. So kann ein
storender Larm, eine Unstimmigkeit innerhalb der Normalitat in Form einer
Affektion, vorubergehend zum Gegenstand der Ichzuwendung werden, wahrend die
wissenschaftliche Arbeit den Status des ubergreifenden Themas behalt. Ebenso kann
das Gerausch den Interessenverlauf andern und zum eigentlichen Thema werden. Der
Begriff des Interesses gilt zum einen als Akt der Konzentration auf ein bestimmtes
Thema, zum anderen umfasst er in einem weiteren Sinne sowohl das passiv geweckte
Interesse als auch die unwillkurliche Zuwendung des Subjektes. Das Interesse bezieht
sich auf jeden Akt der ,,vorubergehenden oder dauernden Ichzuwendung, des
Dabeiseins (inter-esse) des Ich‘‘ (ebd., S. 93). Hier wird, wie schon in den fruhen
Erlauterungen zur Aufmerksamkeit, deutlich, dass es das Interesse ist, das eine
qualitative Beziehung zwischen Subjekt und Welt herstellt und damit erst eine
Lebenswelt erschafft: die subjektive Zuwendung bewirkt nach Husserl, ,,daß das
Objekt mein Objekt, Objekt meines Betrachtens ist und daß das Betrachten selbst, das
Durchlaufen der Kinasthesen, das motivierte Ablaufenlassen der Erscheinungen mein
Durchlaufen ist‘‘ (ebd., S. 90).
Im Gegensatz zu Husserls fruheren Ausfuhrungen uber das Interesse wird an
dieser Stelle die passive Dimension der Erfahrung mit einbezogen. Dies erlaubt es,
das Interesse in seinem genetischen Zusammenhang mit den passiven Stufen der
Affektion zu thematisieren. Solches Verhaltnis kann, wie oben bereits angedeutet
wurde, nicht nur einseitig, im Sinne eines genetischen Vorrangs der Affektion,
bestimmt werden, sondern muss ebenfalls die Einwirkungen des Interesses
berucksichtigen, dessen inhaltliche Tendenz entscheidet, was sich fur uns uberhaupt
affektiv abheben kann. Die Fundierung der Normativitat in der Erfahrung zeigt sich
sowohl in der praferentiellen Struktur subjektiver Wahrnehmung, die sich als
praktisches Wahrnehmungsstreben manifestiert, als auch in ihrer jeweiligen
inhaltlich-habituellen Ausformung, in der sich unter Einfluss von geltenden
intersubjektiven Normen eine gewisse Aufmerksamkeitstypik generiert.
5 Das Verhaltnis von Interesse und Affektion
Eine wesentliche Erkenntnis der genetischen Phanomenologie besteht darin, dass
jede aktive Konstitution eine ,,vorgebende Passivitat‘‘ (Hua I, 1963, S. 112.)
voraussetzt. Fur das Ich heißt dies, dass ,,bewußtseinsmaßig Konstituiertes‘‘ fur es
nur da ist, ,,sofern es affiziert‘‘ (Hua XI, 1966, S. 162). Der Bereich der Affektion,
der von Husserl fruher nur als Grenzbegriff der Empfindung in Form von
180 Husserl Stud (2010) 26:167–187
123
hyletischen Daten aufgegriffen wurde, tritt nun innerhalb eines dynamisierten
Bewusstseinskonzeptes wieder ins Zentrum. Bei alledem ist es wichtig zu beachten,
dass Affektion, d.h. passive Weckung, in der Erfahrung immer nur im Rahmen einer
bereits bestehenden Ich-Aktivitat vorkommt. Wenn also eine solche Weckung
stattfindet, hat das Ich nicht etwa vorher ,geschlafen‘, sondern war bzw. ist meist
anderweitig thematisch involviert. Die aktuelle Zuwendung zu einem Gegenstand
oder das Ausuben einer Tatigkeit bestimmt also zum einen, was sich gerade im
Hintergrund befindet, d.h. nicht bzw. nicht-mehr oder noch-nicht bemerkt wurde,
und zum andern, ob es das Potential fur eine zukunftige Affektion hat. Hierbei spielt
die aktuelle aufmerksame Beschaftigung und die dadurch erweckten weiteren
Partialinteressen genauso eine Rolle, wie eine geplante ubergreifende Handlung
oder ein generelles habituelles Interessenprofil, wie z.B. das von Husserl genannte
,,Berufsinteresse‘‘.
5.1 Die leibliche Dimension von Interesse und Affektion
Aufgrund unserer leiblich-sinnlichen Beschaffenheit befinden wir uns ferner standig
in einem affektiven Kontakt mit unserer Umwelt. Dieses leibliche ,In-der-Welt-
sein‘ ist keine statische Bestimmung, sondern muss im Sinne von M. Merleau-Ponty
als Engagement innerhalb einer Situation verstanden werden, das sich in einem
aktiven ,,Zur-Welt-sein‘‘14 außert. Was bzw. in welchem Maße uns ,etwas‘ affiziert
und ob es zu einer bleibenden oder nur kurzfristigen Zuwendung kommt, hangt
folglich von der jeweiligen Wahrnehmungssituation und unserem momentanen
Engagement ab. Durch die gegenwartige leibliche Intentionalitat verbinden sich in
einer solchen Wahrnehmungssituation die vorangegangenen Erfahrungen mitsamt
der passiven ,,Vorgeschichte‘‘15 des Leibes sowie die moglichen zukunftigen
Erfahrungen in einem ,,intentionalen Bogen‘‘.16 Das engagierte leibliche Zur-Welt-
sein, das Merleau-Ponty beschreibt, konnte man in diesem Sinne als ein leiblichesInteresse bezeichnen. Die jeweilige Wahrnehmungssituation bzw. mein Interesse ist
dabei nicht nur durch meine individuelle Erfahrungsgeschichte, sondern ebenfalls
durch intersubjektive Traditionen, Normen und Bedeutungen gepragt. Eine
lebensweltliche Situation, in der sich die Affektion als leiblich-sinnlicher Kontakt
mit der Welt abspielt, ist folglich immer als eine implizit oder explizit mit anderen
Subjekten gemeinsame Situation zu charakterisieren.
14 Vgl. Merleau-Ponty (1966, S. 104, 126).15 Merleau-Ponty (1966, S. 80). Hiermit spielt Merleau-Ponty auf die faktische Situierung des leiblichen
Subjekts in der Welt an. Durch diese sind wir in einen ,,vorpersonalen Horizont‘‘ (ebd.; S. 282)
eingebettet, der sowohl individuelle Erwerbe und Gewohnungen, die uns nicht explizit zuganglich sind,
als auch ,,vorbewusste Erfahrungsbereiche‘‘ (ebd., S. 253) umfasst, wie die eigene Geburt. Daruber hinaus
stehen wir durch unsere Geburt in einem geschichtlichen und kulturellen Horizont. Unsere personliche
Existenz erscheint demgemaß als ,,Ubernahme einer Tradition‘‘(ebd., S. 296).16 Vgl. Merleau-Ponty (1966, S. 164).
Husserl Stud (2010) 26:167–187 181
123
5.2 Konkrete Interessen als Voraussetzung fur Affektion
Die ,,affektive Kraft‘‘17, die vom Gegebenen ausgeht, bemisst sich nach Husserl
danach, inwiefern sich etwas einzeln oder als homogene Gruppe von seinem
Untergrunde abhebt. Diese Differenzierung des Wahrnehmungsfeldes nach den
Kriterien von Kontrast und Homogenitat wird von assoziativen Synthesen geleistet.
Die formale Annahme von zeitlichen und assoziativen Synthesen reicht aber nicht
aus, um eine solche Strukturierung verstandlich zu machen. Assoziative, d.h.
inhaltlich motivierte Synthesen verlangen ein tatiges Subjekt mitsamt einer
Erfahrungsgeschichte, Interessen und Handlungszielen. Kontrastphanomene konnen
nur sehr bedingt am Gegebenen selbst festgemacht werden und sind relativ in Bezug
auf vorangegangene Erfahrungen und eine erlernte Wahrnehmungsroutine. Die
Abhebung von affektiven Einheiten, die genetisch den Anfang jeder Gegenstands-
konstitution darstellen, steht zwangslaufig in einem subjektiven Erfahrungs- und
Interessenzusammenhang. Die affektive Kraft des Gegebenen bestimmt sich
vielmehr durch das oben angedeutete Zusammenspiel von intersubjektiven Hori-
zonten, dem individuellen Kontext aus momentanen und vorherigen Wahrnehmun-
gen und der faktischen Grundlage der Affektion. Aus diesem Wechselverhaltnis
bildet sich ein affektives Relief bzw. ein affektives Gewicht, das daruber
entscheidet, was mich ,,wecken‘‘ kann und was nicht.
Welchen Einfluss das gegenwartige subjektive Interesse und Engagement auf den
Bereich der Affektion haben kann, zeigen zwei bekannte Beispiele aus der
kognitionspsychologischen Aufmerksamkeitsforschung. Das erste steht in Zusam-
menhang mit Experimenten zur auditiven Selektion, die nach dem Vorbild der
cocktail-party ausgerichtet waren: In großeren Gesellschaften ist man unter
erhohtem Gerauschpegel in der Lage, sich konzentriert mit einer einzelnen Person
zu unterhalten und Nebengesprache sowie andere auditive Storfaktoren fast
vollstandig auszublenden.18 In Versuchen zeigte sich, dass man keinerlei Angaben
daruber machen kann, was sich außerhalb der Situation abspielt, in der man
17 Vgl. EU, 1954, S. 79. Husserl spricht hier auch von einem affektiven Anspruch, der die passive
Motivationsgrundlage fur die Ichaktivitat bildet (vgl. EU, 1954, S. 366). Dieser ist aber nicht nur dem
Affizierenden zuzusprechen, sondern bezieht sich ebenso auf die habituelle Wahrnehmungstypik des
Subjektes, ohne die ein solcher Anspruch nicht nur nicht gehort werden wurde, sondern die eine solche
affektive Absonderung mit generiert. Der affektive Anspruch ist nicht vor jeder subjektiven Erfahrung-
stypik angesiedelt, sondern kann sich in der alltaglichen Erfahrung nur wechselseitig zwischen
erfahrendem Subjekt und affizierender Welt in einer gemeinsamen Erfahrungssituation ausbilden. Ein in
genetischer Hinsicht erster affektiver Anspruch, z.B. eines Neugeborenen, wurde mit der angeborenen
sinnlichen und leiblichen Beschaffenheit des Menschen korrelieren, die uns zunachst weitgehend
undifferenziert fur alle außeren Reize empfanglich macht.18 Bei diesen dichotic-listening Experimenten wurden den Probanden auf jedem Ohr verschiedene
Botschaften uber einen Kopfhorer vorgespielt. Diese sollten aber nur auf eine der Botschaften, z.B.
diejenige die auf dem rechten Kopfhorer abgespielt wurde, achten, wahrend die andere ignoriert werden
sollte. Die beteiligte ,Aufmerksamkeit‘ wurde dann entweder in Form einer simultanen korrekten
Wiedergabe der gehorten Botschaft und/oder anhand der nachtraglichen Befragung zu ihrem Inhalt
bewertet. Ein uberraschendes Ergebnis dieser Experimente war, dass die Probanden uber die zu
ignorierende Botschaft anschließend keine inhaltlichen Angaben machen konnten. Lediglich wenn das
Geschlecht der Sprecher oder die Lautstarke sich in der nicht aufgemerkten Botschaft veranderte, wurde
dies bemerkt. Vgl. Cherry (1953, S. 975–979), Broadbent (1952, S. 51–55, 1958) und Styles (2006,
S. 16f).
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gegenwartig aufmerksam involviert ist. Ein affektiver Reiz aus diesem
Hintergrundbereich findet nur Gehor, wenn dieser fur das Subjekt eine personliche
Relevanz hat. Dieser so sogenannte cocktail-party effect bezeichnet den Umstand,
dass man, obwohl inmitten einer lauten Gesprachskulisse in ein Gesprach vertieft,
ganz plotzlich aufmerksam wird, sobald jemand nebenan den eigenen Namen
ausspricht.19 Der eigene Name hebt sich dementsprechend vom vorher homogenen
Feld der Nebengerausche ab, seine affektive Kraft ergibt sich aufgrund seiner
Relevanz fur das Erfahrungssubjekt.
Das zweite Beispiel stellt die sogenannte inattentional blindness dar. Unter
diesem Phanomen versteht man Situationen, in denen Personen, deren Aufmerk-
samkeit bereits durch eine auszufuhrende Aufgabe in Anspruch genommen ist,
etwas nicht bemerken, das sich innerhalb ihres visuellen Blickfeldes befindet. Dies
lasst sich mithilfe eines bekannten Experimentes von D. Simons & C. Chabris
erlautern. Im Verlauf eines Videos, in dem zwei Mannschaften sich einen
Basketball zuspielen, bemerken 50% der Teilnehmer nicht, dass wahrenddessen
eine als Gorilla verkleidete Person durchs Bild lauft und sich in der Mitte des Bildes
auf die Brust klopft. Dies lasst sich dadurch erklaren, dass sie zur selben Zeit die
Anzahl der Passe zahlen mussen, die zwischen den Spielern geworfen werden.
Wenn die Teilnehmer nach dem Experiment auf ihre Unaufmerksamkeit hinge-
wiesen werden, sind sie oft sehr uberrascht, da sie davon ausgingen, alles im ,Blick‘
gehabt zu haben; aus diesem Kontext erklart sich die Bezeichnung des Phanomens
als Unaufmerksamkeitsblindheit.20 Testobjekte, wie der Gorilla, eine Frau mit rotem
Regenschirm oder prasentierte Figuren auf einem visuellen Bildschirm, die sich
durch einen relativ hohen Kontrast in Bezug auf das jeweilige visuelle Umfeld
auszeichnen, uben hier keinen affektiven Zug auf das Subjekt aus, wenn sie nicht fur
seine gegenwartig ausgeubte Tatigkeit von Bedeutung sind. Das aktuell engagierte
Interesse macht scheinbar nicht nur blind fur Ereignisse und Dinge, die sich
raumlich im Hintergrund befinden, sondern auch fur das, was unmittelbar vor
unseren Augen stattfindet.
5.3 Intersubjektive Dimension von Interesse und Affektion
Die Affektion ist Teil eines komplexen Zusammenspiels von Wahrnehmungs- und
Handlungsinteressen, das sowohl eine Ich-zentrierte Aktivitat als auch
Hintergrundbewusstsein beinhaltet. Immer wenn etwas zur Affektion kommt,
hervorspringt oder auffallig wird, passiert dies einem aktiven oder passiven Ich, das
sich in einem bestimmten Interessenshorizont bewegt bzw. von diesem umgeben ist.
Diese Eingebundenheit der Affektion in individuelle und intersubjektive
Interessenstrukturen sieht auch Husserl, wenn er folgendes anmerkt:
Das jeweils Erfahrene hat den Charakter des Anrufenden, des Reize auf das
Ich Ubenden […], aber der Anruf verhallt als das nicht im aktuellen Interesse
stehende Ich bzw. nicht sein Interesse angehend. (Hua XV, 1973, S. 462)
19 Vgl. Moray (1959, S. 56–60).20 Vgl. Simons und Chabris (1999, S. 1059–1074). Siehe ebenfalls Mack und Rock (1998, S. 55–77).
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123
Gleichzeitig beharrt Husserl darauf, dass die Affektion in der genetischen
Hierarchie vor jeder Aktivitat angesiedelt ist. Die oben dargestellten Beispiele
bestatigen allerdings, dass das jeweils aktive oder passive Interesse nicht nur die
Affektion beeinflusst, sondern die Bedingung der Moglichkeit von Affektion
darstellt. Wenn dies der Fall ist, dann ist die praferentielle Struktur der Wahrneh-
mung, die als primare Form von Normativitat bezeichnet wurde, von vornherein
durch hohere personale, intersubjektive und kulturelle Interessenskontexte bestimmt.
D. Lohmar beschreibt diese implizit wertende Struktur der Wahrnehmung, die
sich in Gestalt inhaltlicher Antizipationen manifestiert, anhand eines von Husserl
selbst benutzen Beispiels. Darin wird derselbe Wahrnehmungsgegenstand unter-
schiedlich aufgefasst, einmal als Puppe und einmal als lebendiger Mensch. Wenn
ich aufgrund eines entsprechenden kulturellen Kontextes erwarte, eine Puppe zu
sehen, z.B. in einem Spielzeuggeschaft, achte ich bevorzugt auf mechanische
Bewegungen, ein leichtes Rutteln, einen starren Blick oder andere stereotype
Bewegungen. Wenn ich dagegen erwarte, eine leibhaftige Frau vor mir zu haben,
dann sehe ich nach Lohmar ,,immer wieder die Augen, die mich ansehen, die
Leibhaftigkeit der Bewegung, die Naturlichkeit der Haltung, die Reaktion auf die
veranderten Umstande‘‘.21 Die jeweilige Erwartung bzw. das Interesse entscheidet
auch in diesem Beispiel nicht bloß daruber, wie etwas gesehen wird, sondern auch,
was von dieser Gestalt uberhaupt gesehen wird.
Die alltagliche Wahrnehmung wird durch ein Interessenprofil bestimmt, das sich
sowohl aus vorpersonalen, personalen und uberpersonalen Faktoren, wie etwa
intersubjektiven Normalitatsmustern zusammensetzt. So lasst sich anhand des
Puppenbeispiels zeigen, dass das Sehen eines Menschen oder einer Puppe von
kulturellen Kennzeichen geleitet wird, d.h. durch das, was in der jeweiligen Kultur-
und Lebenswelt als menschliches bzw. mechanisches Merkmal klassifiziert wird.
Die Wertung Mensch oder Puppe wird nicht nachtraglich ausgesprochen, sondern
lenkt implizit unseren Blick und bestimmt das, was uns auffallt bzw. was regelrecht
ubersehen wird. Intersubjektive Normen drucken sich auf der Ebene der subjektiv-
leiblichen Wahrnehmung als eine Art sensuelle Normativitat aus, z.B. in Form einer
Typik des Aufmerksamkeitsverhaltens. Auf der einen Seite handelt es sich also um
habituell wirkende ,Scheuklappen‘, auf der anderen Seite erlaubt aber nach Husserl
gerade die Pragung durch intersubjektive Optima die ,,bestmogliche Praxis‘‘ des
Einzelnen innerhalb einer geteilten Lebenswelt.
6 Fazit: Aufmerksamkeit als thematische Form der epoche
Im Anschluss an die vorangehenden Analysen konnte man die durch Aufmerk-
samkeit strukturierte Erfahrung in zweierlei Hinsicht als normativ beschreiben:
Erstens als praferentielle Struktur der subjektiven Erfahrung selbst, die eine
selektive Differenzierung des Gegebenen leistet und damit dasjenige bestimmt, was
im engeren Sinne unsere gegenwartige Wahrnehmung und im weiteren Sinne unsere
Lebenswelt ausmacht. Und zweitens als Stabilisierung und Aktualisierung
21 Lohmar (2008, S. 131).
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vorpersonal wirksamer, personlich habitualisierter und gesellschaftlicher Muster.
Erfahrung in diesem genetisch erweiterten Sinne kann niemals wertfrei sein,
sondern ist gerade durch ihre spezielle subjektive Bezugnahme bestimmt. Die
normale individuelle wie intersubjektiv einstimmige Erfahrung erweist sich als
Ausdruck und Ausbildung von passiv vollzogenen, normativen ,Urteilen‘.
Mit der Integration der Aufmerksamkeit als maßgeblichem Aspekt der subjek-
tiven Erfahrung in die phanomenologische Analyse muss zugleich die enge
Verbindung von passiven und aktiven, individuellen und intersubjektiven Ebenen
zum Thema werden. Daruber hinaus muss eine strikte theoretische Trennung
zwischen formalen und materialen Kriterien sowie eidetischer und genetischer
Phanomenologie hinterfragt werden. Wenn man davon ausgeht, dass passive
Interessenstrukturen in der jeweiligen konkreten Erfahrung schon auf der
vorgegenstandlichen Ebene der Affektion operieren, musste man diesen dann nicht
selbst den Status einer formalen Voraussetzung zusprechen? Da Interessen nur
innerhalb einer gegenwartigen subjektiven Erfahrung auftreten und sich gerade
durch ihre materiale Konkretion auszeichnen, haben sie eigentlich keine apriorische
Bedeutung. Wenn aber die phanomenologische epoche ihren Ausgang allein von der
Erfahrung eines individuellen Subjekts nehmen kann, diese Erfahrung aber
grundsatzlich von individuell und kulturell variablen Interessen durchsetzt ist,
muss dies – so muss man sich fragen - dann nicht auch einen Einfluss auf die so
gewonnenen eidetischen Strukturen haben? Lasst sich dies in den grundsatzlichen
Vorannahmen daruber erkennen, was das Ziel und die Funktion der menschlichen
Erfahrung ist und wie diese sich z.B. in Bezug auf andere Lebewesen unterscheidet?
Husserls Beschreibung der Intentionalitat als vernunftgeleitete und teleologische
Struktur ware dann kritisch zu beurteilen.
Unabhangig davon bedarf es unter den dargestellten Umstanden einer zusatz-
lichen thematischen epoche, um die habituelle Wahrnehmungstypik, die unsere
phanomenologischen Beschreibungen leitet, im Einzelnen zu hinterfragen. Durch
diesen explizit durchgefuhrten Aufmerksamkeitswechsel konnte der von Husserl
implizit vertretene normative Anspruch der Vernunft in einem Imperativ der
Wachsamkeit gegenuber eigenen normativen Vorurteilen erneuert werden.
Habituelle Scheuklappen der Wahrnehmung wurden so in den Blick kommen und
eine Offenheit fur neue und andere Erfahrungen geschaffen.22
Danksagung Der vorliegende Artikel beruht auf einem Vortrag, den ich anlasslich der Husserl-
Arbeitstage 2009 in Freiburg halten durfte. Fur die optimalen Arbeitsbedingungen und die wissenschaft-
liche Unterstutzung am Husserl-Archiv in Freiburg mochte ich mich bei Herrn Prof. H.-H- Gander und
den Mitarbeitern des Archivs bedanken. Mein besonderer Dank gilt meinen Kollegen Dr. Thiemo Breyer,
Philippe Merz und Frank Steffen, die mit ihrer kompetenten Beurteilung, ihrer standigen Gesprachs-
bereitschaft und kritischen Bearbeitung dieses Projekt unterstutzten. Ein herzliches Dankeschon geht
auch an Dr. Regula Giuliani und Prof. Sebastian Luft fur die hilfreichen Anregungen und engagierten
Diskussionen.
22 Dies birgt insofern die Moglichkeit einer Veranderung von Normen, da im Wesen der Affektion selbst
ein moglicher Einbruch oder Anspruch des Neuen und Unstimmigen angelegt ist, wie dies u.a. von B.
Waldenfels (2004) dargestellt wurde. Damit diese Tendenz allerdings eine Wirkung zeigt, bedarf es auf
Seiten des erfahrenden Subjekts einer gewissen Bereitschaft und Offenheit.
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