Überlegungen zur Beziehung von Normalität und Aufmerksamkeit bei E. Husserl

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Die Normativita ¨t der Erfahrung – U ¨ berlegungen zur Beziehung von Normalita ¨t und Aufmerksamkeit bei E. Husserl Maren Wehrle Published online: 22 July 2010 Ó Springer Science+Business Media B.V. 2010 Zusammenfassung Aus kulturgeschichtlicher Perspektive steht der Begriff Normativita ¨t in einer engen Verbindung mit der vermeintlich deskriptiven Kategorie der Normalita ¨t. Erweist sich diese Relation aber bereits auf der Ebene der sinnlichen Erfahrung als grundlegend, hat dies weitreichende Konsequenzen. Wie Husserl zeigt, ist Normalita ¨t im Sinne der formalen Kriterien von Einstimmigkeit und Optimalita ¨t selbst konstitutiv fu ¨r jede Erfahrung. Um daru ¨ber hinaus die Normativita ¨t innerhalb der Erfahrung in den Blick zu bekommen, soll in diesem Beitrag die pha ¨nomenologische Beschreibung um einen wichtigen Aspekt erga ¨nzt werden: die Aufmerksamkeit. Zu den formalen Normalita ¨tskriterien muss eine konkrete subjektive Pra ¨ferenz hinzu treten, die eine Differenzierung der Wahrnehmungsinhalte leistet. Anders la ¨sst sich eine normale und koha ¨rente Erfahrung nicht hinreichend erkla ¨ren. Husserls fru ¨he Arbeiten zur Aufmerksamkeit und Intentionalita ¨t sollen daher mit spa ¨teren genetischen Analysen zu einer umfassenderen Konzeption von Aufmerksamkeit verbunden werden. Hierbei wird deutlich, dass jede subjektive Erfahrung durch ihre pra ¨ferenzielle Struktur charakterisiert ist, die sowohl von individuellen als auch kulturellen Interessenshorizonten des leiblichen Subjekts motiviert ist. Dies erlaubt es, von einer rudimenta ¨ren Form der Normativita ¨t innerhalb der Erfahrung zu sprechen. Diese immer schon intersubjektiven Interessensdimensionen beeinflussen weiterhin jedes Aufmerksamkeitsverhalten von den untersten Stufen der Wahrnehmung bis hin zu ho ¨heren Geistesakten. Normativita ¨t in einem starken Sinne meint damit nicht nur, dass sich die Spuren intersubjektiver Normen bereits innerhalb der Wahrnehmung finden lassen. Vielmehr bestimmen diese Normen, was wir im Einzelfall u ¨berhaupt sehen ko ¨nnen. M. Wehrle (&) Husserl-Archiv, Albert-Ludwigs-Universita ¨t Freiburg, Platz der Universita ¨t 3, 79098 Freiburg, Germany e-mail: [email protected] 123 Husserl Stud (2010) 26:167–187 DOI 10.1007/s10743-010-9075-5

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Die Normativitat der Erfahrung – Uberlegungen zurBeziehung von Normalitat und Aufmerksamkeit beiE. Husserl

Maren Wehrle

Published online: 22 July 2010

� Springer Science+Business Media B.V. 2010

Zusammenfassung Aus kulturgeschichtlicher Perspektive steht der Begriff

Normativitat in einer engen Verbindung mit der vermeintlich deskriptiven

Kategorie der Normalitat. Erweist sich diese Relation aber bereits auf der Ebene der

sinnlichen Erfahrung als grundlegend, hat dies weitreichende Konsequenzen. Wie

Husserl zeigt, ist Normalitat im Sinne der formalen Kriterien von Einstimmigkeit

und Optimalitat selbst konstitutiv fur jede Erfahrung. Um daruber hinaus die

Normativitat innerhalb der Erfahrung in den Blick zu bekommen, soll in diesem

Beitrag die phanomenologische Beschreibung um einen wichtigen Aspekt erganzt

werden: die Aufmerksamkeit. Zu den formalen Normalitatskriterien muss eine

konkrete subjektive Praferenz hinzu treten, die eine Differenzierung der

Wahrnehmungsinhalte leistet. Anders lasst sich eine normale und koharente

Erfahrung nicht hinreichend erklaren. Husserls fruhe Arbeiten zur Aufmerksamkeit

und Intentionalitat sollen daher mit spateren genetischen Analysen zu einer

umfassenderen Konzeption von Aufmerksamkeit verbunden werden. Hierbei wird

deutlich, dass jede subjektive Erfahrung durch ihre praferenzielle Struktur

charakterisiert ist, die sowohl von individuellen als auch kulturellen

Interessenshorizonten des leiblichen Subjekts motiviert ist. Dies erlaubt es, von

einer rudimentaren Form der Normativitat innerhalb der Erfahrung zu sprechen.

Diese immer schon intersubjektiven Interessensdimensionen beeinflussen weiterhin

jedes Aufmerksamkeitsverhalten von den untersten Stufen der Wahrnehmung bis

hin zu hoheren Geistesakten. Normativitat in einem starken Sinne meint damit

nicht nur, dass sich die Spuren intersubjektiver Normen bereits innerhalb der

Wahrnehmung finden lassen. Vielmehr bestimmen diese Normen, was wir im

Einzelfall uberhaupt sehen konnen.

M. Wehrle (&)

Husserl-Archiv, Albert-Ludwigs-Universitat Freiburg, Platz der Universitat 3, 79098 Freiburg,

Germany

e-mail: [email protected]

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Husserl Stud (2010) 26:167–187

DOI 10.1007/s10743-010-9075-5

Abstract From a historico-cultural point of view the notion of normativity is

closely tied to the apparently descriptive category of normality. This relation seems

even tighter on the level of experience. As Husserl shows that normality, in the form

of concordance and optimality, is a constitutive feature of experience itself. But in

what sense can we speak of normativity in the realm of experience? Husserl himself

saw no need to pose this question. But to explain the possibility of normal and

coherent perception one needs more than merely formal criteria (like concordance

and its adjustment to an optimum): one must also take into account the attentional

nature of perception. In this regard, the present paper will consider Husserl’s early

treatment of attention and integrate it with its genetic implications on the level of

affection. Doing so shows that subjective experience is characterized by a prefer-

ence-structure, motivated by the embodied subject’s individual and cultural hori-

zons of interest. It is this that allows one to speak of a precursor to normativity in the

realm of experience. Moreover it can be argued that interest not only influences

perception from the lowest level, but can be seen as a precondition for any current

attention. Thus to speak of normativity in experience in this stronger sense, means

not only that perception already contains traces of intersubjective norms; it also

means that such norms determine what you can see at all.

1 Einleitung

Von Normativitat ist ,normalerweise‘ im Bereich der Ethik, Politik und Soziologie

die Rede. Normative Grundsatze wie Menschenrechte werden in Politik- und

Rechtsdiskursen, in der Wirtschafts- und Medizinethik sowie in der gegenwartigen

Anthropologie diskutiert. Normativitat erweist sich außerdem vor dem Hintergrund

machtanalytischer und genderorientierter Perspektiven als diskursiver Prozess der

Normierung und Normalisierung, durch den ein Subjekt im vollen rechtlichen Sinne

erst hervorgebracht wird. Hinter dem Problem der Normativitat steht in all diesen

Bereichen die Frage, nach welchen Richtlinien wir unser Leben und Handeln

ausrichten wollen, sollen oder konnen. Wer sich mit dem Thema Normativitat

beschaftigt, muss sich demnach sowohl mit dem Bereich der Anwendung von

geltenden Normen als auch mit der Entstehung und moglichen Veranderung dieser

Normen auseinandersetzen.

Es klingt daher zunachst ungewohnlich, von Normativitat bereits auf der basalen

Ebene der Erfahrung zu sprechen, da Normativitat doch augenscheinlich von rein

gesellschaftlicher bzw. ethischer Bedeutung ist oder allenfalls auf einen metaphy-

sischen Kontext verweist. Der Begriff der Norm hingegen geht kulturgeschichtlich

auf das Winkelmaß und die Richtschnur der antiken Baukunst zuruck. In diesem

Zusammenhang bezeichnete er ursprunglich eine willkurliche und einmalige

Festlegung, die den Maßstab fur eine einheitliche Bauweise darstellen sollte. Die

derart praktisch motivierte Norm, die zur Erleichterung der intersubjektiven

Zusammenarbeit ausgebildet wurde, gewann im weiteren geschichtlichen Ver-

lauf zunehmend allgemeinen Charakter und loste sich von ihrer konkreten

Zweckgebundenheit fast vollstandig ab. Als unabhangiger Maßstab menschlicher

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Handlungen fungierten nun wahlweise die Natur, Gott und spater die Vernunft.1

Was die menschliche Normalitat ausmacht, wird insofern mit den Attributen

naturlich, gottgewollt oder vernunftig versehen. Wie eng Normalitat mit einem

solchen außeren normativen Maßstab verknupft ist, lasst sich anhand des

kulturgeschichtlichen Beispiels der Gesundheit zeigen: Das ,Gesunde‘ im Sinne

der naturlichen Beschaffenheit bemisst sich zwar am tatsachlichen Durchschnitt

einer Gesellschaft, bezieht sich aber zugleich auf einen Idealzustand. Wie das Ideal,

d.h. die Natur, im Einzelnen konkret bestimmt wird, weist dabei eine große

kulturgeschichtliche Variabilitat auf. Als Ideal gilt so einmal ein Korper, der

wohlgenahrt und rundlich ist, wahrend zu einer anderen Zeit schlanke und

athletische Korper Naturlichkeit und Gesundheit reprasentieren. Normalitat ist keine

rein deskriptive oder messbare Kategorie, sondern vielmehr ein fortlaufender

Prozess, der sich ausgehend von geltenden Normen auf ein zukunftiges Ideal hin

ausrichtet. Die scheinbar rein deskriptive Feststellung von Normalitat steht somit

kulturell in einem engen Verhaltnis zum wertenden normativen Urteil.Doch welcher Sinn liegt darin, von Normalitat und Normativitat bereits auf der

Ebene der sinnlichen Erfahrung zu sprechen? In Bezug auf den ersten Punkt lasst sich

in Husserls Phanomenologie eine uberzeugende Antwort finden. Wie Husserl

feststellt, spielt Normalitat als formale Kategorie der Einstimmigkeit bereits auf den

untersten Stufen der Erfahrung eine konstitutive Rolle. Gleichzeitig muss die

normale Erfahrung nicht nur einstimmig verlaufen, sondern zugleich auf ein

Optimum ausgerichtet sein. Hier scheint sich eine Verbindung von Normalitat und

Normativitat anzudeuten, die sich aber im Rahmen von Husserls Normalitatsana-

lysen insofern nicht einlosen lasst, als die Kriterien – Einstimmigkeit und

Optimalitat2 –, mit denen Husserl die Normalitat bestimmt, rein formaler Natur sind.

Um die Normativitat innerhalb der Erfahrung in den Blick zu bekommen, soll die

phanomenologische Beschreibung der Erfahrung um einen entscheidenden Aspekt

erganzt werden: die Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit wird in diesem Beitrag nicht

nur im Ausgang von Husserls fruhen Texten als spezielle intentionale Form und

personales Interesse verstanden, sondern in einen umfassenderen Zusammenhang

mit den genetischen Konzepten der Leiblichkeit und Affektivitat gesetzt. Mit

Husserl, und zugleich uber diesen hinaus, wird angenommen, dass auf den

untersten Stufen der Erfahrung zusatzlich zu den formalen Normalitatskriterien die

Rolle der subjektiven Praferenz treten muss, die eine Differenzierung der

Wahrnehmungsinhalte leistet. Anders lasst sich eine koharente subjektive Erfahrung

nicht hinreichend erklaren. Die formale Verankerung der Normalitat in unseren

grundlegenden Erfahrungsstrukturen, die Husserl vornimmt, soll darum mit der

materialen, d.h. konkreten, Ebene der individuellen Erfahrung verbunden werden.

Aus diesem Zusammenhang ergibt sich einerseits die normative Tendenz jeder

Erfahrung aufgrund ihres selektiven Wesens und andererseits tritt die enge

Verbindung der passiv-sinnlichen Erfahrung mit dem Bereich der kulturellen und

1 Vgl. hierzu den Artikel ,,Norm‘‘ und ,,Normal, Normalitat‘‘ im Historischen Worterbuch der

Philosophie (Bd.6), Hofmann (1984) und Kudlien (1984).2 Fur eine detaillierte Darstellung von Husserls Konzept der Normalitat als Einstimmigkeit und

Optimalitat sowie seiner konstitutiven Rolle fur die Erfahrung siehe Steinbock (1995).

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gesellschaftlichen Normen zu Tage. Da Aufmerksamkeit auf all diesen Ebenen

wirksam ist, kann sie als Verbindungsglied zwischen sinnlich-leiblicher Erfahrung

und hoheren kognitiven Bereichen, Passivitat und Aktivitat sowie Individuum und

Gesellschaft fungieren.

In der Konsequenz gliedert sich die Argumentation des vorliegenden Beitrags

wie folgt. Zunachst soll mit Husserl gezeigt werden, welche Rolle die Normalitat

auf den unterschiedlichen Ebenen der Erfahrung einnimmt (Punkt 2), d.h. der

allgemeinen Passivitat (a), der individuellen Leiblichkeit (b) und der

Intersubjektivitat (c). Daruber hinaus wird das Kriterium der Aufmerksamkeit

eingefuhrt, das fur einen koharenten Wahrnehmungsverlauf des Subjekts notwendig

ist, indem es die individuelle Differenzierung des Gegebenen gewahrleistet. Zu

diesem Zweck werden Husserls Uberlegungen zur Aufmerksamkeit vorgestellt, die

er erstmals explizit in den Vorlesungen von 1904/1905 aufgreift. Zusatzlich zur

formal-eidetischen Bestimmung der Bewusstseinsstrukturen kommt hier ein

Gefuhlsmoment ins Spiel, das lediglich gegenuber gewissen Erfahrungsgehaltenvon Bedeutung ist: das Interesse (Punkt 3). Da die selektive Funktion der

Aufmerksamkeit sich nicht auf den Bereich des personalen Interesses beschrankt,

sondern bereits auf den passiven Ebenen der Erfahrung maßgeblich ist, sollen

weiterhin Husserls fruhe Aufmerksamkeitsanalysen mit seinen genetischen

Betrachtungen uber das Interesse in Erfahrung und Urteil in Bezug gesetzt werden.

Der Wirkbereich des Interesses umfasst unterschiedliche Ebenen, von der Passivitat

zur leiblichen Erfahrung bis hin zur Intersubjektivitat (Punkt 4). Daran anschließend

soll die Thematik der Aufmerksamkeit mit Husserls genetischen Analysen zur

Affektion zusammen gedacht werden. Hierbei stehen das enge Wechselverhaltnis

von passiven und aktiven Formen der Erfahrung und der dadurch begrundete

Einfluss von lebensweltlichen Normen auf die Affektion im Zentrum (Punkt 5).

Von Normativitat innerhalb der Erfahrung ist dabei auf zweierlei Weise die

Rede.3 In erster Hinsicht soll dies darauf hindeuten, dass Normativitat im vollen

begrifflichen Sinne genetisch in der normativen Tendenz der sinnlich-passiven

Erfahrung fundiert ist. Wie anhand einer schwachen Normativitatsthese argumen-

tiert werden soll, zeichnet sich die subjektive Erfahrung gerade durch ihre

praferentielle, d.h. bevorzugende und differenzierende Struktur aus, die als

rudimentare Form von Normativitat im Sinne einer Wertung, Selektion oder

Antizipation aufgefasst werden kann. Diese schwache Annahme lasst sich durchaus

noch im Rahmen von Husserls eigenen phanomenologischen Analysen rechtfertigen

3 Man kann bei Husserl außerdem von einer versteckten Normativitat sprechen, da sich seine

Beschreibungen des Bewusstseins und der Erfahrung geistesgeschichtlich am Maßstab der Vernunft

orientieren. Diese fungiert bei Husserl nicht unabhangig von der Erfahrung im Sinne eines reinen

Vernunftgebots, sondern bestimmt das Wesen der Erfahrung selbst, da diese durch Intentionalitat und

Evidenz gekennzeichnet ist. In Form eines intentionalen Strebens nach Erfullung verkorpert sich das

Gesetz der Vernunft in der Erfahrung, das uns implizit zur richtigen Erkenntnis der Sachen antreibt. Dies

zeigt sich in Husserls Annahme eines inharenten Drangs zur Klarheit und eines Strebens zum Ideal der

Adaquation bzw. der optimalen Gegebenheit, das er methodisch in seiner phanomenologischen

Forderung, zu den Sachen selbst zu gelangen, ubernimmt. Als normatives Vorurteil erweist sich diese

Annahme insofern, als auch andere Charakterisierungen der Erfahrung denkbar sind. So muss Erfahrung

nicht auf Erkenntnis ausgerichtet sein, sondern im Sinne des Pragmatismus oder der Kritik Heideggers

konnte vielmehr die Zweck- und Handlungsorientierung des Menschen im Zentrum stehen.

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und wird bereits in ahnlicher Weise von anderen Autoren vertreten (Lohmar 2008;

Lotz 2007; Varela and Depraz 2005).4 Hinsichtlich der Frage nach der Normativitat

der Erfahrung ist aber nicht nur die hier thematisierte wertende und antizipierende

Struktur der Erfahrung von Interesse, sondern daruber hinaus das konkrete

Zusammenspiel von passiven und personalen (Interessens-) Ebenen in der

Wahrnehmung. Da subjektive Interessen sich wiederum nur im Kontext eines

lebensweltlichen, d.h. intersubjektiven Interessenshorizontes ausbilden, soll hierbei

deutlich werden, dass innerhalb der konkreten Erfahrung bereits auf der Stufe der

Affektion intersubjektive Normen Eingang finden. Der Bereich der Affektion wurde

sich damit als eine Schnittstelle zwischen individuellen, sozialen und kulturellen

Faktoren erweisen.

Im Anschluss soll eine uber Husserl hinaus gehende starke Normativitatsannahmevertreten werden, in der das wechselseitige Verhaltnis von passiver und personaler

bzw. intersubjektiver Ebene im Zentrum steht. In diesem Zusammenhang wird der

Frage nachgegangen, wie subjektive und intersubjektive Interessens- und

Handlungshorizonte sowohl passiv-habituell als auch explizit unsere Wahrnehmung

beeinflussen. In einem doppelten interpretatorischen Ruckgriff auf die fruhen

Aufmerksamkeitsanalysen Husserls sowie seine genetischen Grundeinsichten soll

gezeigt werden, in welchem Maße die genetische Gegenstandskonstitution von

subjektiven Praferenzstrukturen, wie z.B. leiblich-passiven oder kulturellen

Interessenshorizonten, abhangt. Dabei wird argumentiert, dass die Bildung von

affektiven Einheiten sich nicht allein durch die genetischen Prinzipien der

Homogenitat und des Kontrastes erklaren lasst, sondern sich jede Affektion

interessegeleitet vollzieht. Homogenitat und Kontrast konnen sich demnach nur

innerhalb eines subjektiven Interessens- und Handlungszusammenhanges herstellen.

Das Interesse beeinflusst damit nicht nur jede gegenstandliche Wahrnehmung,

sondern bestimmt, was uns zum gegebenen Zeitpunkt uberhaupt affizieren bzw.

,wecken‘ kann. Innerhalb der lebensweltlichen Interessenshorizonte, die unsere

Affektionsbereitschaft modellieren, ist dadurch eine strikte Unterscheidung

zwischen individuellen, intersubjektiven oder kulturellen Einflussen kaum moglich.

Die starke Normativitatsthese besagt in der Folge, dass geltende gesellschaftliche

Normen bereits auf der untersten Stufe der Erfahrung bestimmen konnen, was wir

sehen und was nicht. In Anbetracht dieser Sachlage werden in einem abschließenden

Ausblick die ethischen Implikationen und Moglichkeiten reflektiert. Es wird fur eine

zusatzliche thematische epoche pladiert, die es ermoglicht, unsere habituellen

Aufmerksamkeitsmuster in den Blick zu bekommen (Punkt 6).

4 Der Gedanke der wertenden bzw. antizipierenden Struktur der Erfahrung ist nicht neu, er wird unter

anderem von Lohmar (2008, S. 47) vertreten, der mit A. Schutz von einer ,,neigungsregierten

Relevanzstruktur der Lebenswelt‘‘ spricht, sowie von C. Lotz (2007, S. 58f.), der die gelebte Erfahrung

des Wertens als implizite Struktur jedes Bewusstseins ansieht. Auch Depraz verbindet zusammen mit

dem Neurowissenschaftler Varela unter dem Aspekt der Valenz/Wertigkeit phanomenologische und

neurobiologische Erklarungsebenen. So sind die untersten Stufen der Erfahrung durch ein Zusammenspiel

von situationsbedingter Affektion und Bewegung konstituiert (Varela and Depraz 2005). Klaassen

definiert dieses Konzept der situierten Normativitat wie folgt: ,,[V]alence can be understood to be a

precursor to directed discontent and the first moment of an event-related-instinctive normative act‘‘

(Klaassen et al. 2009, S. 2).

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2 Husserls Konzept der Normalitat

2.1 Allgemeine passiv-genetische Grundlagen

Husserls Begriff der Normalitat eignet sich wie kein anderer zur Beantwortung der

Frage, welche konstitutive Rolle die Normalitat sowohl fur die koharente

Wahrnehmung des Einzelnen als auch fur die Erfahrung einer gemeinsamen Welt

spielt. Die Einstimmigkeit der subjektiven wie intersubjektiven Wahrnehmung stellt

damit als Kriterium der Normalitat nicht nur eine besondere Kontinuitat dar,

sondern ist insofern die Voraussetzung fur Erfahrung uberhaupt, als ohne sie kein

einheitlicher Gegenstandsbezug moglich ware. Ein weiterer Aspekt der Normalitat

besteht nach Husserl in dem Bezug jeder Wahrnehmung auf ein Optimum. Im

lebensweltlichen Alltag nimmt dies die Gestalt eines relativen Optimums an, das

sich je nach Situation und Interesse des Wahrnehmenden qualitativ bestimmt.5

Husserl spricht in diesem Zusammenhang etwa von einem Berufsinteresse oder

einem Lebensinteresse.6 So stellt sich z.B. die optimale Gegebenheit eines Hauses

fur den Spazierganger, den Kaufer oder den Architekten jeweils anders dar.7

Zugleich sind Husserls Beschreibungen der Erfahrung implizit auf ein ideales

Optimum im Sinne einer adaquaten Gegebenheit ausgerichtet. Dies verdeutlicht,

inwiefern sich die Bedeutung der Normalitat aus dem Konzept der Evidenz ergibt.

Beide Aspekte der Normalitat, Einstimmigkeit und Klarheit der Erfahrung, sind als

Momente der Evidenz zu denken, die insbesondere in ihrer intersubjektiven

Bedeutung die Objektivitat der Welt verburgen. Die gesamte phanomenologische

Beschreibung der Wahrnehmung orientiert sich in dieser Hinsicht am normativen

Ideal der Erkenntnis in Form einer moglichst klaren, deutlichen und differenzierten

Wahrnehmung. Diese letzte Evidenz gilt zwar lediglich als regulative Idee, fungiert

bei Husserl aber implizit als Motivation im Prozess der Wahrnehmung. Husserl

selbst gibt in einer fruhen Vorlesung zu, dass solche Ideale zumindest fur die

Beschreibung unerlasslich sind.

Es sind Ideale, die das Denken in Beziehung auf die Wahrnehmungsphano-

mene konstruiert, die aber nicht durch bloße Wahrnehmung aufzuklaren sind.

5 In der Einteilung von Husserls Normalitatskonzept gemaß der beiden Kriterien Einstimmigkeit bzw.

Unstimmigkeit und Optimalitat orientiere ich mich an Steinbock (1995). Nach Steinbock ermoglicht uns

dieses zweite Kriterium, die Entstehung von Normen innerhalb der Erfahrung zu verstehen: ,,The optimal

enables us to understand how through experience norms are instituted and can take on a normative sense‘‘

(ebd., S. 2).6 Siehe Hua XV, 1973, S. 394, 397, 408, 414f. und Hua XXXIX, 2008, S. 365, 368, 378, 592–596,

596–601. Im dritten Teil der Intersubjektivitatsvorlesungen wird Interesse insbesondere im Zusammen-

hang mit Aspekten der individuellen und intersubjektiven Erfahrungstypik behandelt, wahrend in den

Texten im Lebensweltband der Zusammenhang von Interesse und Horizont bzw. Weltkonstitution im

Zentrum steht. Interesse wird hier als praktisches leibliches Interesse verstanden, das uber die Richtung

entscheidet, in welcher der jeweilige praktische Horizont realisiert wird. Daruber hinaus wird die Welt als

offener Universalhorizont angesehen, der sich als Interessenwelt bestimmt: ,,Die Welt, die jeweils fur

mich da ist […], ist fur mich da als Interessenwelt, und die Weise ihres Fur-mich-Seins ist jeweils Weise,

wie sie mich interessiert.‘‘ (Hua XXXIX, 2008, S. 597)7 Ein ahnliches Beispiel, indem die Relativitat der optimalen Gegebenheit eines Objektes in Bezug auf

das jeweilige Interesse des Wahrnehmenden illustriert wird, findet sich in Hua XI, 1966, S. 23–24.

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Innerhalb der Phanomenologie der Wahrnehmung sind sie kaum entbehrlich,

will man die Vorkommnisse dieses Gebiets rational ordnen und beschreiben.

Aber die Ehrlichkeit erfordert es, dass wir nachtraglich betonen, dass die

Gruppierung nach Idealen des phanomenologisch Gegebenen nicht die Ideale

selbst in Anspruch nehmen kann. (Hua XXXVIII, 2004, S. 58).

In der genetischen Phanomenologie tritt an die Stelle der Evidenz mehr und mehr

das instinktive Streben. Der Trieb wird als Motivation der Erfahrung thematisiert,8

wobei dieser in Husserls Beschreibungen nicht als Gegenbegriff zur Vernunft

erscheint, sondern als ihr ursprunglichster Ausdruck.

Demzufolge konnte man Husserl vorwerfen, dass die Bedeutung der Normalitat

an die Annahme der Vernunft des Menschen gekoppelt ist, die sowohl Grundlage

als auch Ziel jeder Erfahrung kennzeichnet. Dieses ,rationale‘ Motiv zeigt sich

sowohl in der Beschreibung der Intentionalitat im Sinne einer Spannung zwischen

Intention und Erfullung9 als auch in deren Evidenzkriterium, der Bewahrbarkeit

jeder Erfahrung. Das Bewusstsein selbst in seiner formalen, zeitlichen Ordnung

fungiert dabei als transzendentale Norm, die eine einstimmige, klare und deutliche

Erfahrung der Welt erst ermoglicht. Husserl versteht darunter die universale

Synthese des Zeitbewusstseins, das alles Urimpressionale retentional erhalt und fur

das Ich eine feste Gegenwart und Vergangenheit konstituiert. Das Wesen des

Bewusstseins gibt demnach eine Ordnungsregel fur die Erfahrung vor und ist ,,ganz

ohne Organisation uberhaupt nicht denkbar‘‘ (Hua XI, 1966, S. 216). Fur das bereits

Erfahrene liegt die ,,Norm in mir fest beschlossen‘‘ (ebd., S. 211), wahrend die

Zukunft in ihrer Bewahrung zwar gewissen Einstimmigkeitsnormen unterliegt, sich

aber daruber hinaus durch inhaltliche Offenheit auszeichnet.

2.2 Leiblichkeit

Eine weitere konstitutive Stufe der Normalitat stellt die kinasthetische und sinnliche

Ausstattung des Subjekts dar, welche die konkrete Bewahrung innerhalb der

Wahrnehmung ermoglicht. Die formale Organisation und Regelhaftigkeit unseres

Bewusstseins sowie seine kinasthetischen Moglichkeiten sind damit fur Husserl

transzendentale Voraussetzung fur jede kontinuierliche Erfahrung10 und stellen somit

die Norm fur jede weitere Unterscheidung in normale oder anomale Erfahrungen dar.

Die allen Menschen gemeinsame Leiblichkeit fungiert außerdem als Bindeglied

8 Zur Triebintentionalitat als Motivationsgrundlage der Wahrnehmung siehe die Darstellung von

Pugliese (2009).9 Diese Formulierung stellt eine Vereinfachung der Sachlage dar, die in Hua XXXVIII benutzt wird.

Demgegenuber musste zwischen Intuition und Signifikation unterschieden werden, die beide den Akt der

Intention kennzeichnen. Es gibt erfullte und unerfullte Signifikationen, d.h. Aktanteile. Die Erfullung

eines ganzen Aktes stellt dabei nur einen Idealfall dar. Eine Intention ist demnach allein durch eine

partielle Deckung von Intuitionen und Signifikationen zu charakterisieren.10 Wie Husserl betont, steht jede Erfahrung und Dingwahrnehmung notwendig in Beziehung zum

erfahrenden Leib (vgl. Hua IV, 1952, S. 69–75). Die moglichen kinasthetischen Ablaufe werden zur

transzendentalen Organisation des Bewusstseins gezahlt (vgl. Hua XI, 1966, S. 214–215), und die

leibliche Beschaffenheit spielt eine zentrale Rolle fur Husserls Konzept der Normalitat; sie ermoglicht die

intersubjektive Erfahrung einer gemeinsamen Welt (vgl. Hua XXXIX, 2008, S. 638, 648f, 662, 651).

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zwischen ,,einzelsubjektiven‘‘ und ,,intersubjektiven Erscheinungssystemen‘‘, die aus

diesem Grund in einem ,,gesetzmaßige[n] Zusammenhang‘‘ (Hua XXXIX, 2008,

S. 651) stehen.

Hieraus wird verstandlich, warum bei Husserl das Anomale nur als Modifikation

des Normalen angesehen werden kann: Es bezeichnet immer eine Kontrasterfahrung

innerhalb der Einstimmigkeit, die eine Unterscheidung in Normal und Anomal erst

ermoglicht. Normalitat im Sinne der Einstimmigkeit ist ein notwendiges Kriterium

der Erfahrung, wahrend das Anomale lediglich eine Abweichung auf der Grundlage

des Normalen darstellt. Eine vollstandig unstimmige Erfahrung ist fur Husserl nicht

denkbar. Die Modifikation des Normalen kann sich auf den Inhalt der Erfahrung

beziehen, indem innerhalb eines Wahrnehmungsverlaufes eine Unstimmigkeit

auftritt. Eine andere Moglichkeit der Modifikation zeigt sich in der Veranderung der

Wahrnehmungsumstande, d.h. der leiblichen Organe oder der Sichtverhaltnisse. Bei

alledem steht die leibliche Anomalitat, z.B. der ,,verbrannte Finger‘‘ (vgl. Hua

XXXIX, 2008, S. 640; Hua XI, 1966, S. 215), immer im Kontext einer vormals

normalen Leiblichkeit. Im Vergleich zu fruheren Tastwahrnehmungen werden

diejenigen mit dem verbrannten Finger als anomal empfunden. Dementsprechend

werden auch bleibende anomale Erfahrungen, wie die eines Blinden oder eines

Verruckten, ebenso wie die Erfahrung von Tieren und Kindern als Grenzfall

thematisiert, zu der man nur im Ausgang von der eigenen normalen Erfahrung

einfuhlenden Zugang hat.

2.3 Intersubjektivitat

Die Problematik dieses Ansatzes wird auf der Ebene der intersubjektivenEinstimmigkeit deutlich. Hier soll jede individuelle Erfahrung auch intersubjektiven

Normalitatsanspruchen genugen. Um fur die sinnlich-kinasthetischen

Einzelbewahrungen auch intersubjektive Gultigkeit beanspruchen zu konnen, muss

Husserl von einer Gleichheit der Ausgangsbedingungen, d.h. einer Normalitat der

Leiblichkeit, ausgehen. Ein blinder Mensch kann sehr wohl eine individuell

einstimmige Erfahrung haben, wenn diese nach Husserl auch keine intersubjektive

Gultigkeit hat. Husserl gebraucht zusatzlich zum Kriterium der Einstimmigkeit das

der wechselseitigen intersubjektiven Bewahrbarkeit, um seinem Normalitatskonzept

objektive Bedeutung zu verleihen. Die Erfahrung des Blinden weicht in diesem

Sinne in ,,bleibender Weise von der bewahrten oder wahren Erfahrungswelt der

Anderen‘‘ (Hua XXXIX, 2008, S. 657) ab. Gleichzeitig kommt hier aber auch ein

qualitatives Argument zum Tragen, wenn Husserl anmerkt, dass der Blinde sich der

intersubjektiven Erkenntnis in gewisser Weise ,unterzuordnen‘ hat, da ,,die bessere

Wahrheit, das bessere Recht auf Seiten der normalen Menschengemeinschaft steht‘‘

(ebd.).

Normalitat kann aber keineswegs rein als intersubjektive Einstimmigkeit

bestimmt werden, sondern folgt dem Maßstab einer optimalen Wahrnehmung der

Welt und liegt damit in der Struktur der Erfahrung selbst begrundet. Selbst wenn

alle Menschen blind waren, galte dies nach Husserl nicht als normal, sondern als

,,Ungluck eines allgemeinen Anomalseins‘‘ (ebd., S. 658). Die intersubjektive

Einstimmigkeit muss sich demnach ebenso in formaler Weise auf ein Optimum

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beziehen. Dieses manifestiert sich im normativen Ideal der objektiv richtigen

Wahrnehmung und Erkenntnis. Husserl sagt dies ganz deutlich: ,,Der Blinde

sieht schlechter, weniger, unterschiedsloser, verschwommener usw. als der

Normalsichtige und beide wissen davon‘‘ (ebd., S. 658). Mit Husserl lasst sich in

der Konsequenz zwar zum einen der Begriff der Normalitat in der Erfahrung

fundieren, zum andern scheint es, als ob auch er sich an einer Norm orientiert, die

nicht allein durch die Erfahrungsanalyse gewonnen werden kann.

In der intersubjektiven Normalitat gibt es außerdem ein gemeinschaftliches

Optimum, das sich durch Wechselverstandigung und den Einfluss der Tradition

ergibt. Die Erfahrung kann hierbei durch technische Hilfsmittel erweitert werden,

wie z.B. durch ein Fernrohr oder ein Mikroskop. Auch an dieser Stelle gilt die

Verbesserung und Erweiterung der Wahrnehmung als Normalitat. Es finden sich

nach Husserl demnach verschiedene Stufen der Erfahrungsvollkommenheit des

Einzelnen innerhalb der intersubjektiven Gemeinschaft, die sich entsprechend in

,,Fortgeschrittene‘‘ und ,,Zuruckgebliebene‘‘ (ebd., S. 660) unterteilt.11 Relativ zu

der normalen Entwicklungsstufe existiert fur den konkreten Menschen ein

intersubjektives bzw. kulturelles Optimum, das den Maßstab fur alle individuellen

Meinungen darstellt und so fur das intersubjektive Zusammenleben die

,,bestmogliche Praxis ermoglicht‘‘ (ebd., S. 661).

Normalitat ist bei Husserl schließlich wie folgt definiert: 1) die transzendentale

Voraussetzung der Erfahrung in Form einer regelhaften Organisation des

Bewusstseins, 2) ein Prozess der Einstimmigkeit und Bewahrung in der Erfahrung

und 3) das Ziel dieses Prozesses in Form eines regulativen Erkenntnisideals.

In Bezug auf die drei unterteilten Stufen der Passivitat, Leiblichkeit und

Intersubjektivitat stellt sich dies folgendermaßen dar:

Zunachst bezieht sich Normalitat auf die Ebene der transzendentalen Voraus-

setzung jeder Erfahrung (s. Punkt 1). Zu den formal-allgemeinen Gesetzmaßigkei-

ten der Erfahrung gehort aber neben den passiven Grundprinzipien (Passivitat) auch

ihr kinasthetischer Charakter (Leiblichkeit). Normalitat bezeichnet weiterhin die

konkret erfahrene Einstimmigkeit (s. Punkt 2), die sich individuell (Leiblichkeit)oder intersubjektiv (Intersubjektivitat) vollziehen kann. Daruber hinaus ist die

Normalitat durch ihre teleologische Ausrichtung charakterisiert (s. Punkt 3). Das

,Ziel‘ der Normalitat zeigt sich in der individuell-leiblichen Erfahrung jeweils als

relatives Optimum (Leiblichkeit), in der intersubjektiven als kulturelles Optimum

(Intersubjektivitat) und uberdies als allgemeines Optimum (Passivitat), das in der

teleologischen Ausrichtung der Erfahrung selbst begrundet liegt.

Normalitat ist folglich einerseits definiert als Tatsache und Faktum in Form des

bereits Erlebten, andererseits als Maßstab, der das Ziel und den Ausgang im Prozess

der Bewahrung darstellt.

11 Die in diesem Sinne zuruckgebliebenen Menschen innerhalb einer Gemeinschaft sind aus irgendeinem

Grunde nicht in der Lage den technischen Fortschritt anzuwenden und fallen daher hinter die aus dieser

Entwicklung hervorgegangene neue Wahrnehmungsnorm zuruck: ,,Die Menschen scheiden sich in

Zuruckgebliebene (unvollkommen Erfahrende) und Fortgeschrittene; und die Fortgeschrittenen repra-

sentieren nun die Norm, sie sind Subjekte der relativ besser bestimmten, aber selben Welt.‘‘ (Hua

XXXIX, 2008, S. 660).

Husserl Stud (2010) 26:167–187 175

123

Da Wahrnehmung im Sinne Husserls ohne Einstimmigkeit und Ausrichtung auf

ein jeweiliges Optimum undenkbar ist, erscheint Normalitat als wichtigste

Grundvoraussetzung jeder Erfahrung. Wie gezeigt werden soll, sind Ein-

stimmigkeitsverlaufe jedoch schon auf der untersten Stufe der Erfahrung durch

normative Faktoren der Aufmerksamkeit, d.h. Interesse und Affektion, motiviert.

Eine koharente Erfahrung bedarf nicht nur der formalen Einstimmigkeit, sondern

setzt bereits eine subjektive Strukturierung des Vorgegebenen voraus, z.B. eine

Differenzierung dessen, was gerade Thema und was Horizont der Wahrnehmung ist.

Die Erfahrung von zeitlicher und inhaltlicher Einstimmigkeit des Gegebenen lasst

sich nur verstandlich machen, wenn sie innerhalb eines subjektiven Erlebniszusam-

menhanges steht. Das subjektive Erleben zeichnet sich aber gerade dadurch aus, dass

es zu jedem Zeitpunkt nur bestimmte Teile des momentanen Erfahrungsfeldes zum

Thema hat, wahrend andere noch nicht, nicht mehr oder nur nebenbei bewusst sind.

Die Wichtigkeit der subjektiven Beziehung auf das Gegebene wird von Husserl

erstmals in der Unterscheidung in Noesis und Noema aufgegriffen. Nach dieser

Unterscheidung in subjektive und gegenstandliche Momente erscheint der Aus-

gangspunkt der Intentionalitat nicht mehr nur als formaler Ich-Pol, sondern in Form

eines mehr und mehr genetisch und inhaltlich bestimmten Erfahrungssubjektes.

Zugleich treten infolgedessen der Gegenstand der Intentionalitat und seine

Gegebenheit in das Zentrum der Untersuchung. Mit Husserls Entdeckung der

verschiedenen subjektiven Bezugsweisen auf das Gegebene gehen insofern

notwendigerweise eine graduelle Abstufung der Bewusstseinsweisen in Vorder-

grund- und Hintergrundbewusstsein sowie eine Unterscheidung in passive und aktive

Arten der Zuwendung einher. Aus diesen Tendenzen entwickelte sich spater in

der genetischen Phanomenologie der Horizontbegriff, der die perspektivische

Wahrnehmung in ihrem zeitlichen Verlauf und ihrer raumlichen Organisation

beschreibt und damit die wesensmaßige Unabgeschlossenheit jeder

(Ding-)Wahrnehmung sowie jeder intentionalen Bezogenheit auf ,Etwas‘ aufzeigt.

Einen Horizont kann es aber nur geben, wenn bereits eine subjektive Praferenz,

eine Bevorzugung stattgefunden hat, die das Wahrnehmungsfeld in Gegenstand und

Horizont unterteilt. Um eine koharente und damit individuell einstimmige Wahr-

nehmung zu ermoglichen, muss ein qualitativer Bezug des Erfahrungssubjektes zur

Umwelt bestehen bzw. hergestellt werden, der diese zu seiner Lebenswelt macht.

Dieser gelebte subjektive Bezug zeigt sich bei Husserl schon vor der oben erwahnten

Unterscheidung in Noesis und Noema, wenn er in den Vorlesungen von 1904/1905

das Phanomen der Aufmerksamkeit in Form von Meinung und Interesse thematisiert.

3 Husserls fruhe Uberlegungen zur Aufmerksamkeit: Meinung und Interesse12

In den Vorlesungen zu Wahrnehmung und Aufmerksamkeit differenziert Husserl

zwischen verschiedenen Stufen der Wahrnehmung. Zunachst muss eine

12 Die folgenden Ausfuhrungen beziehen sich ausschließlich auf Husserls Darstellungen zur

Aufmerksamkeit, die im Band XXXIX der Husserliana veroffentlicht sind. Weitere fruhe Stellen zum

Thema finden sich z.B. in Hua XIX/1, 1984, S. 142–170, Hua III/1, 1976, § 35, und Hua XXVI, 1987,

S. 18–22. In diesen Texten findet keine systematische Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von

176 Husserl Stud (2010) 26:167–187

123

grundlegende Ebene der vorgegenstandlichen Empfindung angenommen werden,

die das Material fur eine gegenstandliche Auffassung vorgibt. Diese dient aber nur

als Grenzbegriff, da das Empfundene stets nur als Aufgefasstes zuganglich wird.

Die Auffassung fungiert damit als erste Stufe der Intentionalitat (vgl. Hua XXXVIII,

2004, S. 12). Eine zweite Stufe stellt eine spezielle Form der Intentionalitat dar, die

Husserl als Meinung bezeichnet. Sie hebt innerhalb eines gegenstandlichen

Zusammenhanges etwas besonders hervor und macht es thematisch (vgl. ebd., S.

73). Dies kann eine bestimmte Seite eines Gegenstandes sein oder auch mehrere

Gegenstande, die durch die Meinung eine kollektive Bedeutung erlangen, d.h.

zusammen gemeint werden (vgl. ebd., S. 75). Die Meinung hat damit eine

bevorzugende, abgrenzende, gestaltende und zugleich objektivierende Funktion.

Husserl beschreibt sie als einen ,,merkwurdigen bevorzugenden und gestaltenden

Faktor‘‘ (ebd., S. 75) der Wahrnehmung; der Akt der Meinung sorgt demzufolge fur

eine Unterscheidung in das aktuelle Bemerkte und den unbemerkten Hintergrund.

Die gesamte, zu einer gegebenen Zeit auffassbare Gegenstandlichkeit ist dabei das

momentane Blickfeld, aus dem die Meinung etwas herausgreift (vgl. ebd., S. 90f.).

Als Ziel der Meinung wird von Husserl die klare und deutliche Gegebenheit des

Gegenstandes angegeben, die durch eine explizierende nahere Betrachtung in einem

Prozess von Intention und Erfullung gewahrleistet werden soll.

Jedoch stellt die heraushebende Funktion der Meinung nur die formale bzw.

strukturelle Voraussetzung der Aufmerksamkeit dar - hinzu kommen muss der

Gefuhlsaspekt des Interesses. Wenn Aufmerksamkeit nach Husserl ,,etwas Aus-

zeichnendes in Beziehung auf einen wahrgenommenen Gegenstand‘‘ ist, dessen

Funktion darin besteht, ,,unter der jeweiligen Mannigfaltigkeit prasenter Objekte

gewissen einen Vorzug zu erteilen‘‘, wodurch diese von ,,wahrnehmbaren zu fur

sich wahrgenommenen Objekten werden‘‘ (ebd., S. 86), dann bedarf es eines

Interesses, das diese subjektive Beziehung motiviert und stabilisiert.

Hiermit ist nicht das theoretische Interesse gemeint, sondern ein fundamentaler

Aspekt der Wahrnehmung selbst, auch wenn Husserl sich an dieser Stelle noch

erkenntnistheoretischer Metaphern zur Erlauterung des Phanomens bedient.13 Das

Footnote 12 continued

Wahrnehmung und Aufmerksamkeit statt. In Hua XXVI verwendet Husserl zwar den Begriff des

Interesses und beschreibt seinen Bezug zur Intentionalitat, eine Unterscheidung zwischen bloßer

Intentionalitat (Auffassung) und einer speziellen Intentionalitat (Meinung) findet sich dort aber nicht.

Interesse wird als ein Aspekt des Gefuhls angesehen, der sich im Unterschied zur neutralen Intentionalitat

durch ein Leben in den Dingen auszeichnet. Zur Thematik der Aufmerksamkeit in diesen fruhen Texten,

siehe Begout (2007). Er unterscheidet zwei Faktoren der Aufmerksamkeit, die bei Husserl eine Rolle spielen:

den strukturellen (Intentionalitat) und den thematischen Aspekt (Interesse). Diese Charakterisierung trifft

ebenso auf die Beschreibungen in Hua XXXIX zu, die Begout in seinem Artikel leider nicht berucksichtigt

hat. Dies fuhrt zu einer Unvollstandigkeit seiner ansonsten sehr zutreffenden Uberlegungen. Unabhangig

davon teilt die Autorin dieses Artikels die Annahme, dass die Dynamik des thematischen Aspekts in der

genetischen Phanomenologie zunehmend ins Zentrum ruckt und die formale Bestimmtheit der

Aufmerksamkeit als Intentionalitat an Bedeutung verliert (vgl. Begout 2007, S. 28).13 Die Vorlesungen zu Wahrnehmung und Aufmerksamkeit konnen als erste explizite Auseinandersetzung

Husserls mit dem Phanomen der Wahrnehmung ,,unter Absehung von bedeutungstheoretischen oder

logischen Fragestellungen‘‘ (Hua XXXVIII, Einleitung T. Vongehr, xxiii) gelten. Der Begriff Interesse wird

infolgedessen auch nicht in einem theoretischen Sinne gebraucht, wie Husserl in Abgrenzung zum Begriff

des theoretischen Interesses von C. Stumpf ausdrucklich betont (vgl. ebd., S. 103). Trotzdem zeigt sich in

Husserl Stud (2010) 26:167–187 177

123

Interesse ist zwar in der Wahrnehmung fundiert und selbst ein meinendes Erlebnis,

gleichzeitig aber treibt es den Wahrnehmungsverlauf voran, indem es ,,Schritt fur

Schritt‘‘ (ebd., S. 108) zu neuen Wahrnehmungen fuhrt. Meinung und Interesse

treten nach Husserl ,,Hand in Hand‘‘ (ebd., S. 119) auf und sind beide konstitutiv fur

das Phanomen der Aufmerksamkeit. Das Interesse wird in diesem Kontext

allerdings von der Funktion der Meinung unterschieden, da seine eigentlichen

,,Motoren und Quellen‘‘ (ebd., S. 108) die Gefuhle sind. Intentionalitat aus der Sicht

des Interesses orientiert sich nicht am Maßstab der jeweiligen Erfullung, sondern am

Grad der gefuhlsmaßigen Intensitat. Durch seine direkte Relation zu den Gefuhlen

erzeugt das Interesse im Rhythmus von Spannung und Losung nach Husserl einen

regelrechten ,Lustaspekt‘. Im Gegensatz zur Meinung wird es durch das Neue

angezogen, ein Umstand, der dazu fuhren mag, dass das Interesse nach einer

,,allseitigen und erschopfenden Betrachtung‘‘ (ebd., S. 108) abnehmen kann: ,,Sind

die Wahrnehmungszusammenhange ofters durchlaufen und uns jede Einzelheit

vertraut geworden, so ,verliert die Sache an Interesse‘, sie wird langweilig.‘‘ (ebd.)

Statt einer adaquaten Wahrnehmung, die als ideales Ziel der Aufmerksamkeit

angenommen wird, kann es demnach durch das Interesse zu einem ,,Wettstreit um

das Bemerken‘‘ (ebd.) kommen. Das Interesse ist zwar eine das Bemerken fordernde

Kraft, die zum normativen Ziel einer besseren Wahrnehmung beitragt, zugleich aber

kann es dieser Ausrichtung zuwider laufen, wenn das allzu Bekannte die Intensitat

mindert und sich so neuen Eindrucken hingibt. Wahrnehmung ganzlich ohne

Interesse ware dagegen nicht denkbar, weil es ,,niemals an Motiven der Bevorzu-

gung fehlen kann‘‘ (ebd.).

Durch das Interesse entsteht in der Wahrnehmung nicht nur eine gegenstandliche,

sondern auch eine subjektiv gelebte Einheit. Sie konstituiert fur uns aus einem

gegenstandlichen Zusammenhang, wie Husserl spater sagen wird, eine Lebenswelt.Obwohl in den Vorlesungen von 1904/1905 Aufmerksamkeit nur als Erlebnis

thematisiert wird und dessen habituelle Motivationsgrundlage außen vor bleibt, wird

dennoch die Notwendigkeit einer genetischen Erganzung deutlich. Warum wir gerade

dies und nicht jenes bemerken, kann nur durch unsere situative Handlungsintention,

unsere vergangenen Erfahrungen, kinasthetischen Fahigkeiten, Gewohnheiten,

Habitualitaten und daraus folgenden Antizipationen geklart werden.

4 Die genetische Bedeutung des Interesses

Husserl selbst nimmt das Thema der Aufmerksamkeit in der Spatphase seines

Werkes nicht mehr explizit auf. Dennoch taucht ein durch die genetische

Phanomenologie gepragter Begriff des Interesses in dem von L. Landgrebe

herausgegebenen Werk Erfahrung und Urteil auf. Im Zentrum steht hierbei die

Frage nach der genetischen Verbindung von Affektion und Aufmerksamkeit.

Footnote 13 continued

den folgenden Beschreibungen des Interesses und den in diesem Zusammenhang benutzten Beispielen

teilweise Husserls eigenes erkenntnistheoretisches Interesse. So soll das Interesse vor allem das

Bemerken fordern und das richtige Erkennen der Dinge vorantreiben (vgl. z.B. Hua XXXVIII, 2004,

S. 110, 118).

178 Husserl Stud (2010) 26:167–187

123

Aufmerksamkeit wird in diesem Zusammenhang als eine ,,Ichtendenz‘‘ bzw. ein

,,Tendieren des Ich auf den intentionalen Gegenstand hin‘‘ definiert, das zur

Wesensstruktur jedes ,,Ichaktes‘‘ gehort (EU, 1954, S. 85). Das Ausmaß dieser

Tendenz zur Hingabe und Erfassung des Gegebenen hangt von der Starke der

jeweiligen Affektion ab. Eine strikte Unterscheidung zwischen bloßer Affektion und

expliziter Aufmerksamkeit scheint jedoch nur schwer moglich. Zwar wird der

Affektion in genetischer Hinsicht insofern ein Vorrang eingeraumt, als zunachst das

Gegebene einen ,,Zug‘‘ auf das Ich ausuben muss. Jedoch steht diesem zeitgleich die

Tendenz des Ich zur ,,Hingabe‘‘ gegenuber (ebd., S. 82). Der Ubergang von der

passiven Affektion uber das tatsachliche Affiziertsein des Ich bis hin zu seiner

aktiven Zuwendung kann demzufolge allenfalls graduell bestimmt werden.

Zugleich vollzieht sich die Unterteilung in das momentane Vordergrunderlebnis,

dem die aktuelle Zuwendung des Ich gilt, sowie in das inaktuelle Hintergrunder-

lebnis, von dem gegebenenfalls ein Reiz auf das Ich ausgehen kann. Die Intensitat

der jeweiligen Zuwendung ist es, die hier den Unterschied macht: einmal ,,lebt‘‘ das

Ich in tatiger Weise ,,in‘‘ dem Erlebnis und ist mit der intentionalen

Gegenstandlichkeit ,,beschaftigt‘‘, wahrend dies beim Hintergrunderlebnis nicht

der Fall ist (ebd., S. 85–86). Aufmerksamkeit beschreibt in seiner genetischen

Bedeutung verschiedene Grade der Ichzuwendung, die zwar einerseits das

Gegebene aktiv strukturieren, aber andererseits von passiven und inaktuellen

Bereichen umgeben und motiviert sind.

Das Interesse nimmt in diesem Kontext die Rolle der konkret ,,erfahrenden

Ichtendenz‘‘ (ebd., S. 86) ein und ist vor allem durch seine praktische Orientierung

gekennzeichnet. Im Gegensatz zu seiner fruheren Bestimmung wird das Interesse

nun nicht mehr als Gefuhlsaspekt verstanden, der zur gegenstandlichen Auffassung

hinzukommt, sondern als wesentlicher Bestandteil der Intentionalitat anerkannt. Als

praktische Ichtendenz bezieht sich das Interesse nicht mehr nur statisch auf einen

bestimmten Gegenstand, sondern tragt zur Gegenstandskonstitution selbst bei,

indem es als kontinuierliches und verwirklichendes Streben die Horizonte des

Gegebenen aufdeckt. Mit der Zuwendung zum Gegenstand ist nach Husserl ,,ein

Interesse am Wahrnehmungsgegenstand als seiendem erwacht‘‘ (ebd., S. 87), das

eine kontinuierliche Gerichtetheit auf diesen gewahrleistet und parallel zu der

Erfahrung der Einstimmigkeit der Wahrnehmungserscheinungen verlauft. Das

Interesse stellt fur Husserl in gleicher Weise wie die Normalitat eine Grundvor-

aussetzung fur jede konkrete Erfahrung dar, da sie den subjektiven Bezug zum

Gegebenen damit motiviert und vorantreibt, dass sie weitere Horizonte ,,weckt‘‘ und

kinasthetisch verwirklicht (vgl., ebd.). In diesem Kontext erscheint sie als

Bestandteil einer erweiterten Intentionalitatskonzeption, die durch die genetischen

Konzepte der Leiblichkeit und des Horizontes erganzt wurde. Der Wirkbereich des

Interesses wird nicht mehr auf eine explizite intentionale Handlung reduziert,

sondern umfasst samtliche Bereiche der Passivitat und Aktivitat.

Husserl nimmt an dieser Stelle eine graduelle Differenzierung verschiedener

Bewusstseinsstufen vor. Als primare Form der Zuwendung gilt das oben dargestellte

kinasthetisch verwirklichende Streben. Dieses passive Interesse kann dann auf einer

hoheren Stufe auch die Form eines ,,Willens zur Erkenntnis‘‘ annehmen (ebd.,

S. 92). Zusatzlich unterscheidet Husserl zwischen einem ,,vorichlichen‘‘ und

Husserl Stud (2010) 26:167–187 179

123

,,ichlichen Tun‘‘ (ebd., S. 90f.) Das Tun vor der Ichzuwendung ist gekennzeichnet

durch eine kinasthetisch-leibliche Zuwendung, die sich durch rein apperzeptive

Verlaufe charakterisieren lasst, z.B. in Form von Augenbewegungen. Eine

Zuwendung ,mit Ich‘ ist dagegen zwar explizit bewusst, muss aber keine vollstandig

willkurliche Handlung darstellen. So bewegt man mitunter unwillkurlich die Augen,

wahrend man einem Gegenstand aufmerksam zugewendet ist (vgl. ebd., S. 91).

Gegenuber einem engen Begriff von Interesse, der sich nur auf das thematische

Interesse beschrankt, welches das Beschaftigtsein mit einer wissenschaftlichen Arbeit

kennzeichnen kann, pladiert Husserl fur einen weiten Begriff von Interesse, weil

Thema und Gegenstand der Ichzuwendung nicht immer zusammenfallen. So kann ein

storender Larm, eine Unstimmigkeit innerhalb der Normalitat in Form einer

Affektion, vorubergehend zum Gegenstand der Ichzuwendung werden, wahrend die

wissenschaftliche Arbeit den Status des ubergreifenden Themas behalt. Ebenso kann

das Gerausch den Interessenverlauf andern und zum eigentlichen Thema werden. Der

Begriff des Interesses gilt zum einen als Akt der Konzentration auf ein bestimmtes

Thema, zum anderen umfasst er in einem weiteren Sinne sowohl das passiv geweckte

Interesse als auch die unwillkurliche Zuwendung des Subjektes. Das Interesse bezieht

sich auf jeden Akt der ,,vorubergehenden oder dauernden Ichzuwendung, des

Dabeiseins (inter-esse) des Ich‘‘ (ebd., S. 93). Hier wird, wie schon in den fruhen

Erlauterungen zur Aufmerksamkeit, deutlich, dass es das Interesse ist, das eine

qualitative Beziehung zwischen Subjekt und Welt herstellt und damit erst eine

Lebenswelt erschafft: die subjektive Zuwendung bewirkt nach Husserl, ,,daß das

Objekt mein Objekt, Objekt meines Betrachtens ist und daß das Betrachten selbst, das

Durchlaufen der Kinasthesen, das motivierte Ablaufenlassen der Erscheinungen mein

Durchlaufen ist‘‘ (ebd., S. 90).

Im Gegensatz zu Husserls fruheren Ausfuhrungen uber das Interesse wird an

dieser Stelle die passive Dimension der Erfahrung mit einbezogen. Dies erlaubt es,

das Interesse in seinem genetischen Zusammenhang mit den passiven Stufen der

Affektion zu thematisieren. Solches Verhaltnis kann, wie oben bereits angedeutet

wurde, nicht nur einseitig, im Sinne eines genetischen Vorrangs der Affektion,

bestimmt werden, sondern muss ebenfalls die Einwirkungen des Interesses

berucksichtigen, dessen inhaltliche Tendenz entscheidet, was sich fur uns uberhaupt

affektiv abheben kann. Die Fundierung der Normativitat in der Erfahrung zeigt sich

sowohl in der praferentiellen Struktur subjektiver Wahrnehmung, die sich als

praktisches Wahrnehmungsstreben manifestiert, als auch in ihrer jeweiligen

inhaltlich-habituellen Ausformung, in der sich unter Einfluss von geltenden

intersubjektiven Normen eine gewisse Aufmerksamkeitstypik generiert.

5 Das Verhaltnis von Interesse und Affektion

Eine wesentliche Erkenntnis der genetischen Phanomenologie besteht darin, dass

jede aktive Konstitution eine ,,vorgebende Passivitat‘‘ (Hua I, 1963, S. 112.)

voraussetzt. Fur das Ich heißt dies, dass ,,bewußtseinsmaßig Konstituiertes‘‘ fur es

nur da ist, ,,sofern es affiziert‘‘ (Hua XI, 1966, S. 162). Der Bereich der Affektion,

der von Husserl fruher nur als Grenzbegriff der Empfindung in Form von

180 Husserl Stud (2010) 26:167–187

123

hyletischen Daten aufgegriffen wurde, tritt nun innerhalb eines dynamisierten

Bewusstseinskonzeptes wieder ins Zentrum. Bei alledem ist es wichtig zu beachten,

dass Affektion, d.h. passive Weckung, in der Erfahrung immer nur im Rahmen einer

bereits bestehenden Ich-Aktivitat vorkommt. Wenn also eine solche Weckung

stattfindet, hat das Ich nicht etwa vorher ,geschlafen‘, sondern war bzw. ist meist

anderweitig thematisch involviert. Die aktuelle Zuwendung zu einem Gegenstand

oder das Ausuben einer Tatigkeit bestimmt also zum einen, was sich gerade im

Hintergrund befindet, d.h. nicht bzw. nicht-mehr oder noch-nicht bemerkt wurde,

und zum andern, ob es das Potential fur eine zukunftige Affektion hat. Hierbei spielt

die aktuelle aufmerksame Beschaftigung und die dadurch erweckten weiteren

Partialinteressen genauso eine Rolle, wie eine geplante ubergreifende Handlung

oder ein generelles habituelles Interessenprofil, wie z.B. das von Husserl genannte

,,Berufsinteresse‘‘.

5.1 Die leibliche Dimension von Interesse und Affektion

Aufgrund unserer leiblich-sinnlichen Beschaffenheit befinden wir uns ferner standig

in einem affektiven Kontakt mit unserer Umwelt. Dieses leibliche ,In-der-Welt-

sein‘ ist keine statische Bestimmung, sondern muss im Sinne von M. Merleau-Ponty

als Engagement innerhalb einer Situation verstanden werden, das sich in einem

aktiven ,,Zur-Welt-sein‘‘14 außert. Was bzw. in welchem Maße uns ,etwas‘ affiziert

und ob es zu einer bleibenden oder nur kurzfristigen Zuwendung kommt, hangt

folglich von der jeweiligen Wahrnehmungssituation und unserem momentanen

Engagement ab. Durch die gegenwartige leibliche Intentionalitat verbinden sich in

einer solchen Wahrnehmungssituation die vorangegangenen Erfahrungen mitsamt

der passiven ,,Vorgeschichte‘‘15 des Leibes sowie die moglichen zukunftigen

Erfahrungen in einem ,,intentionalen Bogen‘‘.16 Das engagierte leibliche Zur-Welt-

sein, das Merleau-Ponty beschreibt, konnte man in diesem Sinne als ein leiblichesInteresse bezeichnen. Die jeweilige Wahrnehmungssituation bzw. mein Interesse ist

dabei nicht nur durch meine individuelle Erfahrungsgeschichte, sondern ebenfalls

durch intersubjektive Traditionen, Normen und Bedeutungen gepragt. Eine

lebensweltliche Situation, in der sich die Affektion als leiblich-sinnlicher Kontakt

mit der Welt abspielt, ist folglich immer als eine implizit oder explizit mit anderen

Subjekten gemeinsame Situation zu charakterisieren.

14 Vgl. Merleau-Ponty (1966, S. 104, 126).15 Merleau-Ponty (1966, S. 80). Hiermit spielt Merleau-Ponty auf die faktische Situierung des leiblichen

Subjekts in der Welt an. Durch diese sind wir in einen ,,vorpersonalen Horizont‘‘ (ebd.; S. 282)

eingebettet, der sowohl individuelle Erwerbe und Gewohnungen, die uns nicht explizit zuganglich sind,

als auch ,,vorbewusste Erfahrungsbereiche‘‘ (ebd., S. 253) umfasst, wie die eigene Geburt. Daruber hinaus

stehen wir durch unsere Geburt in einem geschichtlichen und kulturellen Horizont. Unsere personliche

Existenz erscheint demgemaß als ,,Ubernahme einer Tradition‘‘(ebd., S. 296).16 Vgl. Merleau-Ponty (1966, S. 164).

Husserl Stud (2010) 26:167–187 181

123

5.2 Konkrete Interessen als Voraussetzung fur Affektion

Die ,,affektive Kraft‘‘17, die vom Gegebenen ausgeht, bemisst sich nach Husserl

danach, inwiefern sich etwas einzeln oder als homogene Gruppe von seinem

Untergrunde abhebt. Diese Differenzierung des Wahrnehmungsfeldes nach den

Kriterien von Kontrast und Homogenitat wird von assoziativen Synthesen geleistet.

Die formale Annahme von zeitlichen und assoziativen Synthesen reicht aber nicht

aus, um eine solche Strukturierung verstandlich zu machen. Assoziative, d.h.

inhaltlich motivierte Synthesen verlangen ein tatiges Subjekt mitsamt einer

Erfahrungsgeschichte, Interessen und Handlungszielen. Kontrastphanomene konnen

nur sehr bedingt am Gegebenen selbst festgemacht werden und sind relativ in Bezug

auf vorangegangene Erfahrungen und eine erlernte Wahrnehmungsroutine. Die

Abhebung von affektiven Einheiten, die genetisch den Anfang jeder Gegenstands-

konstitution darstellen, steht zwangslaufig in einem subjektiven Erfahrungs- und

Interessenzusammenhang. Die affektive Kraft des Gegebenen bestimmt sich

vielmehr durch das oben angedeutete Zusammenspiel von intersubjektiven Hori-

zonten, dem individuellen Kontext aus momentanen und vorherigen Wahrnehmun-

gen und der faktischen Grundlage der Affektion. Aus diesem Wechselverhaltnis

bildet sich ein affektives Relief bzw. ein affektives Gewicht, das daruber

entscheidet, was mich ,,wecken‘‘ kann und was nicht.

Welchen Einfluss das gegenwartige subjektive Interesse und Engagement auf den

Bereich der Affektion haben kann, zeigen zwei bekannte Beispiele aus der

kognitionspsychologischen Aufmerksamkeitsforschung. Das erste steht in Zusam-

menhang mit Experimenten zur auditiven Selektion, die nach dem Vorbild der

cocktail-party ausgerichtet waren: In großeren Gesellschaften ist man unter

erhohtem Gerauschpegel in der Lage, sich konzentriert mit einer einzelnen Person

zu unterhalten und Nebengesprache sowie andere auditive Storfaktoren fast

vollstandig auszublenden.18 In Versuchen zeigte sich, dass man keinerlei Angaben

daruber machen kann, was sich außerhalb der Situation abspielt, in der man

17 Vgl. EU, 1954, S. 79. Husserl spricht hier auch von einem affektiven Anspruch, der die passive

Motivationsgrundlage fur die Ichaktivitat bildet (vgl. EU, 1954, S. 366). Dieser ist aber nicht nur dem

Affizierenden zuzusprechen, sondern bezieht sich ebenso auf die habituelle Wahrnehmungstypik des

Subjektes, ohne die ein solcher Anspruch nicht nur nicht gehort werden wurde, sondern die eine solche

affektive Absonderung mit generiert. Der affektive Anspruch ist nicht vor jeder subjektiven Erfahrung-

stypik angesiedelt, sondern kann sich in der alltaglichen Erfahrung nur wechselseitig zwischen

erfahrendem Subjekt und affizierender Welt in einer gemeinsamen Erfahrungssituation ausbilden. Ein in

genetischer Hinsicht erster affektiver Anspruch, z.B. eines Neugeborenen, wurde mit der angeborenen

sinnlichen und leiblichen Beschaffenheit des Menschen korrelieren, die uns zunachst weitgehend

undifferenziert fur alle außeren Reize empfanglich macht.18 Bei diesen dichotic-listening Experimenten wurden den Probanden auf jedem Ohr verschiedene

Botschaften uber einen Kopfhorer vorgespielt. Diese sollten aber nur auf eine der Botschaften, z.B.

diejenige die auf dem rechten Kopfhorer abgespielt wurde, achten, wahrend die andere ignoriert werden

sollte. Die beteiligte ,Aufmerksamkeit‘ wurde dann entweder in Form einer simultanen korrekten

Wiedergabe der gehorten Botschaft und/oder anhand der nachtraglichen Befragung zu ihrem Inhalt

bewertet. Ein uberraschendes Ergebnis dieser Experimente war, dass die Probanden uber die zu

ignorierende Botschaft anschließend keine inhaltlichen Angaben machen konnten. Lediglich wenn das

Geschlecht der Sprecher oder die Lautstarke sich in der nicht aufgemerkten Botschaft veranderte, wurde

dies bemerkt. Vgl. Cherry (1953, S. 975–979), Broadbent (1952, S. 51–55, 1958) und Styles (2006,

S. 16f).

182 Husserl Stud (2010) 26:167–187

123

gegenwartig aufmerksam involviert ist. Ein affektiver Reiz aus diesem

Hintergrundbereich findet nur Gehor, wenn dieser fur das Subjekt eine personliche

Relevanz hat. Dieser so sogenannte cocktail-party effect bezeichnet den Umstand,

dass man, obwohl inmitten einer lauten Gesprachskulisse in ein Gesprach vertieft,

ganz plotzlich aufmerksam wird, sobald jemand nebenan den eigenen Namen

ausspricht.19 Der eigene Name hebt sich dementsprechend vom vorher homogenen

Feld der Nebengerausche ab, seine affektive Kraft ergibt sich aufgrund seiner

Relevanz fur das Erfahrungssubjekt.

Das zweite Beispiel stellt die sogenannte inattentional blindness dar. Unter

diesem Phanomen versteht man Situationen, in denen Personen, deren Aufmerk-

samkeit bereits durch eine auszufuhrende Aufgabe in Anspruch genommen ist,

etwas nicht bemerken, das sich innerhalb ihres visuellen Blickfeldes befindet. Dies

lasst sich mithilfe eines bekannten Experimentes von D. Simons & C. Chabris

erlautern. Im Verlauf eines Videos, in dem zwei Mannschaften sich einen

Basketball zuspielen, bemerken 50% der Teilnehmer nicht, dass wahrenddessen

eine als Gorilla verkleidete Person durchs Bild lauft und sich in der Mitte des Bildes

auf die Brust klopft. Dies lasst sich dadurch erklaren, dass sie zur selben Zeit die

Anzahl der Passe zahlen mussen, die zwischen den Spielern geworfen werden.

Wenn die Teilnehmer nach dem Experiment auf ihre Unaufmerksamkeit hinge-

wiesen werden, sind sie oft sehr uberrascht, da sie davon ausgingen, alles im ,Blick‘

gehabt zu haben; aus diesem Kontext erklart sich die Bezeichnung des Phanomens

als Unaufmerksamkeitsblindheit.20 Testobjekte, wie der Gorilla, eine Frau mit rotem

Regenschirm oder prasentierte Figuren auf einem visuellen Bildschirm, die sich

durch einen relativ hohen Kontrast in Bezug auf das jeweilige visuelle Umfeld

auszeichnen, uben hier keinen affektiven Zug auf das Subjekt aus, wenn sie nicht fur

seine gegenwartig ausgeubte Tatigkeit von Bedeutung sind. Das aktuell engagierte

Interesse macht scheinbar nicht nur blind fur Ereignisse und Dinge, die sich

raumlich im Hintergrund befinden, sondern auch fur das, was unmittelbar vor

unseren Augen stattfindet.

5.3 Intersubjektive Dimension von Interesse und Affektion

Die Affektion ist Teil eines komplexen Zusammenspiels von Wahrnehmungs- und

Handlungsinteressen, das sowohl eine Ich-zentrierte Aktivitat als auch

Hintergrundbewusstsein beinhaltet. Immer wenn etwas zur Affektion kommt,

hervorspringt oder auffallig wird, passiert dies einem aktiven oder passiven Ich, das

sich in einem bestimmten Interessenshorizont bewegt bzw. von diesem umgeben ist.

Diese Eingebundenheit der Affektion in individuelle und intersubjektive

Interessenstrukturen sieht auch Husserl, wenn er folgendes anmerkt:

Das jeweils Erfahrene hat den Charakter des Anrufenden, des Reize auf das

Ich Ubenden […], aber der Anruf verhallt als das nicht im aktuellen Interesse

stehende Ich bzw. nicht sein Interesse angehend. (Hua XV, 1973, S. 462)

19 Vgl. Moray (1959, S. 56–60).20 Vgl. Simons und Chabris (1999, S. 1059–1074). Siehe ebenfalls Mack und Rock (1998, S. 55–77).

Husserl Stud (2010) 26:167–187 183

123

Gleichzeitig beharrt Husserl darauf, dass die Affektion in der genetischen

Hierarchie vor jeder Aktivitat angesiedelt ist. Die oben dargestellten Beispiele

bestatigen allerdings, dass das jeweils aktive oder passive Interesse nicht nur die

Affektion beeinflusst, sondern die Bedingung der Moglichkeit von Affektion

darstellt. Wenn dies der Fall ist, dann ist die praferentielle Struktur der Wahrneh-

mung, die als primare Form von Normativitat bezeichnet wurde, von vornherein

durch hohere personale, intersubjektive und kulturelle Interessenskontexte bestimmt.

D. Lohmar beschreibt diese implizit wertende Struktur der Wahrnehmung, die

sich in Gestalt inhaltlicher Antizipationen manifestiert, anhand eines von Husserl

selbst benutzen Beispiels. Darin wird derselbe Wahrnehmungsgegenstand unter-

schiedlich aufgefasst, einmal als Puppe und einmal als lebendiger Mensch. Wenn

ich aufgrund eines entsprechenden kulturellen Kontextes erwarte, eine Puppe zu

sehen, z.B. in einem Spielzeuggeschaft, achte ich bevorzugt auf mechanische

Bewegungen, ein leichtes Rutteln, einen starren Blick oder andere stereotype

Bewegungen. Wenn ich dagegen erwarte, eine leibhaftige Frau vor mir zu haben,

dann sehe ich nach Lohmar ,,immer wieder die Augen, die mich ansehen, die

Leibhaftigkeit der Bewegung, die Naturlichkeit der Haltung, die Reaktion auf die

veranderten Umstande‘‘.21 Die jeweilige Erwartung bzw. das Interesse entscheidet

auch in diesem Beispiel nicht bloß daruber, wie etwas gesehen wird, sondern auch,

was von dieser Gestalt uberhaupt gesehen wird.

Die alltagliche Wahrnehmung wird durch ein Interessenprofil bestimmt, das sich

sowohl aus vorpersonalen, personalen und uberpersonalen Faktoren, wie etwa

intersubjektiven Normalitatsmustern zusammensetzt. So lasst sich anhand des

Puppenbeispiels zeigen, dass das Sehen eines Menschen oder einer Puppe von

kulturellen Kennzeichen geleitet wird, d.h. durch das, was in der jeweiligen Kultur-

und Lebenswelt als menschliches bzw. mechanisches Merkmal klassifiziert wird.

Die Wertung Mensch oder Puppe wird nicht nachtraglich ausgesprochen, sondern

lenkt implizit unseren Blick und bestimmt das, was uns auffallt bzw. was regelrecht

ubersehen wird. Intersubjektive Normen drucken sich auf der Ebene der subjektiv-

leiblichen Wahrnehmung als eine Art sensuelle Normativitat aus, z.B. in Form einer

Typik des Aufmerksamkeitsverhaltens. Auf der einen Seite handelt es sich also um

habituell wirkende ,Scheuklappen‘, auf der anderen Seite erlaubt aber nach Husserl

gerade die Pragung durch intersubjektive Optima die ,,bestmogliche Praxis‘‘ des

Einzelnen innerhalb einer geteilten Lebenswelt.

6 Fazit: Aufmerksamkeit als thematische Form der epoche

Im Anschluss an die vorangehenden Analysen konnte man die durch Aufmerk-

samkeit strukturierte Erfahrung in zweierlei Hinsicht als normativ beschreiben:

Erstens als praferentielle Struktur der subjektiven Erfahrung selbst, die eine

selektive Differenzierung des Gegebenen leistet und damit dasjenige bestimmt, was

im engeren Sinne unsere gegenwartige Wahrnehmung und im weiteren Sinne unsere

Lebenswelt ausmacht. Und zweitens als Stabilisierung und Aktualisierung

21 Lohmar (2008, S. 131).

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vorpersonal wirksamer, personlich habitualisierter und gesellschaftlicher Muster.

Erfahrung in diesem genetisch erweiterten Sinne kann niemals wertfrei sein,

sondern ist gerade durch ihre spezielle subjektive Bezugnahme bestimmt. Die

normale individuelle wie intersubjektiv einstimmige Erfahrung erweist sich als

Ausdruck und Ausbildung von passiv vollzogenen, normativen ,Urteilen‘.

Mit der Integration der Aufmerksamkeit als maßgeblichem Aspekt der subjek-

tiven Erfahrung in die phanomenologische Analyse muss zugleich die enge

Verbindung von passiven und aktiven, individuellen und intersubjektiven Ebenen

zum Thema werden. Daruber hinaus muss eine strikte theoretische Trennung

zwischen formalen und materialen Kriterien sowie eidetischer und genetischer

Phanomenologie hinterfragt werden. Wenn man davon ausgeht, dass passive

Interessenstrukturen in der jeweiligen konkreten Erfahrung schon auf der

vorgegenstandlichen Ebene der Affektion operieren, musste man diesen dann nicht

selbst den Status einer formalen Voraussetzung zusprechen? Da Interessen nur

innerhalb einer gegenwartigen subjektiven Erfahrung auftreten und sich gerade

durch ihre materiale Konkretion auszeichnen, haben sie eigentlich keine apriorische

Bedeutung. Wenn aber die phanomenologische epoche ihren Ausgang allein von der

Erfahrung eines individuellen Subjekts nehmen kann, diese Erfahrung aber

grundsatzlich von individuell und kulturell variablen Interessen durchsetzt ist,

muss dies – so muss man sich fragen - dann nicht auch einen Einfluss auf die so

gewonnenen eidetischen Strukturen haben? Lasst sich dies in den grundsatzlichen

Vorannahmen daruber erkennen, was das Ziel und die Funktion der menschlichen

Erfahrung ist und wie diese sich z.B. in Bezug auf andere Lebewesen unterscheidet?

Husserls Beschreibung der Intentionalitat als vernunftgeleitete und teleologische

Struktur ware dann kritisch zu beurteilen.

Unabhangig davon bedarf es unter den dargestellten Umstanden einer zusatz-

lichen thematischen epoche, um die habituelle Wahrnehmungstypik, die unsere

phanomenologischen Beschreibungen leitet, im Einzelnen zu hinterfragen. Durch

diesen explizit durchgefuhrten Aufmerksamkeitswechsel konnte der von Husserl

implizit vertretene normative Anspruch der Vernunft in einem Imperativ der

Wachsamkeit gegenuber eigenen normativen Vorurteilen erneuert werden.

Habituelle Scheuklappen der Wahrnehmung wurden so in den Blick kommen und

eine Offenheit fur neue und andere Erfahrungen geschaffen.22

Danksagung Der vorliegende Artikel beruht auf einem Vortrag, den ich anlasslich der Husserl-

Arbeitstage 2009 in Freiburg halten durfte. Fur die optimalen Arbeitsbedingungen und die wissenschaft-

liche Unterstutzung am Husserl-Archiv in Freiburg mochte ich mich bei Herrn Prof. H.-H- Gander und

den Mitarbeitern des Archivs bedanken. Mein besonderer Dank gilt meinen Kollegen Dr. Thiemo Breyer,

Philippe Merz und Frank Steffen, die mit ihrer kompetenten Beurteilung, ihrer standigen Gesprachs-

bereitschaft und kritischen Bearbeitung dieses Projekt unterstutzten. Ein herzliches Dankeschon geht

auch an Dr. Regula Giuliani und Prof. Sebastian Luft fur die hilfreichen Anregungen und engagierten

Diskussionen.

22 Dies birgt insofern die Moglichkeit einer Veranderung von Normen, da im Wesen der Affektion selbst

ein moglicher Einbruch oder Anspruch des Neuen und Unstimmigen angelegt ist, wie dies u.a. von B.

Waldenfels (2004) dargestellt wurde. Damit diese Tendenz allerdings eine Wirkung zeigt, bedarf es auf

Seiten des erfahrenden Subjekts einer gewissen Bereitschaft und Offenheit.

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