Überschuldung und materielle Insolvenz Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Karsten Schmidt.

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Überschuldung und materielle Insolvenz

Prof. Dr. Dr. h.c. mult.Karsten Schmidt

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I. Generalia

• 1. Die Insolvenzordnung unterscheidet den fakultativen Antragstatbestand des § 18 von den obligatorischen Tatbeständen der §§ 17 und 19. Diese berechtigte Unterscheidung ist bestimmend für die Auslegung der Tatbe-stände und ihre rechtspolitische Einschätzung.

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I. Generalia

• 2. Der Eröffnungsgrund der Überschuldung hat eine Doppelfunktion: Er dient als Legiti-mationsgrund für die Verfahrenseröffnung und als Anknüpfungspunkt für die sog. Insolvenzantragspflicht (§ 15a InsO) und die mit ihr verbundene ständige Selbstprüfung des Unternehmens.

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I. Generalia

• 3. Der Zweck des Überschuldungstatbestands zielt in einem rein exekutorisch orientierten Insolvenzrecht auf die Abgrenzung der Ge-samtvollstreckung (Insolvenzrecht) von der Einzelzwangsvollstreckung (Zwangsvoll-streckungsrecht). In einem modernen Unter-nehmensinsolvenzrecht dient der Über-schuldungstatbestand dem präventiven Gläubigerschutz.

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• 4. Der Überschuldungstatbestand ist im Lichte des § 15a InsO zu verstehen, auszulegen und fortzubilden. Er entscheidet darüber, ab wann Unternehmen aus der Selbstverantwortung in das Insolvenzverfahren überführt werden müssen und sich die Weiterführung durch die Unter-nehmensleitung als gläubigerschädigendes „wrongful trading“ erweist. Ob der Tatbestand mit dem Begriff „Überschuldung“ treffend be-nannt ist, ist eine sekundäre Frage.

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• 5. Die rechtspolitische Relevanz des Über-schuldungstatbestands darf weder an der Zahl der Insolvenzanmeldungen wegen Über-schuldung noch an der Häufigkeit der Ver-schleppung trotz Überschuldung noch an der Effektivität ihrer Verfolgung gemessen werden.

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• 6. Das ESUG hat die Funktion des Über-schuldungstatbestandes nicht geändert. Der Tatbestand dient (anders als § 18) nicht als Anreiz zur Sanierung im Insolvenzverfahren, wohl aber setzt er der Sanierung außerhalb des Insolvenzverfahrens, auch in der Drei-wochenfrist, rechtliche Grenzen.

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II. Entwicklung des Überschuldungstatbestands

• 1. Die Konkursordnung hatte den Tatbestand der Überschuldung nicht definiert. § 92 Abs. 2 S. 2 AktG a.F. und § 64 Abs. 1 S. 2 GmbHG sprachen für eine rein bilanzielle Überschul-dungsmessung. Trotzdem hatte sich bereits unter der Konkursordnung ein prognostisches Merkmal durchgesetzt.

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II. Entwicklung des Überschuldungstatbestands

• 2. Schon vor der InsO war umstritten, ob die Überlebensprognose lediglich als Wertprämisse in die Aktivenbewertung eingehe (so die tradi-tionelle Auffassung) oder ob die Überlebens-prognose ein eigenständiges Merkmal des Überschuldungstatbestands darstellt (so der Verfasser seit AG 78, 334 und JZ 82, 165). gemeinsam ist beiden Ansätzen die Zweistufig-keit. Der Unterschied liegt nur darin, wo der Sitz der Prognose ist.

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II. Entwicklung des Überschuldungstatbestands

• 3. In der Insolvenzordnung schlug sich die ge-schilderte Polarität in gegensätzlichen Fassungen nieder: Tatbestand Nr. 1 (1998-2008) = § 19 Abs. 2 a.F.: „Überschuldung liegt vor, wenn das Ver-mögen des Schuldners die bestehenden Verbind-lichkeiten nicht mehr deckt. Bei der Bewertung des Vermögens des Schuldners ist jedoch die Fortführung des Unternehmens zugrunde zu legen, wenn diese nach den Umständen über-wiegend wahrscheinlich ist“.

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II. Entwicklung des Überschuldungstatbestands

• 4. Tatbestand Nr. 2 (2008-2013) = § 19 Abs. 2 n.F.: „Überschuldung liegt vor, wenn das Ver-mögen des Schuldners die bestehenden Ver-bindlichkeiten nicht mehr deckt, es sei denn, die Fortführung des Unternehmens ist nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich.“

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II. Entwicklung des Überschuldungstatbestands

• 5. Der Tatbestand wurde dahin ausgelegt, dass eine bilanzielle Überschuldung, wenn selbst Fortführungswerte die Passiva nicht decken, stets auch eine Überschuldung im Rechtssinne des Abs. 2 ist (BGHZ 171, 46). Ob dies durch Aktivierung des Firmenwerts neutralisierbar ist (Karsten Schmidt/Uhlenbruck Rn. 5.75), blieb zweifelhaft.

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II. Entwicklung des Überschuldungstatbestands

• 6. Bei dem Tatbestand Nr. 2 ist vor allem der Prognosegegenstand umstritten: muss die Fortführung wahrscheinlich sein (so jüngst AG Hamburg, ZIP 2012, 1776) oder nur der Schuldendienst (so jüngst Bitter/Kresser, ZIP 2012, 1733 ff.)?

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II. Entwicklung des Überschuldungstatbestands

• 7. Die Dominanz der Prognose beim Tatbestand Nr. 2 macht im kritischen Fall einen Überschuldungsstatus und ggf. Rangrücktritt nicht entbehrlich.

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III. Rechtspolitische Einschätzung

• 1. Rechtspolitisch sind unterschiedliche Standpunkte festzustellen, z.B.

• - Totalablehnung des Überschuldungstatbestands,• - Ablehnung des Prognoseelements,• - Aufforderung zur Rückkehr zum Tatbestand Nr. 1.

Keine dieser Positionen überzeugt. Auch die Mannheimer Praktikerumfrage (Bitter/Hommerich/ Reiß, ZIP 2012, 1201) hat keine von ihnen bestätigt.

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III. Rechtspolitische Einschätzung

• 2. Rechtspolitisch zu überzeugen vermag allein der Tatbestand Nr. 2. Denn er gibt der Prognose ihren richtigen Sitz zurück und verdient seine Existenzberechtigung betriebs-wirtschaftlichen Überlegungen, nicht der Finanzkrise.

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III. Rechtspolitische Einschätzung

• 3. Rechtspolitisch besteht dringender Handlungsbedarf. Unterstellt, der Tatbestand Nr. 1 ist effektiv schärfer, so äußert er Vor-wirkungen: Nicht erst 2014, sondern schon jetzt würden bilanziell überschuldete Unter-nehmen in großer Zahl insolvent (lehrreich insofern AG Hamburg, ZIP 2012, 1776).

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IV. Handlungsempfehlung

• 1. Die Kernbotschaft heißt: Zurück zum Tatbestand Nr. 2, und zwar dauerhaft und möglichst rasch! Er sollte nicht nur verlängert (so Bitter/Hommerich/Reiß, ZIP 2012, 1201, 1207), sondern dauerhaft fortgeschrieben werden.

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IV. Handlungsempfehlung

• 2. Die Konzeption des „Überschuldungs“-Tatbestands basiert auf dessen Verhältnis zu § 17 und § 18. „Überschuldung“ ist ein Fall qualifiziert drohender Zahlungsunfähigkeit.

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IV. Handlungsempfehlung

• 3. Die Fortführungsprognose sollte klar-stellend im Sinne einer Solvenzprognose umformuliert werden. Mehr verlangt der Gläubigerschutz nicht (bedenklich AG Hamburg, ZIP 2012, 1776). Von einer gesetzlichen Limitierung des Prognose-zeitraums ist abzuraten, wohl auch von einem gesetzlichen Mindestzeitraum.

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IV. Handlungsempfehlung

• 4. Die Beibehaltung des Tatbestands Nr. 1 als fakultativer Eröffnungsgrund (Bitter/Hommerich/Reiß, ZIP 2012, 1201, 1209) ist nicht oder doch allen-falls als Vermutung drohender Zahlungs-unfähigkeit (§ 18 Abs. 2) zu empfehlen.

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IV. Handlungsempfehlung

• 5. Gleichfalls zweifelhaft sind Vorschläge für insolvenzrechtliche (!) Anzeigepflichten der Unternehmensleitung bei Eintritt bilanzieller Überschuldung.