Unaufgebohrter Tibiamarknagel (UTN)

3
Zielsetzung Der durch die AO entwickelte, unaufge- bohrte Tibiamarknagel (UTN) war zu- nächst nur als temporäres Implantat bei Frakturen mit schwereren Weichteil- schäden und als Alternative zum Fixa- teur externe bis zum Wechsel auf eine herkömmliche interne Fixation, z. B. durch eine gebohrte Nagelung, gedacht. Die ersten Erfahrungen zeigten aber, dass ein großer Teil der Frakturen allein mit diesem neuen Implantat ausrei- chend stabilisiert war und zur Aushei- lung gebracht werden konnte. Über die- se ersten Erfahrungen liegen mehrere Publikationen mit vergleichsweise klei- nen Kollektiven vor [2, 3]. Um anhand einer großen Fall- zahl Indikation und Möglichkeiten, aber auch Indikationsgrenzen, Schwach- stellen und Komplikationen dieser neuen Technik ohne Markraumauf- bohrung objektivieren zu können, führ- te die AOI an 11 Testkliniken eine pro- spektive Studie zur ungebohrten Tibia- nagelung durch, die von der Klinik in Augsburg geleitet wurde.An dieser Sam- melstudie beteiligten sich folgende Kli- niken: Klinik für Unfall- und Wiederherstel- lungschirurgie, Zentralklinikum, 86156 Augsburg Department für Chirurgie, Kantonsspi- tal, CH-4031 Basel Klinik für Unfall- und Wiederherstel- lungschirurgie, Rudolf-Virchow-Klini- kum, Humboldt-Universität, 13353 Berlin Universitätsklinik für Orthopädische Chirurgie, Inselspital, CH-3010 Bern Chirurgische Klinik, Rätisches Kantons- und Regionalspital, CH-7000 Chur Unfallchirurgische Klinik, Medizinische Hochschule, 30625 Hannover Klinik und Poliklinik für Unfallchirurgie, Universitätsklinikum, 55131 Mainz Dept. of Orthopedics, University Hospi- tal, Seattle,WA 98104–2499, USA Orthopedic Trauma Service, General Hospital,Tampa, FL 33606, USA Chirurgie, St. Elisabeth Hospital, NL-5000 LC Tilburg BG-Unfallklinik, 72076 Tübingen Material und Methode Studienzeitraum war das Jahr 1992. Alle aus den 11 Studienzentren eingebrach- ten Nägel wurden in Form von jeweils 4 computerlesbaren Erfassungsbögen standardisiert dokumentiert: 1. Spezifikation von Implantat und Operationstechnik, 2. Epidemiologie, Zusatzverletzungen, Frakturklassifikation und stationärer Verlauf, 3. zusätzliche Frakturen, deren Therapie und klinischer stationärer Verlauf, 4. 2-Jahres-Verlauf. Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2001 S135 Trauma Berufskrankh 2001 · 3 [Suppl 2]: S135–S137 © Springer-Verlag 2001 Unterschenkelfraktur Max Markmiller · Axel Rüter Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie,Zentralklinikum Augsburg Unaufgebohrter Tibiamarknagel (UTN) Sammelstudie der AOJ Prof. Dr. Axel Rüter Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie, Zentralklinikum, Stenglinstraße 2, 86156 Augsburg (E-Mail:[email protected], Tel.: 0821-4002651, Fax: 0821-4003313) Zusammenfassung Die Resultate der Multizenterstudie bestäti- gen den unaufgebohrten Tibiamarknagel (UTN) als ein hervorragend geeignetes Im- plantat zur Behandlung von offenen und ge- schlossenen Tibiafrakturen mit kompromit- tierter periostaler Blutversorgung. Der Ein- satz des UTN erfordert die sorgfältige Pla- nung des Eingriffs anhand der Röntgenbild- analyse und unter Berücksichtigung des Weichteilschadens.Der im Vergleich zum Hohlnagel geringere Nageldurchmesser ver- ringert den selbst zentrierenden Effekt des Nagels im Markrohr. Daher müssen (insbe- sondere für sehr distale Tibiafrakturen) sehr hohe Ansprüche an die Frakturreposition und die korrekte Wahl der Einschlagstelle gestellt werden. Distale Tibiafrakturen erfor- dern darüber hinaus obligat die 3-fache dis- tale Verriegelung des Nagels. Zur Erhöhung der Stabilität der Versorgung sollte eine zu- sätzliche Fibulafraktur bei identischem Frak- turniveau bei distaler oder mehrfragmen- tierter Tibiafraktur additiv stabilisiert wer- den. Schlüsselwörter Unaufgebohrte Marknagelung · Tibiafraktur · Weichteilschaden

Transcript of Unaufgebohrter Tibiamarknagel (UTN)

Page 1: Unaufgebohrter Tibiamarknagel (UTN)

Zielsetzung

Der durch die AO entwickelte, unaufge-bohrte Tibiamarknagel (UTN) war zu-nächst nur als temporäres Implantat beiFrakturen mit schwereren Weichteil-schäden und als Alternative zum Fixa-teur externe bis zum Wechsel auf eineherkömmliche interne Fixation, z. B.durch eine gebohrte Nagelung, gedacht.Die ersten Erfahrungen zeigten aber,dass ein großer Teil der Frakturen alleinmit diesem neuen Implantat ausrei-chend stabilisiert war und zur Aushei-lung gebracht werden konnte. Über die-se ersten Erfahrungen liegen mehrerePublikationen mit vergleichsweise klei-nen Kollektiven vor [2, 3].

Um anhand einer großen Fall-zahl Indikation und Möglichkeiten,aber auch Indikationsgrenzen,Schwach-stellen und Komplikationen dieser neuen Technik ohne Markraumauf-bohrung objektivieren zu können, führ-te die AOI an 11 Testkliniken eine pro-spektive Studie zur ungebohrten Tibia-nagelung durch, die von der Klinik inAugsburg geleitet wurde.An dieser Sam-melstudie beteiligten sich folgende Kli-niken:

∑ Klinik für Unfall- und Wiederherstel-lungschirurgie, Zentralklinikum, 86156Augsburg

∑ Department für Chirurgie, Kantonsspi-tal, CH-4031 Basel

∑ Klinik für Unfall- und Wiederherstel-lungschirurgie, Rudolf-Virchow-Klini-kum, Humboldt-Universität, 13353 Berlin

∑ Universitätsklinik für OrthopädischeChirurgie, Inselspital, CH-3010 Bern

∑ Chirurgische Klinik, Rätisches Kantons-und Regionalspital, CH-7000 Chur

∑ Unfallchirurgische Klinik, MedizinischeHochschule, 30625 Hannover

∑ Klinik und Poliklinik für Unfallchirurgie,Universitätsklinikum, 55131 Mainz

∑ Dept. of Orthopedics, University Hospi-tal, Seattle,WA 98104–2499, USA

∑ Orthopedic Trauma Service, GeneralHospital,Tampa, FL 33606, USA

∑ Chirurgie, St. Elisabeth Hospital,NL-5000 LC Tilburg

∑ BG-Unfallklinik, 72076 Tübingen

Material und Methode

Studienzeitraum war das Jahr 1992. Alleaus den 11 Studienzentren eingebrach-ten Nägel wurden in Form von jeweils 4 computerlesbaren Erfassungsbögenstandardisiert dokumentiert:

1. Spezifikation von Implantat und Operationstechnik,

2. Epidemiologie, Zusatzverletzungen,Frakturklassifikation und stationärerVerlauf,

3. zusätzliche Frakturen, deren Therapieund klinischer stationärer Verlauf,

4. 2-Jahres-Verlauf.

Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2001 S135

Trauma Berufskrankh2001 · 3 [Suppl 2]: S135–S137 © Springer-Verlag 2001 Unterschenkelfraktur

Max Markmiller · Axel RüterKlinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie, Zentralklinikum Augsburg

Unaufgebohrter Tibiamarknagel (UTN)Sammelstudie der AOJ

Prof. Dr. Axel RüterKlinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie, Zentralklinikum,Stenglinstraße 2, 86156 Augsburg(E-Mail: [email protected],Tel.: 0821-4002651, Fax: 0821-4003313)

Zusammenfassung

Die Resultate der Multizenterstudie bestäti-gen den unaufgebohrten Tibiamarknagel(UTN) als ein hervorragend geeignetes Im-plantat zur Behandlung von offenen und ge-schlossenen Tibiafrakturen mit kompromit-tierter periostaler Blutversorgung. Der Ein-satz des UTN erfordert die sorgfältige Pla-nung des Eingriffs anhand der Röntgenbild-analyse und unter Berücksichtigung desWeichteilschadens. Der im Vergleich zumHohlnagel geringere Nageldurchmesser ver-ringert den selbst zentrierenden Effekt desNagels im Markrohr. Daher müssen (insbe-sondere für sehr distale Tibiafrakturen) sehrhohe Ansprüche an die Frakturrepositionund die korrekte Wahl der Einschlagstellegestellt werden. Distale Tibiafrakturen erfor-dern darüber hinaus obligat die 3-fache dis-tale Verriegelung des Nagels. Zur Erhöhungder Stabilität der Versorgung sollte eine zu-sätzliche Fibulafraktur bei identischem Frak-turniveau bei distaler oder mehrfragmen-tierter Tibiafraktur additiv stabilisiert wer-den.

Schlüsselwörter

Unaufgebohrte Marknagelung · Tibiafraktur ·Weichteilschaden

Page 2: Unaufgebohrter Tibiamarknagel (UTN)

Die Auswertung der Einzelfalldoku-mentationen und auch der Röntgenbil-der erfolgte zentral im Dokumenta-tionszentrum der AO/ASIF in Davos,Schweiz. Die radiologische Auswertungumfasste prä- und postoperative Auf-nahmen sowie Kontrollröntgenaufnah-men nach 6 Wochen, 6 Monaten und 2 Jahren.

Ergebnisse

488 Patienten (374 Männer, 76,6%) fan-den Eingang in die Studie. Das Gesamt-durchschnittsalter betrug 34,8 Jahre. 115Patienten (23,9%) waren polytraumati-siert, davon 40 Patienten mit einem ISS(Injury-severity-Score) > 17 Punkte.

Komplexfrakturen der Gruppe Cnach AO-Klassifikation lagen in 21,2%der Frakturen vor.Die Rate offener Frak-turen lag bei 55,5% (n = 262). Ihre Klas-sifikation erfolgte nach Anderson undGustilo.

Die Osteitisrate im Gesamtpatien-tengut betrug 2,5% (12 Patienten). Offe-ne Frakturen hatten 9 Patienten diesesKollektivs erlitten, bei 2 weiteren Pa-tienten bestand ein geschlossenerWeichteilschaden Grad 3 nach Tscherneund Oestern (Abb. 1).

Pseudarthrosen nach ungebohrterNagelung waren in 6% der Fälle (30 Pa-tienten) zu konstatieren, was bei 24 Pa-tienten einen Verfahrenswechsel be-dingte:

∑ in 19 Fällen auf einen gebohrten Nagel,∑ in 2 Fällen auf eine Plattenosteosynthese,∑ in 1 Fall auf einen Fixateur externe und

∑ in 2 Fällen auf eine autologe Spongiosa-plastik bei belassenen UTN.

Die Korrelation von ausbleibender Frak-turheilung und Ausmaß des Weichteil-schadens zeigt ebenfalls die maßgeben-de Rolle dieser Determinante: Aus eineroffenen Fraktur resultierten 23 von 30Pseudarthrosen . Allein die Hälfte derPatienten mit Pseudarthrose (n = 15)hatten offene Frakturen Grad III nachGustilo und Anderson erlitten (Abb. 1).

Die Analyse von 2404 Röntgendo-kumentationen aus 380 Frakturen ergabin 52 Fällen (13,6%) Brüche der Verrie-gelungsbolzen. Eine Ursache ist in dermeist fehlenden Markraumklemmungdes ungebohrten Nagels zu suchen. InVerbindung mit einer in speziellen Situa-tionen erhöhten posttraumatischenbzw. postoperativen Instabilität derFraktur (kenntlich als identisches Frak-turniveau von Tibia und Fibula und alspostoperative Fragmentdiastase) kannder Verriegelungsbolzen die Funktiondes alleinigen Lastträgers über die zurBruchkonsolidierung erforderliche Zeit-spanne nicht erbringen, es kommt zumBolzenbruch. So war im Gesamtkollek-tiv ein identisches Frakturniveau von Ti-bia und Fibula in 49,2% der Fälle festzu-stellen, in der Bolzenbruchgruppe fandsich dieses Merkmal in 75% der Fälle.

Achsfehlstellungen nach ungebohr-ter Nagelung zeigten 60 Frakturen(14,5%). In 20,8% der Fehlstellungen er-gaben sich Valgusfehler, in 30,6% Varus-fehler.Als Risikofrakturen für eine post-operative Achsfehlstellung erwiesen sichsehr distale Tibiafrakturen im bzw. am

S136 Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2001

Unterschenkelfraktur

M. Markmiller · A. Rüter

The unreamed tibia nail (UTN) – a multicenter AO/ASIF study

Abstract

The results of this study confirm that the un-reamed tibia nail (UTN) is an excellent im-plant for the treatment of open and closedfractures of the tibia when the periostealblood supply is compromised. Application ofthe UTN requires critical analysis of the pre-operative, intraoperative and postoperativeradiographs and of the condition of the softtissue.The small diameter of the nail reducesits self-centering effect, which means thatfracture reduction and insertion of the nailmust be extremely accurate, especially in thecase of fractures in the very far distal regionof the tibia. For such fractures, it is essentialthat three distal bolts should be used.To en-hance stability, when there is a fibular frac-ture at the same level this should also beplated when the tibia is fractured in its distalfourth or a comminuted fracture of the tibiais present.

Keywords

Unreamed nailing · Tibial fracture · Soft tissue damage

Trauma Berufskrankh2001 · 3 [Suppl 2]: S135–S137 © Springer-Verlag 2001

Abb. 1 � Offene Frakturen zeigten gegenüber geschlossenen Frakturen annä-hernd die 3fache Anzahl an Komplikationen

Page 3: Unaufgebohrter Tibiamarknagel (UTN)

Übergang zum 5. Fünftel der Tibia (Abb.2).

Schlussfolgerungen

Eine Infektionsrate bei offenen Fraktu-ren des Unterschenkels von 3,4% ist imHinblick auf die bekannten Problemeder Weichteile in dieser Region mehr alsnur akzeptabel [1, 4]. Diese Ergebnissesind auch mit dem Fixateur nicht zu ver-bessern. Der günstige Effekt der unge-bohrten Technik auf die Frakturvitalitätzeigt sich auch in der Pseudarthroserate.Trotz der eingeschränkten Stabilität desUTN konsolidierten 96,9% der ge-schlossenen und 91,8% der offenenFrakturen.

Die Rate der Fehlstellungen spiegeltdie mechanische Situation wider. Diedünnen Nägel werden, wenn überhaupt,nur durch die Tibiadiaphyse zentriert.An die Korrektheit der Reposition unddie Ausrichtung der Achsen sind daherwesentlich höhere Ansprüche zu stellenals bei der aufgebohrten Technik.

Die eigentliche Belastung des UTNist die Anzahl der Bolzenbrüche.Der Na-geldurchmesser limitiert den maximalmöglichen Durchmesser der Verriege-lungsbolzen. Die Reibung infolge Ver-klemmung zwischen Nagel und Kno-chen ist meist derart gering, dass die Be-lastung zum Großteil von den Verriege-lungsbolzen getragen werden muss. DerChirurg muss bei der Osteosyntheseund der Nachbehandlung auf diese sys-temimmanente Schwachstelle Rücksichtnehmen. Dieselbe Höhe von Tibia- undFibulafraktur scheint ein hohes Risikofür spätere Bolzenbrüche zu bedeuten.Es ist daher zu empfehlen, bei dieserFrakturkonfiguration die Fibula zusätz-lich mit einer Drittelrohrplatte zu stabi-lisieren. Bei den mit dieser Technik ver-sorgten Patienten reduzierte sich die Ra-te der Bolzenbrüche von 16,3% auf 11,5%.Bei allen einfachen Frakturen muss ver-sucht werden, Fragmentkontakt herzu-stellen, um die Bolzenbelastung zu re-duzieren. Bei 67,3% der Bolzenbrüchefanden sich belassene Diastasen bei ein-fachen Frakturen!

In der Behandlung von Tibiaschaft-frakturen mit offenem und geschlosse-nem Weichteilschaden und Kompromit-tierung der periostalen Durchblutungist der UTN ein anderen Verfahren über-legenes Implantat. Er kann als definiti-ves Implantat zur Ausbehandlung dieserFrakturen angesehen werden.Es kann inFrage gestellt werden, ob die gebohrteNagelungstechnik für die Akuttherapiesolcher Frakturen in Zukunft noch ei-nen Stellenwert besitzen wird. Die An-wendung des UTN setzt jedoch eine kri-tische Analyse der intra- und postope-rativen Röntgenbilder sowie der Weich-teilsituation voraus. Die Dauer der Teil-belastung kann nicht schematisiert wer-den, sondern muss sich dem postopera-tiven Röntgenbild und den Verlaufskon-trollen anpassen.

Literatur1. Holbrook JL, Swiontkowski MF, Sanders R

(1989) Treatment of open fractures of the tibiashaft: ender nailing versus external fixation.A randomized, prospective comparison. J BoneJoint Surg Br 73: 1231–1238

2. Koval KJ, Clapper MF, Brumback RJ, Ellison PS,Poka A, Bathon GH, Burgess AR (1991) Compli-cation of reamed intramedullary nailing of thetibia. J Orthop Trauma 5: 184–189

3. Krettek C, Haas N, Schandelmaier P, Frig R,Tscherne H (1991) Der unaufgebohrte Tibia-marknagel (UTN) bei Unterschenkelschaftfrak-turen mit schwerem Weichteilschaden. Unfall-chirurg 94: 579–587

4. Watson T (1994) Current concepts review:treatment of unstable fracture of the shaft ofthe tibia. J Bone Joint Surg Am 76: 1575–1584

Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2001 S137

Abb. 2 � Distale Frakturen bergen ein höheres Risiko für postoperative Achsenfehlstellungen