und... · Created Date: 9/17/2008 4:32:05 PM

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Mit dem Begriff "Individualisierung" werden drei zusammenhängende Prozesse innerhalb der Gegenwartsgesellschaft bezeichnet. Zum einen die Auflösung industriegesellscha{tlicher Lebensformen wie soziale Klassen, Kleinfamilien, Geschlechterrollen, ihre Bedingungen, Reichweiten usw. Zum zweir.en die biographischen Modi und Verläufe, die dadurch entste- hen, und die Art, wie diese in institutionelle Musrer einqebunden bleiben bzw. werden. Drittens schließlich erfaßt dieser Beeriff-die individuellen und gesamtgesellschaftlichen (politischen, sozialpolitischen)Bedeutungen und Folgen dieses Strukturwandels. Im vorliegenden Band werden die konkreten, das Leben jedes einzelnen betreffenäen Formen dieser Indivi- dualisierung beschrieben. Es geht um das \üiderspiel von neuer Freiheit und neuen Risiken in allen Lebensbereichen: um Kindheit und Jugend, um Frauen, um Liebe und Scheidung, Sozialpolitik und Armut. Uirich Beck lehrt Soziologie an der Universität München, Elisabeth Beck-Gernsheim Soziologie an der lJniversität Erlangen. Von beiden zu- sammen erschien im Suhrtamp Yerlag Das ganz ,oriol, Cbaos der Liebe (st ry25), von Ulrich Beck zuletzt Die Erfindung des Politischen (es r z8o). RiskanteFreiheiten Indfuidwalisierwng in mod,ernen Ge sellsch aften Herausgegeben von Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim Suhrkamp

Transcript of und... · Created Date: 9/17/2008 4:32:05 PM

Mit dem Begriff "Individualisierung" werden drei zusammenhängendeProzesse innerhalb der Gegenwartsgesellschaft bezeichnet. Zum einen dieAuflösung industriegesellscha{tlicher Lebensformen wie soziale Klassen,Kleinfamilien, Geschlechterrollen, ihre Bedingungen, Reichweiten usw.Zum zweir.en die biographischen Modi und Verläufe, die dadurch entste-hen, und die Art, wie diese in institutionelle Musrer einqebunden bleibenbzw. werden. Drittens schließlich erfaßt dieser Beeriff-die individuellenund gesamtgesellschaftlichen (politischen, sozialpolitischen) Bedeutungenund Folgen dieses Strukturwandels. Im vorliegenden Band werden diekonkreten, das Leben jedes einzelnen betreffenäen Formen dieser Indivi-dualisierung beschrieben. Es geht um das \üiderspiel von neuer Freiheitund neuen Risiken in allen Lebensbereichen: um Kindheit und Jugend, umFrauen, um Liebe und Scheidung, Sozialpolitik und Armut.

Uirich Beck lehrt Soziologie an der Universität München, ElisabethBeck-Gernsheim Soziologie an der lJniversität Erlangen. Von beiden zu-sammen erschien im Suhrtamp Yerlag Das ganz ,oriol, Cbaos der Liebe(st ry25), von Ulrich Beck zuletzt Die Erfindung des Politischen (esr z8o ) .

Riskante FreiheitenIndfuidwalisierwng

in mod,ernen G e sellsch aften

Herausgegeben vonUlrich Beck und

Elisabeth Beck-Gernsheim

Suhrkamp

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edition suhrkmp r816Neue Folge Bmd 8r5Erste Auflage 1994

@ Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1994Erstausgabe

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der übersetzung,' des öffentlichenVonraEs

sowie der Übertragmg durch Rundfuni und Fernsehen,auch einzelner Teile.

Satz : Hümmer. \faldbüttelbronDruck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden

Umschlagenrmrf : Villy FleckhausPrinted in Gemmy

UB Dortmund

Boreichsbibl.Erri*hungswiee.u. Biologie

4 t 6 - 9 9 9 8

IGIF

Inbalt

Vorwort 9

Ulrich Beck/Elisabeth Beck-GernsheimIndividualisierung in modernen Gesellschaften -Perspektiven und Kontroversen einer subjektorientiertenSoziologie ro

I

Ulrich BeckJenseits von Stand und Klasse? 43

Ditmar BrockRückkehr der Klassengesellschaft? Die neuen sozialenGräben in einer materiellen Kultur 6r

Barbara RiedmüllerSozialpolitik und Armut. EinThema zwischen Ost und\[est 74

Thomas RauschenbachInszenierte Solidarität: Soziale Arbeit in derRisikogesellschaft 89

II

Elisabeth Beck-GernsheimAuf dem \ü7eg in die postfamiliale Familie -Von der Notgemeinschaft zur \Tahlverwandtschaft r r 5

Birgit Geissler/Mechtild OechsleLebensplanung als Konstruktion: Biographische Dilemmataund Lebenslauf-Entwürfe junger Frauen r39

Judith \flallerstein/Sandra BlakesleeScheidung - Gewinner und Verlierer 168

III

Niklas LuhmannCopierte Existenz und Karriere. Zur Herstellung vonIndividualität r9r

Maria S. RerrichZusammenfügen, was auseinanderstrebt:Ztr familialen Lebensführung von Berufstätigen zor

Manin KohliInstitutionalisierung und Individualisierungder Erwerbsbiographie zt9

Martin BaethgeArbeit und Identität 245

ryKarl Ulrich Mayer/YlaIter MüllerIndividualisierung und Standardisierung im Srukturwandel.der Moderne. Lebensverläufe im \üohlfahrtsstaat 265

VolfgangZapfStaat, Sicherheit und Individualisierung 296

VRonald HitzlerlAnne HonerBastelexistenz. Über subjektive Konsequenzen derIndividualisierrrr'g Jo7Elisabeth Beck-GernsheimGesundheit und Verantwortung im Zeitalterder Gentechnologie 3 16

Heiner KeuppAmbivalenzen postmoderner Identität 336

VIHelgaZeiherKindheitsräume. Zwischen Eigenständigkeit undAbhängigkeit 3y3Vilhelm HeitmeyerEntsicherungen, Desintegrationsprozesse und Gewalt 376Volfgang KühnelEntstehungszusammenhänge von Gewalt bei Jugendlichenim Osten Deutschlands aoz

VII

Ralf DahrendorfDas Zerbrechen der Ligaturen und die Utopieder'!ü7eltbürgergesellschaft 4z r

Jürgen HabermasIndividuierung durch Vergesellschaftung 437

Ronald F{itzler / Elmar Ko en enKehren die Individuen zurück? Zwei divergente Antwortenauf eine institutionentheoretische Frage 447

Ulrich BeckNeonationalismus oder das Europa der Individuen 466

Drucknachweise 483

Ulrich Beck

Jenseits von Stand und Klasse?"

Sind wir Augenzeugen eines historischen \fandlungsprozesses, indessenVerlauf die Menschen aus der industriellen Gesellschaft undihren Sozialformen - Klasse, Schicht, Beruf, Familie, Ehe - sozu-sagen entlassen werden, ähnlich wie sie im Laufe der Reformationaus der weltlichen Herrschaft der Kirche in die Gesellschaft entlas-sen wurden? Ist es möglich, daß sich innerhalb der verblassendentraditionalen Lebensformen bereits neue herausbilden, für die wirnur keinen Begriff und damit auch keinen Blick haben? Sind diemit Nachdruck vorgetragenen Ansprüche auf Selbst- und Mitbe-stimmung ebenso ein Zeichen dafür wie die neuartigen Grenzver-schiebungen und Überlagerungen zwischen Privat- und Politik-sphäre?

\fler heute die Gretchenfrage nach der Realität von Klassen undSchichten in der Bundesrepublik und anderen fortgeschrittenenGesellschaften stellt, sieht sich mit einem scheinbar widersprüch-lichen Sachverhalt konfrontiert: Auf der einen Seite weist dieStruktur sozialer Ungleichheit in den entwickelten Ländern alleAttribute einer überraschenden Stabilitat auf. Die Ergebnisse dereinschlägigen Forschungen lehren uns, daß durch alle technischenund wirtschaftlichen Umwälzungen, durch alle Reformbemühun-gen hindurch die Ungleichheitsrelationen zwischen den großenGruppen unserer Gesellschaft sich nicht vresendich verändert ha-ben -von einzelnenVerschiebungen und Grauzonen einmal abge-sehen.

Auf der anderen Seite werden in demselben Zeitraum Ungleich-heitsfragen nicht mehr als Klassenfragen wahrgenommen und alssolche politisch ausgetragen. Im Zuge der Vereinigung der zweideutschen Staaten haben sich Arbeitslosigkeit und Armut zwardramatisch verschärft. Auch tauchen Ungleichheimfragen in ande-ren provokativenVarianten auf (Kampf um Frauenrechte, Bürger-initiativen gegen Atomkraftwerke, Ungleichheiten zwischen Ge-nerationen, regionale und religiöse Konflikte). Aber wenn man'r Da dieser Text einer der Bezugstexte der neueren "Individualisierungs-Debatteu

ist, wurde er weitgehend unverändert abgedruckt.

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die öffentliche und politische Diskussion zum.wesentlichen Grad-messer für die reale Entwicklung nimmt, dann könnte man zu derSchlußfolgerung kommen: \üir leben heute in der Bundesrepublikbereits in Verhältnissen jenseits der Klassengesellschaft, in denendas Bild der Klassengesellschaft nur noch mangels einer besserenAlternative am Leben erhalten wird.1

Auflösbar vdrd dieser Gegensatz, wenn man der Frage nachgeht,inwieweit sich in den vergangenen drei Jahrzehnten unterhalb derAufmerksamkeitsschwelle der Ungleichheitsforschung die sozialeBed.eutung von Ungleichheiten gewandelt hat. Genau dies istmeine These: In allen reichen westlichen Industrieländern - beson-ders deutlich in der Bundesrepublik Deutschland - hat sich in derwohlfahrtsstaatlichen Nachkiiegsentwicklung ein gesellschaftli-ch er I n d.fu id u a li sie r ungs s c h u b v onbislangunerkannter Reichweiteund Dynamik vollzogen, und zwar unter dem Deckmantel weitge-hend konstanter Ungleichheitsrelationen. Das heißt: Auf demHintergrund eines vergleichsweise hohen materiellen Lebensstan-dards und weit vorangetriebener sozialer Sicherheiten wurden dieMenschen in einem historischen Kontinuitätsbruch aus traditiona-len Klassenbindungen und Versorgungsbezügen der Familie her-ausgelöst und verstärkt auf sich selbst und ihr individuelles(Arbeitsmarkt-)Schicksal mit allen Risiken, Chancen und \ü[ider-

sprüchen verwiesen.Ein Prozeß der Individualisierung wurde bislang vorwiegend

für das sich entfaltende Bürgertum in Anspruch genommen; erist - in anderer Form - aber auch kennzeichnend für den ufreienLohnarbeiter" des modernen Kapitalismus, für die Dynamik vonArbeitsmarktprozessen unter Bedingungen wohlfahrtsstaatlicherMassendemokratien: Mit dem Eintritt in den Arbeitsmarkt sindfür die Menschen immer wieder aufs neue Freisetzungen verbun-den, relativ zu Familien-, Nachbarschafts- und Berufsbindungensowie Bindungen an eine bestimmte regionale Kultur und Land-schaft. Diese Individualisierungsschübe honhurrieren mit Erfah-rungen des Kollektivschicksals am Arbeitsmarkt, erwa in Formsozialer Risiken der Lohnarbeiterexistenz (Arbeitslosigkeit, De-qualifizierung usw.). Sie führen umgekehrt erst in dem Maße, indem diese Risiken abgebaut werden - also unter den Bedingungenrelativen \flohlstands und sozialer Sicherheit -, zur Auflösungständisch gefärbter, klassenkultureller Lebenswelten.

In bezug auf die Interpretation der Sozialstruktur entsteht so

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eine ambivalente Situation: Für den Schichtungsforscher (ebensofür den marxistischen Klassentheoretiker) hat sich möglicherweisenichts'Wesentliches verändert. Denn die Abstände in der Einkom-menshierarchie und fundamentale Bestimmungen der Lohnarbeitsind, allgemein betrachtet, gleichgeblieben. Auf der anderen Seitetritt für das Handeln der Menschen die Bindung an eine sozialeKlasse (im Sinne Max !üTebers) eigentümlich in den Hintergrund.Es entstehen der Tendenz nach individualisierte Existenzformenund Existenzlagen, die die Menschen dazu zwingen, sich selbst -

um des eigenen materiellen Überlebens willen - zum Zentntmihrer eigenen Lebensplanung und Lebensführung zu machen.

Individualisierung wird dementsprechend hier als ein historischwidersprüchlicher Proze$ der Vergesellschaftung verstanden. DieKollektivität und Standardisierung der entstehenden individuali-sierten Existenzlagenist allerdings schwer zu durchschauen. Den-noch sind es gerade das Hervorbrechen und Bewußtwerden dieserWidersprüchlichkeit, die zur Entstehung neuer soziokulturellerGemeinsamkeiten führen können. Sei es, daß entlang sichverschär-fender sozialer Risiken neue, unterschiedliche Einkommens- und

Qualifikationsstufen übergreifende Klassenlagen sichtbar werden.Sei es, daß im Zuge von Individualisierungsprozessen Erwartungenauf ,,ein eigenes Leben" (materiell, räumlich, zeitlich und entlangder Gestaltung sozialer Beziehungen gedacht) systematisch ge-weckt werden, die jedoch gerade im Prozeß ihrer Entfaltung aufgesellschaftliche und politische Schranken und Viderstände tref-fen. Auf diese \(eise entstehen immer neue Suchbewegungen, diezumTeil extreme experimentelle Umgangsweisen mit sozialen Be-ziehungen, dem eigenen Leben und Körper in den verschiedenenVarianten der Alternativ- und Jugendsubkulturen erproben (ein-

schließlich der Exzesse rechtsradikaler Gewalt). Gemeinsamkeitenwerden hier nicht utletzt in Protestformen und -erfahrungen aus-gebildet, die sich an administrativen, industriellen Übergriffen insPrivate, ins "eigene Leben.. entzünden und gegen diese ihre aggres-sive Kraft entwickeln.

Man kann sagen, daß imZuge dieser andauernden Individualisierungen ein sozialer und kultureller Erosions- und Eoolations-prozetS von beträchtlicher Reichweite ausgelöst wurde, Verlaufund Konsequenzen gesellschaftlicher Individualisierungsprozessesind infolgedessen von generellem Interesse für das Verständnisaktueller Umbrüche in Gesellschaften in der Phase fortgeschritte-

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ner Modernität. Es gibt wesentliche Anzeichen dafür, daß sieauf einen sozialen Bedeutungs- und Gestaltungswandel zentralerlebensweltlicher Gebilde wie Familie (Ehe, Elternschaft), Ge-schlechterrollen, Gemeindebeziehungen, Arbeitsbeziehungen,Parteienbindungen hinwirken und darüber hinaus bedeutsam sindfür das Verständnis der sogenannten >neuen sozialen Bewegung*und für politisches Verhalten ganz aligemein, einschließlich derFrage nach der Konsensfähigkeit und Regierbarkeit moderner Ge-sellschaften.

Arbeitsmarkt als Motor der Individualisierung

"Individualisierung sozialer Ungleichheit" - wird damit nicht al-ies vergessen, alles verkannt, ailes in den \üfind geschrieben: diesich verschärfende Ungleichheit, der Klassencharakter, die Sy-stemhaftigkeit des Sozialen, die Massengesellschaft, die Kapital-verflechtungen, der ideologische Schein, die Entfremdung, dieanthropologischen Konstanten und die Differenziertheit der sozi-alhistorischen \firklichkeit? Und kommt mit dem Begriff desIndividualisierungsprozesses nicht zwangsläufig die Soziologie anihr frühes Ende, wird ihr möglicherweise damit das Sterbeglöck-chen geläutet?

Das zwingt zu Präzisierungen: Empirisch findet die Rede vonIndividualisierung ihre Rechtfertigung in vielen (qualitariven) In-terviews und lJntersuchungen. Diese verweisen auf ein zentralesAnliegen, nämlich den Anspruch auf ein eigenes Leben, die Verfü-gung über eigenes Geld, eigene Zeit, eigenen \flohnraum, deneigenen Körper usw., kurz: Perspektiven einer persönlicb-biogra-pbischen Lebensfübruns zu entwickeln und umzusetzen. \üie illu-sionär und ideologisch gefärbt diese Ansprüche auch im einzelnensein mögen, sie sind eine Realität per se und finden überdies An-satzpunkte in der tatsächlichen Entwicklung der Lebensbedingun-gen in der Bundesrepublik in den vergangenen vier Jahrzehnten.Die Labilität dieses wohlfahrtsstaatlichen Individualisierungs-schubs wird heute allerdings dort sichtbar, wo Gruppen plötzlichvon Arbeitslosigkeit erfaßt werden oder bedroht sind und sich nungerade aufgrwnd der durchlaufenen Individualisierung - und zwartrotz sozialstaatlicher Sicherungen - radikalen Einbrüchen in ihrerLebensführung gegenübersehen.

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Iflie unterscheiden sich diese Entwicklungen vom Aufkommendes bürgerlichen Individuums im r8. und r9. Jahrhundert? Diebürgerlicbe Individualisierung beruhte im wesentlichen auf Kapi-talbesitz und enrwickelte ihre soziale und oolitische Identität imKampf gegen die feudale Herrschafts- und Rechtsordnung. In derBundesrepublik bricht demgegenübe r eine Arbeitsmarkt-Indivi-dualisierung hervor, die sich in Ausbildung, Anbierung und An-wendung von Arbeitskompetenzen entfaltet, An drei arbeits-marktbezogenen Teilkomponenten soll dies erläutert werden,

Bildwng: Mit der Verlängerung schulischer Bildung werden tra-ditionale Orientierungen, Denkweisen und Lebensstile durch uni-versalistische Lehr- und Lernbedingungen, \Tissensinhalte undSprachformen umgeschmolzen oder kollektiv verdrängt. Bildungermöglicht - unterschiedlich je nach Länge und Inhalt - ein Mini-mum an Selbstfindungs- und Reflexionsprozessen. Bildung istüberdies mit Selektionverbunden und erfordert insofern individu-elle Aufstiegsorientierungen, die selbst dort noch wirksam blei-ben, wo "Aufstieg durch Bildung" illusionär und Bildung in einnotwendiges Mittel gegen den Abstieg verwandelt und abgewertetwird (wie dies im Zuge der Bildungsexpansion teilweise geschehenist). Schließlich sind formalisierte Bildungsprozesse nur durch das

"individualisierende Nadelöhr" von Prüfungen, Klausuren undTestverfahren hindurch zu absolvieren, die ihrerseits Zugangs-möglichkeiten zu individualisierten Bildungspatenten und Ar-beitsmarktkarrieren eröffnen.

Mobilität: Mit dem Eintritt in den Arbeitsmarkt sind Mobili-tätsprozesse verbunden, die die Lebensläufe der Menschen austraditionalen Bahnen herauslösen, durcheinanderwirbeln und deneinzelnen - bei Strafe seines ökonomischen Ruins - dazu zwingen,sich als Organisator eines eigenen Lebensweges zu sehen. DerArbeitsmarkt erweist sich durch die von ihm in Gang gesetzteMobilität (Berufs-, Orts-, Betriebs- und Arbeitsplatzmobilität,Auf- und Abstiege) als ein Motor der Individualisierung von Le-bensläufen. Die Lebenswege der Menschen verselbständigen sichgegenüber den Bindungen, aus denen sie stammen oder die sie neueingehen (Familie, Nachbarschaft, Freundschaft, Kooperation),und gewinnen diesen gegenüber eine Eigenrealität, die sie über-haupt erst als ein persönllcles Schicksal erlebbar und identifizier-bar machen.

Konh,wrrenz: Diese beruht auf Austauschbarkeit der Qualifika-

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tionen und Personen und setzt damit den Zwang frei, die Beson-derheit und Einmaligkeit der eigenen Leistung und Person zuinszenieren. \üachsender Konkurrenzdruck führt zu einer Ind.ioi-dualisierung unter Gleichen, d.h. in Beziehungs- und Verhaltens-feldern, die gerade durch Gemeinsamkeiten (gleiche Ausbildung,gleiche Erfahrung, gleicher \flissensstand) gekennzeichnet sind.Gerade dort, wo (noch) Gemeinsamkeiten bestehen, werden dieseim Säurebad der Konkurrenz aufgelöst, Konkurrenz zerstörr indiesem Sinne die Gleichheit der Gleichen, ohne sie allerdings auf-zuheben, und erzwingt dadurch eine Vereinzelung innerbalb ho-mogener sozialer Gruppen.

Bildung, Mobilität und Konkurrenz sind nun keineswegs unab-hängig voneinander, sondern ergänzen und überlagern sich: erst inihrem Zusammenwirken lösen sie den besonderen Individualisie-rungsschub aus, der in den vergangenen drei Jahrzehnten in Ganggesetzt wurde.

Individualisierung und Klassenbildung:Marx und Weber

Diese Besonderheiten des Individualisierungsschubes unter wohl-fahrtsstaatlichen Bedingungen können in Auseinandersetzung mitzwei Klassikern der Ungleichheitstheorie - Karl Marx und Max'Weber - weiter präzisiert werden, Marx kann durchaus als einerder entschiedensten'Individualisierungstheoretiker. angesehenwerden. An vielen Stellen seines lflerkes hat er betont, daß mit derAusbreitung des modernen Industriekapitalismus ein historischbislang unbekannter Freisetzungsprozetl in Gang kommt; nichtnur in der Befreiung aus feudalen Bindungen, auch im Kapitalis-mus werden die Menschen in immer neuen tüüellen aus familialen,beruflichen und kulturellen Bindungen herausgelöst und in ihrenLebenswe gen durcheinandergewirbelt.

Der sich hier andeutenden Entwicklungsvariante einer sich in-dividualisierenden Klassengesellschaft ist Marx allerdings nichtweiter nachgegangen, nicht zuletzt deswegen, weil für ihn dieserVereinzelungs- und Freisetzungsprozeß im System des Kapitalis-mus immer schon aufgefangen wird durch die Kollekthterfabrwngder Verelendung und die dadurch ausgelöste Klassenkampfdyna-mik: Gefade durch die systembedingte Verelendung hindurch

formiert sich die "Klasse an sich. als "Klasse für sich". Die Frage,wie die Bildung stabiler Solidaritätsbindungen der proletarisiertenMarktsubjekte möglich ist, ist für Marx keine, weil er Individuali-sierungsprozesse in diesem Sinne immer schon in eins setzt mitProzessen der Klassenbildung. Dies scheint im Kern auch noch diePosition vieler Klassentheoretiker der Gegenwart zu sein.

Die These der Individualisierung sozialer Ungleichheit läßt sichnun genau spiegelbildlich zur Marxschen Argumentation näherbestimmen. Individualisierungsprozesse in dem hier gemeintenSinne greifen erst dann und genau in dem Maße, in dem die Bedin-gungen der Klassenbildung durch materielle Verelendung, wie sieMarx vorhergesagt hat, überwanden werden. Sie sind gebundenan gesamtgesellschaftliche Rahmenbedingungen, die bislang nurin wenigen Ländern und auch hier erst in der sehr späten Phaseihrer wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung verwirklicht wurden.Hierzu gehören u. a.: wirtschaftliche Prosperität, Ausbau des So-zialstaates, Institutionalisierung gewerkschaftlicher Interessen-vertretung, rechtliche Absicherung der Arbeitsbeziehungen, Bil-dungsexpansion, Erweiterung des Dienstleistungssektors und soeröffnete Mobilitätschancen, Verkürzung der Arbeitszeit usw2

In einem zweiten Traditionsstrang, in der Auseinandersetzungmit Max \üeber lassen sich nun diese Gesichtspunkte weiter er-gänzen und präzisieren. Einerseits sieht Max Iüy'eber sehr vielnachdrücklicher als Marx die Pluralität von Lebenslagen in dermodernen Gesellschaft, Andererseits leugnet Veber das Flervor-treten latent vorhandener Individualisierungstendenzen, und zwarnicht, wie Marx, aufgrund klassenbildender Verelendungserfah-rungen, sondern weil diese immer schon aufgefangen sind in derKontinuität ständiscber Traditionen und Subkahuren. Diese ha-ben sich im System der kapitalistischen Industriegesellschaft mitKompetenzbesitz und Marktchancen verschmolzen zu real unter-scheidbaren sozialen Klassen. Bei Max rüfleber ist damit schonangelegt, was von den marxistisch inspirierten Sozialhistorikernder Arbeircrbewegung Ende der sechziger Jahre im Detail veran-schaulicht wird: daß nämlich die lebensweltlichen Normen undLebensstile, die für die Menschen im sich entfaltenden Industrie-kapitalismus charakteristisch sind, ihrer Herkunft nach wenigerProdukt der Klassenbildung (im Sinne von Marx) sind, sondernRelikt zorkapitalistischer, zorindustrieller Traditionen. "Kapita-lismus als Kultur" ist in diesem Sinne weniger eine eigenständige

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Schöpfung, eher eine gewissermaßen spätständische Kultur, die imSystem des industriellen Kapitalismus modernisiert, konsumiertund dabei umgeschmolzen und aufgezehrt wird. Obwohl so viel-fältige Tendenzen der Enrzauberung traditionaler Lebensstilewirksam werden, wird bei Max \fleber die soziale Dynamik vonIndividualisierungsprozessen immer schon aufgefangen durch dasPrinzip der ständisch eingefärbten Vergemeinsch aftung.

Dies trifft zu, folgt man sozialhistorischen Studien, für die Ent-wicklung bis zu den fünfzigerJahren; dies gilt aber- das ist meineThese - nicht mehr für die Nachkriegsenrwicklung in der Bundes-republik. Hier beginnt die labile Einheit einer ständisch gepräg-ten, rrmarktvermittelten Gemeinschaftlichkeit", die Max \fleber

'in dem Begriff der "sozialen Klasse" zusammengedacht hat, aus-einanderzubrechen. Traditionale Binnendifferenzierungen und

"sozial-moralische Milieus" werden seit den fünfzigerJahren kon-tinuierlich weggeschmolzen; Llnterschiede in der Industriearbei-terschaft zwischen Stadt und Land werden eingeebnet. Parallelwächst mit der einsetzenden Bildungsreform überall die Bildungs-abhängigk.eit; immer weitere Gruppen geraren in den Sog vonBildungsaspirationen. So entstehen neue Binnendifferenzierun-gen, die zwar alte, traditionale Milieulinien aufnehmen, sich abervon diesen durch ihre Bildungsvermitteltheit wesentlich unter-scheiden. Zugleich wird - um eine Unterscheidung von BasilBernstein aufzugreifen - im Generationswechsel ein Schub voneher traditionsgebundenen ("restringierten") zu eher individuali-sierenden, reflexiven Sprech- und Denkformen vollzogen. Mit derAusdehnung des Dienstleistungssektors und dem Einsetzen desGastarbeiterstroms entsteh en neue soziale Binnenbierarcbien unddarauf bezogene Auf- und Abstiegswege.

In demselben Zeitraumwerden die traditionalen, familienüber-greifenden, stärker kommunal orientierten Siedlungsformen mehrund mehr ersetzt durch die modernen Großstadt- oder Klein-stadtsiedlungen mit ihrer typisch gemischt-sozialen Zusammen-setzung und ihren sehr viel lockereren Nachbarschafts- undBekanntschaftsverhältnissen. Dies bedeutet, daß'vorgegebene.Nachbarschaft (und die damit verbundene Enge und Kontroll-möglichkeit) durchbrochen wird und die jetzt entstehenden Kon-taktnetze individuell hergestellt, erhalten und immer wiedererneuert werden müssen. Dies kann heißen - um einen extremenPunkt herauszugreifen -, daß "Nichtbeziehungen", soziale Isola-

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tion und Einsamkeit zum vorherrschenden Beziehungsmusterwerden; dies kann aber auch heißen, daß selbstgewählte Abstu-fungen in Bekanntschafts-, Nachbarschafts- und Freundschafts-beziehungen entstehen, die nicht mehr an "physische. Nachbar-schaft gebunden sind, sondern lokal oder überlokal nach eigenenInteressen geknüpft werden, so daß der einzelne sich als Organisa-tor seiner eigenen sozialen Kontaktkreise erlebt; es kann im Über-gang von einer Generation zur anderen schließlich auch heißen,daß neue \fohnformen mit den sich hier eröffnenden Erprobungs-möglichkeiten sozialen Zusammenlebens entstehen.

Dieses Aufbrechen von Selbstgestaltungsmöglichkeiten in densozialen Beziehungen der Menschen mag exemplarisch verdeut-lichen, wie durch das Zurickdrängen traditioneller Bindungen einhistorischer Möglichkeitsraum für vielschichdge und vielgesich-tige Entwicklungen in der Privatsphäre entsteht, zu denen u. a.auch ein Umschlagen der Entfaltungsansprüche ins Politische, so-zusagen das neue Phänomen eines politischen Priaatisrnus gehön.Das heißt: ein intern konsequentes, extern anstößiges Überdeh-nen der historisch entstehenden Freiräume über die in ihnen ent-haltenen sozialen und rechtlichen Grenzlinien hinaus; ein Erpro-bungsverhalten neuer Sozialbeziehungen und Lebensformen umkulturelle Nervenpunkte des "Erlaubt-Verbotenen.. herum - mitallen daraus erwachsenden (politischen) Aufschaukelungseffektenund wechselseitigen Prozessen der Identitätsbildung und Identi-tätszuweisung bis hin zur Spaltung in Kultur und Gegenkultur, inGesellschaft und Alternativgesellschaft, wie wir das in den letztenzwanzigJahren in immer neuen \Tellen erlebt haben - einschließ-lich rechtsextremer Gewaltausbrüche.

Diese und andere Enrwicklungen legen die Konsequenz nahe:Die labile, ständisch bestimmte "Markt-Gemeinschafts-Einheit",die Max \üeber mit dem Begriff der sozialen Klasse vor Augenhatte, wird imZ:uge der Nachkriegsentwicklung teils umgestaltet,teils aufgelöst und verliert insgesamt für die Lebensführung derMenschen an praktischer Bedeutung. Parallel dazu entstehen neuesoziale Bindungen und Lebensformen, wird eine Dynamik sozia-lei Beziehungen und Entwicklungen freigesetzt, die weder in derTradition der Klassenformierung von KarIMarx nocb in der Tradi-tion der ständisch-marktvermittelten Vergemeinschaftung in so-zialen Klassenlagen bei Max Weber zureichend begriffen werden

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\fas geschieht eigentlich - dies ist die Frage, die damit ins Zen-trum rückt -, wenn im Zwge der historischen Enrwicklung dielebensweltliche Identität sozialer Klassen wegschmilzt? rüüenn alsoeinerseits Lohnarbeitsbedingungen und -risiken sich ausbreiten,andererseits die subkulturelle \firklichkeits- und Erfahrungsbasisvon Klassen zerrinnt? \flenn also Ungleichheiten wachsen, abervon der Erfahrungssituation der Menschen her "klassenlos<< wer-den? Ist etne nicbtständisch geprägte Klassenidentität überhauptmöglich, und wie könnte sie aussehen? Läßt sich der Zustand einerungleichen Sozialstruktur im Individualisierungsprozeß über-haupt noch mit dem Klassenbegriff oder allgemein: dem Hierar-chiemodell sozialer Ungleichheit erfassen, oder ist vielleicht dasgesamte hierarchische Ungleichheitsdenken, soweit es auf reale,Iebensweltliche Interpretationen nicht verzichten will, kategorialund notwendig auf ständische Restwirklichkeiten bezogen? rü(askönnte an seine Stelle treten? Und schließlich: Inwieweit sind In-dividualisierungsprozesse eingebunden in die Entstehung neuer\flidersprüche, die ihrerseits neue soziale Gruppierungen undSpannungslinien produzieren? \üie und wodurch schlagen also In-dividualisierungsprozesse in ihr Gegenteil um, in die Suche nachneuen Sozialidentitäten und -bindungen, in die Entwicklungneuer Lebensformen und Lebensstile? - Drei extreme Enrwick-lungsvarianten sind denkbar, die sich keineswegs ausschließen,sich möglicherweise sogar überlagern:

r. Das Verblassen ständischer Lebensformen ist nicht das Endeder Klassen, sondern der Anfang der Emanzipation der Klassenaus regionalen und partikularen Besonderungen und Beschrän-kungen; es beginnt ein neues Kapitel der Klassengeschichte, des-sen historische Eigendynamik erst noch ettziff.ert werden muß,von dem aber auch nicht mehr ohne weiteres klar ist, inwieweit esin einem strengen Sinne noch eine Geschichte der Bildung vonKlassensolidaritäten ist.

z. lmZ,tge der aufgezeigten Entwicklung verlieren Betrieb undArbeitsplatz als Ort der Konflikt- und Identitätsbildung an Be-deutung, und es bildet sich ein neuer Orr der Entstehung sozialerBindungen und Konflikte heraus: die Gestabung d.er prioatenSozi.albeziehungen, Lebens- und Arbeitsfornrcn; entsprechendkommt es zur Ausprägung neuer sozialer Formationen und Iden-titäten jenseits der Klassengesellschaft.

3. Das Ende der Klassen ist kein ,rrevolutionärer Urknall",

sondern die fonschreitende kollektive Vereinzelung in einer ent-traditionalisierten "Gesellschaft der Unselbständisen".

Entstehung nichtständischer Klassensolidaritäten

Die Diskussion um Arbeiterklasse und Arbeiterbewegung in derzweiten Hälfte des zo. Jahrhunderts ist geprägt durch eine falscheAlternative. Auf der einen Seite wird mit immer neuen Argumen-ten darauf hingewiesen, daß sich die Lage der Arbeiterschaft imKapitalismus beträchtlich verbessert hat (materieller'Wohlstand,Eröffnung von Bildungschancen, gewerkschaftliche und politi-sche Organisierung und damit erkämpfte Rechte und sozialeSicherungen). Auf der anderen Seite wird gesagt, daß durch alleVerbesserungen hindurch die Klassenlage, d.h. das Lohnarbeits-verhdltnis und die in ihm enthaltenen Abhängigkeiten, Endrem-dungen und Risiken unberührt geblieben sind, ja daß sie sichausgedehnt und verschärft haben (Arbeitslosigkeit, Dequalifizie-rung usw.). Ziel der Argumentation ist dortr der Nachweis derAuflösung, hier: der der Kontinwitär der Arbeiterklassd - mit denjeweils damit verbundenen politischen Wertungen.

In beiden Fällen wird die Entwicklung verkannt, die hier imZentrum steht: daß nämlich die historische Symbiose von Standund Kksse aufgelöst wird, und zwar so, daß einerseits ständischeSubkulturen wegschmelzen und zugleich andererseits grundle-gende Merkmale des Klassencharakters generalisiert werden. Siehtman dies, dann stellt sich die Frage, inwieweit die Herauslösungder Klassen aus sdndischen Fixierungen vielleicht der Anfangeiner neuen Form der Klassenbildung ist.

Mit dem Verblassen der ständischen Innenwirklichkeit sozialerKlassen ist es immer weniger möglich, die Entstehung von Solida-ritäten gruppenspezifisch, arbeiterspezifiscb auf das historischeUrbild des,proletarischen Produktionsarbeiters" festzulegen.Die Rede von der Arbeiter-Klasse, Angestellten-Klasse etc. ver-lien ihre lebensweltliche Evidenz, womit Grundlage und Bezugs-punkte für den unendlichen Austausch der Argumente entfallen,ob das Proletariat "verbürgerlicht" oder Angestellte "proletari-siert" werden. Gleichzeitig erfaßt die Arbeitsmarktdynamik -oder Arbeitslosigkeit! - immer weitere Bevölkerungskreise; dieGruppe der Nichtlohnabhängigen wird immer kleiner und die

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Gruppe der Lohnabhängigen immer größer. Bei allen Unterschie-den wachsen so auch Gemeinsamkeiten, insbesondere die Ge-rneinsamk,eiten d.er Risik,en, über unterschiedliche Einkommens-höhen, Bildungsabschlüsse hinweg.

In der Konsequenz wird einerseits die mögliche und reale Klien-tel der Gewerkschaften erheblich erweitert, andererseits aberauch in neuer'Weise gefäbrdet: In dem Bild der Proletarisierung istder Zusammenschluß der Betroffenen durch die Evidenz der ma-teriellen Verelendung und Entfremdungserfahrung gleich mitge-dacht. Lohnarbeiterrisiken schaffen dagegen aus sich heraus keineGemeinsamkeiten. Sie erfordern zu ihrer Bewältigung sozialpoli-tische und rechtliche Maßnahmen, die ihrerseits Individualisie-rungen sozialer Ansprüche bewirken, und müssen in ihrer Kollek-tivität überhaupt erst erkennbar gemacht werden - und zwar imGegenzug gegen individuell-therapeutische Behandlungsformen.So geraten gewerkschaftliche und politische Vahrnehmungs-und Bearbeitungsformen in Konkurrenz zu individualisierendenrechtlichen, medizinischen und psychotherapeutischen Betreuun-gen und Kompensationen, die unter lJmständen sehr viel konkre-ter und für die Betroffenen evidenter die entstandenen Zerstörun-gen und Belastungen zu bewältigen vermögen.

Vom familialen zum politischen Privatismus

Viele sozialwissenschaftliche LJntersuchungen haben in den fünf-ziger und sechziger Jahren für alle westlichen Industrieländernachgewiesen, daß die Arbeitseinstellung der Menschen erst indem Gesamtzusammenhang von Familienleben und Arbeitsexi-stenz zrt verstehen ist. Durchgängig wird hier sichtbar, daß auchbei Industriearbeitern der Lebensschwerpunkt in der Familie undnicht in der Erfahrung der Lohn- und Industriearbeit liegt.

Diese durchaus ambivalente. über Kultur- und Freizeitindustrieforcierte Entfaltung der Privatsphäre ist nicht nur eine Ideologie,sondern einrealerProzeß und einereale Chance der Selbstgestal-tung von Lebensbedingungen. Dieser Prozeß hat nur seinen An-fang bei einem familialen Privatismus, wie er für die fünfziger undsechziger Jahre wohl durchgängig kennzeichnend war. Er kannaber, wie inzwischen deutlich hervortritt, vielfältige Erschei-nungsformen annehmen und eine Eigendynamik entwickeln, die

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schließlich auch (2. B. im Bedeutungswandel von Familie und Se-xualität, Ehe und Elternschaft, aber auch im raschen\fandel vonAlternativkulturen) den Privatismus von innen her politisch auf-lädt und die Grenzen zwischen Privatheit und öffenilichkeit aus-dehnt oder zerfließen läßt. In ganz neuer \7eise und vielleichttiefergreifend als durch politische Reformversuche wird hier übereine permanente Erosion und Evolution soziokultureller Lebens-formen das gesellschaftlich-politische Gefüge durch eine perma-nente Praxis des "Andersmachens im Kleinen" unter Verände-rungs- und Anpassungsdruck gesetzr. In diesem Sinne hat dieEnttraditionalisierung der letzten Jahrzehnte einen Lernprozeßfreigesetzt, dessen historische rüTirkungen (2.8. auf Erziehungs-verhältnisse und Geschlechterbeziehungön) man mit Spannungervrarten kann.

In den fünfziger und sechziger Jahren haben die Menschen aufdie Frage, welche Ziele sie ansrreben, klar und eindeutig geanrwor-tet: in den Kategorien eines ,glücklichen" Familienlebens, mitPlänen für das Einfamilienhaus, das neue Auro, die gute Ausbil-dung für die Kinder und die Erhöhung ihres Lebensstandards.Heute sprechen viele hier eine andere Sprache, die - zwangsläufigvage - um die Suche nach der eigenen Individualirät und Identitätkreist, die >Entwicklung der persönlichen Fähigkeiten. und das

"In-Bewegung-Bleiben" ntmZiel hat. Dies trifft keinesfalls aufalle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen zu. Dieser lüflandel istwesentlich ein Produkt der jüngeren Generarion, der besserenAusbildung und des höheren Einkommens, während die älteren,ärmeren und weniger gut ausgebildeten Teile der Bevölkerungdeutlich an das

'Wertsystem der fünfziger Jahre gebunden bleiben.

Die konventionellen Erfolgssymbole (Einkommen, Karriere, Sta-tus) erfüllen für viele nicht mehr die neu erwachren Bedürfnissenach Selbstfindung und Selbstbestätigung, ihren Hunger nacheinem r'2u5gsfüllten Leben".

Die Konsequenz ist, daß die Menschen immer nachdrücklicherin das Labyrinth der Selbstverunsicherung, Selbstbefragung undSelbswergewisserung hineingeraren. Der (unendliche) Regreß derFragen: "bin ich wirklich glücklich?", "bin ich wirklich selbster-füllt?", 'wer ist das eigentlich, der hier,ich. sagt und fragt?" führtin immer neue Antwort-Moden, die in vielfältiger \üeise in Märktefür Experten, Industrien und Religionsbewegungen umgemünztwerden. In der Suche nach Selbsterfüllung reisen die Menschen

nach Tourismuskatalog in alle \flinkel der Erde. Sie zerbrechen diebesten Ehen und_ gehen.in rascher Folge immer neue Bindungenein. Sie lassen sich umschulen. Sie fasten. Sie joggen. Sie wechsilnvon einer Therapiegruppe zur anderen und schwören auf ieweilsganz unterschiedliche Therapien und Therapeuren. Besessen vondemZiel der Selbsterfüllung, reißen sie sicl selbst aus der Erdeheraus, um nachzusehen, ob ihre eigenen lVurzeln auch wirklichgesund sind.

. Dieses'Wertsystem der Individualisierung enthält zugleich auchAnsätze einer neuen Ethik, die auf dem prinzip derlpflichtengegenüber sich selbst" beruht, Dies stellt ftir die traditionelleEthik einen perfekten \Tiderspruch dar, da pflichten norwendigSozialcharakter haben und das Tun des einzelnen mit dem Ganzeiabstimmen und in es einbinden. Diese neuen'Wenorientierungenwerden daher auch leicht als Ausdruck von Egoismus und NarJiß-mus mißverstanden. Damit wird jedoch der Kern des Neuen, derhier hervorbricht, verkannt. Dieser richtet sich auf Selbstaufklä-rung urrd Selbstbefreiung als eigentätigen, lebenspraktischen pro-zeß; dies schließt die Suche nach neuen Sozialbindungen inFamilie, Arbeit und Politik mit ein.

Die politische Macht der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewe-gung beruht auf dem im Streik organisierten Vorenthalten derArbeitsleistung. Das politische Potential der sich entfaltenden pri-vatsphäre liegt demgegenüber in der \fahrnehmung von Selbstge-staltungsmöglichkeiten, darin, tiefsitzende kultuielle Selbsw"er-ständlichkeiten durch die direkte Tat des Andersmachens zuverletzen und zu überwinden. LJm es an einem Beispiel zu illu-strieren: Die "l\{x6[1" der Frauenbewegung beruht auch auf derIJmgestaltung von Alltäglichkeiten und Selbswerständlichkeiten,die sich vom Familienalltag über alle Bereiche formeller Arbeitund des Rechtssystems bis in die verschiedenen Entscheidungs-zentralen hinein erstrecken und mit einer politik der Nadelstic"hefür die "ständisch" geprägte und geschlossene Männerweltschmerzhafte_Anderungen einklagen. Allgemein formulierr liegtalso in der erlebbaren Gefährdung selbstbewußt *ahrgenommä-ner, expansiv ausgelegter, privater Handlungs- und Entschei-dungsräume der Funken, an dem sich heute (anders als in klassen-kulturell bestimmten Lebenswelten) die sozialen Konflikte undBewegungen entzünden,

"Gesellschaft der Unselbständigen"

So vielfältig die Ansatzpunkte zur Ausbildung neuer sozialerGruppierungen sind und so nachhaltig auch die Erschütterungenseinmögen, die dadurch ausgelöstwerden, sie allewerden durch dieTatsache relativiert, daß sie ihrerseits immer neuen Individualisie-rungsschüben ausgesetzt sind. Der Motor der Individualisierungläuft auf vollen Touren, und es ist insofern nicht erkennbar, wieneue, dauerhafte soziale Lebenszusammenhänge, vergleichbar mitder Tiefenstruktur sozialer Klassen, überhaupt gestifter werdenkönnen. Im Gegenteil dürften gerade in den kommenden Jahrenzur Bewältigung der Arbeitslosigkeit und der \flirtschaftskrise so-ziale und technologische Innovationen in Gang gesetzt werden, dieIndividualisienrngsprozessen neue Dimensionen eröffnen. Diesgilt für die Flexibilisierung von Arbeitsmarktbeziehungen und ins-besondere für die Einführung neuer Arbeitszeitregelungen; diesgilt aber auch für die Einführung neuer Kommunikationsmedien.Durch diese bereits angelaufenen oder bevorstehenden technologi-schen und sozialen "Revolutionen.. werden in ihren Auswirkungennoch unabsehbare Individualisierungen von Lebenslagen und Le-benswegen ausgelöst.

'Wenn diese Einschätzung zutrifft, dann dürfte eine Enrwick-

lungsvariante der Sozialstruktur an Bedeutung gewinnen, die we-der Marx noch

'$(eber vorhergesehen haben. Die Konturen der

Klassengesellschaft verblassen, und an ihrer Stelle treten immerdeutlicher die Zige und Gefahren einer "individualisierten Ar-beitnehmergesellschaft" in den Vordergrund. Im Gegensatz zurKlassengesellschaft ist die Arbeitnehmergesellschaft keine tradi-tional-kulturelle, sondern eine primär arbeitsrechtlich und sozial-politisch definierte Kategorie. Damit entsteht ein eigentümlichesUbergangsstadium, in dem verbliebene oder sich verschärfendeUngleichheircn zusammentreffen mit Elementen einer enttradi-tionalisierten und individualisierten "Nachklassengesellschaft"(die nichts mit Marx'Visionen einer klassenlosen Gesellschaft zutun hat). Diese Übergangsgesellschaft ist durch eine Reihe charak-teristischer Strukturen und Gefahren gekennzeichnet.

r. Individualisierungsprozesse rauben den sozialen Klassenun-terschieden ihren lebensweltlichen Identitätsgehalt; die Gruppenverlieren für sich und im'Wechselsoiel füreinander ihre Besonder-heiten, und damit ihre identitätsbildende und politikprägende

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Kraft. Im Zuge dieser Entwicklung verblaßt die Id'ee sozialer Mo-

bilität im Sinne eines 'Wechsels

von Individuen zwischen erlebba-

ren, ständisch geprägten sozialen Klassen, die ja bis weit in dieses

Jahrhundert hinein ein soziales und politisches Thema von großer

identitätsstiftender Kraft war.z. Ungleichheiten werden keineswegs beseitigt, sondern nur

umdefiniert in eine Indiztidualisierwng sozialer Risiken. In der

Konsequenz schlagen gesellschaftliche Probleme unmittelbar um

in psychische Dispositionen: in persönliches Ungenügen, Schuld-gefühle, Angste, Konflikte und Neurosen. Es entsteht - paradox

genug - eine newe Unmittelbarkeit von Individuum und Gesell-

schaft, die Unmittelbarkeit von Krise und Krankheit in dem

Sinne, daß gesellschaftliche Krisen a/s individuelle erscheinen und

nicht mehr oder nur noch sehr vermittelt in ihrer Gesellschaft-

lichkeit wahrgenommen werden. Hier liegt auch eine \Turzel für

die gegenwärtige 'Psychowelle" und die Flucht in Esoterik und

Gewalt. Dies sind die Kehrseiten einer Entwicklung in der auch

individuelles Leistungsdenken an Bedeutung gewinnt, so daß man

sagen kann, daß die Leistungsgeselkcbaft mitihren Möglichkeiten

der (Schein-)Legitimierung sozialer Ungleichheiten sich in Zu-

kunft erst in ihrer garlzen Problematik entfalten wird'

3. Die Menschen sind auch hier zur Bewältigung geseilschaft-

licher Problemlagen zrt sozialen und politischen Koalitionen ge-

zwungen. Diese müssen abernichtmehrnach einem Schema, etwa

dem Klassenschema, erfolgen. Die Isolation der gegeneinander ver-

selbständigten Privatexistenzen kann vielmehr durch verschieden-

artigste Ereignisse und Entwicklungen gesellschaftlich-politisch

durchbrochen werden. Entsprechend werden Koalitionen punktu-

ell, situations- und themenspezifisch und durchaus wechselnd rnit

unterschiedlichen Gruppen aus unterschiedlichen Lagern ge-

schlossen und wieder aufgelöst. Man kann gleichzeitig auf ver-

schiedenen Hochzeiten tanzen, also etwa zur Verhinderung des

Flugiärms mit Anrainern in einer Bürgerinitiative koalieren, Mit-

glied der Industriegewerkschaft Metall sein und angesichts derlVirtschaftskrise politisch rechtswählen. Koalitionen sind in diesem

Sinne situations- und persone nabhängigeZweckbündnisse im indi-

viduellen Existenzkampf auf den verschiedenen gesellschaftlich

vorgegebenen Kampfschauplätzen, Hier wird erkennbar, wie im

Zuge von Individualisierungsprozessen Konfliktlinien und -the-

men eine eigentümliche Pluralisierwng erfahren. In der individuali-

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sierten Gesellschaft wird der Boden bereitet für neue, bunte, diebisherigen Schematisierungen sprengende Konflikte, Ideologienund Koalitionen: Mehroderwenigerthemenspezifisch, keineswegseinheitlich, sondern situations- und personenbezogen. Die entste-hende Sozialstruktur wird anfällig für massenmed.ial forcierte Mo-dethernen und Konfliktmoden, die wie Frühjahrs-, Herbst- und\üinterkollektionen die öffentlichen Diskussionen bestimmen.

4. Dauerhafte Konfliktlinien entstehen mehr und mehr entlang

"zugewiesener" Merkmale, die nach wie vor mit offensichtlichenBenachteiligungen verbunden sind: Rasse, Hautfarbe, Ge-schlecht, ethnische Zugehörigkeit (Gastarbeirer), Alter, Homose-xualität, körperliche Behinderungen. Derartige rquasi-naturver-mittelte" soziale Ungleichheiten erhalten unter Bedingungenfortgeschrittener Individualisierung besondere Organisierungs-und Politisierungschancen aufgrund ihrer Unentrinnbarkeit, ihrerzeitlichen Konstanz, ihrer'Widersprüchlichkeit zum Leistungs-prinzip, ihrer Konkretheit und direkten \Tahrnehmbarkeit undden damit ermöglichten sozialen und individuellen Identifika-tionsprozessen. Zugleich wird die Lage des einzelnen auch inneuer \üeise bestimmt von Konjunkturen, sozusagen historischenNaturscbichsalen wie \Tirtschaftskrisen (oder -aufschwüngen),

Massenarbeitsiosigkeit, Numerus clausus, Stärke oder Schwächeeines Geburtenjahrgangs usw.

Gelingt es, an die Ansprüche und Verheißungen des in Gang ge-kommenen Individualisierungsprozesses und des in ihm enthalte-nen konkreten Aufklärungsimpulses anzukniplenund j enseits vonStand und Klasse Individuen und Gruppen in neuer\fleise als selbst-bewußte Subjekte ihrer persönlichen, sozialen und politischenAngelegenheiten zusammenzufassen? Oder werden im Zuge von In-dividualisierungsprozessen die letzten Bastionen sozialen und poli-tischen Handelns weggeschmolzen, und die sich individualisieren-de Gesellschaft versinkt an der Grenze zwischen Krise und Krank-heit in politischer Apathie, die nichts ausschließt, auch nicht neueund schleichende Formen einer Modernisierung der Barbarei?

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Anmerhangen

r Dies trifft nicht auf alle westeuropäischen Industriestaaten gleicherma_ßen zu. Die Enrwicklung der Bundesrepublik unterscheidet sich z.B.von der EnrwickJung in Großbritannien und in Frankreich. So ist inGroßbritannien die soziale Klassenzugehörigkeit nach wie vor auch imAlltag deutlicher wahrnehmbar und oblekt b-ewußter Identifikation. siemacht sich fest,am Sprachstil (Akzent, Ausdrucksweise, Vokabular), ander scharlen K.lassenrrennung derrVohngebiete (,hogsi11g

"l"rs"r*j, "r,F,rziehungsformen, Kleidung und allem-, *as sich ,rrrt.i d.- f.j;if"Lebensstil" zusammenfassen Iäßt.

z ,Individualisierung. un1g1 Bedingungen von wachsender Armut undMassenarbeitslosigkeit bedeutet, daß Arbeitslosigkeit und Armutimmerweniger dauerhaft eine Gruppe trifft, sondern-/e benspbasenspezifiscbquerzterteiltwird. Schematisch gesprochen: Die Gegensätze sozialerUn_gleichheit tauchen als Gegensätze zwischen Lebensa]bschnitten innerhalbe tner Biogr aphie auf. Lebensverläufe werden bunter, brüchiger, hetero_nomer. Das heißt nun auch: ein wachsender Teil der Gesamtbävölkerungist zumindest vorübergehender Arbeitslosigkeit und Armur ausgesetzt.Dies ldßt sich exemplarisch an einer UnterJuchung in den USA?eige;.Danach befandensichz. B. imJahr 1978 6,8 % derBävökerungmitihiemEinkommen unrer der amtlich definierten Armutsgrenze. Anhand derI,ängsschnittdatenwar jedoch_zu sehen, daß "ledigliÄ" 1a bis 6 5 !" d,erineinem Jahr zu den Armen Zäh\end.en sich auch ii, folg"od.r, jrhr nochunter der Armutsgrenze befanden. In roJahren *ar.rrärr. o,7;Ä d.. B"_fragten durchgängig arm; iber z4To der üefragten waren aber in minde_s,tens einemJahr von Armut betroffen. Entspreihende Ergebnisse stellendie Rede von der

"Zwei-Drittel-Gesellschait*, nach der ein Drittel derGesellschaft dauerhaft unterprivilegiert ist, auch für Deutschland inFrage. Statt.de-ssen schlagen viele Armutsforscher vor, von eine r >7r_rr_ro-Gesellschaft. zu sprechen: Drei viertel waren im lJntersucttung*.it-raum n_iemals arm, erwa r t lo warenktrzlristig (ein_ bis zweimal) äd ca.roTo längerfristig (mehr als dreimal) arm. Dii ilohe rrnd Konsianz derZahlen täuscht also darüber hinweg, daß Arbeitslosigkeit und Armutnicht gleich als dauerndes Fatum, sändern zunächst äft mit den leisensoblen des vorübergehenden in das Leben eintritt. Die Zahlen sind da.Aber man weiß nicht, wo die Menschen sind. Es gibt Spuren. Das abge_meldete Telefon. Der überraschende Austritt

"oi d"- Clrrb. Doch iie

verweisennur noch einmal auf die Mauern des scheinbarVorläufigen, mitdem sichdieneueArmutauch dortumgibt, wo sie endgültiggewo"rdenist.V.Cl.

Ij. tckl f isikogesellschaft, Fran-kfurt/M. rgSrjS. r43- r 5 r; Leise_

rrng/ Lwrck, _Heterogenisierung der Armut? in: Zeitscbrift für Sozialre_

(ry p9o, H. 1 .r /r z, S. 7 r 5 - 7 4 5 ; p eter A. B er ger, S t at u s unsich erh eit undE rl a h r an gso te lJ a lt, Habilir*ionsschrift, München r 9 9 4, S. r z_ r 4; sieheauch den Beitrag von Ditmar Brock.

Ditmar BrockRückkehr der Klassengesellschaft?

Die neuen sozialen Gräbenin einer materiellen Kultur

r. Von der kulturellen Normierungzur materiellen Kultur- Der neue Integrationsmodus

enrwickelter Indus triegesellschaf ten

vor einigen Jahren haben konservative soziarwissenschaftrer wieElisabeth Noelle-Neumann die internationale rflettbewerbsfähig-keit der Bundesrepublik für gefährdet erklärt. Umfrageergebiiss'ehatten gezeigt, daß sich immer weniger Menschen zu einer unbe_dingten, ethisch motivierren Leistuigswilligkeit bekennen undden Sinn des Lebens in der Arbeit suchen.r Sälchen Kassandraru_fen liegt die klassische Auffassung zugrunde, nach der Sozialord_nungen die Aufgabe haben, den Menschen zum gesellschaftlichenNutzen aller nt zähmen. Sie können dies, wie üei Hobbes, überein staatliches Gewaltmonopol erreichen oder, wie die Gründer_generarion der Soziologie immer wieder betont hat, auf demsanfteren und.zuverlässigeren \(ege kultureller Integraiiorr.

Durkheim hat dieses kulturelle Integrationsmoment vielleichtamprägnantesten erläutert. Seiner Auffassung nach bilden Körperund Seeie >zwei verschiedene GravitationszÄtren* unseres inne_ren Lebens. "Es gibt auf der einen Seite unsere Individualität und.genauer gesagt, unseren Körper als deren Grundlage; auf der an_deren Seite steht alles das, wäs in uns erwas anderes ausdrückt alsuns selbst" (Durkheim ry8r, 37r). Mit der Tatsache unseres Kör_pers sind für Durkheim zwangsläufig egoistische Bedürfnisse undNeigungen verbunden, die ebenso zwangsläufig mit der uns ge_meinsamen Moral konkurrieren. DieseJ Konfurrenzverhaltiiswurde dadurch gelöst, daß wir unsere individuellen Neigungeneiner höheren Moral unterordnen, die die Geselschaft in ,ins ier-körpert. _V.ergesellschaftung ist also ohne kulturell hervorge_brachte Selbstdisziplinierung oder gar Selbstverlerrgnrrng nicitdenkbar. "rJüir können uns nicht moralischen Zielen zuvienden,ohne uns von uns selbst abzuwenden, ohne die Instinkte und Neil

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