und was aus seiner Vision des Reiches Gottes wurde · Wesens«, wie das Dogma es behauptet, denn...

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49 Die Warte des Tempels April 2012 Jesus der Befreier - und was aus seiner Vision des Reiches Gottes wurde »Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube« (Goethe, Faust). Ist es denn ein purer Zufall, dass die Botschaft Jesu vom gegenwärtigen Anbruch des Gottesreiches im Glaubensbekenntnis nicht vorkommt? Meine Antwort lau- tet: Es ist kein Zufall. Der historische Jesus, der Mensch aus Fleisch und Blut, verschwand schon bei den Hellenisten und Paulus aus dem Blickfeld zuguns- ten des dogmatischen Christus. Paulus interessierte der Jesus dem »Fleische nach« nicht, er störte nur das Bild des Jesus dem »Geiste nach«. Bereits bei den Hellenisten und ihrem Vordenker Paulus mutierte der Befreier Jesus von Nazareth zum Heiland und Erlöser Je- sus Christus. Mit dem Wort »Befreier« meine ich: Jesus ging es darum, in dieser Welt das Reich Gottes zu schaffen, ein Reich der Wahrheit und der Liebe, der Gerechtig- keit und des Friedens, der Freiheit und der Schöpfungsbewahrung. Er sah die- ses Reich keimhaft verwirklicht in der kleinen Gemeinde, die mit ihm durch Galiläa wanderte und schließlich nach Jerusalem hinaufzog. Diese Vision des Gottesreiches blieb auch in der Urge- meinde und den frühen christlichen Ge- meinden im Römischen Reich lebendig. Sie wurde im Laufe der ersten drei Jahr- hunderte jedoch mehr und mehr von ei- ner hellenistischen Strömung überlagert, die Jesus als Erlöser, als Gottessohn und Heiland betrachtete. Göttersöhne gab es in der antiken Mythologie mehrere, doch unterschied sich das Christentum von den antiken Religionen darin, dass es den Anspruch erhob, Jesus sei der einzige und eingeborene Sohn Gottes. Er allein sei Gott in Menschengestalt. Was ist aus dem von Jesus erstrebten und ersehnten Reich Gottes, in dem er als Gleicher unter Gleichen leben woll- te, geworden? Die Kirche, die Jesus als den Christus, den Gesalbten Gottes, als Herrn und Heiland, das heißt als Erlöser, verkündigte! Die Christen glaubten fort- an nicht mehr mit ihm an Gott, sondern an ihn als Gott, wie der jüdische Philo- soph Martin Buber treffend bemerkte. »Sündenregister« von Kirche und Religionen Noch einmal: Was ist aus Jesu Bot- schaft vom gegenwärtigen Anbruch des Gottesreiches geworden? Die Antwort kann nur lauten: Ein religiöses Impe- rium mit einem absoluten Wahrheits- und Herrschaftsanspruch. Wie bei je- dem Imperium ist die Geschichte des christlichen Imperiums eine Geschichte von Blut, Schweiß und Tränen. Die Re- ligion der Wahrheit und der Liebe, als die sie sich selbst sieht, stellt sich dem Auge des Historikers ganz anders dar, nämlich als eine Kirche, die einen ab- soluten Wahrheits- und Herrschaftsan- spruch erhob und bis zum heutigen Tag erhebt. Die Zahl ihrer Opfer - Häretiker, Ketzer , Ungläubige oder Andersgläubi- ge - ging im Laufe der Jahrhunderte in die Millionen. Hier seien sie nur stich- wortartig genannt: Verfolgung der Hä- retiker in der Antike und der Ketzer in

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Jesus der Befreier -und was aus seiner Vision des Reiches Gottes wurde

»Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube« (Goethe, Faust). Ist es denn ein purer Zufall, dass die Botschaft Jesu vom gegenwärtigen Anbruch des Gottesreiches im Glaubensbekenntnis nicht vorkommt? Meine Antwort lau-tet: Es ist kein Zufall. Der historische Jesus, der Mensch aus Fleisch und Blut, verschwand schon bei den Hellenisten und Paulus aus dem Blickfeld zuguns-ten des dogmatischen Christus. Paulus interessierte der Jesus dem »Fleische nach« nicht, er störte nur das Bild des Jesus dem »Geiste nach«. Bereits bei den Hellenisten und ihrem Vordenker Paulus mutierte der Befreier Jesus von Nazareth zum Heiland und Erlöser Je-sus Christus.

Mit dem Wort »Befreier« meine ich: Jesus ging es darum, in dieser Welt das Reich Gottes zu schaffen, ein Reich der Wahrheit und der Liebe, der Gerechtig-keit und des Friedens, der Freiheit und der Schöpfungsbewahrung. Er sah die-ses Reich keimhaft verwirklicht in der kleinen Gemeinde, die mit ihm durch Galiläa wanderte und schließlich nach Jerusalem hinaufzog. Diese Vision des Gottesreiches blieb auch in der Urge-meinde und den frühen christlichen Ge-meinden im Römischen Reich lebendig. Sie wurde im Laufe der ersten drei Jahr-hunderte jedoch mehr und mehr von ei-ner hellenistischen Strömung überlagert, die Jesus als Erlöser, als Gottessohn und Heiland betrachtete. Göttersöhne gab es in der antiken Mythologie mehrere, doch unterschied sich das Christentum

von den antiken Religionen darin, dass es den Anspruch erhob, Jesus sei der einzige und eingeborene Sohn Gottes. Er allein sei Gott in Menschengestalt.

Was ist aus dem von Jesus erstrebten und ersehnten Reich Gottes, in dem er als Gleicher unter Gleichen leben woll-te, geworden? Die Kirche, die Jesus als den Christus, den Gesalbten Gottes, als Herrn und Heiland, das heißt als Erlöser, verkündigte! Die Christen glaubten fort-an nicht mehr mit ihm an Gott, sondern an ihn als Gott, wie der jüdische Philo-soph Martin Buber treffend bemerkte.

»Sündenregister« von Kirche undReligionen

Noch einmal: Was ist aus Jesu Bot-schaft vom gegenwärtigen Anbruch des Gottesreiches geworden? Die Antwort kann nur lauten: Ein religiöses Impe-rium mit einem absoluten Wahrheits- und Herrschaftsanspruch. Wie bei je-dem Imperium ist die Geschichte des christlichen Imperiums eine Geschichte von Blut, Schweiß und Tränen. Die Re-ligion der Wahrheit und der Liebe, als die sie sich selbst sieht, stellt sich dem Auge des Historikers ganz anders dar, nämlich als eine Kirche, die einen ab-soluten Wahrheits- und Herrschaftsan-spruch erhob und bis zum heutigen Tag erhebt. Die Zahl ihrer Opfer - Häretiker, Ketzer, Ungläubige oder Andersgläubi-ge - ging im Laufe der Jahrhunderte in die Millionen. Hier seien sie nur stich-wortartig genannt: Verfolgung der Hä-retiker in der Antike und der Ketzer in

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Mittelalter und Neuzeit, die Zwangs-bekehrung der Sachsen durch Karl den Großen oder der Juden in Andalusien und anderswo, die Opfer der Kreuzzü-ge und der Religionskriege, die Opfer einer Mission, die auf Ausdehnung des Imperiums hinauslief.

Doch damit nicht genug. Der absolu-te Wahrheits- und Herrschaftsanspruch des Christentums lieferte in säkularisier-ter Gestalt das Paradigma für den abso-luten Herrschaftsanspruch der weißen gegenüber den farbigen Rassen sowie der Europäer gegenüber den Nicht-Eu-ropäern. Die Vernichtung der indigenen Völker Amerikas, die Negersklaverei, der Kolonialismus und Imperialismus bis zum Globalismus unserer Tage wa-ren und sind die Folge.

Den Einwand, die Täter seien in ihrer großen Mehrheit keine Christen gewe-sen, lasse ich nicht gelten, denn wir sind nicht nur für das verantwortlich, was wir tun, sondern auch für das, was wir zulassen, und wir Christen haben all das zugelassen, sofern wir nicht sogar aktiv daran beteiligt waren und sind. Um das Maß vollzumachen, sei hinzu-gefügt, dass es der christliche Kultur-kreis ist, der die Schöpfung heute mit Vernichtung bedroht, sei es in Gestalt des nuklearen Holocaust, der Umwelt-zerstörung oder der geistig-moralischen Zerstörung durch den Industrialismus.

Gewiss, auch andere Religionen ha-ben ihr Sündenregister. Doch das Chris- tentum übertrifft sie alle bei weitem. Selbstverständlich ist die Geschichte des Christentums nicht nur eine Ge-schichte von Zwang und Gewalt. Doch werden die positiven Leistungen des

Christentums von den Kirchen und Theo-logen so eifrig in das Blickfeld gerückt, dass es sich als notwendig erweist, auch einmal die Schattenseiten zu be-leuchten.

Verschiedene Inkarnationen Gottes Meines Erachtens ist es kein Zufall,

dass Wolfram Zoller seinen Artikel mit der imperialen Vision eines Gottesrei-ches beschließt, in dem »sich alle Knie beugen und alle Zungen bekennen, dass Jesus Christus [eben als Verkörperung dieser Liebe] der Herr sei, zur Ehre Got-tes des Vaters« (Philipper 2,10 f.). Diese Vision kann angesichts der Geschichte des Christentums von den Angehörigen anderer Religionen nur als Kriegserklä-rung verstanden werden.

Über dem Trennenden sollte das Ge-meinsame nicht vergessen werden. Auch für mich war Gott in Jesus gegenwärtig. Auch für mich ist Jesus eine Inkarnati-on Gottes, aber nicht die einzige. Auch war er nicht mit Gott identisch, »eines Wesens«, wie das Dogma es behauptet, denn ein Mensch kann niemals ganz Gott werden und Gott kann und will niemals ganz Mensch werden. Das ist schlicht unmöglich, denn wir Menschen sind, solange wir leben, sterblich, schwach, unwissend und den Naturkräften aus-geliefert, Gott aber ist unsterblich, all-mächtig, allgegenwärtig und allwissend. Die Einheit beider zu behaupten, erfor-dert das sacrificium intellectus (das Op-fer des Verstandes) auf dem Altar des Wunderglaubens. Da halte ich es lieber mit Albert Schweitzer, der meinte, alle wahre Religion ist vernünftig und alle wahre Vernunft ist religiös.

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»Wahrheit« ist eine philosophische und eine religiöse Kategorie

Der erbitterte Kampf zwischen Glau -ben und Vernunft, der die Theo lo gie-geschichte, nein, die ganze christliche Geschichte durchzieht, ist ein Scheinge-fecht. Bei Gandhi findet man den Satz: Gott ist die Wahrheit und die Wahrheit ist Gott. Die Wahrheit ist eine philoso-phische und zugleich eine religiöse Ka-tegorie. Gott ist eine religiöse und zu-gleich eine philosophische »Kategorie«. Ich habe daher keine Hemmungen, »Athe-isten« wie Gautama Buddha oder Sok-rates als Wahrheitssucher und daher als Inkarnationen Gottes zu betrachten, nicht mehr und nicht weniger als Jesus von Nazareth.

Grundsätzlich gilt, dass jeder Mensch, der den Weg der Wahrheit und der Liebe, d.h. der Gewaltfreiheit, beschreitet, in dem Maße, wie er auf diesem Weg voranschrei-tet, Gott ähnlich wird. Doch werden wir, solange wir leben, niemals Gott gleich.

Eine Rückkehr zu Jesus ist überfällig Fazit: Ich halte eine zweite Reformation

in Gestalt der Rückkehr zu Jesus, dem Be-freier, dem Verkünder des gegenwärtigen

Anbruchs der Gottesherrschaft, für über-fällig, Martin Luthers große Tat war das »sola scriptura«, die Rückkehr zur Heiligen Schrift. Er wollte den Ballast der katholi-schen Tradition, der die christliche Lehre und das christliche Leben im Laufe der Jahrhunderte verschmutzt und vergiftet hatte, beiseite schaffen und zur Bibel als der reinen Quelle zurückkehren. Wir müs-sen heute den Schlachtruf der Reforma-toren: »Ad fontes!« (zurück zu den Quel-len!«) wieder aufnehmen. Er kann nach allem, was die Leben-Jesu-Forschung und die historisch-kritische Bibelwissenschaft in den vergangenen Jahrhunderten er-arbeitet haben, nur lauten: Zurück zum historischen Jesus, dem Jesus der Berg-predigt und der Gleichnisse, dem Ver-kündiger der Gottesherrschaft in dieser Welt! Er fordert uns auf, mit ihm an Gott, statt an ihn als Gott in Menschengestalt zu glauben. Wolfgang Sternstein in einer Stellungnahme zu W. Zollers Artikel »Dreifache Gotteserfahrung«, Freies Christen-tum 2/2012, S. 41-44. Der Friedensforscher Dr. Wolfgang Sternstein hat seine theologi-sche Auffassung in seinem Buch »Gandhi und Jesus. Das Ende des Fundamentalismus« ausgeführt.

Das Brot der BefreiungPessach und Ostern - Bedeutung und Deutung von Ritualen

»Das Brot der Befreiung« - das ist eine jüdische Bezeichnung für das ungesäu-erte Matzen-Brot, das beim Seder-Mahl zu Beginn des Pessachfests gegessen wird - eine andere ist bezeichnender-weise »Das Brot des Elends«: das glei-che Objekt steht für zwei gegensätzli-che Erfahrungen.

Zugleich ist »Das Brot der Befreiung« der Titel eines Artikels von Christian Feldmann in der Zeitschrift Publik-Fo-rum (Nr. 6, 2010), der die Entstehung dieses Rituals beschreibt und zugleich an diesem Beispiel die Bedeutung von Ritualen anschaulich macht. Er kommt zu dem Schluss, dass ohne das jüdische

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Pessachfest das christliche Osterfest nicht denkbar wäre. Ich möchte im Fol-genden gekürzt aus dem Artikel referie-ren und einige eigene Überlegungen zum Thema Rituale einschließen.

Am Anfang - in archaischer Zeit, aus der es keine schriftlichen Quellen gibt - stehen zwei heidnische Frühjahrsfeiern. Die eine stammt von den Kleinviehno-maden, die im Frühjahr ein religiöses Fest begingen, ehe sie mit ihren Scha-fen und Ziegen zu den Sommerweiden aufbrachen. Sie brachten wohl den Göt-tern ein Opfer - das erstgeborene Lamm - und baten um ihren Schutz für die ge-fahrvolle Wanderung. Als die Stämme allmählich sesshaft wurden, blieb das ältere nomadische Frühlingsfest erhal-ten, aber es kamen Opfergaben - Brot (Weizen), Kräuter, Gemüse - und sicher auch Dankgebete und Segensbitten aus dem Bereich des Ackerbaus hinzu.

Mit dem Erlebnis des Auszugs aus Ägypten verändert sich die Glau bens-grundlage. Was damals genau gesche-hen ist und wann genau, wissen wir nicht. Der Bericht, den wir aus dem Al-ten Testament kennen, ist erst im Laufe der Jahrhunderte entstanden durch die Zusammenfügung sehr vieler ganz ver-schiedener Sagen einschließlich frommer Übertreibungen. Trotzdem muss am Be-ginn etwas Entscheidendes geschehen sein: eine ganz und gar unwahrscheinli-che Errettung aus existentieller Not, die sich nur durch ein Eingreifen Gottes er-klären ließ. So entstand der Glaube an einen Gott, der sich Israel als sein Volk auserwählt hatte, der Gehorsam forder-te, vor allem die Abkehr von allen ande-ren Göttern, der aber dafür versprach,

das Volk durch alle Gefahren hindurch zu bewahren, und ihm eine Verheißung und ein Ziel gab; und der zugleich den Beweis erbracht hatte, dass er das konn-te, dass er stärker war als alle anderen Götter. Auch dieses Gottesbild hat sich mit den Jahrhunderten gewandelt, aber die Ur-Erfahrung, aus der es entstanden war, war so wichtig, dass sie bewahrt und weitergegeben werden musste.

Dem diente nun das Frühlingsfest. Das alte Ritual blieb: das gemeinsame Mahl in der Familie am ersten Abend des Passah-Festes mit all den von der Tradition vorgegebenen Zutaten. Aber es ist nun kein Opfermahl mehr - geop-fert wurde später nur noch im Tempel -, sondern es dient der Vergegenwärti-gung der Geschichte des Exodus: der Unterdrückung in Ägypten, der sieben Plagen, die den Pharao schließlich zwin-gen, das Volk gehen zu lassen, der Erret-tung beim Durchgang durch das Meer, der Not auf der Wüstenwanderung. Und es folgt einem festen Ritual, das Chris-tian Feldmann anschaulich beschreibt: Der älteste Sohn fragt: »Warum ist die-se Nacht anders als alle anderen Näch-te?« Und der Vater antwortet, indem er anhand der Speisen auf dem Tisch und anderer Symbole die Exodus-Geschich-te erzählt: die »ungesäuerten« Fladen-brote, die Matzen, erinnern daran, dass einst, in der Eile des Aufbruchs, keine Zeit war, den Teig gehen, aufgehen zu las-sen; das Salzwasser, in das das Gemüse getaucht wird, an die Tränen in der Zeit der Unterdrückung, ebenso das Bitter-kraut und die Schärfe des Meerrettichs usw.; das Blut vom Schlachten des Lam-mes an die letzten der sieben Plagen,

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als die Israeliten dieses Blut an die Tür-pfosten ihrer Häuser streichen sollten, damit Gott, wenn er in der Nacht über das Land ging, um alle Erstgeborenen der Ägypter zu töten, an ihren Häusern vorübergehen sollte. Daher der Name Pessach (Passah): das Vorübergehen - auch: das Verschonen. Und alles zu-sammen ist ein Symbol für den großen Aufbruch, der beides bedeutet: das Leid des Zurücklassens, vor allem aber die Freude der neuen Freiheit.

Für mich ist das ein sehr eindrucks-volles Beispiel dafür, wie durch ein Ritu-al eine Tradition weitergegeben werden kann. Aber auch noch für etwas ande-res: Rituale können ungeheuer bestän-dig sein. Sie können sich erhalten, selbst wenn die Glaubensgrundlage, aus der sie hervorgegangen sind, sich ändert. Aber sie bleiben lebendig nur, wenn sie dann neu gedeutet werden, wenn spürbar bleibt oder wieder wird, dass das, was erinnert wird, uns heute noch angeht. Das geschah noch einmal bei der Entste-hung des Christentums. Die Jerusalemer Urgemeinde hat sicher auch nach Jesu Tod weiter das Passah-Mahl gefeiert. Sie verstanden sich ja weiterhin als Juden. Aber ihre Glaubensgrundlage hatte sich geändert. Ihr prägendes Heilserlebnis war nicht mehr - oder nicht primär - der Exo-dus, es waren Tod und Auferstehung Jesu. Das war ihre neue Deutung des Rituals. Und meiner Ansicht nach - ich habe das noch nirgends bestätigt gefunden - hat dabei wohl ein Element des alten Ritu-als eine wesentliche Rolle gespielt: das Lamm. In einem anderen traditionsgehei-ligten Text, dem Gottesknechtslied bei Trito-Jesaia (Jes. 53, 4-7, 11, ich zitiere

nur die wichtigsten Stellen) heißt es: »Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde wil-len zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt ... Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor sei-nem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf ... Weil seine Seele sich abgemüht hat, wird er das Licht schauen und die Fülle haben. Und durch seine Erkennt-nis wird er, mein Knecht, der Gerechte, den Vielen Gerechtigkeit schaffen; denn er trägt ihre Sünden.«

Bis heute ist nicht klar, wen der Pro-phet gemeint hat: einen anderen Prophe-ten der damaligen Zeit (6. Jahrhundert v.Chr.), das Volk Israel? Für die ersten Anhänger Jesu war es sonnenklar: das galt Jesus. Sie hatten seinen Tod - einen Tod der Schande - empfunden als ein Scheitern seines und ihres Glaubens, das sie in abgrundtiefe Verzweiflung stürzte. Ihre Visionen - und vielleicht auch die Erklärung durch dieses Prophetenwort - gaben ihnen die Gewissheit, dass die-ses Scheitern gottgewollt war, dass es in Wahrheit ein Sieg war, ein Sieg sei-nes und ihres Glaubens. So wurde aus Jesus »das Lamm Gottes, das unsere Sünde trägt« und uns erlöst. Und da-mit änderte sich mit der Zeit auch das Ritual. Aus dem jüdischen Passah-Mahl wurde das christliche Abendmahl.

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Für viele Christen und für uns Temp-ler sowieso ist das nicht mehr unsere Glaubensgrundlage. Vielleicht wäre es gut, dann auch das Ritual zu ändern. Denn Religion braucht (meist) Rituale, die das Gefühl aussprechen und die zugleich für etwas stehen, was auch unserer Über-zeugung entspricht. Ich habe ursprüng-lich geglaubt, Rituale könnten nur aus einer langen Tradition entstehen. Trotz-dem haben wir vor etwa 10 Jahren, zu-

nächst unsicher, versucht, ein neues zu schaffen: ein einfaches Mahl mit Brot und Wein, in der Gemeinde, am Gründonners-tag, im Gedenken an Jesus, zur Stärkung der Gemeinschaft und der Liebe auch über die Gemeinde hinaus, mit einigen gleichbleibenden Gebeten und Liedern. Das wurde von unserer Gemeinde mit Freude aufgenommen - die Agapefeier ist im Begriff, ein neues Ritual zu werden.

Brigitte Hoffmann

Zurück zum KernKatholische Reformgruppen und Theo-logen propagieren Eucharistiefeiern ohne Priester. Sie verweisen auf das Beispiel der ersten Christen

Eskaliert die innerkatholische Auseinan-dersetzung? Reformgruppen in Öster-reich jedenfalls haben die Geduld mit ihren Bischöfen und dem Papst verlo-ren. Sie wollen nicht mehr hinnehmen, dass die katholischen Hierarchen wei-terhin am Bild des ehelosen Priesters festhalten und so den Priestermangel forcieren. Sie finden es grotesk, dass die Gemeinden in der Folge zu großen pastoralen Räumen oder Gemeindever-bünden zusammengeschlossen werden, sodass die Eucharistiefeier nicht mehr überall und nicht mehr an jedem Wo-chenende gefeiert werden kann. Das grundlegende Recht der Gemeinden auf die Eucharistie, die Feier der Danksa-gung, werde ihnen von den Oberhirten verweigert, so der Vorwurf.

Deshalb fordern die Reforminitiativen – unterstützt von deutschen Gruppen – alle Katholikinnen und Katholiken auf,

nun auch ohne priesterliche Leitung die Eucharistie zu feiern ... Für die österrei-chischen Bischöfe stellt dieser Aufruf einen »offenen Bruch mit einer zentra-len Wahrheit unseres katholischen Glau-bens dar«. Es gehe hier um »fundamen-tale Fragen der katholischen Identität«.

Die Situation ist teilweise skurril: Die Eucharistie ist – laut katholischer Leh-re – »Höhepunkt und Quell« kirchlichen Lebens. Offiziell ist sie nur unter Leitung eines geweihten Priesters möglich. Weil die Bischöfe aber an einem geschichtlich gewordenen, heute kaum mehr vermit-telbaren Priesterbild festhalten, müssen sie das Angebot an Eucharistiefeiern we-gen des Priestermangels notgedrungen verknappen. Das löst einen Aufschrei der Empörung bei denen aus, die in der Eu-charistiefeier tatsächlich einen zentralen Kristallisationspunkt ihres christlichen Lebens sehen. Für die große Mehrheit der Katholiken hat der eucharistische Gottesdienst diese Bedeutung nicht: Sie gehen überhaupt nicht zum Gottes-dienst, höchstens mal an Weihnachten oder bei der Erstkommunion ihrer Kinder.

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Theologie und Wirklichkeit klaffen weit auseinander.

Vielleicht gehen die Menschen ja auch deshalb nicht mehr zur Eucharistiefei-er, weil der Kern dessen, worum es bei der Eucharistie eigentlich geht, gar nicht mehr recht erkennbar ist. Die Exegeten sind sich einig, dass die Feier von Ge-meinschaftsmählern ein Erkennungs- und Markenzeichen Jesu von Nazareth gewesen war. Das gemeinsame Essen aller über alle gesellschaftlichen Gren-zen und sozialen Schranken hinweg war für ihn ein sinnenhaftes, konkretes Zei-chen der Gegenwart und Güte Gottes. Dass die ersten Christen diese »radikal geschwisterlichen« Gemeinschaftsmah-le fortsetzten, sei damals ein Grund ih-res großen Erfolges gewesen, urteilt der Neutestamentler Peter Trummer.

Diese Feiern waren am Anfang der Kir-che keine Gedächtnisfeiern des Todes und der Auferstehung Jesu. Der Religions-pädagoge Hubertus Halbfas verweist in seinem Buch »Der Glaube« darauf, dass frühe Quellen, wie etwa das Q-Evange-lium oder das Thomasevangelium, von einer Gedächtnisfeier, wie sie sich dann später in der Tradition des Paulus heraus-bildete, nichts gewusst haben. Auch die Zwölfapostellehre (Didache), die älteste Kirchenordnung, beschreibe nur ein ge-meinsames und rituelles Mahl ohne je-den Rückbezug auf »Jesu letztes Abend-mahl und ohne Bezug zu seinem Tod«. Halbfas: »Beschrieben wird ein richtiges Mahl, das aus Brot und Wein besteht und durch den Dank, der über Brot und Wein gesprochen wird, zur Danksagung wird.«

Ja, selbst der Autor des Johannesevan-geliums ersetzt den klassischen – für die

spätere Tradition so wichtigen – Einset-zungsbericht, nach dem Jesus im Kreise der Apostel Brot und Wein als Zeichen seiner Hingabe dargebracht haben soll, durch die Fußwaschung – also durch ein Bild, das die tätige Menschenliebe als Aufgabe der Christen in den Vorder-grund rückt.

Für Halbfas legt dies die Vermutung na-he, dass damals die von Paulus bezeug-te Abendmahlstradition durchaus nicht allen Christen bekannt war, »jedenfalls nicht als eine feierliche und verbindlich von Jesus eingesetzte Tradition, oder – falls bekannt – dass nicht alle dieser Mahldeutung folgen wollten«. Erst im Laufe der Zeit sei eine Ritualisierung des Mahls erfolgt mit Bezug zu einem »letz-ten Abendmahl« Jesu. Das aber hat es nach Einschätzung der meisten Exegeten so, wie es die biblischen Autoren schil-dern, historisch wohl nicht gegeben. Die Schilderung entspringt einer bestimmten Theologie: dass Jesus als unschuldiges Lamm hingeschlachtet wurde und sich somit geopfert habe.

In der katholischen Eucharistiefeier steht der Gedanke der unblutigen Ver-gegenwärtigung des Opfers Jesu im Vor-dergrund. Dafür braucht es nach katho-lischer Lehre den (Kult-)Priester, der in Stellvertretung Jesu handelt. Doch in den frühen Gemeinden in Rom, Ko-rinth und an anderen Orten gab es noch keine Priester im späteren Sinne, und doch haben die Christen die Eucharis-tie gefeiert. »Wie denn?«, fragt der ka-tholische Dogmatiker Hermann Häring. Seine schlichte Antwort: »Die Gemein-de kam eben zusammen und feierte.« Die Frage einer Vorsteherin oder eines

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Vorstehers scheint von daher sekundär zu sein, urteilt Häring.

Schaue man auf die Praxis der ersten Christen, »dann kann Eucharistie über-all dort geschehen, wo Christinnen und Christen zusammenkommen, so, wie das zerstreute Korn zu einem Brot wird«. Schließlich feierten Christen, so Häring weiter, »kein kompliziertes Opferritual, sondern Gottes Lebensgaben und unse-re Lebenshingabe«. Zumal die Autoren des Neuen Testaments Jesus ausdrück-lich die Worte sprechen lassen: »Wo zwei oder drei in meinem Namen zusammen-kommen, da bin ich mitten unter ihnen.«

Für viele Theologen ist daher heute klar, dass die christliche Gemeinde Ur-sprungsort der Eucharistie ist und nicht »ein ordiniertes Ämtergremium«. ...

Hartmut MeesmannPublik-Forum, kritisch - christlich - unabhängig, Oberursel, Ausgabe Nr. 23/2011

Eucharistie - Worterklärung

Mit diesem Wort wird vor allem in der orthodoxen, der katholischen und der anglikanischen Kirche das Sakrament der Kommunion bezeichnet. Sie gilt hier laut Katechismus als Quelle und Höhe-punkt des kirchlichen Lebens und hat mehrere Aspekte, die in den verschiede-nen Bezeichnungen angesprochen sind: ›Eucharistie‹ stellt vor allem die Verbin-dung zur Danksagung an Gott her; das ›Mahl des Herrn‹ erinnert an das letzte abendliche Mahl Jesu mit seinen Jün-gern; ›Brechen des Brotes‹ nimmt Bezug auf die ersten christlichen Versammlun-gen und die Gemeinschaft mit Christus; ›Heiliges Opfer‹ u.ä. soll das einzigartige

Opfer Christi, das alle Opfer des Alten Bundes übertrifft, vergegenwärtigen; ›Heilige und göttliche Liturgie‹ besagt, dass die ganze kirchliche Liturgie in die-sem Sakrament ihren Mittelpunkt hat; ›Kommunion‹ weist auf die Vereinigung mit Christus in der Teilhabe an seinem Leib und Blut hin.

In den evangelischen Kirchen wird die-ses Sakrament ›Abendmahl‹ genannt.

Mit ›Agape‹ wird ein sogenanntes Lie-besmahl bezeichnet, das keinen sakra-mentalen Charakter hat. Wir Templer begehen es im Gedenken an Jesu Pas-sion, sein letztes Mahl mit seinen Jün-gern und die Gemeinschaft, für die ein gemeinsames Mahl Symbol ist.

Innerhalb der einzelnen Konfessionen haben sich im Laufe der Zeit unterschied-liche Lehren mit diesem Mahl verbunden, die das gemeinsame Feiern dieses Sak-raments äußerst schwierig macht; selbst innerhalb der evangelischen Konfessio-nen waren die unterschiedlichen Auffas-sungen bis 1973 kirchentrennend. Die Auffassung der römisch-katholischen Kir-che von der leiblichen Realpräsenz Christi in Hostie und Wein durch die Wandlung macht es den heutigen Kirchenvertretern schwer, zusammen mit Anderskonfes-sionellen zu feiern, die ›nur‹ die geistli-che Realpräsenz Christi in Brot/Hostie und Wein sehen.

Die gemeinsame Erklärung zwischen Lutheranern und Reformierten 1973 (Leuenberger Konkordie) machte die Abendmahlsgemeinschaft möglich; ihr haben sich seither 105 verschiedene Kirchen aus allen Ländern Europas an-geschlossen.

Karin Klingbeil

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Georg David Hardegg (1812–1879) Aus Anlass des 200. Geburtstags von Georg David Hardegg am 2. April ver-fasste Dr. Jakob Eisler, wissenschaftli-cher Mitarbeiter am Landeskirchlichen Archiv, eine kurze Würdigung des Mit-begründers der Tempelgesellschaft.

Georg David Hardegg wurde am 2. Ap-ril 1812 als Sohn eines Gastwirts in Eg-losheim bei Ludwigsburg geboren. Er absolvierte eine Kaufmannslehre und ging 1830 nach Belgien, wo er von den Ideen der dortigen Revolution ergriffen wurde. Als er 1832 nach Ludwigsburg zurückkehrte und die Ideen einer »Deut-schen Republik« verbreitete, wurde er als »Revolutionär« zu 14 Jahren Haft ver-urteilt, die er später z.T. in Verbannung in der Schweiz verbrachte. 1844 wurde Hardegg begnadigt und kehrte nach Lud-wigsburg zurück. Während seiner Inhaf-tierung auf dem Hohen Asperg (1832–1840) hatte Hardegg lediglich Zugang zu Schriften von Bengel und zur Bibel. Daher rührte seine Beziehung zur Reli-gion und zur Mystik.

Über das Buch Christoph Hoffmanns »Stimmen der Weissagung über Ba-bel und das Volk Gottes« lernten sich Hoffmann und Hardegg kennen. Gemein-sam entwickelten sie den Gedanken, ein »Volk Gottes« zu gründen, das sie in das Heilige Land führen wollten. Hardegg ergänzte Hoffmann optimal, indem er Hoffmanns eher weltfremden Plan, nach Jerusalem zu ziehen, energisch in die Praxis umsetzen wollte. Bald formierte sich um Hoffmann und Hardegg eine Gruppe namens »Jerusalemsfreunde«,

später Tempelge-sellschaft oder Templer genannt.

Im Jahre 1857 beschlossen die Templer eine Er-kundungsgruppe ins Heilige Land zu senden. Im Ja-nuar 1858 reisten Hof fmann und Hardegg als Vor-

steher der Gemeinde mit Joseph Bubeck, einem diplomierten Winzer, nach Palästi-na. Hoffmann interessierte sich - seinem idealistischen Naturell nach - eher für die heiligen Stätten, während der realis-tische Hardegg alle praktischen Details gründlich erforschte. Die unfreundliche Haltung der Bevölkerung und der türki-schen Regierung bewog sie allerdings, ihren Anhängern einen vorläufigen Auf-schub der Siedlungspläne zu empfehlen. 1861 erfolgte aufgrund der religiösen Aktivitäten der Tempelgesellschaft der Bruch mit der evangelischen Landeskir-che von Württemberg.

1868 entschlossen sich die Vorsteher, die Auswanderung endgültig in Angriff zu nehmen. Die Tempelgesellschaft legte eine Missions- und Ansiedlungskasse an. Eine Kommission hatte zu entscheiden, wer wann auswandern durfte. Hoffmann und Hardegg, die als erste nach Palästi-na auswanderten, reisten zunächst nach Konstantinopel und versuchten dort, ei-nen Ferman (Erlaubnis) zu erhalten. Ob-wohl dies misslang, setzten sie ihre Rei-se nach Palästina fort. Am 30. Oktober

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1868 erreichte Hardegg Haifa, wo er den »Vorposten und Empfangsstation« für künftige Einwanderer errichtete.

1869 wurde die Kolonie Haifa gegrün-det und Hardegg wurde ihr Vorsteher. Zur selben Zeit knüpfte Hardegg auch Kontakte mit dem Gründer der Religion der Bahai. Bereits seit Beginn der Kolo-nisierung herrschten zwischen den bei-den Vorstehern der Templergemeinde, Hoffmann und Hardegg, Spannungen. Der Konflikt verschärfte sich, als sich Hardegg eigenmächtig für die Finan-zierung eines Projektes für eine Land-wirtschaftsschule aus der Templerkas-se entschied.

Im Jahre 1874 trat Hardegg aus der Gesellschaft aus, gleichzeitig mit ihm ein Drittel der Kolonisten aus Haifa so-wie einige aus Jaffa/Sarona. Zwölf Jah-re blieb die Splittergruppe um Hardegg ohne Status und finanzielle Unterstüt-zung. Sämtliche andere protestantische Gemeinden und Missionsgesellschaften in Europa, darunter auch die englische »Church Missionary Society«, verwei-gerten Hardeggs Bitten um Hilfe. Im Jahre 1878 gründete Hardegg mit den anderen ausgetretenen Templern den Tempelverein, später der »Reichsbrü-derbund«. Nach Hardeggs Tod im fol-genden Jahr schwand der Zusammen-halt seiner Anhänger. Über das letzte Jahr Hardeggs in Haifa wird Folgendes berichtet: »Von der Bogenhalle seines Hauses in Haifa aus schaute er lang und gerne über die Meeresweite. Suchte er wohl in überirdischer Ferne, was ihm im Leben nicht gewährt worden – die Menge des Volkes, das seinem Ruf hät-te folgen sollen…?«

Georg David Hardegg starb am 10. Juli 1879 in Haifa und wurde auf dem Templerfriedhof begraben. Sein Grab kann bis heute in Israel besucht werden.

Jakob Eisler

NEUE BÜCHER

Für ein undogmatisches Christentum

Helmut Fischer: Christlicher Glaube – was ist das? Klärendes, Kritisches, An-stöße – Theologischer Verlag Zürich 2011 (ISBN 978-3-290-17614-3)

Der evangelische Theologe Professor Helmut Fischer (früher Direktor am Theologischen Seminar in Friedberg/Hessen) gibt in einem handlichen Ta-schenbuch eine gut zu lesende Einfüh-rung in Hauptthemen des christlichen Glaubens. Auf Grundfragen der Fun-damentaltheologie (Religion – Basis und Bedingungen unseres Redens von Gott und Glauben – Bibel) folgen Fun-damentalartikel des Glaubens (Gott – Jesus – Glaube – Schöpfung – Mensch – Kirche). Die fast durchweg kurzen Zwischenabschnitte enthalten mate-rialreiche Basisinformation zu Religi-onsgeschichte, Bibel, Christentums-geschichte und Konfessionskunde. Er-kenntnistheoretische Fragen (S. 45-49) kommen ebenso zur Geltung wie Informationen zur Evolution des Men-schen, zur Anthropologie und zur Ge-schichte des menschlichen Denkens. Die besonderen Untersuchungen des Verfassers zu Fragen der Sprachphi-losophie werden fruchtbar (S. 42-49, 56-58, 104f.).

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Fischer will »nicht-theistisch« von Gott bzw. vom »Kern des christlichen Glau-bens« reden (S. 15): das heißt im Rah-men heutiger plausibler Denkmöglich-keiten und ohne die »nicht mehr selbst-verständlich vorgegebene personale Gottesvorstellung« (S. 122). Fischer zählt die Hauptelemente des seiner Meinung nach überholten »Theismus« auf: »dass ein Gott jenseits unserer ir-dischen Welt existiert; dass Gott eine allmächtige Person ist; dass der jen-seitige Gott in unsere diesseitige Welt handelnd eingreift« (S. 156). Damit sind »das Weltmodell der Drei-Stockwer-ke« sowie der »Diesseits-Jenseits-Du-alismus« überholt (S. 153). Die Ableh-nung dieses althergebrachten Theismus müsse keineswegs ein Abgleiten in den »Atheismus« bedeuten (S. 71f., 164).

»Nicht-theistisch« redet Fischer von Gott, indem er nicht über Gott speku-liert, sondern auf Jesus verweist, und zwar auf dessen Lebenspraxis der Lie-be: »Jesu Worte, Verhaltensweisen und Handlungen vergegenwärtigen eine Lie-be, die keine Bedingungen stellt und die alle religiösen, ethnischen und po-litischen Grenzen sprengt. […] Die Er-fahrung des Gottes, den Jesus offenbar macht, ereignet sich dort, wo wir diese Liebe wahrnehmen, uns von ihr erfüllen lassen und daraus die Kraft gewinnen, sie weiterzugeben« (S. 74f.). Gemäß dem biblischen Grundsatz »Gott ist die Liebe« (1. Johannes 4,16) kommt die »Gotteswirklichkeit« als eine uns wider-fahrende Liebe zur Geltung, in der wir uns als angenommen erfahren, und als dadurch gewonnene Kraft, anderen lie-bevoll zu begegnen. »Christen glauben

nicht an eine Lehre über Gott, sie ver-trauen sich jener Liebe an, in der und durch die Gott gegenwärtig ist« (S. 77). »Was wir von Gotteswirklichkeit wissen können, das ist in persönlichen Erfah-rungen nur dort zu gewinnen, wo wir Liebe selbst erfahren und anderen Lie-be schenken können« (S. 102).

Fischer vertritt ein »undogmatisches Christentum«. Seine existenziale Inter-pretation konzentriert die »Gotteswirk-lichkeit« auf das menschliche Selbst-verständnis als geschöpflich, beschenkt und geliebt. So wird etwa Ostern ge-deutet: »Ostern lässt sich eher als der Prozess beschreiben, in dem sich Men-schen bewusst wurden, dass die Kraft der Liebe, die ihnen in Jesus begegnet war, auch die trägt, die sie selber wa-gen, d.h., die aus Jesu Geist leben. Die-ser Impuls der bedingungslosen Liebe, der auch nach Jesu Tod gegenwärtig blieb, konnte später in der Metapher von der Auferstehung Jesu ausgedrückt werden« (S. 138).

»Im christlichen Glauben geht es im Kern […] um jene Gotteswirklichkeit, die menschliches Verhalten auslöst und prägt« (S. 120). Aber wieso ist das Geschehen der Liebe überhaupt mit Gott bzw. »Gotteswirklichkeit« zu verknüpfen? Was meinen wir grund-sätzlich, wenn wir »Gott« sagen? Auf welche »Wirklichkeit« wird da verwie-sen? Was ist der eine Bezugspunkt al-ler Religionen? Sicher hat es Religion »bleibend mit jenen Urfragen zu tun, vor die sich ein Mensch, der sich seiner selbst und seiner Endlichkeit bewusst ist, jederzeit gestellt sieht« (S. 19). Sie sucht die Antwort auf jene Urfragen

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nach dem Sinn und nach dem Ganzen, ob theistisch oder nicht-theistisch, in dem »Übermächtigen« (S. 61). Wieso muss aber das Nachdenken über die »von keiner anderen Wirklichkeit ab-hängigen Urwirklichkeit« eine »an phi-losophische Vorgaben gebundene kog-nitivistische Verkürzung des Glaubens auf Glaubenswissen« sein? (so S. 67.) Das Nachdenken über die Urwirklich-keit verbindet doch Menschen jeglichen Glaubens miteinander und ist inhaltlich zunächst noch völlig offen. Die von Je-sus bezeugte und praktizierte »Gottes-wirklichkeit als Liebe« ist die spezifisch christliche Antwort auf die Frage nach dem wahren Wesen der »Urwirklichkeit«. Bedarf nicht der christliche Glaube ei-ner freien, selbstständigen Vernunft, die in elementarem Denken nach dem fragt, »was uns unbedingt angeht«, nach dem »Sein selbst«?

Wer für ein »nicht-theistisches« Gottesverständnis plädiert, sollte auch weiter klären, wie dann das Verhältnis Gottes zur Welt zu denken ist, wenn nicht »theistisch«. Etwa »pantheistisch«? Oder »panentheistisch«? Letzteres könn-te auf der Linie Fischers liegen, sofern mit Panentheismus gemeint ist, dass al-les von Gott begründet, getragen und umgriffen ist.

Alles in allem: Fischers Einführung in den christlichen Glauben ist ein höchst anregender Beitrag zur Beschäftigung mit einem »nicht-theistischen« Denken und Reden von Gott.

Dr. Andreas Rösslerin »Freies Christentum« Nr. 1/2012 (siehe auch eine ähnliche Themenbehandlung von John Shelby Spong in der März-»Warte« S. 44)

Ostern

Vom Eise befreit sind Strom und Bäche

durch des Frühlings holden, belebenden Blick;

im Tale grünet Hoffnungsglück;

der alte Winter in seiner Schwäche

zog sich in raue Berge zurück.

Von dorther sendet er, fliehend, nur

ohnmächtige Schauer körnigen Eises

in Streifen über die grünende Flur;

aber die Sonne duldet kein Weißes;

überall regt sich Bildung und Streben,

alles will sie mit Farben beleben;

doch an Blumen fehlt’s im Revier,

sie nimmt geputzte Menschen dafür.

Kehre dich um, von diesen Höhen

nach der Stadt zurückzusehen.

Aus dem hohlen, finsteren Tor

dringt ein buntes Gewimmel hervor.

Jeder sonnt sich heute so gern;

sie feiern die Auferstehung des Herrn.

Denn sie sind selber auferstanden

aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,

aus Handwerks- und Gewerbesbanden,

aus dem Druck von Giebeln und Dächern,

aus der Straßen quetschender Enge,

aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht

sind sie alle ans Licht gebracht.

J.W. von Goethe