Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema ... · • Präsentation zu den biographischen Wurzeln...
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FACHBERATERINNEN und FACHBERATER
Regierungspräs idium Stut tgar t
Schule und Bi ldung – Al lgemein b i ldende Gymnasien
Unterrichtsmaterialien zum Schwerpunktthema
Passionsvertonungen im Barock
am Beispiel der Johannes-Passion
(BWV 245) von Johann Sebastian Bach
Andrea Amann
Daniel Brenner
Sabine Fischer-Hennen
Matthias Guthier
Wieland Kleinbub
Brigitte Schwarz
Dirk Siegel
Johannes Stephan
Christoph Wagner
Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion
2 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart
Inhalt
Vorbemerkung ............................................................................................................................. 3
I. HINWEISE FÜR KOLLEGINNEN UND KOLLEGEN ....................................................................... 5
1. Allgemeine Informationen zum Johannes-Evangelium ........................................................... 5
2. Die Besonderheiten des Johannes-Evangeliums ..................................................................... 6
3. Zur Theologie des Johannes-Evangeliums ............................................................................... 7
4. Dramatik und Kontemplation ................................................................................................ 10
5. Didaktische Hinweise: kreativer, produktionsorientierter Zugang ........................................ 15
6. Hinweise zu den vier Unterrichtsbausteinen ......................................................................... 18
7. Übersicht: Affekte und Motive .............................................................................................. 19
8. Musikalisch-rhetorische Figurenlehre ................................................................................... 21
9. Auswahl der wichtigsten Figuren in der Johannes-Passion ................................................... 24
10. Die unterschiedlichen Fassungen der Johannes-Passion ....................................................... 33
11. Diskographie (von Hartmut Wolf) .......................................................................................... 36
II. UNTERRICHTSMATERIALIEN ................................................................................................ 39
Fragebogen zur Passion ................................................................................................................. 39
Ein kreativer Zugang zu Bachs Passions-Dramaturgie ................................................................... 40
Musikalisch-theologische Synopse ................................................................................................ 46
Unterrichtsbaustein 1: Die Choräle ............................................................................................... 51
Unterrichtsbaustein 2: Die Rezitative ............................................................................................ 53
Unterrichtsbaustein 3: Die Turba-Chöre ....................................................................................... 56
Unterrichtsbaustein 4: Die Arien ................................................................................................... 58
Nr. 21b. – Sei gegrüßet, lieber Jüdenkönig (Chorus). .................................................................... 60
Nr. 30 – Es ist vollbracht (Alt-Arie). ............................................................................................... 61
Aufgaben zu den Fassungen der Passion....................................................................................... 63
III. LÖSUNGEN .......................................................................................................................... 64
Lösungen zur musikalisch-theologischen Synopse ........................................................................ 64
Lösungen und Hinweise zu Unterrichtsbaustein 1 (Choräle) ........................................................ 65
Lösungen und Hinweise zu Unterrichtsbaustein 2 (Rezitative) ..................................................... 67
Lösungen und Hinweise zu Unterrichtsbaustein 3 (Turba-Chöre) ................................................ 70
Lösungen und Hinweise zu Unterrichtsbaustein 4 (Arien) ............................................................ 71
Lösungen des Arbeitsblatts zum Chor Nr. 21b .............................................................................. 72
Lösungen des Arbeitsblatts zur Arie Nr. 30 ................................................................................... 74
Lösungen des Arbeitsblatts zu den Fassungen .............................................................................. 76
Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion
© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 3
Vorbemerkung
Der Schwerpunkt dieser Handreichungen liegt auf unterschiedlichen Zugängen zum Thema
Passionsvertonung und zur Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach. Es handelt sich
nicht um eine vollständige Analyse. Vorschläge zur Methodik im Musikunterricht beziehen
sich in erster Linie auf unterschiedliche Möglichkeiten, die Schüler an die Thematik der
Johannes-Passion und ihre Anlage als oratorische Passion heranzuführen. Analytische
Aspekte und Materialien zur Analyse haben exemplarischen Charakter und erheben keinen
Anspruch auf Vollständigkeit. Entsprechende Ergänzungen können die unterrichtenden
Fachkollegen je nach Bedarf selbst erstellen. Weitere theologische Einordnungen und
wertvolle Hinweise zu musikalischen Besonderheiten der einzelnen Nummern bietet u.a. das
Buch von Meinrad Walter.1
Diese Handreichung richtet sich an die Fachlehrer. Abgesehen von den Arbeitsblättern und
Materialien in Abschnitt II ist sie ausdrücklich nicht zur Aushändigung an die Schüler gedacht.
Im ersten Teil der Handreichung (Abschnitt I) werden Hinweise zur Unterrichtsgestaltung mit
Hintergrundwissen für unterrichtende Kolleginnen und Kollegen verbunden. Er beinhaltet
auch Erläuterungen zu den in Abschnitt II zur Verfügung gestellten Kopiervorlagen und
Vorschläge zur konkreten Umsetzung im Musikunterricht. Abschnitt II stellt Unterrichts-
materialien bereit. Lösungshinweise finden sich in Abschnitt III der Handreichung.
Bei der Beschäftigung mit der Johannes-Passion haben wir uns von zwei Überlegungen leiten
lassen: Erstens können wir heute nicht mehr selbstverständlich davon ausgehen, dass unsere
Schülerinnen und Schüler2 ohne Weiteres einen Zugang zu dieser Musik und zu den
theologischen Inhalten finden. Ihre individuellen Prägungen sind zu vielfältig und häufig
besteht eine große Distanz zum traditionellen christlichen Gedankengut. Wir können Bachs
Johannes-Passion jedoch nicht ohne ihren theologischen Hintergrund verstehen, denn sie
will – gerade in den Arien und Chorälen – den Zuhörer berühren und zum „Betrachten“ und
„Erwägen“ anregen, also zur Auseinandersetzung mit den theologischen Fragen der
Passionsgeschichte. Ohne diese Grundhaltung der oratorischen Passion zu verstehen, kann
man Bachs Musik aber kaum gerecht werden. Eine wichtige Aufgabe des Musikunterrichts
besteht deshalb darin, für alle Schüler Zugänge herzustellen zu den theologischen Fragen
und zu den Formen, in denen sie sich musikalisch ausdrücken. Das beinhaltet neben
grundsätzlichen ethischen bzw. religiösen Fragestellungen zu Begriffen wie „Schuld“, „Tod“
und „Sünde“ die Beschäftigung mit den Prägungen des Komponisten sowie mit christlichen
und gattungsgeschichtlichen Traditionen. Diese Zugänge bilden einen wesentlichen
Schwerpunkt der Handreichung.
1 Meinrad Walter: Johann Sebastian Bach: Johannespassion. Eine musikalisch-theologische Einführung, Carus-
Verlag, Stuttgart 2011. 2 Im Folgenden meint die Bezeichnung „Schüler“ sowohl weibliche als auch männliche Schüler.
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Zweitens stellen gleichzeitig das schriftliche Abitur und die damit verbundenen analytischen
Aufgabenstellungen natürlicherweise eine zentrale Perspektive für den Unterricht dar. Mit
anderen Worten: Wir müssen den Schülern nicht nur das Werk in seiner ganzen
musikalischen und theologischen Vielschichtigkeit nahebringen, sondern sie auch in die Lage
versetzen, dies in Form schriftlicher Analysen und Interpretationen musiktheoretisch
fundiert auszudrücken.
Inhaltlich-theologische Reflexion und musikalische Analyse sollten deshalb nicht getrennt
nebeneinander stehen, sondern miteinander verbunden werden. Aus diesem Grund haben
wir auch bei den (exemplarischen) analytischen Teilen einen Zugang gewählt, der stark vom
Affektgehalt und von bestimmten theologischen Motiven der einzelnen Nummern ausgeht
(siehe dazu die Übersicht auf Seite 19-21).
Abschließend sei auf das ergänzende Material im Internet verwiesen, das von der Seite des
Regierungspräsidiums Stuttgart heruntergeladen und im Unterricht verwendet werden kann.
Hier finden Sie Power-Point-Präsentationen, teilweise mit vorbereiteten Vortrags-
Manuskripten, außerdem einige der in den Fortbildungen vorgestellten Materialien, die
nicht in die Handreichung übernommen wurden:
• Präsentation zu den biographischen Wurzeln und der theologischen Prägung Bachs
mit separatem Vortragstext;
• Präsentation zu theologischen Aspekten der Passion anhand des Gemäldes „Gesetz
und Gnade (Sündenfall und Erlösung)“ von Lucas Cranach d. Ä. (mit integrierten
Stichworten zum Vortrag);
• Präsentation zu den unterschiedlichen Fassungen der Johannes-Passion mit
separatem Vortragstext;
• Lösung der musikalisch-theologischen Synopse (vgl. Seite 47 ff.) sowie
• Kopiervorlagen für die einzelnen Komponenten des Puzzles zur oratorischen Passion
mit Lösungsvorschlag für das fertige Plakat.
https://rp.baden-wuerttemberg.de/rps/Abt7/Ref75/Fachberater/Seiten/Musik.aspx#6
Die Präsentationen können mit Hilfe der vorbereiteten Vortragstexte auch von Schülern
gehalten werden.
Die autographe Partitur Bachs (mit der unvollendeten Revision des Jahres 1739) befindet
sich in der Staatsbibliothek Berlin mit der Signatur D-B Mus.ms. Bach P 28 und kann
digitalisiert unter dem folgenden Link eingesehen werden:
https://www.bach-digital.de/receive/BachDigitalSource_source_00000846
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I. HINWEISE FÜR KOLLEGINNEN UND KOLLEGEN
1. Allgemeine Informationen zum Johannes-Evangelium
Der Evangelist Johannes beschrieb als letzter der vier Evangelisten in einem Zeitabstand von
ca. 60 Jahren zum historischen Geschehen die Leidensgeschichte Jesu in einer neuen
Betrachtungsweise. Sein zentrales Anliegen ist die Herrlichkeit Gottes, die sich im Leiden
Jesu am Kreuz offenbart (Apotheose: Christi Erhöhung in der Erniedrigung). Jesus zeigt sich
im Johannes-Evangelium im Gegensatz zum Matthäusevangelium nicht als ein leidender,
verzweifelter Mensch („Mein Gott warum hast du mich verlassen“), sondern von göttlicher
Natur („Herrscher“), als ein Botschafter in einer königlichen, souveränen und zielgerichteten
Haltung („Es ist vollbracht“).
Acht ausgewählte Beispiele, die dieses johanneische Jesusbild verdeutlichen:
1. Vermeidung von demütigen Situationen, z.B. der Verzicht auf eine detaillierte
Beschreibung der Kreuzigung oder der Verzicht auf die Beschreibung der
Verzweiflung Jesu im Garten Gethsemane;
2. Blut und Wasser fließen aus seinem Körper als Symbol für Abendmahl und Taufe;
3. Jesus geht im Garten Gethsemane seinen Häschern entgegen, die Soldaten stürzen zu
Boden;
4. Kein Judas-Kuss;
5. Jesus antwortet Pilatus nicht immer, bleibt ruhig an seinem Ort. Pilatus ist es, der hin-
und herläuft;
6. Jesus trägt sein Kreuz selbst;
7. Noch am Kreuz sorgt er für seine Mutter;
8. Dramatisierende Erzählung: in kurzem Wechsel folgen die Fragen des Pilatus und die
Antworten des Volkes.
Belege hierfür in der Musik der Johannes-Passion von J. S. Bach:
1. Eingangschor Nr. 1. „Herr, unser Herrscher“: Das Grundthema wird aufgezeigt mit
einer Anspielung auf Psalm 8, 2. Worte wie „Herr, Herrscher, verherrlicht, herrlich“
werden von der „größten Niedrigkeit“ nicht aufgehoben. Diese zeigt nur den Weg des
Heilands, seine Mission bei den Menschen.
2. Choral Nr. 3 „O große Lieb“: Jesus erwirkt den freien Abzug für seine Jünger. Er
erklärt sich als Herrscher, dessen Reich „nicht von dieser Welt“ ist.
3. Arie Nr. 9 „Ich folge dir gleichfalls“: Der freudige Affekt des Tanzes fügt sich in den
Gesamtzusammenhang (siehe auch Nr. 32, „Mein teurer Heiland“) eines nicht
tragischen Werkes.
4. Choral Nr. 17 „Ach großer König“: Bezug zum Eingangschor, Jesus, der Herrscher, der
König.
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5. Choral Nr.: 22 „Durch dein Gefängnis“: Die Gefangennahme und Kreuzigung Jesu als
Heilsnotwendigkeit. Fast wird Jesus zum Gegenspieler des Pilatus: der würde ihn
lieber freilassen, doch Jesus will seinen vorbestimmten Weg gehen.
6. Choral Nr. 26 „In meines Herzens Grunde“: Eine feierliche Hymne auf den herrlichen
Herrscher.
7. Arie Nr. 30 „Es ist vollbracht“: Aus der betrachtenden stillen Stimmung erhebt sich
der Mittelteil „Der Held aus Juda siegt mit Macht“, der den endgültigen Sieg Jesu
beschreibt.
8. Arie und Choral Nr. 32 „Mein teurer Heiland, lass dich fragen“: Direkt nach Jesu Tod
ein Tanz in Dur, der die freudige Verheißung auch im Text unterstreicht: „Jesu, der du
warest tot, lebest nun ohn Ende“.
9. Schlusschoral Nr. 40 „Ach Herr, lass dein lieb Engelein“: Die Anrede „Herr“ und der
hymnische Schluss „[...] ich will dich preisen ewiglich!“ stellen einen direkten Bezug
zum Anfang des Werkes dar.
2. Die Besonderheiten des Johannes-Evangeliums
Zur Entstehung
Das Johannes-Evangelium ist vermutlich erst viele Jahre nach den drei anderen Evangelien –
nach Matthäus, Markus und Lukas – geschrieben worden und nimmt eine Sonderstellung
innerhalb der vier Evangelien ein, weil es nicht in erster Linie den irdischen Lebensweg Jesu
verfolgt, sondern vor allem von den Reden Jesu geprägt ist, die eher thematischen
Reflexionen gleichen.
Zum Verfasser
Die Verfasserfrage des Johannesevangeliums ist nach wie vor umstritten und nicht eindeutig
geklärt.
Der Verfasser selbst nennt seinen Namen nicht. Wenn er von sich spricht, nennt er sich
meistens „den Jünger, welchen Jesus liebhatte“. Er behauptet, ein Augenzeuge zu sein, vgl.
Kap. 1,15 und Kap. 19,35 , wird aber nie mit Namen genannt.
Die literarische Gestalt und auch das theologische Profil sprechen jedoch gegen die
Augenzeugen-Annahme als Verfasser, denn die Wirksamkeit Jesu wird in einem großen
Zeitabstand und auf einem hohen Reflexionsniveau betrachtet, das einer Zeugengeneration
eigentlich widersprechen müsste. Zudem nutzt der Verfasser Traditionen, die eher auf das
hellenistische Judentum zurückzuführen sind, und ihn möglicherweise als „Judenchrist“
kennzeichnen.
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Zum Empfänger
Verschiedene Merkmale lassen darauf schließen, dass das Evangelium für Gemeinden
bestimmt war, die über die einzelnen Geschehnisse aus dem Leben und Wirken Jesu bereits
gut unterrichtet waren. Ursprünglich wurde es wohl für Gemeinden Kleinasiens (heutige
Türkei) geschrieben, erfuhr aber bald eine weite Verbreitung unter den heidenchristlichen
Gemeinden.
3. Zur Theologie des Johannes-Evangeliums
Das johanneische Christusbild
Im Zentrum steht selbstredend die Botschaft von Jesus Christus. Johannes referiert diese
Botschaft aber nicht und legt sie auch nicht traktatmäßig dar. Sie wird im Johannes-
Evangelium vornehmlich durch den johanneischen Christus selbst ausgesprochen.
Christus erscheint dabei als der irdische Mensch, dessen reales Menschsein an keiner Stelle
bezweifelt wird. Sein Weg aber wird noch konsequenter als in den synoptischen Evangelien
von seiner Vollendung her gesehen.
Die Welt als Schauplatz des Wirkens Christi
Ein wichtiger Zug des Johannes-Evangeliums ist auch die Weitung der Perspektive.
Schauplatz des Wirkens Christi ist nur pro forma das Land Israel. Genaugenommen spielt die
Topographie aber nur noch eine untergeordnete Rolle. Der Schauplatz des Auftretens Jesu
ist bei Johannes die Welt schlechthin. Es wird nicht betont, dass Jesus zu seinem Volk kam,
sondern das Licht kam in die Welt.
Diese Welt ist aber in der Sicht des Johannes-Evangeliums in einem ambivalenten Zustand:
• Einmal ist sie die Schöpfung Gottes. Sie ist durch die Vermittlung des Christus-Logos
ins Dasein gerufen worden (Joh 1,3). Daher bleibt sie auch Objekt der Liebe Gottes
(Joh 3,16).
• Zum anderen ist diese Welt aber auch der Ort der Verlorenen. Sie ist der Raum der
Finsternis, des Todes, der Lüge und der Unfreiheit.
Der Dualismus von Gott und Welt
Der johanneische Dualismus entzündet sich demnach am Gegenüber von Gott und Welt. Der
verlorene Zustand der Welt ist aber nicht etwa ein unausweichliches Schicksal. Der Grund für
diese Verlorenheit liegt darin, dass sich der Mensch gegen Gott entschieden hat. Daher sind
die Juden bei Johannes auch nicht die Angehörigen eines auserwählten Volkes, sondern
werden gleichsam als Repräsentanten dieser Entscheidung gezeichnet. Die Frage nach der
heilsgeschichtlichen Rolle Israels spielt deshalb kaum eine Rolle. Wenn Johannes davon
spricht, dass die Seinen das Wort nicht aufnahmen (Joh 1,11), dann meint er deshalb die
Menschen (die Welt) schlechthin.
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Die Christologie – Christus und die Welt
In diese Welt, die durch die Entscheidung gegen Gott zur Sphäre der Finsternis wurde, tritt
nun der Logos, der Christus ein. Er kommt aus der Welt Gottes, der Welt des Lichtes und
wird somit zum Licht der Welt (Joh 3,19).
Interessant ist, dass das Johannes-Evangelium zwar nahezu alle wichtigen christologischen
Prädikate nennt, einige haben aber herausragende Bedeutung. Ganz besonders wichtig
werden bei Johannes nämlich die Bezeichnungen
• Sohn,
• Sohn Gottes
• und der, den der Vater gesandt hat.
Sie werden immer wieder verwendet. Der Sohn, den der Vater gesandt hat, wird durch seine
Sendung aus der Welt Gottes zum Mittler des Heils. Indem Christus den Menschen, und
damit der Welt, das Heil anbietet, stellt er diese Welt radikal in Frage. Denn an ihn allein sind
Licht, Wahrheit, Leben und Freiheit gebunden.
Eben diese Güter, die der Mensch so sehr ersehnt, können somit in der Welt definitiv nicht
gefunden oder errungen werden. Nur Christus vermag sie zu vermitteln, denn in ihm
erschließt sich Gott, er ist die Offenbarung Gottes, der Offenbarer schlechthin.
Die Soteriologie (Lehre von der Erlösung aller Menschen im christlichen Kontext) – Der
Glaube an Christus als Bedingung der Heilwerdung
Die Christologie des Johannes mündet direkt in die Soteriologie. Denn durch Christus erhält
der Mensch die Möglichkeit, seinen Standort zu wechseln, aus der Finsternis in das Licht, aus
dem Tod zum Leben zu gelangen. Die grundlegende Bedingung dafür ist der Glaube.
Glauben heißt, Christus als den zu erkennen, sehen, anerkennen und annehmen, als der er
sich vorstellt. Im Johannesevangelium geschieht diese vor allem im Offenbarungswort des
„Ich bin“ („Ich bin der Weinstock“, „Ich bin der gute Hirte“, „Ich bin das Licht der Welt“, „Ich
bin die Auferstehung und das Leben“). Wer zu diesem Glauben gelangt, wechselt seinen
Standort, gelangt vom Unheil zum Heil. Glauben ist demnach eine verwandelnde
Entscheidung. Der johanneische Dualismus ist daher mehrfach auch zutreffend als
Entscheidungsdualismus definiert worden. Der Glaube des Menschen muss zum Bleiben
reifen, also zu einer das ganze Leben über gestaltenden Gemeinschaft mit Christus. Dies wird
vor allem in den Immanenzformeln zum Ausdruck gebracht: Ihr in mir und ich in euch.
Die Eschatologie (prophetische Lehre von den Hoffnungen auf Vollendung)
Die Bedeutsamkeit der Entscheidung, die der Glauben beinhaltet, hat ihren Niederschlag im
Johannes-Evangelium auch in einer veränderten Eschatologie gefunden. Das Johannes-
Evangelium bietet keine Rede, die der eschatologischen Rede in Mk 13 vergleichbar wäre. Es
geht nicht mehr um die nahe bevorstehende Gottesherrschaft, die stündlich anbrechen
kann, vielmehr betont Johannes eine präsentische Eschatologie:
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• das ewige Leben wird jetzt schon geschenkt
• das Gericht findet jetzt schon statt
Man kann diese Sätze eigentlich nur dann verstehen, wenn man wahrnimmt, dass sie
wiederum auf die Christologie hin geordnet sind. Wer Christus liebt und sein Wort festhält,
den wird der Vater lieben, und Vater und Sohn werden kommen und bei ihm wohnen (Joh
14,23). In Christus ist die Vollendung anfanghaft bereits gegenwärtig.
Die irdische Christusgemeinschaft aber soll eine Zukunft besitzen: Im Haus des Vaters sind
viele Wohnungen bereitet (Joh 14,2). Hier wird das „schon und noch nicht“ der christlichen
Existenz deutlich. Wir leben bereits in der neuen Wirklichkeit des Vaters, eine Wirklichkeit,
die sich aber erst noch vollenden muss.
Die Ekklesiologie (theologische Reflexion über die Gemeinde)
Das Thema Kirche fällt im Johannes-Evangelium – trotz betonter Ausrichtung auf den
Glauben des einzelnen – keineswegs aus. Aber es stellt sich unter einem betont
christologischen Aspekt dar. Die Bilder von
• Hirt und Herde (Joh 10,1ff)
• oder vom Weinstock und den Rebzweigen (Joh 15,1ff)
versuchen dies zu verdeutlichen.
Ein besonderes Anliegen im Hinblick auf die Kirche ist auch deren Einheit, um die Christus in
seinem Abschiedsgebet den Vater bittet (Joh 17,21ff).
Quellen:
http://www.joerg-sieger.de/einleit/nt/02evan/nt45.htm
http://www.bibelwissenschaft.de/bibelkunde/neues-testament/evangelien/johannes/
https://www.bibelkommentare.de/index.php?page=comment&comment_id=27
https://www.emmaus.de/ingos_texte/joh_ueber.html
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4. Dramatik und Kontemplation
Dass Dramatik und Kontemplation die beiden großen strukturbildenden Prinzipien in Bachs
Johannes-Passion sind, ist so oft geschrieben und wiederholt worden, dass es zu einem
unhinterfragten Allgemeinplatz geworden ist.
Was bedeutet aber Dramatik und was bedeutet eigentlich Kontemplation? Und wie hängen
diese beiden Begriffe zusammen? Passen Sie zusammen, indem sie sich gegenseitig
ergänzen? Oder stehen sie zueinander im Widerspruch?
Dramatik und Epik
Dramatik leitet sich vom Griechischen ‚dramma‘ ab, zu Deutsch ‚Handlung‘. Im Wesentlichen
hat das Dramatische – entgegen dem landläufigen Wortgebrauch – folgende drei Merkmale:
1.) eine in sich abgeschlossene Handlung, die 2.) auf der Bühne unmittelbar gegenwärtig
dargestellt wird, und zwar 3.) durch die daran beteiligten Personen in Rede und Gegenrede.
Anhand dieser seit der aristotelischen Poetik konstanten Dramenmerkmale wird schnell
erkennbar, dass wir es bei der Johannes-Passion nicht mit einer „echten“ oder
konventionellen Dramatik zu tun haben. Die Handlung ist zwar in sich abgeschlossen,
beginnt mit Jesu Gefangennahme und endet mit seinem Tod am Kreuz und der
anschließenden Grablege. Doch wird die Handlung weder auf der Bühne (noch sonst
irgendwie sichtbar) dargestellt, noch äußern sich alle daran beteiligten Personen in Rede und
Gegenrede. Viel wird einfach nur erzählt. In der Johannes-Passion, selbst in einer
konzertanten Aufführung, in der wir die Sänger ja sehen (und nicht nur hören) können, läuft
die Rezeption ausschließlich über das Ohr. Wir haben es hier also eher mit einem Hörspiel
als mit einem Schauspiel zu tun. Das unterscheidet die Passion als oratorische Gattung von
einer wirklich durch und durch dramatischen Bühnen-Gattung wie der Oper. Deshalb bleibt
die Passion auch eine Passion, wenn wir sie auf CD oder im Radio hören (wo sie uns eben
nicht unmittelbar gegenwärtig, das heißt körperlich, dargestellt wird), während eine Oper
auf CD keine echte Oper mehr ist. Sie ist nur noch eine Opernaufnahme, da bei der Oper als
Theatergattung die gegenwärtig-verkörperte Live-Darstellung (auf der Bühne) zu den
wesentlichen, sie konstituierenden Eigenschaften gehört.
Trotzdem ist es natürlich nicht falsch, der Johannes-Passion dramatische Elemente
zuzuschreiben: Wer dächte nicht an die ergreifenden letzten Jesusworte oder an die
spöttischen, rechthaberischen oder sonstigen Turba-Chöre (in der sich eben die unmittelbar
daran beteiligte Personen redend äußern)? Im festen Willen den johanneischen Bibeltext an
zwei Höhepunkten wie der Verleugnung des Petrus und dem Tode Jesu zu dramatisieren,
erlaubt sich Bach sogar, zwei kurze Passagen aus dem Matthäus-Evangelium einzufügen.
Und die Dramatisierungen gelingen an beiden Stellen, obwohl sie beide „nur“ vom
Evangelisten, also dem Erzähler, vorgetragen werden. Warum gelingt dies zum Beispiel im
Rezitativ nach der Verleugnung des Petrus? Der Evangelist – eigentlich unbeteiligt – erzählt
wie ein unmittelbar daran Beteiligter. Er lässt sich gewissermaßen in die Handlung
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hineinziehen, indem er den Gestus des bitterlichen Weinens (von Petrus!) affektvoll-
lautmalerisch mit ausgeprägten, dissonanten und für ein Rezitativ eigentlich völlig
unüblichen melismatischen Ausschmückungen darstellt (Nr. 12c). Genau das ziemte sich
aber nicht für einen Erzähler und genau das wurde Bach von der modernen Komponisten-
garde der Zeit um Johann Mattheson auch ästhetisch vorgeworfen: Madrigalismen hätten im
Rezitativ nichts verloren, sondern seien nur in der Arie statthaft.3
Bleiben wir beim Erzähler, dessen pure Existenz die Passion gattungsmäßig in Richtung eines
Epos, eines tragischen Heldengedichtes rückt: Jesus, die Hauptfigur, „der Held aus Juda“ (Nr.
30), wird – wie es sich übrigens auch für den Helden einer Tragödie, also eines Dramas
gehört – unschuldig schuldig und stirbt am Ende.
Es ist daher kein Wunder, dass der große Theaterreformer Bertolt Brecht die Matthäus- und
die Johannes-Passion so verehrt hat. Sie kamen seiner Idee des epischen Theaters ziemlich
nahe. Das epische Theater ist ja ein Theater, das die Erzählhaltung, also das lehrende Zeigen
schon im Namen trägt. Im Gegensatz dazu liebt die konventionelle Dramatik das
Vergegenwärtigen, Darstellen und Spielen.
Oratorische Passion und Passionsoratorium
Meinrad Walter sieht genau in dieser verschiedenen Erzählweise ein wichtiges
Unterscheidungsmerkmal zwischen der Oratorischen Passion im Stile Bachs und dem damals
modernen, gerade neu aufkommenden textlich und stilistisch einheitlichen Passions-
oratorium, das viele Komponisten auf das Libretto von Barthold Hinrich Brockes (1660-1747)
komponierten:
„Abschließend bringen wir die Entwicklung [von der Oratorischen Passion zum
Passionsoratorium] nochmals auf die beiden Grundbegriffe ‚Schauspiel‘ und ‚Spiegel‘. Das
Schauspiel des Passionsoratoriums verlangt nach einem Publikum [= griech. ‚Öffentlichkeit‘];
die Oratorische Passion als Spiegel braucht Hörer, die mitbeten. Das Schauspiel fesselt die
Aufmerksamkeit und richtet alles auf ein Ziel aus: wie es ausgehen wird. Der Spiegel setzt
von Anfang an voraus, dass der Hörer den Ausgang kennt, und nur deshalb kann das Ziel in
jedem einzelnen Punkt schon antizipiert werden. Die Oratorische Passion betrachtet die
Passion von der Auferstehung her, was in der österlichen Rahmung der Bach’schen
Johannes-Passion mit den Stichworten „Verherrlichung“ und ewiger Lobpreis überaus
deutlich wird.“4
In den Bach’schen Passionen übernimmt also der Evangelist die Rolle des Erzählers, der die
wesentlichen Elemente einer ohnehin bekannten Handlung auswählt und vorzeigt mit dem
Zweck, dass der Hörer sich dabei nicht nur gut unterhalten fühle, sondern auch etwas
verstehe und lerne.
3 Geck, S. 72 f.
4 Walter, S. 37.
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Warum komponiert Bach kein Passionsoratorium im Brockes-Stil?
Martin Geck schreibt dazu5: „Insgesamt kann man sagen, dass Bach – wie so oft – die
ästhetische Einheit und die stilistische Reinheit des ausschließlich auf freier Dichtung
basierenden Passionsoratoriums nicht reizten.“ Ein wesentliches ästhetisches Anliegen des
auf originale Bibeltexte und überlieferte Liedtexte verzichtenden Passionsoratoriums war
eben, dieses als antiquiert empfundene Textgemisch durch einen stilistisch einheitlichen
Text zu ersetzen. Bach dagegen interessierte sich anscheinend viel mehr für das Erzählende,
die eher heldenepisch zu verstehende Gattung des Bibeltextes (Jesus als „Held aus Juda“)
und damit für die „Buntheit der oratorischen Passion insgesamt: Gerade mittels der durch
die Verschiedenheit der Texte [Luthers Bibeltext, Kirchenlieder, freie Barockdichtung]
bedingten stilistischen Brechungen, die diese Gattung im Laufe ihrer Geschichte erlebt hatte
[…], vermochte Bach Aussagen zu machen, die den theologischen, gesellschaftlichen und
individuellen Sinn von Kirchenmusik weit vielschichtiger und mehrperspektivischer deutlich
machen konnten als eine einheitliche, den Gesetzen einer rationalen Ästhetik unterworfene
Dichtung. Bach schwebte kein einheitlicher Stil vor, er arbeitete vielmehr auf jeweils
spezifische Weise mit geschichtlich gewachsenem und deshalb uneinheitlichem Material.“6
Bach lässt musikalisch traditionelles und musikalisch modernes Denken in der Johannes-
Passion hart aufeinanderprallen. Der Choralsatz folgt auf eine raffiniert instrumentierte,
moderne Arie, die bewusst mechanisch-technisch wirkende Permutations-Chorfuge der
Kriegsknechte (Nr. 27b) löst sich überraschend aus dem opernartigen Rezitativ und geht
anschließend fast ebenso rasch wieder in ein solches über.
Genau das aber sorgt für die Lebendigkeit, die auch reale menschliche Existenzen in ihrer
Widersprüchlichkeit ausmacht. Dramaturgisch kann man sich da an die Buntheit eines
Shakespeare-Bühnenstücks erinnert fühlen. Wie Bach die verschiedenen Textstile und
musikalischen Formen mischt, so kombiniert Shakespeare auf engstem Raum hohen und
niederen Sprechstil, lässt Herrscher und einfaches Volk Szene an Szene auftreten, um die
Gesamtheit der Gedanken in der Welt nicht harmonisierend, sondern unmittelbar
aufeinanderfolgend, im direkten und harten Kontrast, zu erfassen.7
Das Kirchenlied im Oratorium – kollektive Kontemplation
Betrachten wir das traditionellste Element, das Bach in seinen Bibeltext einfügt, etwas
genauer, die Choräle oder Kirchenlieder. In der ästhetischen Diskussion der Zeit war für
aufgeklärte Komponisten wie Johann Mattheson (1681-1764) „der eigentliche Choral Gesang
5 Geck, S. 28.
6 Geck, S. 28f.
7 „Es ist Bachs Neigung, durch den Rückgriff auf Elemente umgangsmäßiger, d.h. in ihrem gesellschaftlichen
Zusammenhang deutlich oder jedenfalls von fern identifizierbarer Gattungen einer stilistischen
Vereinheitlichung geradezu entgegenzuwirken und ein fast fremdartiges Leben in die Komposition zu bringen.
Der Choral (im Zusammenhang mit der Arie ‚Mein teurer Heiland, lass dich fragen‘ [Nr. 32]), das Tombeau (als
semantischer Hintergrund der Arie ‚Es ist vollbracht‘), die Chaconne (als Fundament der Arie ‚Ach mein Sinn‘),
der Tanz (u. a. als Passepied in der Arie ‚Ich folge dir gleichfalls‘ und als Sarabande im Schlusschor ‚Ruhet
wohl‘) sind einige solcher im Zusammenhang mit der Johannespassion zu nennende Elemente.“ (Geck, S. 37)
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keine Music“. Das Einschalten eines Chorals in eine mehrsätzige Komposition drückt für
Mattheson statt Kunst und Modernität Primitivität und Traditionalismus, überhaupt
Außermusikalisches und einer einheitlichen Ästhetik Zuwiderlaufendes aus. 8
Bach dagegen versteckt das (oft von den kirchlichen Auftraggebern ausdrücklich verlangte)
Kirchenlied nicht. Er hat keine Angst davor, dass dieses sich als ästhetischer Fremdkörper
erweist. „Er stellt ihn [den Choral] vielmehr als Zeugen der Tradition und als Sprecher der
versammelten Gemeinde deutlich heraus.“ 9 Neben bloßem Zuhören hatte man als
Gemeinde so die Möglichkeit, die neukomponierte, musikalisch moderne Passion mit
musikalisch Vertrautem zu verknüpfen und – bei Kenntnis der Melodien, die zitiert wurden –
eventuell selbst aktiv mitzuwirken.10 Das sorgte für eine größere Aufmerksamkeit und
Eingängigkeit (heute würde man – etwas modisch – sagen: Nachhaltigkeit).
Bach nutzt innerhalb seiner besonderen epischen Passionsdramatik die Möglichkeit, mithilfe
der eingeschalteten Choräle, das dramatische Geschehen anzuhalten, um es durch die
bekannten – und dadurch allgemein verständlichen – Liedtexte neu zu beleuchten,
emotional zu vertiefen, gedanklich auszulegen oder aus der Wir-Perspektive zu
kommentieren. Selbst wenn Bach Choraltexte auswählt, die im Singular, in der Ich-Form,
formuliert sind, wie in Nr. 11: „Ich, ich und meine Sünden“ ist durch die Besetzung als
vierstimmiger Choral immer klar, dass dieses Ich exemplarisch für das Wir steht. Es ist ein
Kollektivkommentar, dramaturgisch gesehen durchaus oft mit kathartischer, befreiender
Wirkung. Theologen würden vielleicht eher von Kontemplation (lat. Beschauung,
Meditation) sprechen: in der philosophisch-theologischen Mystik eine betrachtende
Zuwendung zum Übersinnlichen mit dem Ziel einer unmittelbaren Vereinigung mit dem
Göttlichen. In der Bach’schen durch und durch protestantisch geprägten Johannes-Passion
scheint Kontemplation allerdings weniger etwas Mystisches zu sein als ein ziemlich
rationaler Dialog zwischen Gott (in diesem Falle Jesus als „Held aus Juda“) und dem Ich, dem
das gemeinschaftliche Wir auch als Ich angehört.11
Für die echten Individualkommentare sind dagegen die Arien zuständig: Selbstverständlich
können auch sie als beispielhaft für das Wir, für alle in der Zuhörerschaft, angesehen
werden. Sie können aber auch dramaturgisch – wie die Arie in der Oper – als affektstarke
Äußerung einer unmittelbar an der Handlung beteiligten Person gedeutet werden (zum
Beispiel die Sopran[!]-Arie „Ich folge dir gleichfalls“ als Einsicht in das naiv-kindlich-freudige
Innenleben Petrus‘ oder des anderen Jüngers, der Jesus nachfolgt). Formal-dramaturgisch
8 Zitiert nach Geck, S. 29.
9 Geck, S. 30.
10 Ob die Kirchengemeinde bei Bach die bekannten Choralmelodien mitgesungen hat, ist nicht eindeutig belegt.
Allerdings war die Möglichkeit dazu mithilfe bekannter Melodien und den verteilten gedruckten Textbüchern
gegeben. Dass das Mitsingen der Gemeinde bei den Kirchenliedern damals in Sachsen ein allgemein üblicher
Brauch war, bestätigt ein Ausschnitt aus Christian Gerbers Historie der Kirchen-Ceremonien in Sachsen
(Dresden und Leipzig 1732): „Bisher hat man gar angefangen die Paßions-Historia, die sonst so fein de simplici
& piano, schlicht und andächtig gesungen wurde, mit vielerley Instrumenten auf das künstlichste zu
musicieren, und bisweilen ein Gesetzgen [Sätzchen] aus einem Paßions-Liede einzumischen, da die gantze
Gemeinde mitsinget.“ Zitiert nach Walter, S. 33. 11
Walter, S. 30.
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unterscheiden sich diese Arien nicht von Arien eines Passionsoratoriums oder selbst einer
Oper.
Verhältnis zwischen Dramatik und Kontemplation
Fragt man erfahrene Chorsänger oder sonstige Kenner nach dem Typischen, dem
Markanten, dem Prägnanten, auch dem Besonderen der Johannes-Passion, so bekommt
man oft zu hören, es seien „die vielen langen und tollen Turba-Chöre“ der aufgepeitschten
Menge. Tatsächlich scheinen die lauten und umtriebigen Menschengruppen aufgrund ihrer
dramaturgischen Bedeutung als nahezu einzige Widersacher Jesu, die Turbachöre aufgrund
ihrer dramatischen Wucht, vor allem ihrer Lautstärke und ihres Tempos, besonders
eindrücklich zu sein. Auch die musikalische Qualität dieser fein gearbeiteten imitatorischen
Sätze mit einprägsam-sprechenden Soggetti macht diese Aussagen durch und durch
nachvollziehbar.
Betrachtet man allerdings die verschiedenen Formen der Johannes-Passion unter dem
Aspekt der Quantität, ergibt sich ein ganz anderes Bild. Bei der Quantifizierung habe ich
nicht einfach die Choräle, die frei gedichteten Chöre (= Gruppen-Arien), die Turba-Chöre und
die Rezitative gezählt, da die pure Anzahl ein schiefes Bild ergeben würde, sondern anhand
der CD-Aufnahme unter John Elliot Gardiner aus dem Jahre 198612 die tatsächliche zeitliche
Ausdehnung gemessen, und zwar mit folgendem Resultat:
Form Arien Chöre Choräle Bibeltext ohne Turbae und Jesus
Turba-Chöre Jesus-Worte
Zeitdauer in
Minuten
41‘13 16‘02 12‘12 24‘54 8‘27 3‘44
Funktion Kontemplation/Kommentar Epik/Dramatik (erzählte Handlung)
Zeitdauer
in Minuten
69‘27 37‘05
Das überraschende Resultat ist, dass die betrachtenden Teile insgesamt fast doppelt so lang
sind wie die dramatisch-erzählenden Teile, der Redeanteil der Hauptfigur Jesus liegt
zwischen 3 und 4 %, die Turbachöre machen weniger als 8% der Gesamtzeit aus.
Mithilfe dieser Statistik versteht man auch, warum man nach der Wiederentdeckung des
Bach’schen Vokalwerks im 19. Jahrhundert bei Aufführungen in den Arien und Chören so
stark gekürzt hat. Man wollte offensichtlich das zeitliche Ungleichgewicht zwischen der als
überlang empfundenen kontemplativen Richtung nach innen (Walter) und der dramatischen
Richtung nach vorn ausbalancieren.
Letztendlich hat man aber damit das Besondere der Bach’schen Passionsdramaturgie
verdeckt, indem man versuchte, sie einer vermeintlich spannenderen Operndramaturgie
anzupassen.
12
CD Johann Sebastian Bach: Johannes-Passion BWV 245; The Monteverdi Choir, The English Baroque Soloists;
Leitung: John Eliot Gardiner (1986).
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5. Didaktische Hinweise: kreativer, produktionsorientierter Zugang
Gerade die Besonderheit dieser Bach’schen Passionsdramaturgie kann für die Schüler durch
einen kreativen Zugang im Unterricht unmittelbar erfahrbar und damit auch verständlich
gemacht werden (siehe auch die Arbeitsschritte oben und die Arbeitsblätter in Abschnitt II,
Seite 40-45). Ausgehend vom eigentlichen Handlungsgerüst, dem Bibeltext, sollen die
Schüler – wie Bach selbst es auch tun musste – nach eingehendem Textstudium überlegen,
an welchen Stellen sie betrachtende Lied-Kommentare in den Bibeltext einschalten
möchten. (Dass man dabei auf durchaus unterschiedliche Ideen kommen kann, zeigen zum
Beispiel die verschiedenen Gestaltungen Bachs der Petrus-Szene in der Johannes- und der
Matthäus-Passion.) Wenn die Schüler einmal dieses Produktions-Verfahren des Auswählens
und Einschaltens neuer, fremder Texte selbst gemacht haben, so die Überlegung, werden sie
auch die Bach’sche Johannes-Passion verständiger und verständnisvoller hören und
betrachten können (siehe die Bezüge in der Synopse, Seite 47 ff.).
Als Textausschnitt wurde ein Abschnitt aus dem ersten Teil der Passion gewählt, in dem die
Verleugnung des Petrus‘ erzählt wird. Seine durch und durch menschliche und damit für uns
verständliche Schwäche kann eine Identifikation und einen Perspektivenwechsel für die
Schüler erleichtern. Außerdem sind die Bach’schen Einschaltungen an dieser Stelle
musikalisch und dramaturgisch besonders interessant und abwechslungsreich.
Arbeitsschritte zum Kennenlernen des Textes durch spielerische Annäherung
Der Lehrer leitet im Plenum an. Die Schüler und der Lehrer stehen oder sitzen im Kreis. Jeder
Schüler benötigt das AB mit dem in Zeilen gegliederten Bibeltextausschnitt aus der
Johannes-Passion:
a) Schüler musikalische Gegensatzpaare finden und mithilfe der Gegensatzpaare
zeilenweise gegensätzlich reihum sprechen lassen; Beispiel:
Schüler 1 (laut) Da hatte Simon Petrus ein Schwert
Schüler 2 (leise) und zog es aus
Schüler 3 (laut) und schlug nach des Hohenpriesters Knecht
Schüler 4 (leise) und hieb ihm sein recht Ohr ab;
etc.
Mögliche Gegensatzpaare:
laut-leise
schnell-langsam
hoch-tief
staccato-legato
Dauer: höchstens 2-3 Minuten, nicht mit einem Paar den ganzen Text durchgehen,
nach 10-20 Zeilen nächstes Paar vorgeben
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b) Dasselbe mit emotionalen Gegensatzpaaren durchführen:
wütend-resigniert
gehetzt-entspannt
lachend-weinend
verliebt-gehässig
schüchtern-selbstbewusst
nüchtern wie ein Nachrichtensprecher-emotional bewegt wie ein Betroffener etc.
c) Wichtige Vorübungen zur folgenden Kreativaufgabe: Schüler das im Text geschil-
derte Geschehen in eigenen Worten zusammenfassen lassen.
Nachdem die wesentlichen Vorgänge in ihrer Chronologie geklärt sind, können die
Schüler noch spielerisch versuchen, die Geschichte aus der Perspektive daran
beteiligter Personen zu erzählen. Das hilft, sich in andere Rollen hineinzuversetzen
und die Handlung aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten. Selbstverständlich
dürfen und sollen dabei auch die Gefühle des jeweiligen Erzählers verbal oder
nonverbal (z. B. durch Schluchzen, spöttischen Ton, Lachen etc.) ausgedrückt werden.
Möglichkeiten sind beispielsweise:
Jesus erzählt in Ich-Form;
Petrus erzählt in Ich-Form;
Ein Knecht und die Magd erzählen (zusammen!) in Ich- bzw. Du-Form;
Der allwissende Gott (Jesu Vater) erzählt in Ich-Form.
Liedauswahl
Bachs Kriterien für die Liedverwendung in seinen Passionen sollen hier noch einmal genannt
werden. Daran sollten sich auch die Schüler bei ihrer Liedauswahl orientieren.
• Die Melodien müssen bekannt sein (Mitvollzug und Bezugnahme zum Originaltext
sowie eventuelles Mitsingen sonst unmöglich – bei Vorlage des gedruckten
Textbuches ohne Noten).
• Die Melodien müssen (als Möglichkeit eines Kollektiv-Kommentars, vergleichbar den
Chören in der griechischen Tragödie) zur Evangelistenerzählung und zur Situation
passen.
• Sie müssen mit derselben Sorgfalt in der Ausführung wie die anderen Musikstücke
(für die Schüler: wie der bereits gegebene Bibeltext) behandelt werden.13
Bach wendet diese Kriterien bei der Auswahl seiner zwölf eingeschalteten Kirchenlieder an.
Er wählt vier traditionelle reformatorische Gemeinde- und Glaubenslieder des 16.
Jahrhunderts aus (Nr. 5, Nr. 15 und 37 sowie Nr. 40). Doppelt so viele Choräle, nämlich die
13
Bach setzt deshalb zum Beispiel ein und dieselbe Choralmelodie niemals auf die gleiche Weise aus und zieht
alle Register des harmonischen Ausdrucks, um die jeweilige Textaussage möglichst deutlich zu machen. Er
konzentriert sich daher in einem naturgemäß homophonen, colla-parte-begleiteten Choralsatz auf die
harmonische Anreicherung der drei Begleitstimmen Alt, Tenor und Bass.
Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion
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übrigen acht, gehen auf sogenannte Andachtslieder des 17. Jahrhunderts zurück, die
„zunächst vor allem in Liederbüchern für die private Hausandacht erschienen und erst zu
Lebzeiten Bachs endgültiger Bestandteil des gottesdienstlichen Gemeindegesangs
wurden“.14
Um die Liedauswahl für die jeweilige Unterrichtssituation praktikabel zu machen, kann man
die Schülergruppen einfach zwei Lieder (eines chorisch, eines solistisch gesungen) aus dem
jeweils in der Schule vorhandenen und eingeführten Liederbuch aussuchen lassen. Für
avancierte und sehr repertoirekundige Gruppen kann man die Auswahl noch einmal
einschränken, zum Beispiel nur Lieder in deutscher Sprache, nur geistliche Lieder (z. B. Swing
low, sweet chariot; Nobody knows the trouble I’ve seen; Amazing Grace; Lobe den Herren;
Wer nur den lieben Gott lässt walten; Ein feste Burg ist unser Gott; Danke für diesen guten
Morgen u.v.a.), nur Volkslieder (Es geht ein dunkle Wolk herein; O Welt, ich muss dich lassen;
All mein Gedanken; Muss i denn zum Städtele hinaus; Da unten im Tale u.v.a.), nur
englischsprachige Popmusik (Yesterday; Help; Let it be; As tears go by; Knockin‘ on heaven’s
door; My way; Tears in heaven; What a wonderful world; Somewhere over the rainbow
u.v.a.) zulassen. Eigene Erfahrungen haben aber gezeigt, dass die Sache gerade ohne Stil-
Einschränkungen interessant und im Sinne einer Oratorischen Passion bunt bleibt.
(Letztendlich sind wir da genau bei der gleichen ästhetischen Diskussion, die auch in der
ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, um 1720, geführt wurde.) Bei meinem letzten Versuch
habe ich das ganze Liederbuch freigegeben, was zugegebenermaßen auch zu makabren (im
Monty-Python-Stil „Always look on the bright side of life“ nach „und ging hinaus und
weinete bitterlich“), aber gerade dadurch zu interessanten Ergebnissen und ästhetischen
Diskussionen geführt hat. Wenn man aber auf die Begründung der Liedeinschübe (siehe AB,
Aufgabe 4, Seite 42) besteht, sollte man vor einer allzu großen Beliebigkeit gefeit sein.
Präsentation und Auswertung
Wichtig wäre mir bei der abschließenden Präsentation, zumal bei einem vierstündigen Kurs,
dass die Schüler alles selbst (eventuell mit Lehrerhilfe) live singen und musizieren, also keine
Abspielgeräte und Playbacks verwenden. Mithilfe eines eventuell von den Schülern selbst
entwickelten Feedback-Bogens kann man eine geregelte Auswertung und einen Vergleich
der vorgeführten Versionen vornehmen.
An die Auswertung schließt sich idealerweise der Vergleich mit der Bach’schen Fassung an.
(Textfassung mit nach Textsorte unterschiedenen Schriftarten bei den Unterrichts-
materialien). Anhand des nun gut bekannten Textes könnte dies ein Einstieg in die
musikalische Analyse über das Hören sein, die man anschließend mithilfe des Notentextes
vertiefen kann.
Je nach Interesse und Zeitbudget kann das Projekt noch um den sehr aufschlussreichen
Vergleich mit der entsprechenden Stelle aus der Matthäus-Passion erweitert werden.
14
Geck, S. 32.
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6. Hinweise zu den vier Unterrichtsbausteinen
Der Johannes-Passion liegen (abgesehen von den Rahmensätzen und Mischformen wie den
Arien mit Chor Nr. 24 und Nr. 32) im Wesentlichen drei verschiedene Textsorten zugrunde,
denen jeweils eigene musikalische Formen und Funktion entsprechen.15
Text Evangelium Kirchenliedstrophen Freie Textdichtung
musikalische Form Rezitative Turba-Chöre Choräle Arien
Funktion Passionsbericht / Handlung
theologischer
Kommentar
betrachtende
Perspektive
Dramatik / „nach vorn“ Kontemplation / „nach innen“
Diese Anlage ist das wesentliche Merkmal der Oratorischen Passion im Gegensatz zum
Passionsoratorium (vgl. Walter, S. 32 ff. und 44 ff.). Die vier Bausteine stellen jeweils eine
der musikalischen Formen (Rezitativ, Turba-Chor, Arie und Choral) in den Mittelpunkt und
zeigen beispielhaft Wege der Annäherung im Musikunterricht.
• In Baustein 1 (Choräle) steht der Choral Nr. 3 („O große Lieb“) im Mittelpunkt.
Zunächst kann die ursprüngliche Melodie („Herzliebster Jesu“) gesungen und von den
Schülern harmonisiert werden. Anschließend wird Bachs Choralsatz thematisiert.
Zunächst in Form eines einfachen Tonsatzes mit Funktionssymbolen zur Choral-
melodie (entsprechend den Tonsätzen im fachpraktischen Abitur), der dann mit
Bachs aufwändigerem Satz (u.a. Durchgänge und Vorhalte in den Mittelstimmen)
verglichen wird. Daraus werden dann die Grundlagen der Generalbassbezifferung
hergeleitet. Abschließend wird in einer Analyseaufgabe der Affektgehalt des Chorals
anhand einzelner Schlüsselbegriffe thematisiert und mit dem Choral Nr. 17, der auf
derselben Melodie basiert, verglichen. Bei Zeitmangel kann auch direkt mit Aufgabe 3
(Seite 52) eingestiegen und der erste Schritt (Singen und Harmonisieren der
ursprünglichen Melodie) ausgelassen werden.
• In Baustein 2 (Rezitative) wird auf die in Baustein 1 erworbenen Fähigkeiten zum
Aussetzen eines Generalbasses zurückgegriffen. Der Baustein beginnt mit dem
Aussetzen und Musizieren eines Rezitativs. Falls das Aussetzen im Unterricht nicht
möglich ist, kann auch aus Klavierauszügen musiziert werden. Anschließend stehen
Zuordnungs- und Vertonungsaufgaben im Mittelpunkt, bei denen das Verhältnis
zwischen Text und Musik auf unterschiedlichen Ebenen beleuchtet wird
(Sprachrhythmus und -betonung, inhaltliche Entsprechungen …).
15
Die freien Textdichtungen der Arien sind häufig durch biblische Texte inspiriert und weisen teilweise enge
Bezüge zu diesen Vorlagen auf. Vor dem Hintergrund dieser Einteilung bezeichnet Walter die Rahmensätze
„Herr unser Herrscher“ und „Ruht wohl“ als „Chor-Arien“ (Walter, S. 44). Der einzige Choral, dessen Text
nicht auf traditionellen Liedtexten basiert, ist der Choral Nr. 22 „Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn“. Eine
Übersicht über die Herkunft der Choral-Texte liefert Walter, S. 259 ff..
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• In Baustein 3 (Turba-Chöre) wird der dramatische Grundzug der Chöre zunächst beim
Hören, später durch das Einstudieren eines Sprechstücks und durch szenische
Umsetzung in den Mittelpunkt gerückt. Am Ende des Bausteins sollen daran
anknüpfend die in diesen Chören ausgedrückte extreme emotionale Erregung
reflektiert und die musikalischen Eigenschaften analytisch erfasst werden, die sie
erzeugen.
• In Baustein 4 (Arien) sollen die Hinweise zur „Vorgehensweise bei der Analyse und
Interpretation von Vokalmusik“ in Kombination mit den Beispielen den Schülern
helfen, relevante Aspekte innerhalb eines Notentextes zu erkennen und von eher
unwichtigen Beobachtungen zu unterscheiden, die unterschiedlichen Ebenen der
Wort-Ton-Beziehung zu verstehen und dadurch in ihren eigenen Texten mehr
Struktur und sprachliche ‚Treffsicherheit’ zu verleihen. Weil hier ein höheres
Reflexionsniveau vorausgesetzt wird, folgt dieser Teil als letzter Baustein. Mit ihm soll
die Verbindung von einer eher affektiven (Turba-Chöre) und praktischen (Choräle,
Rezitative) zur analytischen Herangehensweisen erreicht werden, wie sie im Abitur
und in Klausuren erwartet werden. Dabei ist es sicherlich ratsam, die gegebenen
Hilfestellungen nicht nur zu besprechen, sondern während der weiteren
Beschäftigung mit der Passion immer wieder zu verwenden. So kann die analytische
Herangehensweise auf weitere Nummern der Passion übertragen werden (siehe
hierzu die Übersicht mit Affekt-Zuordnungen unten).
7. Übersicht: Affekte und Motive
Die folgende Übersicht soll dabei helfen, sich auch den analytischen Aufgabenstellungen
über die theologischen Inhalte zu nähern, wobei die in der Tabelle aufgeführte Auswahl an
Affekten und Motiven die Brücke zwischen theologischer Annäherung und musikalischer
Analyse bilden kann. Den einzelnen Affekten oder geistlichen Motiven werden einzelne
Nummern der Passion zugeordnet.
Nr. Form Textanfang Textstelle(n)
Trauer, Leiden, Schmerz
3 Choral O große Lieb Marterstraße, und du musst leiden
9 Arie Ich folge dir gleichfalls geduldig zu leiden [Fassung IV]
12c Rezitativ Er leugnete aber und sprach und weinete bitterlich
14 Choral Petrus, der nicht denkt zurück und bitterlichen weinet
19 Arioso Betrachte, meine Seel in Jesu Schmerzen
20 Arie Mein Jesu [Fassung IV] schmerzhaft bitter leiden [Fassung IV]
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24 Arie Eilt Marterhöhlen
34 Arioso Mein Herz Leiden; leidet; in Trauer kleidet
35 Arie Zerfließe mein Herze [ganze Nummer]
37 Choral O hilf Christe, Gottes Sohn durch dein bitter Leiden
Verzweiflung, Schrecken
13 Arie Ach, mein Sinn [ganze Nummer]
24 Arie Eilt [ganze Nummer]
34 Arioso Mein Herz [ganze Nummer]
Aggression, Wut, Hohn und Spott
15 Choral Christus, der uns selig macht verlacht, verhöhnt und verspeit
16 Turba-Chor Wäre dieser nicht ein Übeltäter Wäre dieser nicht ein Übeltäter
18 Rezitativ Da sprach Pilatus zu ihm geißelte ihn
21b/d Turba-Chöre Sei gegrüßet, kreuzige sei gegrüßet; kreuzige
23d Turba-Chor Weg, weg mit dem weg weg mit dem; kreuzige
Kampf
16e Rezitativ Auf dass erfüllt würde die Schrift würden darob kämpfen
30 Arie Es ist vollbracht Der Held aus Juda siegt mit Macht
Herrlichkeit, Größe
1 Eingangschor Herr, unser Herrscher Herrscher; Herrlichkeit; verherrlicht
17 Choral Ach großer König großer König, groß zu allen Zeiten
35 Arie Zerfließe, mein Herze dem Höchsten zu Ehren
40 Choral Ach Herr, lass dein lieb Engelein Ich will dich preisen ewiglich
Erniedrigung
1 Eingangschor Herr, unser Herrscher in der größten Niedrigkeit
30 Arie Es ist vollbracht gekränkten Seelen; Trauernacht
Liebe, Freude
3 Choral O große Lieb Lust und Freuden
9 Arie Ich folge dir gleichfalls [ganze Nummer]
28 Choral Er nahm alles wohl in Acht [ganze Nummer]
Erlösung, Heil
7 Arie Von den Stricken mich zu entbinden; völlig zu heilen
32 Arie Mein teuer Heiland aller Welt Erlösung; vom Sterben freigemacht
39 Schluss-Chor Ruht wohl macht mir den Himmel auf
40 Choral Ach Herr, lass dein lieb Engelein vom Tod erwecke mich
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Kontemplation, Versenkung
19 Arie Betrachte, meine Seel [ganze Nummer]
30 Arie Es ist vollbracht [ganze Nummer]
Tod, Sterben
16d Turba-Chor Wir dürfen niemand töten Wir dürfen niemand töten
16e Rezitativ Auf dass erfüllet würde die Schrift welches Todes er sterben würde
31 Rezitativ Und neiget das Haupt und verschied
35 Arie Zerfließe mein Jesus ist tot
Ambivalenz aus Schrecken und Erlösung
7 Arie Von den Stricken binden ↔ entbinden
19 Arioso Betrachte, meine Seel ängstlichem Vergnügen …
20 Arie Erwäge [ganze Nummer]
22 Choral Durch dein Gefängnis [ganze Nummer]
26 Choral In meines Herzens Grunde zu Trost in meiner Not; dich hast geblut zu Tod
8. Musikalisch-rhetorische Figurenlehre
„Die Musik des Barocks aber will in dem, was sie bedeutet, noch über die Abbildlichkeit
hinaus. … Sie will den Menschen in sich hineinlassen, … sie will Bewegungen des Gemüts,
Freude und Traurigkeit, Zorn und Verzweiflung, Liebe und Demut, ausdrücken und zudem
möglichst auch den konkreten Sinngehalt der zu vertonenden Texte in die Musik übersetzen,
um auf diese Weise auf die Menschen zu wirken, die Sänger und Spieler und Hörer, sie
bewegend und belehrend.“ 16
I. Einleitung
Musikalisch-rhetorische Figuren sind nach Merkmalen typisierte musikalische Gestalten und
dienen in Anlehnung an die rhetorischen Figuren der Rede der Hervorhebung eines
Textsinnes (Interpretation, musikalische Auslegung, z.B. Climax), eines Bildes (z.B. Anabasis,
Katabasis, Imitatio) oder Affektes (z.B. Schmerz, Trauer ausgedrückt durch Passus
duriusculus). Analog zu Quintilians Definition einer rhetorischen Figur („Eine Figur … ist die
Gestalt einer Rede in Abweichung von der gewöhnlichen und zunächst sich anbietenden Art
zu sprechen.“)17 sind musikalisch-rhetorische Figuren als formelhafte Ausschmückungen
16
Hanns Heinrich Eggebrecht: Musik im Abendland. Piper Verlag, 6. Auflage (2005), S.345/346. 17
Fabius Quintilian, um 35 – 100 n.Chr., Verfasser der ersten systematischen rhetorischen Figurenlehre
„Institutio Oratoria“.
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oder kunstvolle Abweichungen vom Tonsatz eine Abweichung von der „einfachen Art“ des
Komponierens. Sie erfüllen im sprachlichen und im musikalischen Werk die gleichen
Funktionen: Sie gelten als Freiheiten (Licentiae) gegenüber dem Regulären, sie wirken als
Ausschmückungen (Ornamenta), sie geben dem Werk Mannigfaltigkeit und Abwechslung
(Variatio), sie sind im Schaffensprozess eine Quelle der Erfindung (Fons Inventionis) und
sollen bei alledem dem Hörer den Sinn einer Aussage nahebringen und verdeutlichen.18
In der Erscheinungsweise des figürlichen und des affekthaften Abbildes gibt es Berührungen
und Überschneidungen. Der Affekt des Schmerzes wird häufig durch enge, bevorzugt
chromatische Tonfolgen ausgedrückt. Die mit chromatischen Tönen durchsetzte Tonfolge
von Halbtönen, insbesondere der chromatische Quartgang abwärts ist andererseits auch ein
Tonfolgetypus, eine musikalische Figur, „Passus duriusculus“ („ein etwas harter Gang“)
genannt, der den Grund des Schmerzes, z.B. die Sünde bezeichnet. Der „Passus duriusculus“
ist in der neueren Schreibweise, dem Stilus modernus als Satzfreiheit (die Stimme „weicht
ab“ von der Ordnung der Diatonik) zugelassen.
II. Musikalische Figurenlehren
Die rhetorisch-musikalische Figurenlehre ist aus dem Bedürfnis heraus entstanden, bereits
bestehende musikalische Phänomene zu beschreiben. Die erste systematische musikalische
Figurenlehre wurde Anfang des 17. Jahrhunderts von Joachim Burmeister verfasst19. Gegen
Ende des 18.Jahrhunderts, einer Zeit, in der schematisierte Lehren einem auf einen
Individualismus betonenden musikalischen Ausdruck der Empfindungen widersprachen,
erschien mit Johann Nikolaus Forkels „Allgemeine Geschichte der Musik“ 20 die letzte
systematische musikalische Figurenlehre.
Die Beziehung zwischen Musik und Rhetorik hatte um 1600, also zum Zeitpunkt der
Entstehung der ersten systematischen Figurenlehre, eine bereits hundertjährige
Vorgeschichte. Die klassische Rhetorik und ihre Wiederbelebung im Zeitalter des
Humanismus dienten für die Musiktheorie des 16. und 17. Jahrhunderts als Vorbild. Die
Systematik dieser Kunst, das Kernstück der gelehrten Bildung, sollte als Beispiel für die
Kompositionskunst herangezogen werden. Wie in der Rhetorik der Aufbau und die Wirkung
der klassischen Vorbilder im Hinblick auf die zur Anwendung gelangten Kunstmittel, wozu
auch die Figuren zählen, zu analysieren war, war es auch das Ziel der Musiklehre, die
musikalischen Phänomene in den Werken der Meister des 16.Jahrhunderts zu erschließen
und zu benennen. Der Mangel an Begriffen zur Benennung dieser Phänomene führte zur
Übernahme von Termini aus der Rhetorik, einer Kunst, die mit der Musik in enger Beziehung
stand. Handwerkliche Kompositionslehren, bei Joachim Burmeister (1606) und Johann
Gottfried Walther (1708) „Musica poetica“ (griech. von poiein, das „Machen“ einer
Komposition) genannt, dienten den Komponisten als „Erfindungsquelle“ (fons inventionis).
Analog der Ars rhetorica, die lehrt, wie ein Redner eine Rede zu fertigen hat, damit sie ihrem
18
a.a.O. Eggebrecht, S. 372. 19
Joachim Burmeister. Hypomnematum musicae poeticae (Rostock, 1599), Musica Poetica (Rostock, 1606). 20
Johann Nikolaus Forkel, Allgemeine Geschichte der Musik, Göttingen 1788.
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Gegenstand und Zweck entspricht, anschaulich und eindrucksvoll ist und die Hörer zu
belehren (docere), zu bewegen (movere) und zu ergötzen (delectare) vermag, erfindet und
verwendet der Musicus poeticus Figuren, um den Sinngehalt des Textes sinn- und
affektgemäß abzubilden. Insgesamt sind über 150 musikalisch-rhetorische Figuren in den
verschiedenen Figurenlehren beschrieben, wobei damit nur ein Teil der in Kompositionen zu
erkennenden Tonbildern erfasst wurde.
� Joachim Burmeister : Hypomnematum musicae poeticae (Rostock, 1599)
� Joachim Burmeister: Musica poetica (Rostock, 1606)
� Johannes Nucius : Musices poeticae (Niesse, 1613)
� Athanasius Kircher: Musurgia universalis (Rom, 1650)
� Christoph Bernhard: Tractatus compositionis augmentatus (ca. 1657)
� Johann Gottfried Walther: Praecepta der musikalischen Composition (Weimar,
1708)21
� Johann Gottfried Walther: Musicalisches Lexikon (Leipzig, 1732)
� Johann Mattheson: Der vollkommene Capellmeister (Hamburg, 1739)
� Johann Adolf Scheibe: Critischer Musicus (Leipzig, 1745)
� Johann Nikolaus Forkel: Allgemeine Geschichte der Musik (Göttingen, 1788)
Im Vergleich der verschiedenen Lehren offenbart sich die Mannigfaltigkeit des Figuren-
Begriffs: von einer einheitlichen Figurenlehre des Barock kann nicht gesprochen werden.
Häufig lassen gerade die vielfachen Bedeutungsmöglichkeiten eines Begriffs das Verständnis
der Lehre eines einzelnen Autors erkennen. So versteht Joachim Burmeister in seiner Musica
poetica (1606) unter einer Climax eine melodische Wendung, die von einer benachbarten
Ausgangsstufe wiederholt wird, wobei der Stufengang auf- oder abwärts gewählt werden
kann. Johann Gottfried Walther stellt dagegen in seinem Musicalischen Lexicon (1732) das
emphatische Moment heraus, wenn er die Wiederholungsrichtung aufwärts bestimmt:
„Climax oder Gradatio ist, wenn ein melodischer Abschnitt etlichemal immediate nach
einander immer um einen Ton höher angebracht wird.“
Die terminologische Abhandlung der unten zusammengestellten Begriffe orientiert sich an
den zu Johann Sebastian Bachs Zeit erschienenen Figurenlehren. Bei den folgenden
Beispielen für die kompositorische Anwendung musikalisch-rhetorischer Figuren in der
Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach kommt es nicht auf eine vollständige
Zusammenstellung, sondern auf die Klarstellung der Prinzipien der barocken
Figurenkomposition an. In diesem Sinne soll das Glossar auch im schulischen Unterricht
verwendet und sinnentleertes Aufzählen barocker Figuren in der Analyse vermieden werden
(vgl. auch „Leitfaden – Vorgehensweise bei der Analyse und Interpretation von Vokalmusik“,
Seite 58).
21
Während ihrer gemeinsamen Wirkungszeit in Weimar von 1708 – 1717 waren Johann Sebastian Bach und
Johann Gottfried Walther durch persönliche und musikalische Beziehungen eng verbunden.
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9. Auswahl der wichtigsten Figuren in der Johannes-Passion
1. Hypotyposis-Figuren (griech. Abbildung):
Sammelbezeichnung für alle Figuren, die den Text abbilden.
Anabasis (griech. Hinaufsteigen, Aufstieg): eine aufwärts gerichtete melodische Bewegung
zur Übersetzung einer aufwärtsgerichteten Bewegung oder Thematik, z.B. bei Textstellen
wie „empor“, „Himmelfahrt“, „auferstehen“ (z.B. Chor Nr. 39, T. 68/69 „macht mir den
Himmel auf“ aufsteigende Melodielinie in Achteln in Bass und Sopran).
Chor Nr. 39, T. 69/70
Catabasis / Katabasis (griech. Abstieg): Gegensatz zu Anabasis, abwärts gerichtete
melodische Bewegung (z.B. Rezitativ Nr. 2c, T. 27/28 „und fielen zu Boden“).
Rezitativ Nr. 2c, T. 27/28
Circulatio (lat. Kreis, Ring): kreisförmige Bewegung der Melodie zur Darstellung einer
kreisförmigen, umzingelnden Bewegung, kann auch als Abbild für Vollkommenheit und
Schönheit stehen, häufig bei Textstellen wie „Erde“, „Krone“, „rund“ usw. (z.B. Choral Nr. 3,
T. 7/8 Bass „mit der Welt“).
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Choral Nr. 3, T. 5-11
Fuga (lat. Flucht): Nachahmung einer Melodie, Kanon („fuga imaginaria“ = „scheinbare
Fuge“) bzw. eine von allen Stimmen durchgeführte Imitation („fuga realis“) zur Darstellung
aufeinander folgender Handlungen (z.B. Arie Nr. 9 „ich folge dir gleichfalls mit freudigen
Schritten“ Nachfolge von Singstimme und Flöten bzw. von Flöten und Singstimme, T. 16 m.
A. / 17 sogar Continuo – Singstimme – Flöten), aber auch: flüchtige, äußerst rasche
Bewegung einer oder mehrerer Stimmen bei Wörtern, die ein „Fliehen“ aussagen (z.B. Arie
Nr. 24, T. 17/18 „eilt“).
Arie Nr. 24, T. 14-20
Hyperbole (griech. Überwerfen, Übersteigerung): einzelne Töne überschreiten den üblichen
Tonumfang einer Singstimme, das Überschreiten des Liniensystems nach oben, z.B. für
„Himmel“, „Höhe“ (z.B. Chor Nr. 1, T. 38 Sopran: für die Anrufung des Herrschers werden die
höchsten Lagen aufgesucht, Rezitativ Nr. 2a, T. 10 „und der Hohenpriester“).
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Rezitativ Nr. 2a, T. 9/10
Hypobole, das Unterschreiten, z.B. für die Hölle (Absinken in besonders tiefe Lage z.B. bei
der Darstellung der „größten Niedrigkeit“ in Chor Nr. 1, T. 86 Sopran nach Katabasis).
Tirata (ital. in einem Zuge): Folge von schnellen, stufenweise auf- und absteigenden Noten,
die alle von gleichem Wert sind bei Wörtern wie „werfen“, „schleudern“, „blitzen“;
Mattheson möchte den Begriff als „Schuss“ oder „Pfeilwurf“ verstanden wissen, also
aufwärts oder abwärts schnellender Lauf zur Verbindung zweier entfernt liegender
Melodietöne (z.B. Arioso Nr. 34, T. 5 „Der Vorhang reißt“ absteigende 32-tel).
Arioso Nr. 34, T. 5/6
Tremolo (ital. Zittern): Walther und Mattheson verstehen darunter die „Schwebung auf
einem eintzigen festgesetzten Ton“, also rasche gleichmäßige Wechsel auf einem Ton (z.B.
Arioso Nr. 34, T. 6 „Die Erde bebt“ 32-tel Tonrepetitionen, NB siehe oben).
2. Melodische Figuren:
Figuren, die den Affektgehalt, z.B. Trauer und Leid, ausdrücken.
Exclamatio (lat. Ausruf): ein aufwärts gerichteter Sprung, nach Walter mit expressivem
Intervall wie kleiner oder großer Sexte (z.B. Rezitativ Nr. 2a, T. 16/17 „Wen suchet ihr?“; Arie
Nr. 7, T. 88 Singstimme „von den Stricken“) zum Ausdruck einer starken Gemütsbewegung
wie Schmerz oder Freude.
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Rezitativ Nr. 2a, T. 15-17
Interrogatio (lat. Frage): zumeist Sekundschritt aufwärts (Rezitativ Nr. 4, T. 15 „Vater
gegeben hat?“).
Rezitativ Nr. 4, T. 13-15
Passus duriusculus (lat. ein etwas harter Gang): ein unnatürlicher Gang, entweder in einer
Stimme gegen sich selbst = chromatische melodische Fortschreitung, häufig chromatischer
Quartgang zum Ausdruck großen Schmerzes (Chor Nr. 1, T. 15-18 Flauto traverso II / Oboe II;
Choral Nr. 3 „Marterstraße“ Chromatik in den Außenstimmen; Rezitativ Nr. 12c, T. 33-38
chromatischer Bassgang) oder gegen eine andere betrachtet – wenn in einer Stimme
übermäßige Sekunde, verminderte Terz oder (sekundmäßig ausgefüllt) verminderte und
übermäßige Quarte und Quinte vorkommen.
Rezitativ Nr. 12c, T. 32-38
Pathopoeia (griech. Gemütsbewegung, Leid darstellend): die Einfügung leiterfremder
Halbtöne (oft in chromatischen Tonfolgen) zur Darstellung von Leid und Schmerz (z.B.
Rezitativ Nr. 12c, T. 33-38, NB siehe oben).
Saltus duriusculus (lat. ein etwas harter Sprung): bezeichnet die Verwendung „unerlaubter"
Sprünge- ein melodisch dissonierender (oft verminderter oder übermäßiger) Sprung, in der
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Regel abwärts, der in der Barockmusik oft als musikalisches Abbild des Sündenfalls
eingesetzt wird (z.B. Rezitativ Nr. 2a, T. 5 „Judas aber“ absteigender verminderter Dreiklang,
Rahmenintervall Tritonus, T. 9 „der Hohenpriester“; Rezitativ Nr. 4, T. 5/6 „ein Schwert“, T.
9 „Ohr ab“; Rezitativ Nr. 18c, T. 25 „Mörder“; Rezitativ Nr. 25a, T. 1 „kreuzigten“; Arie Nr. 13,
T. 68 „Schmerzen“).
Arie Nr. 13, T. 67/68
Syncopatio (lat./griech. zusammenschlagen): rhythmische Verschiebung der Betonungs-
verhältnisse, so dass eine eigentlich unbetonte Zählzeit betont wird; in der Barockzeit gilt die
Synkope als Verstoß gegen die Ordnung des Taktes und wird deshalb oft dem Begriffsfeld
Sünde, Reue, Schuld zugeordnet.
3. Emphasis-Figuren (griech. Verdeutlichung, Nachdruck), auch Wiederholungsfiguren:
Figuren, die durch Wiederholung eine Aussage nachdrücklich bekräftigen (Verdeutlichung,
Steigerung)
Anadiplosis (griech. Wiederdopplung): Wiederholung einer Schlusswendung am Anfang des
nächsten Abschnitts (z.B. Rezitativ Nr. 29 – Arie Nr. 30: die letzte Phrase des Sängers in
Rezitativ Nr. 29 „Es ist vollbracht“ T. 13/14 nimmt Bach in der darauf folgenden Arie Nr. 30 in
T. 1 in der Viola da gamba wieder auf).
Climax (griech. Leiter, Treppe) oder Gradatio (lat. stufenweise Erhöhung): mehrfache, sich
steigernde Wiederholung eines Melodieabschnitts auf einer höheren Stufe. In der Rhetorik
ist die Climax oder Gradatio eine Steigerung mittels Satzgliedern, die jeweils emphatisch an
das Vorhergehende anknüpfen, z.B. Jauchzet und singet, singet und rühmet, rühmet und
lobet! (Chor Nr. 1, T. 25-27 Sopran, T. 42-44 Sopran „unser Herrscher“).
Chor Nr. 1, T. 42-44, Sopran
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Congeries (lat. Masse, Haufen): Anhäufung von Konsonanzen beim Fortschreiten der
Stimmen stufenweise in der gleichen Richtung, länger, als der Satz es normalerweise
gestattet: Nach Burmeister auf- oder absteigende, synkopierte Folge von Terz-Quint- und
Sextakkorden, zur emphatischen Hervorhebung der Worte.
Epanalepsis (griech. Wiederaufnahme): der gleiche Ausdruck kommt am Anfang und am
Schluss des gleichen Satzes vor (z.B. Arie Nr. 30: der zweite, kontrastierende Arien-Teil „Der
Held aus Juda siegt mit Macht“ mündet in der textlichen und musikalischen Wiederholung
des Anfangsteils „Es ist vollbracht“).
Epizeuxis (griech. Zusammenfügung): Wiederholung einer Wort- und Tongruppe auf einer
anderen Stufe, auf- oder abwärts (z.B. Chor Nr. 2b, T. 19-21 „Jesum von Nazareth“).
Chor Nr. 2b, T. 19-21
Imitatio (lat. Nachahmung) nach Walther: die Wiederholung des Themas auf einer anderen
Tonstufe in einer anderen Stimme.
Mimesis (griech. Nachahmung, Abbild): nach Johann Gottfried Walther die Wiederholung
eines Themas in der gleichen Stimme, aber auf verschiedenen Tonstufen (z.B. Chor Nr. 12b,
T. 15 ff. Sopran „bist du nicht“).
Chor Nr. 12b, T. 15-18
4. Pausen-Figuren:
Die Pause als Figur basiert auf dem Nicht-Pausieren: sie erscheint dort, wo für gewöhnlich
keine Pause steht, so dass sie ihre Wirkung als unerwartetes Ereignis erhält.
Abruptio (lat. Bruch, Abriss): der unerwartete Abbruch des Musikflusses, eines
musikalischen Gedankens, z.B. wenn an einer Stelle, an welcher der Auflösungston einer
Dissonanz erklingen müsste, eine Pause steht (so dass die Dissonanz unaufgelöst bleibt),
oder wenn ein Kadenzverlauf „zerrissen“, d.h. durch eine Pause unterbrochen wird.
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Apocope (Apokope, griech. Abschneidung): die ungewöhnliche Verkürzung eines Finaltons,
das „Abschnappen, Abhacken“ einer Stimme, zur Darstellung von „Mangel“, „fehlen“ (häufig
bei Wörtern wie „nichts“, „Nein“, „verbergen“, „leer“ (z.B. Chor Nr. 12b, T. 6 ff „bist du nicht
seiner Jünger einer“).
Chor Nr. 12b, T. 7-10
Aposiopesis (griech. Verschweigen, Beginn des Schweigens): das Pausieren aller Stimmen,
oft nach einem Abbruch des Satzes (Abruptio) = vor allem die Generalpause zur Darstellung
von Sterben, Schlafen oder Schweigen (z.B. Rezitativ Nr. 31 „und verschied“, danach
Generalpause).
Rezitativ Nr. 31
Tmesis (griech. Trennung, Zerschneidung): Zerschneiden des Melodieverlaufs durch Pausen,
die die Trennung von etwas ausdrücken können.
Suspiratio (lat. Seufzer): der Tmesis verwandt, die mehrfache Unterbrechung eines Melodie-
und Sprachflusses (oft bis zur Trennung der Silben eines Wortes) im Sinne des Stöhnens,
Seufzens durch eine oder mehrere Pausen, im 18. Jh. häufig mit einer fallenden Sekunde
einhergehend, Ausdruck für „Qual“, „Mühe“, „Leiden“ , aber auch „Sehnsucht“ (z.B. Arie Nr.
13, T. 24, 28, 30 „ach“, Arie Nr. 30 „Es ist vollbracht“).
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Arie Nr. 24, T. 24-32
5. Satz-Figuren:
Antithesis, Antitheton (griech. Gegensatz): Bezeichnung für musikalische Gegensätze, die
durch Wechsel bewirkt werden, die Gegensätze können sich auf eine oder mehrere
musikalische Eigenschaften beziehen (z.B. Arie Nr. 30 „Es ist vollbracht“: T. 1-19 „Es ist
vollbracht“ Molt´adagio, h-Moll, fallende Melodik mit vielen Seufzermotiven, ausgedünnter
Satz / T. 20-39 „Der Held aus Juda siegt mit Macht“ Vivace, D-Dur, aufsteigende
fanfarenähnliche Dreiklangsmelodik, forte, voller Streichersatz/ T. 40-44 Adagio, h-Moll,
Melodik vgl. Teil 1); auch der Gegensatz zwischen Arie Nr. 9 „Ich folge dir gleichfalls– Arie Nr.
13 „Ach mein Sinn“ wirkt antithetisch).
Noema (griech. Gedanke, Entschluss): homophoner Abschnitt in einer polyphonen
Komposition, der homophone Satz enthält keine Dissonanzen; durch eine bestimmte
Aussage soll durch die Musik mehr zu erkennen gegeben werden, als wörtlich ausgedrückt
wird, durch die Abweichung von der umgebenden Kompositionsweise (Polyphonie) wird
dem Textabschnitt größere Bedeutung zugemessen (z.B. Chor 23f „Wir haben keinen König
denn den Kaiser“ nach den polyphonen Chören 23b „Lässest du diesen los“ und 23d „Weg,
weg mit dem, kreuzige ihn“).
Parrhesia (griech. Redefreiheit): Gebrauch verminderter oder übermäßiger Intervalle
(harmonisch oder melodisch), die jedoch so zu geschehen hat, daß es keinen Ubellaut
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verursachet22; zur Darstellung des Schwankenden, Verderbten, Sündhaften (z.B. Arie Nr. 30,
T. 13 „die Trauernacht“, Tritonus g-cis wird melodisch ausgefüllt und dadurch gemildert).
Arie Nr. 30, T. 13 Melodische Parrhesia
Zur Übertragbarkeit musikalisch-rhetorischer Begriffe auf spätere Musik
Die Frage ist nun, ob und wie weit man rhetorische Begriffe auf spätere Musik übertragen
darf. Stellvertretend für unzählige andere Beispiele sei ein Werk angeführt: Richard Wagner,
Beginn des Tristan-Vorspiels. Die ausdrucksvoll aufsteigende kleine Sexte, mit der das
Vorspiel anhebt, hat etwas „Sprechendes“. Ist es rechtens, sie im Geiste der alten
Figurenlehre als „Exclamatio“ zu deuten und zu bezeichnen?
Der Musikwissenschaftler Clemens Kühn äußert sich dazu in seinem Lexikon Musiklehre:
„Die herausfordernden Fragen sind jedes Mal: ob eine äußerliche Übereinstimmung
musikalischer Vorgänge auch im inneren Sinn für dasselbe steht; ob sich historische
Traditionslinien zeigen, in denen Früheres aufgegriffen, aber dem eigenen Komponieren
anverwandelt wird; oder ob eine Übertragung verfehlt ist, da sich die rhetorische Substanz
verflüchtigt hat und nicht nur die Sprachmittel, sondern auch das kompositorische Denken
unvergleichlich anders sind.“23
Literatur:
Bartel, Dietrich: Handbuch der musikalischen Figurenlehre, Laaber 2017 (7. Auflage).
Eggebrecht, Hanns Heinrich: Musik im Abendland, Piper 2005 (6. Auflage).
Eggebrecht, Hans Heinrich: Heinrich Schütz. Musicus Poeticus. Florian Noetzel GmbH 2000 (3. Auflage).
Geck, Martin: Bach, Johannespassion. Wilhelm Fink Verlag 1991.
Kühn, Clemens: Lexikon Musiklehre, Bärenreiter 2016.
Die Musik in Geschichte und Gegenwart, DTV, Band 4.
Riemann Musiklexikon, Schott & Söhne.
VDS Handreichungen zum Musikunterricht Heft 8 Januar 1987. Affekte-Figuren- Manieren.
Walter, Meinrad: Johann Sebastian Bach, Johannes Passion, Carus Verlag 2011.
22
Johann Gottfried Walther. Musicalisches Lexicon. 23
Clemens Kühn. Lexikon Musiklehre. Bärenreiter Verlag, 2016, S. 77.
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10. Die unterschiedlichen Fassungen der Johannes-Passion
Die Unterschiede zwischen den Fassungen bilden im Musikunterricht nur einen Randaspekt,
da die traditionelle Mischfassung für das Abitur verbindlich ist. Die exemplarische
Beschäftigung mit dieser Besonderheit ermöglicht allerdings wertvolle Erkenntnisse über
Bachs Arbeitsweise und die Werkauffassung seiner Zeit.
An keinem Werk hat Bach so viel experimentiert, geändert und überarbeitet wie an der
Johannes-Passion. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die zahlreichen
Änderungen dem Willen entsprungen sind, den Notentext zu vervollkommnen und in einer
verbindlichen Fassung letzter Hand der Nachwelt zu überlassen, oder ob es sich (für die Zeit
durchaus typisch) um pragmatische Anpassungen an geänderte Aufführungssituationen
handelt.
Als die Passion 1724 in der Leipziger Nikolaikirche uraufgeführt wird (Fassung I), entspricht
ihre äußere Anlage weitgehend der heute geläufigen Mischfassung. Eine vollständige
Rekonstruktion der Partitur ist nicht mehr möglich. Insbesondere Fragen zur Mitwirkung
einzelner Instrumente (etwa der Flöten) sind nicht mehr eindeutig zu klären. Allerdings
existieren einige Stimmen (u.a. eine vollständige Continuo-Stimme), aus denen die
Gesamtanlage des Werks ersichtlich ist.
Bereits ein Jahr nach der Uraufführung wird die Johannes-Passion in der Thomaskirche
erneut unter Bachs Leitung aufgeführt (Fassung II). Dabei tauscht Bach den Eingangs-Chor
gegen die Choralfantasie „O Mensch, bewein dein Sünde groß“ aus, ersetzt mehrere Arien
und den Schluss-Choral und fügt eine weitere Arie ein (11+). Außerdem überarbeitet er das
Rezitativ Nr. 33, das nun seine siebentaktige Gestalt erhält. Diese Änderung des Rezitativs ist
die einzige Änderung des Jahres 1725, bei der Bach vorhandene Musik überarbeitet (in
diesem Fall erweitert) – und es ist die einzige Änderung, an der er später festhalten wird.
Um 1730 führt Bach die Passion erneut auf (Fassung III). Die Änderungen der Fassung II
werden dabei größtenteils wieder rückgängig gemacht. So nimmt auch der Eingangs-Chor
„Herr unser Herrscher“ nun wieder seinen Platz ein. Der Schluss-Choral wird gestrichen und
erneut eine Arie ausgetauscht. Die bedeutendsten Änderungen betreffen jedoch jene
Stellen, an denen Bach Texte aus dem Matthäus-Evangelium in die Passion eingefügt hatte:
Das Weinen des Petrus (Rezitativ Nr. 12) und die Beschreibung der Naturgewalten nach Jesu
Tod (Rezitativ Nr. 33). Weil die folgenden Nummern 34 und 35 mit dem Rezitativ eine
inhaltliche und musikalische Einheit bilden, entfallen auch das Arioso „Mein Herz“ und die
Arie „Zerfließe, mein Herze“. Sie werden vermutlich durch eine instrumentale Sinfonia
ersetzt, die jedoch heute verschollen ist. Auf der Suche nach Gründen ist man auch bei
diesen Änderungen auf Vermutungen angewiesen. Möglicherweise hängt der Verzicht auf
die Matthäus-Interpolationen mit der mittlerweile uraufgeführten Matthäuspassion
zusammen. Auffällig ist jedenfalls, dass auch diese Änderungen nicht von Dauer sind.
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1739 beginnt Bach, die Partitur nochmals komplett neu zu schreiben. Dabei ändert er
zahlreiche Details, unter anderem die Stimmführung in den Mittelstimmen an einigen Stellen
des Eingangs-Chors und der Choräle. Diese subtilen Änderungen werden jedoch nicht in das
Stimmenmaterial übernommen und sind zu Bachs Lebzeiten nie erklungen. Seine
Handschrift endet nach 20 Seiten nach Nummer 10. Dieser Torso wurde später von einem
Kopisten nach der damals noch vorhandenen Partitur der Uraufführung vervollständigt.
1749 führt Bach die Passion in vergrößerter Besetzung erneut auf (Fassung IV) und kehrt
dabei wieder zur Gesamtanlage der ersten Fassung zurück. Allerdings erhalten nun mehrere
Arien einen neuen Text. An der Erweiterung des Rezitativs Nr. 33 hält Bach indessen als
einziger Änderung des Jahres 1725 fest. Dies ist die einzige Stelle, an der er 1749 zur Fassung
II statt zur Fassung I zurückkehrt.
Die heute geläufige (und für das Abitur vorgesehene) Mischfassung kombiniert die iden-
tische Gesamtanlage der Fassungen I und IV mit den ursprünglichen Texten aus Fassung I,
der größeren Instrumentation aus Fassung IV (u.a. mit Kontrafagott) und dem erweiterten
Rezitativ der Fassung II. Außerdem werden in den ersten zehn Nummern die Änderungen
der unvollständigen Revision berücksichtigt.
Spannend sind in diesem Zusammenhang auch die Techniken der Rekonstruktion: Der
Herausgeber der Neuen Bach-Ausgabe, Arthur Mendel, konnte die Platzierung einzelner in
späteren Fassungen eingefügter Nummern unter anderem durch einen Abgleich der
Nadellöcher in den Originalstimmen bestimmen, denn diese Nummern wurden in die
vorhandenen Stimmen eingenäht.
In Bezug auf die eingangs gestellte Frage stellt man fest, dass die Unterschiede zwischen den
Fassungen zwei Facetten zeigen: Einerseits zeugen sie von Bachs Willen, dem Werk eine
endgültige und möglichst vollkommene Gestalt zu verleihen. Dies zeigen die vielen subtilen
Änderungen der Revision 1739 und das aufwändige Unterfangen, hierfür die ganze Partitur
neu zu schreiben, aber auch die Tatsache, dass Bach in der letzten Fassung nicht überall zur
ersten Version zurückkehrt, sondern beim Rezitativ Nr. 33 die Erweiterung der Fassung II
beibehält (bezeichnender Weise die einzige Stelle, an der Bach 1725 vorhandene Musik
überarbeitet und nicht nur ersetzt hat). Andererseits zeigt sich im Austausch ganzer
Nummern und dem Angleichen der Instrumentation Bachs Pragmatismus. Gerade die
Tatsache, dass er diese Änderungen allesamt wieder rückgängig macht, deutet auf deren nur
vorübergehende und von einer konkreten Aufführungssituation abhängende Gültigkeit hin.
Quellen:
Mendel, Arthur (Hg.): Johann Sebastian Bach, Johannespassion, Bärenreiter, BA 5037, NBA Serie II, Band 4:
Kassel und Basel 1973.
Ders.: Kritischer Bericht zu NBA II/4, Bärenreiter, Kassel und Basel 1974.
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Fassung Jahr / Ort Charakteristika Beispiel 1: Eingangschor
Beispiel 2: Rez. Nr. 33
I 1724
St. Nikolai
• Nicht rekonstruierbar, da nur
unvollständiges Stimmenmaterial
überliefert ist.
• Gesamtanlage entspricht im Grund-
satz der heute geläufigen
Mischfassung bzw. Fassung IV
„Herr unser
Herrscher“
Mitwirkung der
Flöten unsicher
Dreitaktige
Kurzfassung
(vmtl. nach
Markus-
Evangelium)
II
1725
St.
Thomas
• Vollständig rekonstruierbar.
• Eingangschor und Schlusschor werden
ersetzt.
• Mehrere Arien werden ersetzt.
• Eine neue Arie wird eingefügt (11+).
Ersetzt durch
Choralfantasie
„O Mensch, bewein
dein Sünde groß“
in Es-Dur (später
Matthäus-Passion)
Siebentaktige
Fassung nach
Matthäus
III um 1730
St. Nikolai
• Änderungen aus Fassung II werden
größtenteils rückgängig gemacht.
• Ohne Schluss-Choral (endet mit „Ruth
wohl“).
• Teilweise neue Besetzungen
• Matthäus-Interpolationen werden
entfernt (betrifft Nr. 12 sowie Nr. 33
bis 35).
„Herr unser
Herrscher“
mit Flöten
Ersetzt durch
instrumentale
Sinfonia
(verschollen)
zusammen mit
Nr. 34 und 35
unvoll-
endete
Revision
1739
[nicht
aufge-
führt]
• Gesamtanlage wie in Fassung I
• Zahlreiche Änderungen im Detail, die
allerdings nicht in das
Stimmenmaterial übernommen
wurden.
• Bachs Handschrift bricht nach Nr. 10
ab. Die Partitur wurde später von
einem Kopisten nach Fassung I
vervollständigt und von Bach
korrigiert.
„Herr unser
Herrscher“
in zahlreichen
Details
überarbeitet
[spätere
Ergänzung
entspricht
Fassung II
bzw. IV]
IV 1749
St. Nikolai
• Entspricht weitgehend einer Rückkehr
zu Fassung I
• Teilweise stärkere Besetzung
• Textänderungen in Nr. 9, 19 und 20
„Herr unser
Herrscher“
wie Fassung I / III
mit Flöten und
Kontrafagott
Wie Fassung II
Die im Internet verfügbare Präsentation24 bietet einen Überblick über die Fassungen und
macht an ausgewählten Stücken (Eingangs-Chor und Rezitativ Nr. 33, siehe Tabelle oben) die
wesentlichen Änderungen zwischen den Fassungen exemplarisch deutlich. Die Aufgaben
(siehe S. 63) können im Anschluss daran in Gruppen erarbeitet und die Ergebnisse
präsentiert werden. Dabei werden verschiedene Aspekte thematisiert (Detailänderungen
der Revisionsfassung, Austausch des Eingangs-Chores, Neutextierung). Die in den
Aufgabentexten angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die empfohlene Partitur
(Bärenreiter TP 197).
Abschließend kann die Frage diskutiert werden, welche Fassung sich heute für Aufführungen
anbietet. Dabei ist zu bedenken, dass eine Fassung letzter Hand von Bach selbst nicht
existiert, wenngleich er sie mit der Revision 1739 angestrebt hat. Da Bach den Austausch
24
https://rp.baden-wuerttemberg.de/rps/Abt7/Ref75/Fachberater/Seiten/Musik.aspx#6
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einzelner Nummern jedes Mal wieder rückgängig gemacht hat und sich in der Fassung IV
wieder stark an die ursprüngliche Gestalt annähert, darf man davon ausgehen, dass die
Mischfassung einer ‚idealen’ Fassung letzter Hand wohl am nächsten kommt. Andererseits
stellt dies eine Version dar, die so zu Bachs Lebzeiten nie erklungen ist und die sich
verschiedener Schichten bedient (Texte aus Fassung I, Änderungen der Revisionsfassung,
Rezitativ Nr. 33 aus Fassung II und Besetzung aus Fassung IV) und mindestens einen Bruch
enthält (nach dem Ende der Revisionsfassung, also nach Nr. 10). Eine solche Stückelung
könnte man allerdings wiederum mit Bachs eigener Experimentierfreude rechtfertigen.
Letztlich kann es auf diese Frage keine verbindliche Antwort geben. Allerdings öffnen die
Argumente den Blick für die Aufführungspraxis und das Werkverständnis der Bach-Zeit
ebenso wie für seine eigene Arbeitsweise.
11. Diskographie (von Hartmut Wolf)
An CD-Aufnahmen von Bachs Johannes-Passion herrscht kein Mangel: Im Stuttgarter CD-
Laden „Einklang“ stehen fast 20 verschiedene Aufnahmen im Regal. In der Stuttgarter
Stadtbibliothek sind 22 (!) verschiedene Aufnahmen ausleihbar. Ich habe versucht, mir einen
Überblick über die Qualität der Aufnahmen zu verschaffen. Danach kann ich 2 Aufnahmen
empfehlen, die für den Einsatz im Unterricht meines Erachtens besonders geeignet sind:
Masaaki Susuki hat schon 1998 eine sensible, vom beweglichen, einheitlichen, jungen
Chor des Bach Collegium Japan angeführte Studioaufnahme in Tokio aufgenommen. Sein
Instrumentalensemble gestaltet fein differenziert, natürlich auf „Originalinstrumenten“.
Die komplexen Sätze sind durchhörbar, die Instrumente auch in den Chorsätzen immer
deutlich. Für die Begleitung der Rezitative und der meisten Arien verwendet Suzuki ein
dezent eingesetztes Cembalo, in den Christus-Rezitativen und manchen Arien auch die
Orgel. Da Bach für die zweite Aufführung die Renovierung eines Cembalos verlangte, ist
dies auch stilistisch vertretbar und klanglich überzeugend. Gerd Türk findet als Evangelist
den richtigen Anteil an Dramatik (ohne Pathos). Peter Kooij zeigt – gerade auch in der
packenden Gestaltung der Bass-Arie Nr. 24 „Eilt...“(mit idealen Choreinwürfen „wohin“) –
seine Kompetenz. Sopran und Altus überzeugen durch Leichtigkeit und stimmliche Über-
zeugungskraft. Im Anhang sind die in der Fassung von 1725 neu hinzugekommenen Tenor-
und Bassarien eindrucksvoll aufgenommen. Es gibt – wie auch in der Gardiner-Aufnahme
– keine sprachlichen Verfärbungen, beide Chöre finden den richtigen Ton für die Dramatik
der Turba-Chöre und die beseelte, nie nur routinierte Darstellung der Choräle.
2003 nahm John Eliot Gardiner die Johannes-Passion im Kaiserdom zu Königslutter mit
dem Monteverdi Choir und den English Baroque Soloists live auf. Der Chorklang ist etwas
persönlicher, nicht ganz so geschlossen wie bei Suzuki, die Sätze sind packend gestaltet.
Mark Padmore gestaltet den Evangelisten mit etwas unruhigerer Stimme eindrucksvoll.
Die Solisten Joanne Lunn, Barbara Fink und Hanno Müller-Brachmann überzeugen. Auch
Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion
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in dieser Aufnahme wird den Wort-aus-deutenden musikalischen Details das nötige
Gewicht verliehen, ohne den großen Fluss zu gefährden. Bei Gardiner werden ganze
„Szenen“ unter einem Track zusammengefasst und z. T. keine Pausen zwischen den
Nummern gemacht, was den dramatischen Zug verstärkt, aber das Auffinden einzelner
Stücke etwas erschwert.
Vier gute Aufnahmen erreichen meiner Meinung nach nicht ganz das Niveau der beiden
obengenannten Aufnahmen:
Helmuth Rilling gestaltet mit der Gächinger Kantorei und dem Bach-Collegium Stuttgart in
seiner „jüngsten“ Aufnahme von 1996 intensiv und textbezogen. In dem ansonsten guten
Chor ist leider der Sopran uneinheitlich, Einzelstimmen sind in höheren Lagen mehrfach
hörbar. Die Bassarie Nr. 24 wird von Andreas Schmidt mit grobem Dauerstaccato gesungen.
Dafür sind auch bei Rilling die zusätzlichen Arien der 2. Aufführung und sogar der neue
Eingangschor mit aufgenommen. Dass mit „modernen“ Instrumenten gespielt wird, fällt
kaum ins Gewicht.
Philippe Herreweghe interpretiert 1988 mit dem guten Collegium Vocale wach und solide.
Die Aufführung ist jedoch auf hohem Niveau etwas bedächtig, Aufregendes findet kaum
statt, auch die Solisten überzeugen nicht durchgehend.
Peter Dijkstra überzeugt in einer neuen Aufnahme von 2016 gestalterisch mit dem Chor
des Bayerischen Rundfunks und Concerto Köln. Der Chorklang wirkt aber (vor allem im
Sopran) fast wie eine Ansammlung von Einzelstimmen, die Balance zwischen Chor und
Orchester ist nicht gegeben. Julian Prégardien ist ein idealer Evangelist, die andern
Solisten singen (zu) vibratoreich.
Bevorzugt man eine Aufnahme mit Knabenchor, kommt Georg Christoph Billers Aufnahme
von 2007 mit dem Thomanerchor Leipzig und dem Gewandhausorchester in Frage. Der Chor
singt beweglich und genau, die Vorzüge des frischen Klanges kommen gut zur Geltung. Klang
und Gestaltung des Orchesters wirken gelegentlich etwas schwerfällig, die Solisten sind nicht
ideal.
Im Folgenden möchte ich kurz darlegen, warum ich die anderen mir bekannten Aufnahmen –
zumal für den Gebrauch im Unterricht – nicht empfehlen kann.
Franz Brüggen hat 2010 mit der Capella Amsterdam und dem Orchestra of the 18th
century eine kraftlose live-Aufnahme ohne erkennbaren Gestaltungswillen eingespielt.
Markus Schäfer als sehr guter Evangelist und Carolyn Sampson als überzeugende
Sopranistin können die langweilige Aufführung nicht retten.
Die Aufnahme von 1997 mit Paul Dombrecht und Il Fondamento beginnt und endet mit
(unverdientem) Beifall. Schon der Einleitungschor enthält unsinnige Zäsuren, die Folge
von einzelnen Effekten macht wenig Sinn, der Evangelist ist unzureichend, das Cembalo
dominiert nervig.
Benoit Haller mit der Chapelle Rhénane (2008) hat mit Julian Prégardien einen sehr guten
Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion
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Evangelisten und ein gutes Orchester. Sein „Solisten-Ensemble“ singt auch so, es handelt
sich um eine schwer erträgliche, zügellose Stimm-Ausstellung, die Choräle klingen
salbungsvoll.
Die neuere Aufnahme von Nikolaus Harnoncourt (1993) mit dem Arnold Schönberg-Chor
und dem Concentus musicus Wien ist intensiv und interessant, aber leider nicht mehr
erhältlich. Seine Aufnahme von 1971 wurde wieder aufgelegt. Sie ist aber wegen mancher
Unsicherheiten der Instrumente und dem undifferenzierten Chor der Wiener
Sängerknaben nicht angemessen.
Edward Higginbottom nimmt 2001 die Tempi extrem langsam, sie werden nicht mit Leben
gefüllt. Die Solisten (u.a. ein Knaben-Sopran) überzeugen nicht.
René Jacobs sucht in seiner Aufnahme von 2016 mit dem RIAS-Kammerchor und der
Akademie für Alte Musik Berlin ständig, bei gesteigertem Ausdruck, neue Lösungen und
überraschende Effekte. Der Chorklang ist uneinheitlich und wird immer wieder durch
solistisch ausgeführte Teile mit (zu) viel Inbrunst unterbrochen. Die Solisten – aus dem
Chor –gestalten (zu) unterschiedlich, einzig Werner Güra als Evangelist kann überzeugen.
Auch im Cantus Cölln unter Konrad Junghänel (2011) klingt der Chor wie „einige Solisten“,
ungeschlossen und vibratoreich, die Turbachöre klingen nur kultiviert. Die Solisten sind
wenig überzeugend, das Orchester klingt dumpf.
In der Aufnahme von Sigiswald Kuijken (1988, 2012 wieder aufgelegt), überzeugen nur
die Solisten, allen voran Christoph Prégardien als Evangelist. Bei durchschnittlichem Chor
sind die Tempi durchweg zu langsam, es fehlt eine lebendige Gestaltung.
Auch die neue Einspielung von Marc Minkowski und Les Musiciens du Louvre (2017)
überzeugt nicht. Der Chorklang kann kaum als solcher bezeichnet werden, eine
Ansammlung von vibratoreichen Einzelstimmen ordnet alles einer aufgesetzten Dramatik
unter. Für die Solisten gilt dasselbe, so dass keine sinnvolle Interpretation zustande kommt.
Die Aufnahme der Niederländischen Bach-Gesellschaft unter Jos van Veldhoven beginnt
mit einem dominierenden, unpassenden Arpeggio-Akkord des Cembalos, das Ensemble ist
klein. „Drücker“ auf langen Tönen und andere Gestaltungsversuche wirken affektiert. Die
Choräle sind geradezu salbungsvoll gesungen, insgesamt herrscht zu viel Lamento.
In den als unbefriedigend empfundenen Aufnahmen findet fast durchweg keine sinnvolle
Gestaltung der Choräle statt. Oft sind sie systematisch abgespult, die Behandlung der
Fermaten und des Textes wirkt gedankenlos. Wie man weiß, ist ein solcher Vergleich von
Interpretationen natürlich subjektiv. Ich denke aber, dass meine Beschäftigung mit so vielen
Aufnahmen es mir erlaubte, eine solche Beurteilung zu erstellen. Für viele ist es
selbstverständlich, „YouTube“ zu bemühen. Dort gibt es (in Bild und Ton) mehrere
Gesamtaufnahmen der Bachschen Johannes-Passion, empfehlenswerte von Dijkstra,
Gardiner und Suzuki.
Hartmut Wolf
Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion
© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 39
II. UNTERRICHTSMATERIALIEN
Fragebogen zur Passion
1) Der Begriff "Passion" leitet sich von dem lateinischen Wort "passio" ab und kann "Leid"
aber auch "Leidenschaft" bedeuten. Welche Gedanken und Bilder löst bei Ihnen das Wort
"Leiden" aus? Haben beide Begriffe miteinander zu tun?
2) Wo begegnen Sie in ihrem Alltag "Leid"? Wie gehen Sie damit um?
3) Christen glauben daran, dass Jesus Christus am Kreuz gestorben ist, um uns von unseren
Sünden zu befreien. Sind für Sie so altmodische Begriffe wie "Sünde" und "Schuld" heute
noch relevant? Was könnte man darunter verstehen? Kann Christus uns durch seinen Tod
von unseren Sünden "erlösen"?
4) Jesus Christus stirbt am Kreuz und steht am dritten Tage wieder auf. Gibt es in Ihrer
Vorstellung den Begriff "Auferstehung"? Gibt es ein Leben nach dem Tod?
5) Tod und Musik. Sehen Sie hier einen Zusammenhang? Erläutern Sie.
a) Versuchen Sie die Fragen zu beantworten, machen Sie sich dabei Notizen.
b) Tragen Sie Ihre Antworten in der Gruppe vor. (Gerne auch anhand von selbst
ausgewählten Bildern.)
c) Tauschen Sie Ihre Gedanken und Meinungen aus.
Kruzifixus vom barocken Hochaltar von Caspar Friedrich Löbelt, um 1721
(Thomaskirche Leipzig)
Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion
40 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart
Ein kreativer Zugang zu Bachs Passions-Dramaturgie
Johannes 18, 10-27 und Matthäus 26, 75 (letzter Satz)
(Bibeltext in der von Bach vertonten Fassung)
Da hatte Simon Petrus ein Schwert
und zog es aus
und schlug nach des Hohenpriesters Knecht
und hieb ihm sein recht Ohr ab;
und der Knecht hieß Malchus.
Da sprach Jesus zu Petro:
„Stecke dein Schwert in die Scheide!
Soll ich den Kelch nicht trinken,
den mir mein Vater gegeben hat?“
Die Schar aber und der Oberhauptmann
und die Diener der Jüden nahmen Jesum
und bunden ihn
und führeten ihn aufs erste zu Hannas;
der war Kaiphas Schwäher, welcher des Jahres Hoherpriester war.
Es war aber Kaiphas,
der den Juden riet,
es wäre gut, daß ein Mensch würde umbracht für das Volk.
Simon Petrus aber folgete Jesus nach und ein anderer Jünger.
Dieser Jünger war dem Hohenpriester bekannt
und ging mit Jesu hinein in des Hohenpriesters Palast.
Petrus aber stand draußen vor der Tür.
Da ging der andere Jünger,
der dem Hohenpriester bekannt war,
hinaus,
und redete mit der Türhüterin
und führete Petrum hinein.
Da sprach die Magd,
die Türhüterin, zu Petro:
„Bist du nicht dieses Menschen Jünger einer?“
Er sprach:
„Ich bin’s nicht.“
Es stunden aber die Knechte und Diener
und hatten ein Kohlfeu‘r gemacht
(denn es war kalt)
und wärmeten sich.
Petrus aber stund bei ihnen
Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion
© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 41
und wärmete sich.
Aber der Hohepriester befragte Jesum um seine Jünger und um seine Lehre.
Jesus antwortete ihm:
„Ich habe frei, öffentlich geredet vor der Welt.
Ich habe allezeit gelehret in der Schule
und in dem Tempel,
da alle Juden zusammenkommen,
und habe nichts im Verborgnen geredt.
Was fragst du mich darum?
Frage die darum, die gehöret haben, was ich zu ihnen geredet habe!
Siehe,
dieselbigen wissen, was ich gesaget habe.“
Als er aber solches redete,
gab der Diener einer, die dabeistunden, Jesu
einen Backenstreich
und sprach:
„Solltest du dem Hohenpriester also antworten?“
Jesus aber antwortete:
„Hab ich übel geredt,
so beweise es, daß es böse sei;
hab ich aber recht geredt,
was schlägest du mich?“
Und Hannas sandte ihn gebunden zu dem Hohenpriester Kaiphas.
Simon Petrus stund
und wärmete sich,
da sprachen sie zu ihm:
„Bist du nicht seiner Jünger einer?“
Er leugnete aber und sprach:
„Ich bin’s nicht.“
Spricht des Hohenpriesters Knecht‘ einer,
ein Gefreundter des,
dem Petrus das Ohr abgehauen hatte:
„Sahe ich dich nicht im Garten bei ihm?“
Da verleugnete Petrus abermal,
und alsobald krähete der Hahn.
Da gedachte Petrus an die Worte Jesu
und ging hinaus
und weinete bitterlich.
Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion
42 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart
Aufgabe 1:
a) Gliedern Sie den Text in verschiedene Szenen.
b) Notieren Sie zu jeder Szene eine passende Überschrift.
Aufgabe 2:
Einigen Sie sich in Ihrer Gruppe auf zwei markante Textstellen, die Ihnen für einen
Textkommentar bzw. Texteinschub geeignet erscheinen.
Aufgabe 3:
Kommentieren Sie mithilfe von zwei frei wählbaren Liedern und Songs (aus Ihrem
Liederbuch) die Handlung einmal chorisch singend und einmal solistisch singend.
Wichtiger Hinweis:
Selbstverständlich dürfen Sie auch nur einzelne Teile von Liedern verwenden, z. B. nur den
Refrain oder nur die 3. Strophe. Sie müssen also nicht mit dem eigentlichen Lied-Beginn
anfangen, wenn zum Beispiel der Refrain oder die 3. Strophe besser zu Ihrer ausgesuchten
Stelle passt.
Aufgabe 4:
Begründen Sie anschließend schriftlich und für einen Außenstehenden nachvollziehbar,
warum Sie gerade dieses Lied/diesen Song/diesen Refrain/diese Textstrophe an dieser Stelle
eingefügt haben. Beschreiben Sie dabei die inhaltliche Verbindung zwischen der
dramatischen Situation des Bibeltextes und Ihres selbst gewählten Textes.
Aufgabe 5:
Studieren Sie Ihre eigene Version des ganzen vorliegenden Passions-Abschnitts mit Ihrer
Gruppe aufführungsreif ein.
Denken Sie daran, dass Sie ein Lied chorisch, zusammen ein- oder mehrstimmig in der
Gruppe, und ein Lied solistisch singen müssen. Beim solistischen Lied kann tatsächlich nur
eine Person singen, es können sich aber auch mehrere Solisten abwechseln. Wer gerade
nicht singt, übernimmt eine eventuelle (instrumentale oder vokale) Begleitung oder pausiert.
Legen Sie in Ihrer Gruppe auch fest, wie Sie den Bibeltext darbieten wollen: Wer spricht was
wie? Jeder Satz bzw. jeder Textabschnitt sollte mit einer klar erkennbaren emotionalen
Haltung vorgetragen werden. Notieren Sie diese Haltungen in Ihren Text wie in ein
Regiebuch für ein Hörspiel.
Aufgabe 6:
Präsentieren Sie Ihre Version mit voller Überzeugung dem Plenum.
Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion
© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 43
Johannes 18, 10-27 und Matthäus 26, 75
(mit Bachs Lied-Kommentaren der Johannes-Passion)
Da hatte Simon Petrus ein Schwert
und zog es aus
und schlug nach des Hohenpriesters Knecht
und hieb ihm sein recht Ohr ab;
und der Knecht hieß Malchus.
Da sprach Jesus zu Petro:
„Stecke dein Schwert in die Scheide!
Soll ich den Kelch nicht trinken,
den mir mein Vater gegeben hat?“
Dein Will gescheh, Herr Gott, zugleich auf Erden wie im Himmelreich. Gib uns Geduld in Leidenszeit, gehorsam sein in Lieb und Leid; wehr und steur allem Fleisch und Blut, das wider deinen Willen tut!
Die Schar aber und der Oberhauptmann
und die Diener der Jüden nahmen Jesum
und bunden ihn
und führeten ihn aufs erste zu Hannas;
der war Kaiphas Schwäher, welcher des Jahres Hoherpriester war.
Es war aber Kaiphas,
der den Juden riet,
es wäre gut, daß ein Mensch würde umbracht für das Volk.
Von den Stricken meiner Sünden
mich zu entbinden,
wird mein Heil gebunden.
Mich von allen Lasterbeulen
völlig zu heilen,
lässt er sich verwunden.
Simon Petrus aber folgete Jesus nach und ein anderer Jünger.
Ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten
und lasse dich nicht,
mein Leben, mein Licht.
Befördre den Lauf
und höre nicht auf,
selbst an mir zu ziehen, zu schieben, zu bitten.
Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion
44 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart
Dieser Jünger war dem Hohenpriester bekannt
und ging mit Jesu hinein in des Hohenpriesters Palast.
Petrus aber stand draußen vor der Tür.
Da ging der andere Jünger,
der dem Hohenpriester bekannt war,
hinaus,
und redete mit der Türhüterin
und führete Petrum hinein.
Da sprach die Magd,
die Türhüterin, zu Petro:
„Bist du nicht dieses Menschen Jünger einer?“
Er sprach:
„Ich bin’s nicht.“
Es stunden aber die Knechte und Diener
und hatten ein Kohlfeu‘r gemacht
(denn es war kalt)
und wärmeten sich.
Petrus aber stund bei ihnen
und wärmete sich.
Aber der Hohepriester befragte Jesum um seine Jünger und um seine Lehre.
Jesus antwortete ihm:
„Ich habe frei, öffentlich geredet vor der Welt.
Ich habe allezeit gelehret in der Schule
und in dem Tempel,
da alle Juden zusammenkommen,
und habe nichts im Verborgnen geredt.
Was fragst du mich darum?
Frage die darum, die gehöret haben, was ich zu ihnen geredet habe!
Siehe,
dieselbigen wissen, was ich gesaget habe.“
Als er aber solches redete,
gab der Diener einer, die dabeistunden, Jesu
einen Backenstreich
und sprach:
„Solltest du dem Hohenpriester also antworten?“
Jesus aber antwortete:
„Hab ich übel geredt,
so beweise es, daß es böse sei;
hab ich aber recht geredt,
was schlägest du mich?“
Wer hat dich so geschlagen, mein Heil, und dich mit Plagen so übel zugericht‘? Du bist ja nicht ein Sünder wie wir und unsre Kinder, von Missetaten weißt du nicht.
Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion
© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 45
Ich, ich und meine Sünden, die sich wie Körnlein finden des Sandes an dem Meer, die haben dir erreget das Elend, das dich schläget, und das betrübte Marterheer.
Und Hannas sandte ihn gebunden zu dem Hohenpriester Kaiphas.
Simon Petrus stund
und wärmete sich,
da sprachen sie zu ihm:
„Bist du nicht seiner Jünger einer?“
Er leugnete aber und sprach:
„Ich bin’s nicht.“
Spricht des Hohenpriesters Knecht‘ einer,
ein Gefreundter des,
dem Petrus das Ohr abgehauen hatte:
„Sahe ich dich nicht im Garten bei ihm?“
Da verleugnete Petrus abermal,
und alsobald krähete der Hahn.
Da gedachte Petrus an die Worte Jesu
und ging hinaus
und weinete bitterlich.
Ach, mein Sinn,
wo willt du endlich hin,
wo soll ich mich erquicken?
Bleib ich hier,
oder wünsch ich mir
Berg und Hügel auf den Rücken?
Bei der Welt ist gar kein Rat,
und im Herzen
stehn die Schmerzen
meiner Missetat,
weil der Knecht den Herrn verleugnet hat.
Petrus, der nicht denkt zurück, seinen Gott verneinet. Der doch auf ein‘ ernsten Blick bitterlichen weinet. Jesu, blicke mich auch an, wenn ich nicht will büßen; wenn ich Böses hab getan, rühre mein Gewissen.
Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion
46 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart
Musikalisch-theologische Synopse
Aufgaben:
1) Markieren Sie die Spalten farbig. Alle Turbae rot, die Arien hellgrün (Arioso dunkelgrün)
und die Choräle blau. Die Rezitative bleiben weiß. Chor Nr. 1 und Nr. 39 in orange.
2) Beschreiben Sie den formalen Aufbau. Vergleichen Sie dabei Teil I und Teil II.
3) Lesen Sie alle Spalten. Benennen Sie die theologischen Inhalte.
4) Untersuchen Sie die Anordnung der Choräle und erläutern Sie deren Funktion.
5) Äußern Sie sich zur Anordnung der Arien. Inwiefern unterscheidet sich die Betrachtung
von der eines Chorals?
Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion
© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 47
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Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion
48 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart
Musik Theologie Gattungen
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Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion
50 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart
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Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion
© Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart 51
Unterrichtsbaustein 1: Die Choräle
Hintergrund-Information: Die meisten Choräle der Johannes-Passion basieren auf den
Melodien und Texten überlieferter (häufig lutherischer) Kirchenlieder. Der Choral Nr. 3 O
große Lieb stammt aus dem Lied Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen von Johann
Heermann (Text) und Johann Crüger (Melodie).
Aufgabe 1: Erfinden Sie eine einfache Begleitung zur ursprünglichen Choralmelodie.
Notieren Sie sie in Form von Harmoniesymbolen oder einer ausnotierten Begleitstimme.
2. O, große Lieb, o Lieb ohn alle Maße, 3. Ach, großer König, groß zu allen Zeiten,
Die dich gebracht auf diese Marterstraße! Wie kann ich gnugsam diese Treu ausbreiten?
Ich lebte mit der Welt in Lust und Freuden, Keins Menschen Herze mag indes ausdenken,
Und du musst leiden. Was dir zu schenken.
4. Ich kann’s mit meinen Sinnen nicht erreichen,
Womit doch dein Erbarmen zu vergleichen.
Wie kann ich dir denn deine Liebestaten
Im Werk erstatten?
Aufgabe 2: Vergleichen Sie die Choralmelodie aus der Johannes-Passion mit der Vorlage.
Setzen Sie Bachs Choralmelodie vierstimmig aus (nächste Seite). Vergleichen Sie
anschließend Ihren vierstimmigen Satz mit demjenigen Bachs und benennen Sie die
Unterschiede zwischen Ihrem und seinem Choralsatz.
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Hintergrund-Information: Zu den wesentlichen Kennzeichen der Barockzeit gehört die
Generalbass-Praxis. Der sogenannte Basso continuo bildet das harmonische Fundament der
Musik. Er besteht aus einem oder mehreren Bass-Instrumenten (z.B. Cello, Kontrabass oder
Fagott) und einem oder mehreren Harmonieinstrumenten (z.B. Cembalo, Orgel oder Laute).
Der Spieler der Orgel oder des Cembalos hatte dabei jedoch nur eine mit Ziffern versehene
Bass-Stimme vor sich. Die Kombination aus Basston und Ziffer muss er beim Spielen in einen
Akkord übersetzen und so aus dem Stegreif die rechte Hand zum Bass hinzu „erfinden“.
Gleichzeitig muss er vielfältige Regeln zur Stimmführung und Stilistik beachten. Diese
Musizierpraxis breitete sich von Italien über Deutschland in andere Länder aus und wurde zu
einem bestimmenden Merkmal der Zeit. Johann Sebastian Bach soll die Bedeutung des
Generalbasses mit folgenden Worten charakterisiert haben:
„Der Generalbass ist das vollkommenste Fundament der Music welcher mit beyden
Händen gespielet wird dergestalt das die lincke Hand die vorgeschriebenen Noten spielet
die rechte aber Con- und Dissonantien darzu greift damit dieses eine wohlklingende
Harmonie gebe zur Ehre Gottes und zulässiger Ergötzung des Gemüths.“ (zitiert nach: dtv-
Atlas Musik, S. 101)
Aufgabe 3: Versuchen Sie die Bedeutung der Ziffern zu entschlüsseln, indem Sie die Töne aus
Bachs Chorsatz in das obere System übertragen.
Aufgabe 4:
a) Da die Choralmelodie weitgehend vorgegeben war, konnte der Affektgehalt in den
Chorälen vor allem durch die Gestaltung der Unter- und Mittelstimmen sowie durch die
Harmonisierung verdeutlicht werden. Untersuchen Sie diese Merkmale an den
Textstellen diese Marterstraße, Lust und Freuden sowie und du musst leiden.
b) Vergleichen Sie den Choralsatz von Nr. 3 mit dem Choralsatz von Nr. 17, der auf
demselben Kirchenlied basiert, und erläutern Sie Unterschiede in der Vertonung.
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Unterrichtsbaustein 2: Die Rezitative
Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion
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Aufgabe 1: Ordnen Sie die Textschnipsel den einzelnen Abschnitten zu und notieren Sie die
zugeordneten Texte jeweils unter die Noten. Begründen Sie Ihre Zuordnung.
Aufgabe 2: Vertonen Sie die Texte im Kasten auf der nächsten Seite jeweils als Rezitativ.
Gehen Sie folgendermaßen vor:
• Sprechen Sie den Text mehrmals in einem gleichmäßigen Metrum, um eine
natürliche Sprachbetonung zu erreichen und unterstreichen Sie die betonten /
wichtigen Silben.
• Notieren Sie einen passenden Rhythmus, bei dem die unterstrichenen Silben auf
betonten Zählzeiten liegen.
• Legen Sie den melodischen Verlauf fest:
- Orientieren Sie sich an den Harmonien der notierten Continuo-Begleitung.
Melodische Zieltöne / Silben auf den betonten Zählzeiten sollten zum jeweiligen
Akkord passen.
- Der Charakter sollte zum Affekt / zum beschriebenen Inhalt passen (fallende /
aufsteigende Linie, Sprünge, ggf. bestimmte Figuren …).
• Möglicher Zusatz: Bringen Sie bei besonders wichtigen Schlüsselbegriffen
Verzierungen an.
• Vergleichen Sie Ihre Vertonung mit derjenigen Bachs.
Jesus spricht zu ihnen Ich bin’s Judas aber, der ihn verriet stund auch bei ihnen
Als nun Jesus zu ihnen sprach: Ich bins wichen sie zurücke und fielen zu Boden
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Simon Petrus aber folgete Jesu nach und ein ander Jünger
… da er deutete, welches Todes er sterben würde.
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Unterrichtsbaustein 3: Die Turba-Chöre
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Aufgaben:
1. Hören Sie sich den Chor Nr. 23d aus Bachs Johannes-Passion an („Weg mit dem“) und
beschreiben Sie seine Wirkung.
2. Studieren Sie das Sprechstück vierstimmig ein.
3. Analysieren Sie die in diesem Stück dargestellte Situation und bringen Sie sie in
Zusammenhang mit dem Passionsbericht (Texte von Nr. 21 und 23). Entwerfen Sie
hierzu eine kurze Szene (ohne gesprochenen Text). Überlegen Sie sich Körpersprache,
Haltung, Gestik und Mimik der beteiligten Personen und bauen Sie an geeigneter
Stelle das Sprechstück ein. Präsentieren Sie anschließend die Szene.
4. Reflektieren Sie ihre Eindrücke: Von welchen Emotionen und Konflikten werden die
handelnden Personen beeinflusst?
5. Hören Sie die gesamte Szene (Nr. 21 bis 23) an mit dem Choral „Durch dein
Gefängnis, Gottes Sohn“. Beschreiben Sie die Wirkung des Chorals an dieser Stelle.
Beziehen Sie seinen Text auf die Handlung der Personen und interpretieren Sie seine
theologische Aussage. Beschreiben Sie im Vergleich dazu die Wirkung der Turba-
Chöre und benennen Sie die musikalischen Mittel, mit denen Bach sie erzielt.
Hintergrund: Der Begriff „Turba“ kommt aus dem Lateinischen und bedeutet
Menschenmenge / Auflauf, aber auch Unruhe / Getümmel. Mit dem Begriff Turba-Chor oder
Turbae bezeichnet man in der Johannes-Passion die Chöre, in denen Bach die Worte der
Widersacher Jesu und der Kriegsknechte vertont.
Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion
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Unterrichtsbaustein 4: Die Arien
Leitfaden – Vorgehensweise bei der Analyse und Interpretation von Vokalmusik:
• Eingehen auf den Grundcharakter (Tonart, Tempo, Dynamik, Besetzung …)
• Einzelne Stellen – wenn sie inhaltlich bedeutsam und musikalisch ergiebig / auffällig sind.
⇒ Zwei Möglichkeiten zum Verhältnis von Musik und Textinhalt
- Begriffe werden betont / hervorgehoben (z.B. durch Wiederholung oder durch
besonders lange, hohe oder laute Noten)
- Inhalte (z.B. Emotionen) werden dargestellt / umgesetzt / abgebildet / ausgedrückt
o sinnbildliche Darstellung (z.B. „Höhe“ – „Tiefe“) durch bestimmte Figuren oder musikalische Abbildung (Hypotyposis-Figuren)
o charakterliche Darstellung / Affekte z.B. durch Figuren wie den passus duriusculus
• Beschreibung des Sachverhalts und Nennung von Fachbegriffen (z.B. Figuren …)
Figuren und Affekte:
Affekte können durch bestimmte Figuren ausgedrückt werden,
z.B. Trauer und Schmerz durch chromatische Tonfolgen
(„passus duriusculus“)
Affekte wie Freude können (außer durch
Figuren) auch durch Parameter wie Tempo,
Tongeschlecht, Besetzung, Taktart,
Dynamik etc. ausgedrückt werden.
Figuren können Inhalte jenseits bestimmter
Affekte und Gefühle (wie bestimmte textlich
erzeugte Vorstellungen) abbilden, z.B. Höhe
und Tiefe … („Hypotyposis-Figuren“)
Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion
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Beispiel: Arie Nr. 35 „Zerfließe mein Herze“ (Takt 67 bis Takt 88) Die Tonart f-Moll, das ausdrücklich vorgeschriebene langsame Tempo („Molt’ adagio“) und
die reduzierte Besetzung (solistische Begleitstimmen, Violine con sordino, Continuo-Gruppe
ohne Kontrafagott) verleihen der Arie einen andächtig-flehenden, in sich gekehrten
Charakter. Die langen melodischen Phrasen mit häufiger Überbindung und das Aussparen
des Taktschwerpunkts im Bass verleihen der Musik zusätzlich etwas Schwebendes.
Auffällig ist vor allem die Vertonung der Aussage „Dein Jesus ist tot“ im Mittelteil der Arie.
Die Aussage wird durch mehrfache Wiederholung hervorgehoben: das Wort „tot“ erklingt
insgesamt acht Mal (in Takt 70, 73, 80, 81, 82, 84, 85 und 88) und wird von Bach mit
verschiedenen musikalischen Mitteln ausgedeutet. Die von Pausen unterbrochenen, in
kleinen Sekunden fallenden Seufzer-Figuren (Suspiratio) in Takt 84 und 85 drücken Trauer
und Schmerz aus, eine langgezogene Verzierung25 tiefe innere Erschütterung (Takt 80 und
81). Daneben verwendet Bach unterschiedliche Figuren zur sinnbildlichen Darstellung des
Todes wie Abwärtsbewegungen (z.B. in Takt 70) und schließlich das Verstummen durch eine
Fermate mit anschließender Pause als Symbol für den Tod in Takt 70 und 82 (Aposiopesis).
Notenbeispiel: Takt 78 bis 82 Aufgabe: Übertragen Sie die Vorgehensweise auf das Arioso Nr. 19 Betrachte meine Seel.
1. Analysieren Sie den Arien-Text. Geben Sie die Textaussagen in eigenen Worten
wieder, deuten Sie den theologischen Gehalt und erklären Sie an diesem Beispiel die
Funktion der Arien innerhalb der Passion.
2. Beschreiben Sie den musikalischen Charakter der Arie und nennen Sie die
musikalischen Mittel, mit denen Bach ihn erzeugt.
3. Erläutern Sie anhand ausgewählter Stellen Bachs Mittel der Textausdeutung.
25
Ausführung hier vermutlich im Sinne eines Tremolo bzw. eines „bebenden“ Vibrato.
Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion
60 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart
Nr. 21b. – Sei gegrüßet, lieber Jüdenkönig (Chorus), S. 78ff.
1. Betrachten Sie den kurzen Ausschnitt aus dem Film „Marie Antoinette“ (2006)
der Regisseurin Sofia Coppola.
a) Beschreiben Sie den Inhalt dieser Filmszene. Achten Sie insbesondere auf
Anlass, Personen, Kleidung sowie die dargestellten Räumlichkeiten.
b) Welche Musik ist zu hören? Beschreiben Sie kurz, indem Sie auf die Aspekte
Besetzung, Charakter und Funktion näher eingehen.
2. Hören Sie den Beginn des Chorus 21b.:
a) Nennen Sie Taktart und Charakter. Stellen Sie außerdem noch Bezüge zur
Musik aus Aufgabenteil 1b) her.
b) Wie wirkt die Musik? Welche Affekte werden hier angesprochen?
3. Gliedern Sie den Chorsatz mit Hilfe des Notentextes unter satztechnischen
Aspekten. Inwieweit unterstützt die Satztechnik den Inhalt?
4. Vergleichen Sie den vorliegenden Chorsatz mit der Arie „Ich folge dir gleichfalls
mit freudigen Schritten“ (Nr. 9, S. 32).
a) Nennen Sie auffällige musikalische Gemeinsamkeiten zwischen der Arie und
dem Chorus!
b) Versuchen Sie, die Gemeinsamkeiten inhaltlich zu deuten.
5. Die gleiche Stimmung findet sich auch in der Rock-Oper „Jesus Christ Superstar“
(1971) von Andrew Lloyd-Webber. Betrachten Sie den Filmausschnitt zu „King
Herod’s Song“ und benennen Sie Merkmale, die diese Stimmung unterstützen.
Gehen Sie sowohl auf den Text als auch auf Bild und musikalische Umsetzung
näher ein.
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Nr. 30 – Es ist vollbracht (Alt-Arie), S. 132ff.
1. Füllen Sie folgende Tabelle mit Hilfe der Partitur aus:
T. 1ff. (= A) T. 20ff. (= B)
Tempo
Tonart
Taktart
Besetzung
Dynamik
Melodik /
charakteristische
Intervalle
Rhythmik
Affekt
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__________________________________________________________________________________
Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion
62 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart
2. Analyse
a) Ergänzen Sie den Lückentext mit Hilfe des Notentextes.
Das zentrale Motiv der Arie (T. 1, gespielt von: ___________________________ ) hat drei
Merkmale, die dem französischen Tombeau (= __________________________ )
des 17. Jh. entsprechen: das Tongeschlecht ________ , das Rahmenintervall einer
fallenden ____________________ (Töne/T. 1: ________________ ) und viele
______________________________ . Sowohl die Melodik als auch der Text
entstammen dem zuvor erklungenen Rezitativ „Und von Stund an“: in den Takten
__________ des Rezitativs singt Jesus die Worte _________________________ ; hier
jedoch in _______ -Moll, beginnend mit dem Ton ______ und endend auf ______.
Diese abwärts gerichtete Figur wird in der Figurenlehre auch als ________________
bezeichnet, das „Verzahnen“ zweier Stücke durch gemeinsamen Text bzw. Melodie
wird ___________________ genannt.
In der Arie singt die Sängerin zunächst den Duktus der Gambe nach (T. 5), jedoch
vom Ton ______ beginnend. Aber schon einen Takt später erleben wir eine Betonung
des Wortes „ist“, die mit dem aufwärts gerichteten Sprung einer ________________
verbunden ist; in der Figurenlehre nennt man dies _______________ . In T. 8 werden
zudem noch die Worte „ ___________________ “ mit dem gleichen Intervall
hervorgehoben. Erst später greift die Alt-Stimme auf die schlichtere Variante aus dem
Rezitativ zurück: in Takt ______ und nochmals in Takt ______ führt sie das Motiv in die
Grundtonart __________ zurück.
Lösungen in alphabetischer Reihenfolge:
13/14; 40; 44; Anadiplosis; d’; Es ist vollbracht; Exclamatio; fis; fis; fis’-ais; h’; h-Moll; Katabasis; kleinen Sexte;kleinen Sexte; Moll; O Trost; Totenklage/Klagegesang; Verzierungen/Vorhalte; Viola da gamba.
b) Schreiben Sie in Anlehnung an den Lückentext eine Analyse zum B-Teil der Arie (T.
20-40), indem Sie auf sämtliche Aspekte der obigen Tabelle eingehen.
3. Melodiezitate neben und nach der Johannes-Passion (Höraufgaben)
a) Wir hören drei andere Werkausschnitte, in denen das berühmte Kopfmotiv aus der
Arie „Es ist vollbracht“ zitiert wird. Gehen Sie v.a. auf Besetzung, Gattung und Epoche
näher ein und überlegen Sie, ob der besondere Affekt des A-Teils der Arie erhalten
geblieben ist.
b) Wir hören den B-Teil der Arie in zwei Fassungen: zunächst das Bachsche Original,
dann in der Version Robert Schumanns (1810-1856) aus dem Jahre 1851. Benennen
Sie die musikalischen Unterschiede, v.a. auch im Hinblick auf den Affekt des B-Teils.
Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion
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Aufgaben zu den Fassungen der Passion
Aufgabe 1: In der Revision des Jahres 1739 ändert Bach zahlreiche Details. Untersuchen Sie
die Takte 67 bis 72 des Eingangschors („zu aller Zeit, auch in der größten Niedrigkeit,
verherrlicht worden bist“) und benennen Sie die Änderungen, die Bach in der
Revisionsfassung (Seite 13 bis 14) gegenüber der älteren Fassung I (Seite 178-179)
vorgenommen hat. Zusatz: Überlegen Sie sich mögliche Gründe für Bachs Änderungen.
Aufgabe 2: In der Fassung II des Jahres 1725 ersetzt Bach den Eingangschor Herr, unser
Herrscher durch die Choralfantasie O Mensch, bewein dein Sünde groß. Laut Meinrad Walter
führt dies zu einer „deutlich anderen Passions-Perspektive.“
Belegen Sie diese These durch einen Vergleich der beiden Texte. Gehen Sie dabei auf die
wesentlichen theologischen Aussagen ein und stellen Sie die damit verbundene Perspektive
auf die Passionsgeschichte dar.
Fassung I (1724) Fassung II (1725)
Herr, unser Herrscher,
Dessen Ruhm in allen Landen herrlich ist!
Zeig uns durch deine Passion,
Dass du, der wahre Gottessohn,
Zu aller Zeit,
Auch in der größten Niedrigkeit,
Verherrlicht worden bist.
Herr, unser Herrscher,
dessen Ruhm in allen Landen herrlich ist!
O Mensch, bewein dein Sünde groß,
Darum Christus seins Vaters Schoß
Äußert und kam auf Erden;
Von einer Jungfrau rein und zart
Für uns er hie geboren ward,
Er wollt der Mittler werden.
Den Toten er das Leben gab
Und legt dabei all Krankheit ab,
Bis sich die Zeit herdrange,
Dass er für uns geopfert würd,
Trüg unsrer Sünden schwere Bürd
Wohl an dem Kreuze lange.
Aufgabe 3: In der Fassung IV des Jahres 1749 bekommt die Arie Nr. 20 einen neuen Text,
wodurch das Verhältnis zwischen Textinhalt und musikalischer Umsetzung ein anderes wird.
a) Untersuchen Sie die Fassung I (Seite 68 bis 77) im Hinblick auf textausdeutende Mittel:
Welche Schlüsselbegriffe werden betont, welche Aussagen musikalisch nachvollzogen?
b) Erläutern Sie, wie sich an den untersuchten Stellen das Verhältnis zwischen Musik und
Textinhalt durch den neuen Text in der Fassung IV (Seite 260-261) ändert.
Fassung I (1724) Fassung IV (1749)
Erwäge, wie sein blutgefärbter Rücken
In allen Stücken
Dem Himmel gleiche geht,
Daran, nachdem die Wasserwogen
Von unsrer Sündflut sich verzogen,
Der allerschönste Regenbogen
Als Gottes Gnadenzeichen steht!
Mein Jesu, ach! dein schmerzhaft bitter Leiden
Bringt tausend Freuden,
Es tilgt der Sünden Not.
Ich sehe zwar mit vielen Schrecken
Den heilgen Leib mit Blute decken;
Doch muss mir dies auch Lust erwecken,
Es macht mich frei von Höll und Tod.
Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion
64 © Fachberaterinnen und Fachberater für Musik am RP Stuttgart
III. LÖSUNGEN
Lösungen zur musikalisch-theologischen Synopse
2) Beschreiben Sie den formalen Aufbau. Vergleichen Sie dabei Teil I und Teil II.
- zwei Teile / 5 Akte (1. Teil → Petrus / 2.Teil → Pilatus und Jesus)
- Eingangschor und Schlusschor mit Choral → bilden einen Rahmen
- betrachtende Teile (Choräle, Arien) unterbrechen Handlung
- der Actus "Pilatus" ergibt sich als numerische Mitte, ganz im Sinne der Theologie des
Johannesevangeliums
- Bach stellt Verhör, Verurteilung und Kreuzigung ins Zentrum
- Häufung der Turbae-Chöre im 2.Teil → Dramatik / Symmetrie um Choral Nr. 22 → "Gefängnis"
3) Lesen Sie alle Spalten. Benennen Sie die theologischen Inhalte.
Liebe Gottes, Geduld als Frucht der Passion, Erlösung, Freude in der Nachfolge Christi, Vorstellung des
Leidens, Dank, Leid verwandelt sich in "süße Frucht", Gottes Gnade, die Knechtschaft Jesu wegen
Freundschaft zu den Menschen, Überwindung der Anfechtungen, Aufforderung zur Nachfolge Jesu, Jesus
Tod als Sieg, Erlösung und Versöhnung, Betrachtung von Kosmos und Mikrokosmos, persönliche Klage,
Anrufung, Jesu Tod und "ich"
4) Untersuchen Sie die Anordnung der Choräle und erläutern Sie deren Funktion.
- die Choräle knüpfen ähnlich den Arien an die Stichworte aus den Rezitativen an
- von 11 Chorälen bilden 5 den Abschluss eines Actus, 5 Choräle stehen in der Mitte einer Szene. Ein Teil
bildet die Eröffnung des 2.Teiles.
- die Choräle sind Ausdruck des gemeinsamen Glaubens (= Glaubensbekenntnisse)
5) Äußern Sie sich zur Anordnung der Arien. Inwiefern unterscheidet sich die Betrachtung
von der eines Chorals?
- Die Arien Nr. 7 / 9 / 13 entsprechen den Arien Nr. 30 / 32 / 35 („docere" – „delectare" – „movere"),
1.Teil „Petrus" = 2.Teil „Ich"
- zwei Mal Kopplung von Arioso und Arie = vertiefende Betrachtung / längere Versenkung
- Arien sollen den Gläubigen berühren (Affekt), Wortwiederholungen, Motivwiederholungen,
- in den Arien findet die empfindsame Aneignung des Glaubens statt („Glaubensarbeit" in der inneren
Betrachtung)
Hinweis: Ein Muster der ausgefüllten Tabelle finden Sie auf der Seite des RP Stuttgart unter
https://rp.baden-wuerttemberg.de/rps/Abt7/Ref75/Fachberater/Seiten/Musik.aspx#6
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Lösungen und Hinweise zu Unterrichtsbaustein 1 (Choräle)
Hinweis: Es bietet sich an, die ursprüngliche Choralmelodie zunächst gemeinsam (unbegleitet) zu singen, bevor
die Schüler Aufgabe 1 bearbeiten. Die Schülerlösungen können anschließend wiederum durch gemeinsames
Singen verglichen werden. Sofern ausführbar, lohnt es sich im späteren Verlauf auch Bachs Chorsatz
mehrstimmig zu singen oder zu musizieren.
Aufgabe 1: Erfinden Sie eine einfache Begleitung zur ursprünglichen Choralmelodie.
Notieren Sie sie in Form von Harmoniesymbolen oder einer ausnotierten Begleitstimme.
Durch die kirchentonale Gestalt des Liedes sind verschiedene Harmonisierungen denkbar. Es bieten sich z.B.
halbtaktige oder taktweise Harmoniewechsel aus g-Moll, d-Moll, c-Moll, F-Dur, B-Dur und Es-Dur an.
Aufgabe 2: Vergleichen Sie die Choralmelodie aus der Johannes-Passion mit der Vorlage.
Setzen Sie Bachs Choralmelodie vierstimmig aus. Vergleichen Sie anschließend Ihren
vierstimmigen Satz mit demjenigen Bachs und benennen Sie die Unterschiede zwischen
Ihrem und seinem Choralsatz.
Bach ändert den Grundrhythmus in einen auftaktigen, gleichmäßig schreitenden Viertel-Rhythmus ab. Die
Änderung des Tons f zum Leitton fis in Takt 1 auf der dritten Zählzeit zeigt das moderne harmonische Denken in
Dur und Moll.
Vergleich mit dem Satz von Bach (Choral „O große Lieb“): Bach erzielt einen reicheren und volleren Klang durch:
• Mehrere Durchgänge (in Alt und Bass in Takt 1 sowie in Alt im Takt 2)
• Septimvorhalt im Tenor im Takt 1 auf Zählzeit 1 (Ton b)
• Wechselnote im Tenor in Takt 1 auf Zählzeit 2+
Aufgabe 3: Versuchen Sie die Bedeutung der Ziffern zu entschlüsseln, indem Sie die Töne aus
Bachs Chorsatz in das obere System übertragen.
Die Ziffern geben die Töne an, die über dem Basston gespielt werden müssen, ähnlich mancher Ziffern bei der
auch in den Tonsätzen im Abitur gebräuchlichen Funktionsschreibweise (z.B. bei S6, S56, D7 oder
Vorhaltsakkorden)
• Keine Angabe bedeutet: der leitereigene Dreiklang wird gespielt
• 6 = Sextakkord (Sexte statt Quinte über dem Bass-Ton)
• 4 und 6 = Quartsextakkord (wobei hier auf Zählzeit 2 des ersten Taktes aufgrund der Chorstimmen
eigentlich ein Terzquartakkord vorliegt, den Bach dem Generalbass aber nicht vorzeichnet. Der
fehlende Ton g wird dann allerdings als Auflösung der Quarte in die Terz angezeigt, was der
Wechselnote im Tenor entspricht).
• 2, 4 und 6 = Sekundakkord
• 5 und 7 bedeutet: Septime wird hinzugefügt (wobei die 5 häufig nicht notiert wird).
• 4 oder 6 mit Strich: Erhöhte Quarte bzw. Sexte
• Ein einzelnes Kreuz, b oder Auflösungszeichen bezieht sich auf die Terz.
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Aufgabe 4:
a) Da die Choralmelodie weitgehend vorgegeben war, konnte der Affektgehalt in den
Chorälen vor allem durch die Gestaltung der Unter- und Mittelstimmen sowie durch die
Harmonisierung verdeutlicht werden. Untersuchen Sie diese Merkmale an den
Textstellen diese Marterstraße, Lust und Freuden sowie und du musst leiden.
Die „Marterstraße“ vertont Bach mit einer absteigenden chromatischen Linie im Bass (Passus duriusculus),
einem auffälligen Sprung (Exclamatio) im Tenor und dem im Sopran eingefügten Ton des, der in der
originalen Melodie nicht vorkommt und ebenfalls eine absteigende Chromatik erzeugt. „Lust und Freuden“
ist insbesondere im Alt verziert.26
Bei „und du musst leiden“ erfolgt zwei mal ein verminderter
Intervallsprung abwärts (Saltus duriusculus) im Bass (zuerst die verminderte Quarte b – fis, danach der
Tritonus g – cis). Gleichzeitig macht der Lagenwechsel in den drei Oberstimmen den Gegensatz zwischen
„Lust und Freuden“ einerseits (Takt 8-9) und „leiden“ andererseits (Takt 10-11) klanglich deutlich.
b) Vergleichen Sie den Choralsatz von Nr. 3 mit dem Choralsatz von Nr. 17, der auf
demselben Kirchenlied basiert, und erläutern Sie Unterschiede in der Vertonung.
Choral Nr. 17 steht in a-Moll, also einen ganzen Ton höher. Auffälligster Unterschied ist der gleichmäßig in
Achteln fortschreitende Bass im Choral Nr. 17, der ihm „große Ruhe und Majestät verleiht“ (Walter, S.
149). Die Änderung, die Bach im Choral Nr. 3 in Takt 5 in der Melodie beim Wort „Marterstraße“
vorgenommen hat, findet in Nr. 17 keine Entsprechung. Auch der textausdeutende chromatische Bass
weicht einer diatonischen Verzierung bei „Treu ausbreiten“. Die gesamte zweite Choralzeile steht nun in
stabilem C-Dur, während in Nr. 3 hier mehrfach innerhalb der verwandten Tonarten moduliert wird:
26
Die durch die Vorhaltbildungen im Alt entstehenden Dissonanzen deutet Walter als Zeichen, dass es sich um
weltliche, und damit „falsche“ Freude handelt (vgl. Walter, S. 86).
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Lösungen und Hinweise zu Unterrichtsbaustein 2 (Rezitative)
Hinweis: Im Unterricht kann zunächst das Rezitativ Nr. 4 erarbeitet werden, indem die Gesangsstimme mit allen
gemeinsam einstudiert wird. Anschließend kann die Continuo-Stimme nach den in Baustein 1 erarbeiteten
Generalbass-Regeln ausgesetzt und danach musiziert werden. Um sie zu musizieren, können Schüler je nach
verfügbarer Besetzung an Tasteninstrumenten sowohl die Rolle des Harmonieinstruments als auch die des Bass-
Instruments übernehmen. Darüber hinaus können verschiedene weitere Instrumente (z.B. auch Glockenspiele)
integriert werden. Nachdem die Continuo-Stimme eingeübt ist, kann das Rezitativ mit verteilten Rollen (ggf. mit
Dirigent), also auch mit Sänger (ggf. Sprecher) musiziert werden. Dabei kommt es freilich weder auf
authentische Besetzung noch auf ausgefeilte Schlagtechnik des Dirigenten an. Vielmehr sollten das Prinzip eines
instrumental begleiteten deklamatorischen Sprechgesangs und das Zusammenspiel von Sänger und Continuo-
Gruppe für die Schüler erfahrbar werden.
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Aufgabe 1: Ordnen Sie die Textschnipsel den einzelnen Abschnitten zu und notieren Sie die
zugeordneten Texte jeweils unter die Noten. Begründen Sie Ihre Zuordnung.
Einzelne Ausschnitte können anhand der Silbenzahl eindeutig zugeordnet werden. Allerdings lassen sich auch
weitergehende Überlegungen (z.B. das Zitat des Quartsprungs bei „Ich bin’s“) einbeziehen. Eine Kontrolle kann
durch gemeinsames Singen oder Sprechen erfolgen.
Es gibt drei Ausschnitte, die jeweils sechs Textsilben / sechs Noten umfassen. Hier müssen inhaltliche
Überlegungen einbezogen werden, die auf unterschiedliche Ebenen des Wort-Ton-Verhältnisses verweisen:
• „und fielen zu Boden“ ist der einzige auftaktige Ausschnitt, was sich mit der Betonung auf der zweiten
Silbe erklärt, während die beiden anderen Ausschnitte auf einer betonten Silbe und damit direkt auf der
Zählzeit 2 bzw. 3 beginnen.
• Darüber hinaus wird das Zu-Boden-fallen durch die absteigende Bewegung figürlich dargestellt
(Hypotyposis).
• „wichen sie zurücke“ ist durch die Sechzehntel rascher und vermittelt das Bild des hektischen
Zurückweichens (Affekt des Erschreckens), während „Jesus spricht zu ihnen“ insgesamt ruhiger und
gravitätischer wirkt.
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Aufgabe 2: Vertonen Sie die Texte im Kasten auf der nächsten Seite jeweils als Rezitativ.
Zum besseren harmonischen Verständnis kann das erste zu Aufgabe 2 gehörende Rezitativ in Funktions-
Harmonik analysiert und mit Generalbass-Ziffern versehen werden (das zweite Rezitativ ist harmonisch deutlich
anspruchsvoller).
Bachs Rezitativ Nr. 8 beginnt mit einer ansteigenden Linie, hauptsächlich mit den Tönen des B-Dur-Dreiklangs (c
und es sind Durchgänge). Melodisches Ziel sind der Aufwärtsbewegung sind die Hochtöne zu den Worten „Jesu
nach“. Die Aussage „und ein ander Jünger“ ist davon abgesetzt in einer tieferen Lage und bildet einen
kadenzierenden Schluss (Bass-Klausel). Mit dieser Grundgestalt nimmt Bach die Motivik der folgenden Arie „Ich
folge dir gleichfalls“ vorweg, die sich somit nicht nur inhaltlich, sondern auch musikalisch direkt auf das
vorhergehende Rezitativ bezieht (vgl. Walter S. 111 und die musikalisch-theologische Synopse, Seite 47 ff.).
Besonderheiten in Bachs Rezitativ Nr. 16e:
• „deutete“ ist als Ausruf (Exclamatio) herausgehoben
• „Todes“ im Kontrast dazu eine Oktave tiefer
• Bei „sterben“ Exclamatio mit Saltus duriusculus (verminderte Septime) in Verbindung mit
Seufzermelodik.
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Lösungen und Hinweise zu Unterrichtsbaustein 3 (Turba-Chöre)
Aufgaben:
1. Hören Sie sich den Chor Nr. 23d aus Bachs Johannes-Passion an („Weg mit dem“) und
beschreiben Sie seine Wirkung.
2. Studieren Sie das Sprechstück vierstimmig ein.
3. Analysieren Sie die in diesem Stück dargestellte Situation und bringen Sie sie in
Zusammenhang mit dem Passionsbericht (Texte von Nr. 21 und 23). Entwerfen Sie
hierzu eine kurze Szene (ohne gesprochenen Text). Überlegen Sie sich Körpersprache,
Haltung, Gestik und Mimik der beteiligten Personen und bauen Sie an geeigneter
Stelle das Sprechstück ein. Präsentieren Sie anschließend die Szene.
4. Reflektieren Sie ihre Eindrücke: Von welchen Emotionen und Konflikten werden die
handelnden Personen beeinflusst?
5. Hören Sie die gesamte Szene (Nr. 21 bis 23) an mit dem Choral „Durch dein
Gefängnis, Gottes Sohn“. Beschreiben Sie die Wirkung des Chorals an dieser Stelle.
Beziehen Sie seinen Text auf die Handlung der Personen und interpretieren Sie seine
theologische Aussage. Beschreiben Sie im Vergleich dazu die Wirkung der Turba-
Chöre und benennen Sie die musikalischen Mittel, mit denen Bach sie erzielt.
In Nr. 21 zeigt Pilatus (wie bereits in Nr. 18) Skrupel und zweifelt an der Schuld Jesu. Die Hohepriester und das
Volk fordern indessen seinen Tod. Hass und Wut sowie eine ungeheure Gruppendynamik zeigen sich ebenso wie
Furcht bei Pilatus und tiefe Ergebenheit und Einsicht in seine Bestimmung bei Jesus. Zur Ergänzung können
bildliche Darstellungen (wie die Bildtafel 6 bei M. Walter) herangezogen und gemeinsam interpretiert werden.
Typische Merkmale des Turba-Chores Nr. 18e, durch die der Eindruck einer aufgebracht
durcheinanderschreienden Menschenmenge erzeugt wird, sind u.a.:
• der polyphone Satz
• eine schnelle Durchpulsung in allen Stimmen
• syllabischer Gesang in kurzen Notenwerten mit vielen Tonsprüngen
• zusätzlich schnelle Sechzehntelbewegung in den Begleitstimmen
• Die synkopischen Rufe „Kreuzige“ wirken wie unvermittelte Einbrüche in den kurzatmigen „weg weg“-
Gestus
Bei den übrigen Turba-Chören lassen sich meist ähnliche musikalische Mittel benennen.
Der Choral Nr. 22 wirkt innerhalb dieser aufgeheizten Atmosphäre wie eine Insel der Ruhe. Er schafft einen
Moment der Kontemplation (Perspektive „nach innen“) und rückt mit der untrennbaren Einheit aus Kreuzigung
und Auferstehung eine theologische Kernbotschaft in den Mittelpunkt: Nach der christlichen Theologie kann die
Erlösung der Menschheit nur durch den grausamen Akt der Kreuzigung wirklich werden: Durch Jesu „Gefängnis“
wird den Menschen die „Freiheit“ gegeben: „Denn gingst du nicht die Knechtschaft ein, wird unsre Knechtschaft
ewig sein.“ Dieser Gedanke spielt insbesondere im Johannes-Evangelium eine zentrale Rolle und durchzieht
zahlreiche Arien und Choräle der Passion sowie die Aussagen von Jesus im Rahmen des Passionsberichts (siehe
die Allgemeinen Hinweise zur Theologie des Johannes-Evangeliums, Seite 5-9).
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Lösungen und Hinweise zu Unterrichtsbaustein 4 (Arien)
Hinweis: Im Unterricht bietet es sich an, vom allgemeinen Höreindruck der Arie „Zerfließe mein Herze“ (Nr. 35)
ausgehend die musikalischen Mittel Schritt für Schritt einzugrenzen und mit Hilfe des Arbeitsblattes zu
systematisieren. Anschließend können die Beobachtungen anhand des Notentextes konkretisiert werden.
Nachdem die Schüler mit der Systematik vertraut sind, können die Beispiele besprochen und anschließend die
Vorgehensweise auf das Arioso Nr. 19 übertragen werden (Aufgaben 1 bis 3). Damit soll auch sinnentleertes
Aufzählen barocker Figuren vermieden und ein Bewusstsein für die verschiedenen Ebenen der Wort-Ton-
Beziehung geschaffen werden (vgl. Seite 23).
Aufgabe: Übertragen Sie die Vorgehensweise auf das Arioso Nr. 19 Betrachte meine Seel.
1. Analysieren Sie den Arientext. Geben Sie die Textaussagen in eigenen Worten
wieder, deuten Sie den theologischen Gehalt und erklären Sie an diesem Beispiel die
Funktion der Arien innerhalb der Passion.
Im Text wird die betrachtende Perspektive des Individuums eigenommen („betrachte, meine Seel“).
Dabei wird das Spannungsverhältnis ausgedrückt („ängstliche[s] Vergnügen“, „bittre Lust“) zwischen
dem Schrecken der Kreuzigung und dem damit unlösbar verbundenen Heilsversprechen: Die Erlösung
der Menschheit wird erst durch die Qualen des sterbenden Jesus ermöglicht („dein höchstes Gut in Jesu
Schmerzen“). Daraus resultiert die Aufforderung, sich Jesus zuzuwenden und im christlichen Sinne zu
glauben bzw. sich mit der Kreuzigung und ihrer theologischen Bedeutung auseinanderzusetzen („sieh
ohn Unterlass auf ihn“). Damit liefert die Arie einen Moment des Innehaltens und der Reflexion sowie
(als Zweck dieser Betrachtung) einen theologischen Kommentar, der das Geschehen einordnet und im
theologischen Sinne deutet und erklärt.
2. Beschreiben Sie den musikalischen Charakter der Arie und nennen Sie die
musikalischen Mittel, mit denen Bach ihn erzeugt.
Musikalischer Grundcharakter: ruhig, meditativ, kontemplativ, innerlich versunken.
Musikalische Mittel:
• ausdrückliche Bezeichnung „pianissimo“ für das Kontrafagott; kleine Besetzung: Violinen nur
solistisch und mit Dämpfer
• langsames Tempo (Adagio), Dehnungen (Überbindungen) in den Violinen
• eher tiefe Lagen (Kontrafagott, tiefe Lage der Violinen, Gesang im Stimmfach Bass)
• anfänglicher Orgelpunkt im Bass und flächige akkordische Begleitung
3. Erläutern Sie anhand ausgewählter Stellen Bachs Mittel der Textausdeutung.
Einzelne Stellen (exemplarisch):
• Seufzer / Zweierbindungen abwärts bei „beklemmtem Herzen“ (T. 5): Der Affekt der Trauer
und des Leids
• Verminderter Dreiklang abwärts bei „Jesu Schmerzen“ (T. 6/7): Affekt des Schmerzes wird
durch die Figur des Saltus duriusculus ausgedrückt.
• Hervorhebung der Aussage „ohn Unterlass auf ihn“ durch mehrfache Wiederholung am Ende.
Damit verbunden ist eine inhaltliche Entsprechung, indem die Zeit angesichts der
wiederkehrenden Aussage „ohn Unterlass“ stillzustehen scheint.
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Lösungen des Arbeitsblatts zum Chor Nr. 21b
1. Betrachten Sie den kurzen Ausschnitt aus dem Film „Marie Antoinette“ (2006)
der Regisseurin Sofia Coppola. [Kap. 5, ca. 4’]
a) Beschreiben Sie den Inhalt dieser Filmszene. Achten Sie insbesondere auf
Anlass, Personen, Kleidung sowie die dargestellten Räumlichkeiten.
Im Filmausschnitt sieht man zwei Szenen: zunächst die kirchliche Trauung zwischen Louis
Auguste, dem Dauphin Frankreichs und späteren König Louis XVI., und Marie-Antoinette,
jüngstes Kind von Kaiserin Maria Theresia. Die feierliche Zeremonie findet in der
Schlosskirche von Versailles statt und wird von einem Bischof geleitet. Zugegen sind zudem
noch hohe Vertreter des 1. und 2. Standes. [Anm.: Marie Antoinette war zum Zeitpunkt der
Eheschließung 14, Louis Auguste knapp 16 Jahre alt!].
Die zweite Szene zeigt die anschließende Feier. Hier tanzt das Brautpaar in einem
prunkvollen Saal Menuett, der Hofstaat inkl. König Louis XV., der Großvater des Dauphins,
und dessen Mätresse (Gräfin du Barry), schauen hierbei zu.
b) Welche Musik ist zu hören? Beschreiben Sie kurz, indem Sie auf die Aspekte
Besetzung, Charakter und Funktion näher eingehen.
Die kirchliche Trauung wird von feierlicher Orgelmusik begleitet, das anschließende Menuett
entstammt Jean-Philippe Rameaus Ballettoper „Les Indes Galantes“ [Nouvelle Entrée aus der
Szene 6: Menuett I/II]. Insbesondere das erste Menuett (dieser Begriff sollte hier erneuert
bzw. eingeführt werden) strotzt vor Lebensfreude und Pomphaftigkeit, wozu neben dem
frischen Tempo auch die Bläser (Trp./Ob.) beitragen. Beide Szenen zeigen sehr schön die
Aufgabe von Musik im Absolutismus: Repräsentation des 1. und 2. Standes, von geistlicher
und weltlicher Macht.
2. Hören Sie den Beginn des Chorus 21b.:
a) Nennen Sie Taktart und Charakter. Stellen Sie außerdem noch Bezüge zur
Musik aus Aufgabenteil 1b) her.
Zu hören ist ein Dreiermetrum (hier: 6/4-Takt) sowie ein tänzerischer Charakter mit starker
Betonung der ersten (bzw. vierten) Zählzeit. Sehr deutlich sind die Bezüge zum Menuett aus
Aufgabe 1 zu erkennen.
b) Wie wirkt die Musik? Welche Affekte werden hier angesprochen?
Die Schüler können den Charakter des Hörbeispiels erfassen. Der Text sowie die
musikalischen Beobachtungen führen sehr schön zu den Affekten „Hohn, Spott und
Verachtung“. Hier kann auch der Spitzenton (g’’) der Sopranstimme genannt werden, der
einen „spöttischen Akzent“ auf „lie-ber Jüdenkönig“ bedeutet. [Interessanter Weise werden
mit dem gleichen Ton im weiteren Verlauf auch noch die Silben „ge-grü-ßet“ und „Jü-
denkönig“ hervorgehoben, also alle wichtige Silben dieses Grußes.]
3. Gliedern Sie den Chorsatz mit Hilfe des Notentextes unter satztechnischen
Aspekten. Inwieweit unterstützt die Satztechnik den Inhalt?
Der erste Teil (T. 5-12) ist polyphon gehalten, der zweite Teil (T. 12-16) homophon. Ein Fugato in
Engführung eröffnet den Chorus: die Kriegsknechte sprechen durcheinander und können ihren
Einsatz „kaum abwarten“ (Engführung): jeder möchte den „Jüdenkönig“ Jesus spöttisch begrüßen.
Laut Fugenregeln müsste zumindest die Exposition ohne Fugenkünste auskommen – hierauf
verzichtet Bach jedoch aus dramaturgischen Gründen. Der homophone Abschnitt kann als
„Einigung“ der Masse angesehen werden; wie aus einem Munde wird der gesamte Gruß zweimal
gesungen.
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4. Vergleichen Sie den vorliegenden Chorsatz mit der Arie „Ich folge dir gleichfalls
mit freudigen Schritten“ (Nr. 9, S. 32). [Die Arie sollte den Schülern bekannt sein.]
a) Nennen Sie auffällige musikalische Gemeinsamkeiten zwischen der Arie und
dem Chorus.
Beide Stücke stehen in der gleichen Tonart (B-Dur) und haben das gleiche (3er)Metrum und
in etwa das gleiche Tempo. Die Melodie findet sich erstmalig in den Takten 18-20 (dort auf
den Text „gleichfalls mit freudigen Schritten“, also dem zweiten Teil des Soggettos).
b) Versuchen Sie, die Gemeinsamkeiten inhaltlich zu deuten.
Neben den eher „vordergründigen“ Parallelen (Tonart, Metrum) ist die melodische
Übereinstimmung am auffälligsten. In der Arie sind Text und musikalische Umsetzung
„stimmig“, d.h. sie passen zueinander. Das lyrische Ich folgt Jesus nach (ein Grundsatz des
Christentums), und zwar „freudigen Schrittes“. Dieser Affekt der Freude soll zusammen mit
dem „gleichfalls“ die „erhoffte Einheit zwischen biblischem Geschehen (damals) und
betrachtendem Innehalten (heute) ins Spiel bring(en)“. (Walter, S. 107) Ebenso erscheint in
der Arie der imitative Aspekt; Walter: „Im musikalischen Imitieren wird zugleich die
Untrennbarkeit von Nachfolgen und Nachahmen künstlerisch deutlich, denn die Stimmen
folgen einander, indem sie sich gegenseitig nachahmen. ‚Was ist Nachfolgen, wenn nicht
Nachahmen?’ – fragte bereits der Kirchenvater Augustinus.“ (S. 112)
Erst mit Kenntnis dieses „ehrlichen Affekts“ wird der spöttische Affekt des Chorus 21b.
deutlich: die Kriegsknechte wollen Jesus nicht nachfolgen (sie bedienen sich lediglich der
„Sprache“ und „Form“ der Anhänger Jesu). Sie wollen ihn verspotten und haben sich als
Masse (turba) zusammengeschlossen, um gegen den vermeintlich Schwachen vorzugehen.
5. Die gleiche Stimmung findet sich auch in der Rock-Oper „Jesus Christ Superstar“
(1971) von Andrew Lloyd-Webber. Betrachten Sie den Filmausschnitt zu „King
Herod’s Song“ und benennen Sie Merkmale, die diese Stimmung unterstützen.
Gehen Sie sowohl auf den Text als auch auf Bild und musikalische Umsetzung
näher ein. [Kap. 18, ca. 3’]
Lloyd-Webber greift in dieser Nummer auf den Charleston zurück, der – ähnlich wie das „Menuett“
in der Johannes-Passion – als „musikalischer Fremdkörper“ in Jesus Christ Superstar empfunden
werden kann; typisch ist v.a. die Besetzung von Klavier, Schlagzeug, Tuba („walking Bass“). Die
Off-Beats, die ihren Ursprung im Ragtime („zerrissenes Zeitmaß“) haben, finden sich sehr schön im
Refrain („So you are the Christ...“). Der lockere Tanz des Herodes (der zudem noch mit einem
ganzen Harem junger, leicht bekleideter Frauen einhergeht) zeigt die totale Oberflächlichkeit
dieser Königsmacht und zugleich auch die Ohnmacht des Angeklagten Jesus von Nazareth. Genau
in dieser Oberflächlichkeit verlangt Herodes nach Beweisen für die Göttlichkeit Jesu’: „Prove to me
that you’re devine; change my water into wine.“ / „Prove to me that you’re no fool; walk across
my swimming pool.“ (nach Edgar Reuber, Werkanalyse der Rockoper Jesus Christ Superstar, Halle
2007, S. 66ff.) Erst als Jesus keinerlei Reaktion auf die Provokationen zeigt, verliert Herodes am
Ende des Songs die Contenance und lässt ihn durch Soldaten abführen.
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Lösungen des Arbeitsblatts zur Arie Nr. 30
1. Füllen Sie folgende Tabelle mit Hilfe der Partitur aus:
T. 1ff. (= A) T. 20ff. (= B)
Tempo Molt’ adagio Vivace
Tonart h-Moll D-Dur
Taktart 4/4 (C) 3/4
Besetzung Viola da gamba, Alt-Stimme, B.C. Vl. I/II, Va., Viola da gamba, Alt-
Stimme, B.C.
Dynamik Keine Angabe (leise, auch durch
solistische Besetzung mit Gambe, Alt
und B.C. – senza Bassono grosso!)
(für Barockzeit) äußerst differenzierte
Angaben/häufige Wechsel zwischen p
und f; zudem spielt kompletter
Streichersatz
Melodik /
charakteristische
Intervalle
Sekunden (häufig abwärts)
dominieren; auffällige Sextsprünge
(exclamatio) aufwärts (z.B. T. 6) bzw.
Sextambitus bei „Es ist vollbracht“
Dreiklangsmelodik (in syllabischen
Abschnitten) und melismatisches
Skalenwerk bei „Kampf“ und „Macht“,
das an die Skalen aus dem
Eingangschor erinnert („Herrscher“,
„herrlich“)
Rhythmik Komplex: viele Punktierungen,
Vorhalte und sehr ausdifferenzierte
Notenwerte (bis hin zu 64tel in der
Gambe – T. 4)
Eher gleichförmig: Achtel und
Sechzehntel dominieren, keine
Überbindungen, Synkopen o.ä.
Affekt Klage, Trauer Freude, Jubel
� In sämtlichen Parametern stehen sich die Teile A und B diametral gegenüber. Die beiden
unterschiedlichen Affekte werden somit überaus deutlich und plakativ in den Mittelpunkt gestellt.
2. Analyse
a) Ergänzen Sie den Lückentext mit Hilfe des Notentextes.
Das zentrale Motiv der Arie (T. 1, gespielt von: Viola da gamba) hat drei Merkmale, die
dem französischen Tombeau (=Totenklage/Klagegesang) des 17. Jh. entsprechen: das
Tongeschlecht Moll, das Rahmenintervall einer fallenden Sexte (Töne/T. 1: fis’-ais) und
viele Verzierungen/Vorhalte. Sowohl die Melodik als auch der Text entstammen dem
zuvor erklungenen Rezitativ „Und von Stund an“: in Takt 13f. des Rezitativs singt Jesus
die Worte Es ist vollbracht; hier jedoch in fis-Moll, beginnend mit dem Ton d’ und
endend auf fis. Diese abwärts gerichtete Figur wird in der Figurenlehre auch als
Katabasis bezeichnet, das „Verzahnen“ zweier Stücke durch gemeinsamen Text bzw.
Melodie wird Anadiplosis genannt.
In der Arie singt die Sängerin zunächst den Duktus der Gambe nach (T. 5), jedoch
vom Ton h’ beginnend. Aber schon einen Takt später erleben wir eine Betonung des
Wortes „ist“, die mit dem aufwärts gerichteten Sprung einer kleinen Sexte verbunden
ist; in der Figurenlehre nennt man dies Exclamatio. In T. 8 werden zudem noch die
Worte „O Trost“ mit dem gleichen Intervall hervorgehoben. Erst später greift die Alt-
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Stimme auf die schlichtere Variante aus dem Rezitativ zurück: in Takt 40 und
nochmals in Takt 44 führt sie das Motiv in die Grundtonart h-Moll zurück.
b) Schreiben Sie in Anlehnung an den Lückentext eine Analyse zum B-Teil der Arie
(T. 20-40), indem Sie auf sämtliche Aspekte der obigen Tabelle eingehen.
Erwartet wird eine ausformulierte Analyse. Anregungen hierzu finden sich z.B. bei Walter, S. 181f.,
Geck, S. 94 oder Scholz, S. 99.
3. Melodiezitate neben und nach der Johannes-Passion (Höraufgaben)
a) Wir hören drei andere Werkausschnitte, in denen das berühmte Kopfmotiv aus
der Arie „Es ist vollbracht“ zitiert wird. Gehen Sie v.a. auf Besetzung, Gattung und
Epoche näher ein und überlegen Sie, ob der besondere Affekt des A-Teils der
Arie erhalten geblieben ist.
I) Johann Sebastian Bach (1685-1750), Chromatische Fantasie und Fuge, BWV 903,
Mittelteil (Rezitativ)
II) Ludwig van Beethoven (1770-1827), Sonate für Klavier und Violoncello Nr. 3 A-
Dur, op. 69, 1. Satz (Allegro ma non tanto), Durchführung
III) Ludwig van Beethoven (1770-1827), Sonate As-Dur, op. 110, Adagio ma non
troppo (Arioso dolente)
Man könnte diese Musikbeispiele auch mit dem Ziel hören, die Zitate aus der Johannes-Passion
überhaupt zu erkennen bzw. um den Schülern zu zeigen, dass das Bachsche Motiv auch Beethoven
inspiriert hat. [Die Frage, ob Beethoven überhaupt die Johannes-Passion gekannt hat, muss hier
nicht zwingend erörtert werden; wahrscheinlich ist eher, dass er die im Druck erhältliche
„Chromatische Fantasie und Fuge“ gekannt haben kann, möglicherweise ein „Tombeau“ auf den
Tod Bachs erster Ehefrau Maria Barbara; vermutlich hat Bach selbst auch das Motiv aus seinem
um 1720 entstandenen Klavierwerk für die Johannes-Passion entnommen; vgl. hierzu auch Geck,
S. 93]
b) Wir hören den B-Teil der Arie in zwei Fassungen: zunächst das Bachsche Original,
dann in der Version Robert Schumanns (1810-1856) aus dem Jahre 1851.
Benennen Sie die musikalischen Unterschiede, v.a. auch im Hinblick auf den
Affekt des B-Teils.
Robert Schumann fügt seiner Fassung zwei Trompeten hinzu, die den Affekt der „Freude“ noch
besser unterstützen. Die majestätisch-fanfarenhaften Tonrepetitionen deuten bereits über das
Passionsgeschehen hinaus auf Ostern hin. Bach hatte womöglich Ähnliches im Sinn, worauf die
„österliche Tonart“ D-Dur und der fanfarenhafte Duktus der Streicher hindeuten; in der Karwoche
hatten aber Pauken und Trompeten zu schweigen.
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Lösungen des Arbeitsblatts zu den Fassungen
Aufgabe 1: In der Revision des Jahres 1739 ändert Bach zahlreiche Details. Untersuchen Sie
die Takte 67 bis 72 des Eingangschors („zu aller Zeit, auch in der größten Niedrigkeit,
verherrlicht worden bist“) und benennen Sie die Änderungen, die Bach in der
Revisionsfassung (Seite 13 bis 14) gegenüber der älteren Fassung I (Seite 178-179)
vorgenommen hat. Zusatz: Überlegen Sie sich mögliche Gründe für Bachs Änderungen.
Takt Stimme Änderung der Revisionsfassung mögliche Gründe *
67 Bass Einsatz „auch“ auf 4+ statt auf 4 Ausgewogenheit zwischen den Stimmen durch
Angleichung an den Alt
68 Alt Auf Schlag 3+ Ton b statt c Harmonie (Es-Dur) höher gewichtet als parallele
Stimmführung (vgl. Violine 2)
68 Sopran, Alt Bögen fehlen bei Zweierbindung keine Auswirkung auf die Ausführung
68 Tenor Synkope in der ersten Takthälfte möglicherweise zur Erzeugung größerer Intensität
70 Bass Auf Schlag 4+ Ton a statt cis Vermeidung von Akzentparallelen mit dem Alt
70-71 Tenor (= Va) Am Taktende Tonfolge e – f statt
b – a
Die kleine None b über dem Basston a wird
vermieden. Wie in Takt 68 (Alt) scheint Bach hier
der Zusammenklang wichtiger als eine
einheitliche Stimmführung
71 Tenor, Bass
geänderte Stimmführung: Bass
mit Tonfolge b – e – cis
statt e – a – a und Tenor
g’ – cis – e statt g – cis – a
Schwächere Schlusswendung über dem
Orgelpunkt (keine Bass-Klausel), zumal in Takt
70-71 die Bass-Klausel neu hinzukommt (s.o.).
Der Tenor wird angeglichen um über dem Bass zu
bleiben. Außer dem Durchgang in Flöte / Oboe I
erklingt kein a, stattdessen ein verminderter
Septakkord über Orgelpunkt d im Generalbass.
72 Alt Punktierte Achtel auf Schlag 1 Harmonische Angleichung an die Figur in der
Violine 2
*) Mögliche Gründe für die Änderungen zu erkennen, kann von den Schülern nicht erwartet werden. Sie dienen
an dieser Stelle nur als Ergänzung für die unterrichtenden Lehrkräfte.
Aufgabe 2: In der Fassung II des Jahres 1725 ersetzt Bach den Eingangschor Herr, unser
Herrscher durch die Choralfantasie O Mensch, bewein dein Sünde groß. Laut Meinrad Walter
führt dies zu einer „deutlich anderen Passions-Perspektive.“
Belegen Sie diese These durch einen Vergleich der beiden Texte. Gehen Sie dabei auf die
wesentlichen theologischen Aussagen ein und stellen Sie die damit verbundene Perspektive
auf die Passionsgeschichte dar.
• Laut Meinrad Walter „fungiert das Exordium als eine Art Überschrift“ und sein Thema ist die Frage
nach dem Warum und damit nach dem Kern des christlichen Glaubens. Zu dieser theologischen
Botschaft trete hier ein „verkündende[r] Gestus“.
• Im Eingangschor „Herr, unser Herrscher“ steht zunächst die Anrufung des Herrn und seine Herrlichkeit
und Größe im Mittelpunkt (Wortfeld „Herrscher“, „Ruhm“, „herrlich“). [Damit steht laut Walter die
Frage im Raum „Wie überhaupt kann der Herrscher des Himmels und der Erde leiden und gewaltsam
umkommen“ – Die Antwort laute nach Johannes: Weil er Mensch geworden sei. Es geht also um die
Menschwerdung Jesu und sein Opfer in Einklang mit der göttlichen Bestimmung, somit um das
„Verhältnis Gott-Christus“.]
Unterrichtsmaterialien zu: Johann Sebastian Bach – Johannes-Passion
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• In der Fassung II geht der Text von der Sündhaftigkeit des reuevollen Menschen aus, die das Opfer erst
notwendig macht. Von dort wird der Bogen über Jesu Leben (Wunderheilungen) bis zum Tod am Kreuz
geschlagen („für unsre Sünden“).
• Die für die Passion zentralen Schlüsselbegriffe „Kreuz“, „Sünde“, die „Toten“ und das „Opfer“ aus dem
Eingangschor der zweiten Fassung kommen in „Herr unser Herrscher“ überhaupt nicht vor.
• Walter schreibt zusammenfassend: „Das ursprünglich christologische [also von der Person Jesus als
Gottessohn und seiner Bedeutung ausgehende] Exordium ist durch ein soteriologisches [von der
Erlösung der sündhaften Menschen durch Jesu Kreuzestod ausgehendes] ersetzt.“
Details siehe M. Walter S. 62-65 und 219-221.
Die Unterschiede werden insbesondere deutlich, wenn man die Perspektive des Johannes-Evangeliums mit der
des Matthäus-Evangeliums vergleicht. Der Vergleich bietet sich hier an, denn die Choralfantasie „O Mensch
bewein dein Sünde groß“ wurde von Bach später in die Matthäuspassion aufgenommen. Die unterschiedlichen
Sichtweisen zeigen sich in den Jesus-Worten ebenso wie in den kommentierenden Texten der Arien und des
Eingangs-Chors. Eine Beschreibung der besonderen theologischen Perspektive des Johannes-Evangeliums im
Vergleich zu den synoptischen Evangelien mit Verweis auf die Bedeutung für die Vertonung des Textes und die
insbesondere die Auswahl der kommentierenden Arien-Dichtungen liefert M. Walter auf Seite 79. Siehe hierzu
auch die Informationen zum Johannes-Evangelium (Seite 5-9).
Aufgabe 3: In der Fassung IV des Jahres 1749 bekommt die Arie Nr. 20 einen neuen Text,
wodurch das Verhältnis zwischen Textinhalt und musikalischer Umsetzung ein anderes wird.
a) Untersuchen Sie die Fassung I (Seite 68 bis 77) im Hinblick auf textausdeutende Mittel:
Welche Schlüsselbegriffe werden betont, welche Aussagen musikalisch nachvollzogen?
Hervorhebung und Abbildung bestimmter Schlüsselbegriffe in Fassung I („Erwäge“)
• Mehrfache Wiederholung, teilweise starke Dehnung der Aufforderung „erwäge“ mit kurzem
Innehalten durch Pausen als musikalisches Sinnbild (Takt 5-6, Takt 9-10 und Takt 15).
• Hochton bei „Himmel“ (Takt 12 und 14)
• Melismatische Ausziehrung der Begriffe „Wasserwogen“ (Takt 22-23 und 32-33), „verzogen“
(Takt 24 und 33-34), „Regenbogen“ (Takt 25-28 und 35-38), „Gnadenzeichen“ (Takt 28 und 29
sowie 38-39)
• Wiegende Bewegung in den Violinen bei „Wasserwogen“ (Takt 22-23)
Fassung I (1724) Fassung II (1725)
Herr, unser Herrscher,
dessen Ruhm in allen Landen herrlich ist!
Zeig uns durch deine Passion,
Dass du, der wahre Gottessohn,
Zu aller Zeit,
Auch in der größten Niedrigkeit,
Verherrlicht worden bist.
Herr, unser Herrscher,
dessen Ruhm in allen Landen herrlich ist!
O Mensch, bewein dein Sünde groß,
Darum Christus seins Vaters Schoß
Äußert und kam auf Erden;
Von einer Jungfrau rein und zart
Für uns er hie geboren ward,
Er wollt der Mittler werden.
Den Toten er das Leben gab
Und legt dabei all Krankheit ab,
Bis sich die Zeit herdrange,
Dass er für uns geopfert würd,
Trüg unser Sünden schwere Bürd
Wohl an dem Kreuze lange.
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b) Erläutern Sie, wie sich an den untersuchten Stellen das Verhältnis zwischen Musik und
Textinhalt durch den neuen Text in der Fassung IV (Seite 260-261) ändert.
• Die Hervorhebung der Aufforderung „Erwäge“ entspricht nun die Hervorhebung der Anrede „mein
Jesu“. Das Innehalten durch die Pause verliert jedoch seine Bedeutung.
• Der Hochton in Takt 12 und 14 auf „tilgt“ statt „Himmel“ verliert die bildliche Entsprechung der
ursprünglichen Hypotyposis-Figur (Himmel = Höhe).
• Die Melismen betonen nun die Begriffe „Schrecken“ (Takt 22-23 und 32-33), „decken“ (Takt 24
und 34), „erwecken“ (Takt 25-28 und 35-38), wodurch die enge Beziehung zwischen Textinhalt
und Musik teilweise verloren geht. Dasselbe gilt für die Begleitfiguren in Takt 22.
M. Walter bemerkt hierzu: „Erst die Textänderungen von 1749 eliminieren den symbolischen Kern der Arie
mitsamt einigen konkreten Details dieser Leidensstationen. […] Insbesondere am Beginn des B-Teils will
man den ‚Schrecken‘ nicht glauben, wenn er in Gestalt einer großen melodischen Linie und begleitet von
wiegenden Terzparallelen daherkommt.“ (Walter, S. 158)