Unverkäufliche Leseprobe - fischerverlage.de · Fall wieder auf: Jakob, ein junger Mann mit...

14
Unverkäufliche Leseprobe Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.

Transcript of Unverkäufliche Leseprobe - fischerverlage.de · Fall wieder auf: Jakob, ein junger Mann mit...

Page 1: Unverkäufliche Leseprobe - fischerverlage.de · Fall wieder auf: Jakob, ein junger Mann mit Down-Syndrom, soll einen Brand in seinem Behindertenheim gelegt haben, bei dem fünf

Unverkäufliche Leseprobe

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text

und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche

Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und

strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung,

Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen

Systemen.

Page 2: Unverkäufliche Leseprobe - fischerverlage.de · Fall wieder auf: Jakob, ein junger Mann mit Down-Syndrom, soll einen Brand in seinem Behindertenheim gelegt haben, bei dem fünf
Page 3: Unverkäufliche Leseprobe - fischerverlage.de · Fall wieder auf: Jakob, ein junger Mann mit Down-Syndrom, soll einen Brand in seinem Behindertenheim gelegt haben, bei dem fünf

»Ich weiß ein paar Dinge über die Hintergründe der Tat, die dubestimmt lieber nicht hören willst.« Plötzlich beugte er sich abruptvor, griff nach Dóras Hand und versuchte, für einen kurzen Momentihren Blick zu erhaschen. »Vielleicht scheut ein gebranntes Kindnicht immer das Feuer.«

Die Reykjavíker Anwältin Dóra Guðmundsdóttir nimmt einen altenFall wieder auf: Jakob, ein junger Mann mit Down-Syndrom, solleinen Brand in seinem Behindertenheim gelegt haben, bei dem fünfMenschen ums Leben kamen. Jakob lebt inzwischen in einer Psych-iatrischen Einrichtung für Straftäter, zusammen mit dem verurteiltenSexualstraftäter Jósteinn. Ausgerechnet der engagiert Dóra, weil erJakobs Unschuld beweisen will. Obwohl Dóra den Mann höchstunsympathisch findet und nicht genau weiß, warum er die Sachenoch einmal aufrollen will, beginnt sie zu recherchieren und stößtauf mysteriöse Hinweise: Dóra bekommt immer wieder kryptischeSMS, Angehörige eines Opfers haben offenbar etwas zu verbergen,ein Radiomoderator wird in seiner Sendung von unangenehmen An-rufen belästigt, und eine junge Mutter glaubt, dass ihr kleiner Sohnvom Geist seines toten Kindermädchens heimgesucht wird, das beieinem Autounfall mit Fahrerflucht ums Leben kam. Schließlich führteine heiße Spur die Anwältin ins isländische Justizministerium …

»Immer wieder gelingt es der Autorin geschickt, ihre Leserschaft auffalsche Fährten zu locken. Dazu ein äußerst angenehmer Schreibstilund überaus gelungene Cliffhanger – Island hat einen neuen Krimi-Star.« Krimi-Couch.de

Yrsa Sigurðardóttir, geboren 1963, hat vor einigen Jahren neben ih-rer Arbeit als Ingenieurin begonnen, Kinderbücher und Krimis zuschreiben, die in über zwanzig Ländern erscheinen. Die bisher veröf-fentlichten Kriminalromane mit der Anwältin Dóra sind: ›Das letzteRitual‹ (Bd. 17132), ›Das gefrorene Licht‹ (Bd. 17599), ›Das glühendeGrab‹ (Bd. 18140) und ›Die eisblaue Spur‹ (Bd. 18343).

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Page 4: Unverkäufliche Leseprobe - fischerverlage.de · Fall wieder auf: Jakob, ein junger Mann mit Down-Syndrom, soll einen Brand in seinem Behindertenheim gelegt haben, bei dem fünf

Yrsa Sigurðardóttir

Feuernacht

Island-Krimi

Deutsch von Tina Flecken

FISCHER Taschenbuch

Page 5: Unverkäufliche Leseprobe - fischerverlage.de · Fall wieder auf: Jakob, ein junger Mann mit Down-Syndrom, soll einen Brand in seinem Behindertenheim gelegt haben, bei dem fünf

. .

8. Auflage: März 2017

Deutsche ErstausgabeErschienen bei FISCHER Taschenbuch,Frankfurt am Main, Januar 2011

Das Original erschien 2009 unter dem Titel Horfðu á mig© Yrsa Sigurðardóttir 2009Für die deutschsprachige Ausgabe© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011Published by agreement with Veröld Publishung, Reykjavík, IcelandSatz: pagina GmbH, TübingenDruck und Bindung: CPI books GmbH, LeckPrinted in GermanyISBN 978-3-596-18870-3

Page 6: Unverkäufliche Leseprobe - fischerverlage.de · Fall wieder auf: Jakob, ein junger Mann mit Down-Syndrom, soll einen Brand in seinem Behindertenheim gelegt haben, bei dem fünf

prolog

samstag,8. november 2008

Die Katze versteckte sich hinter einemkahlen, aber dichten Busch in der Dunkel-heit. Sie war vollkommen ruhig, nur ihre gelben Augen huschtenhin und her; aufmerksam hielt sie Ausschau nach den Geschöp-fen der Nacht. Die Menschen, die ihr zu fressen gaben, hattenes schon längst vergessen, aber die Katze wusste, dass sich inder Dunkelheit Wesen verbargen, die das Tageslicht mieden. Siemachten sich erst bemerkbar, wenn die Stille der Nacht anbrach,ungefähr dann, wenn die Schatten verschwanden oder dieMacht übernahmen, je nachdem, wie man es betrachtete. DieKatze genoss diese Zeitspanne, obwohl sich ihr immer wiederdas Fell sträubte, während sie auf das Unvorhersehbare lauerte,auf das Böse, das eine günstige Gelegenheit abpasste. All jene,die das Tageslicht scheuten, waren jetzt unterwegs; die dunklenEcken verschmolzen mit der Nacht, alles war düster und ein-sam.

Plötzlich hörte die Katze ein leises Knacken. Sie fuhr ihre Kral-len aus und grub sie in die feuchte, kalte Erde. Obwohl sie nichtserspähte, blieb sie wachsam, atmete noch langsamer und ruhigerund drückte ihren schlanken Körper so dicht wie möglich an denBoden. Die kühle Luft, die ihre Lungen nach dem langen Schlafauf dem Sofa angeregt hatte, wurde drückend, und jeder Atem-zug hinterließ einen unangenehmen Geschmack auf ihrer rauen

11

Page 7: Unverkäufliche Leseprobe - fischerverlage.de · Fall wieder auf: Jakob, ein junger Mann mit Down-Syndrom, soll einen Brand in seinem Behindertenheim gelegt haben, bei dem fünf

Zunge. Instinktiv drang ein leises Fauchen aus ihrer Kehle, ver-zagt machte sie sich bereit, vor der Scheußlichkeit Reißaus zunehmen, die sich dort irgendwo verbarg, unsichtbar wie die Be-sitzer der Stimmen aus dem Radio der Menschen. Blitzschnelldrehte sich die Katze um, jagte aus dem Busch und floh, so schnellsie konnte, weg vom Haus.

Berglind setzte sich im Bett auf und war hellwach. Wenn sie nor-malerweise nachts aufwachte, glitt sie langsam vom Traum insWachsein, aber jetzt war sie aus dem Tiefschlaf hochgeschrecktund fühlte sich so, als hätte sie gar nicht geschlafen. Im Eltern-schlafzimmer war es vollkommen dunkel, draußen der sternenlo-se, tiefschwarze Himmel. Die Leuchtzeiger des Weckers standenauf halb vier. Hatte ein Weinen aus dem Kinderzimmer sie ge-weckt? Berglind lauschte, hörte aber nichts als das leise Tickendes Weckers und die tiefen Atemzüge ihres Mannes.

Sie schlüpfte unter der Bettdecke hervor, vorsichtig, um Hallinicht zu wecken. Er hatte in den vergangenen Monaten schon soviel durchmachen müssen, dass sie ihn auf keinen Fall störenwollte. Obwohl es so zu sein schien, konnte sie kaum glauben,dass die Geschichte endgültig vorbei war. Sie wollte mit nieman-dem mehr darüber sprechen, auch nicht mit ihrem Mann, dennsie befürchtete, dass die Leute sie für hysterisch halten und ihrnoch weniger glauben würden. Sogar Halli, der dieselben Dingeerlebt hatte wie sie, versuchte immer öfter, sachliche Erklärungendafür zu finden, die meist so weit hergeholt waren, dass sie ansLächerliche grenzten. Er hatte ihre Meinung nie vollständig ak-zeptiert, aber aufgehört, dagegen zu protestieren, weil ihm keineandere Möglichkeit mehr blieb, als sich die merkwürdigen Ereig-nisse häuften. Immerhin musste man ihm zugutehalten, dass erstets hinter ihr gestanden hatte, obwohl ihre Ehe in der letztenZeit ins Wanken geraten war. Sie schienen zwar das Schlimmsteüberwunden zu haben, aber Hallis Arbeitszeiten waren reduziertworden, und obwohl Berglind eine angeblich sichere Stelle bei

12

Page 8: Unverkäufliche Leseprobe - fischerverlage.de · Fall wieder auf: Jakob, ein junger Mann mit Down-Syndrom, soll einen Brand in seinem Behindertenheim gelegt haben, bei dem fünf

der Regierung hatte, konnte man nie wissen, ob die nicht dochnoch von Kürzungen bedroht war.

Berglinds Augen gewöhnten sich rasch an die Dunkelheit, undsie verließ geräuschlos das Zimmer. Es würde nichts bringen, sichwieder hinzulegen. Sie wollte ein Glas Wasser trinken, nach Pésischauen und sich vergewissern, dass er tief und fest schlief. Dasreichte hoffentlich, um wieder müde zu werden. Wenn nicht,würde sie im Computer ein paar Patiencen legen oder im Internetsurfen, bis ihre Augenlider schwer wurden. Sie wusste, wie siesich mit etwas Sinnlosem, Stupidem ablenken konnte – sonst hät-te sie es kaum so lange in diesem Haus ausgehalten. Berglindversuchte, die Schlafzimmertür ohne Knarren hinter sich zuzu-ziehen. Als sie das Haus gekauft hatten, wollten sie sämtlicheTüren auswechseln, aber daraus war nie etwas geworden. ImFlur war es eiskalt, die Fliesen brannten unter ihren Füßen, undsie ärgerte sich, nicht nach ihren Hausschuhen gesucht zu haben.Tief im Inneren wusste sie, dass sie das nie getan hätte – sie warnoch lange nicht so weit, im Dunkeln neben ihrem Bett umherzu-tasten. Hoffentlich würde das irgendwann möglich sein. Hof-fentlich war wohl nicht das richtige Wort, es musste möglichsein. Sonst würde sie durchdrehen.

Das Wasser in der Küche war lauwarm, und Berglind ließ eseine Weile laufen. Währenddessen starrte sie hinaus auf die ver-traute Straße und die Häuser der Nachbarn auf der anderen Seite.Überall war es dunkel, nur in der Garage direkt gegenüber schienjemand vergessen zu haben, das Licht auszuschalten. Hinter ei-nem offenstehenden Fenster schwang ein russischer Kronleuch-ter in einer leichten Brise hin und her. Ansonsten lag die Häuser-reihe im Dunkeln. Der gelbliche Schein der Straßenlaternen reich-te nicht bis in die Gärten und erlosch hinter dem Bürgersteig.Dort begann die Finsternis. Berglind schaute hangabwärts überdie Hausdächer und vergaß das Wasser, während sie ihren Blicküber den Vesturlandsvegur schweifen ließ, bis zu der Stelle, ander die Straße unterhalb ihres Wohnviertels Richtung Kjalarnes

13

Page 9: Unverkäufliche Leseprobe - fischerverlage.de · Fall wieder auf: Jakob, ein junger Mann mit Down-Syndrom, soll einen Brand in seinem Behindertenheim gelegt haben, bei dem fünf

abschwenkte. Ein Auto fuhr vorbei, und Berglind meinte, einquietschendes Geräusch zu hören, als der Wagen durch die regen-nassen Fahrrillen rollte, die damals vielleicht ihren Teil zu demUnfall beigetragen hatten, obwohl ganz anderes Wetter gewesenwar. Die Straße musste dringend ausgebessert werden, aber in dernächsten Zeit würde wohl kaum etwas passieren. Berglind lösteihren Blick vom Fenster und hielt das Glas unter den Wasser-strahl.

Wenn sie doch nur die Weihnachtsfeier abgesagt hätten. In ih-rer Erinnerung hatten sie eigentlich gar keine Lust gehabt, sichaber von Freunden überreden lassen. Und wenn es doch andersgewesen war, wollte sie das gar nicht wissen – es war leichter, mitden Folgen klarzukommen, wenn andere dafür verantwortlichwaren, dass sie beschlossen hatten, sich schick zu machen, einenBabysitter zu besorgen und hinzugehen. Seitdem hatten sie keinenBabysitter mehr gebraucht. Ihre Freizeitaktivitäten beschränktensich auf das Haus und auf Orte, zu denen sie ihren vierjährigenSohn mitnehmen konnten.

Es war unmöglich, sich Abende vorzustellen, an denen sie sichamüsierten, während ein Babysitter ihr Kind betreute – nichtnach dem schicksalhaften Abend und den darauffolgenden Ereig-nissen. Zum tausendsten Mal zerbrach sich Berglind den Kopfdarüber, ob alles anders verlaufen wäre, wenn sie die Weih-nachtsfeier abgesagt oder zu Hause nichts getrunken hätten, umsich den Aperitif im Restaurant zu sparen, aber diese Überlegun-gen führten zu nichts. Sie hatten die Einladung angenommen undVorbereitungen getroffen, um abends ausgehen zu können. Berg-linds Blick wanderte automatisch wieder zum Fenster, und siestarrte auf den schwarzen Asphalt der Schnellstraße, die sich wieein dunkler Fluss an ihrem Viertel vorbeischlängelte. Sie schlossdie Augen, und in ihrem Kopf tauchte sofort wieder das Bildauf, das sie an jenem schrecklichen Abend gesehen hatte. DieBlinklichter des Krankenwagens und der Polizeiautos, die denblassen Schein der Lichterkette am Dachfirst des gegenüberlie-

14

Page 10: Unverkäufliche Leseprobe - fischerverlage.de · Fall wieder auf: Jakob, ein junger Mann mit Down-Syndrom, soll einen Brand in seinem Behindertenheim gelegt haben, bei dem fünf

genden Hauses im dichten Schneefall übertrumpften. DieselbeGewissheit, mit der Berglind rückblickend daran glaubte, dass sieeigentlich gar nicht an der jährlichen Weihnachtsfeier teilnehmenwollte, sagte ihr auch, dass ihr damals sofort klar gewesen war,dass der Unfall auf der Schnellstraße mit der Babysitterin zu tunhatte, die verspätet und noch nicht eingetroffen war.

Sie schlug die Augen auf und trank gierig Wasser. Die Gesich-ter der verzweifelten Eltern des Mädchens, die sie nach dem Un-fall ein paar Mal getroffen hatten, würden Berglind für den Restihres Lebens verfolgen, wahrscheinlich bis ins Grab. Selbstver-ständlich gab ihnen niemand die Schuld an dem Unfall, jedenfallsnicht direkt, aber Berglind sah in den tränennassen Augen derMutter, dass sie Berglind und Halli auf gewisse Weise dafür ver-antwortlich machte – dass sie die Einladung nicht hätten anneh-men oder die Babysitterin zumindest hätten abholen sollen.Dann hätte ihre Tochter die Straße nicht überquert und wärenoch am Leben. Sie war immer nur in ihr Wohnviertel gekom-men, um auf Pési aufzupassen. Aber weil Berglind und Halli sichhatten überreden lassen, befand sich das Mädchen genau zu derZeit an genau dieser Stelle, als ein skrupelloser Mensch sie über-fuhr, ohne sich noch einmal umzudrehen oder nachzuschauen,ob er dem Kind, das wie ein Häufchen Elend auf der Straße lag,vielleicht hätte helfen können. Der Fahrer und sein Wagen wur-den nie ausfindig gemacht, zum Zeitpunkt des Unfalls war andiesem Straßenstück kein Verkehr gewesen, und trotz wiederhol-ter Aufrufe in den Medien meldeten sich keine Zeugen. DasMädchen starb einsam auf dem vereisten Asphalt und atmeteschon nicht mehr, als der Fahrer des nächsten Wagens auf sieaufmerksam wurde. Er konnte froh sein, nicht über sie gefahrenzu sein, denn ihr schlanker Körper war bereits von einer dünnenSchneeschicht bedeckt. Berglind schloss die Augen wieder undrieb sie mit ihren klammen Fingern. Wie breit war ein Auto?Zwei Meter? Drei Meter? Der Weg vom Haus des Mädchens zuihnen betrug mindestens einen Kilometer, wenn nicht gar zwei.

15

Page 11: Unverkäufliche Leseprobe - fischerverlage.de · Fall wieder auf: Jakob, ein junger Mann mit Down-Syndrom, soll einen Brand in seinem Behindertenheim gelegt haben, bei dem fünf

Was für ein tragisches Schicksal, dass sie genau dann die Straßeüberquerte, als dieser rücksichtslose Fahrer angefahren kam.

Berglind öffnete die Augen und leerte das Glas. Obwohl derUnfall ihr immer noch zu schaffen machte, war der schrecklicheTod des jungen Mädchens nicht das Schlimmste. Diese Tragödieließ sich erklären: Etwa eine Tonne Stahl prallte mit hundertStundenkilometern auf ein fünfzig Kilo leichtes Mädchen. DasErgebnis war vollkommen logisch. Natürlich war es ein traurigesEreignis, aber dennoch ein Teil dessen, womit der Mensch zu-rechtkommen musste. Viel schwieriger war es, sich mit dem ab-zufinden, was dann folgte: Das Mädchen – oder vielmehr ihrGeist – schien beschlossen zu haben, ihr Versprechen, auf Pésiaufzupassen, einzulösen, sobald es dämmerte. Vielleicht durftesie nicht in Frieden ruhen, weil sie eines unnatürlichen Todesgestorben war. In den wenigen Horrorfilmen, die Berglind gese-hen hatte, wurden Menschen zu Wiedergängern, wenn ihr Todungeklärt war. Am Anfang verstanden Berglind und Halli nicht,was los war, und hielten die Aussagen des Jungen, Magga sei beiihm, für eine Folge ihrer Gespräche über den Unfall. Er war nochzu klein, um den Tod zu begreifen. Es war völlig normal, dassPési Magga vermisste; sie hatte auf ihn aufgepasst, seit er einJahr alt war, und er war total begeistert von ihr. Doch Berglindwurde mulmig zumute, als der Junge ständig wiederholte, Mag-ga gehe es schlecht, sie habe so viel Aua. Erst da spitzte sie dieOhren und schüttelte die Lethargie ab, die sie nach dem Unfallbefallen hatte. Allmählich häuften sich mysteriöse, unheimlicheVorfälle, bis die Sache nicht mehr zu verleugnen war.

Sobald es dämmerte, wurde es kühl im Kinderzimmer, und dieFensterscheibe beschlug. Sämtliche Versuche, die Heizung zu re-parieren, blieben erfolglos, der Installateur stand eine Stundelang herum, kratzte sich am Kopf und ließ sie dann ratlos zu-rück, mit einer Rechnung über vier Stunden Arbeitszeit. Das alteMobile, das über dem Bett des Jungen hing, bewegte sich, ob-wohl kein Luftzug im Raum war, und andauernd gab es Strom-

16

Page 12: Unverkäufliche Leseprobe - fischerverlage.de · Fall wieder auf: Jakob, ein junger Mann mit Down-Syndrom, soll einen Brand in seinem Behindertenheim gelegt haben, bei dem fünf

schwankungen; das Licht flackerte, und ständig mussten Glüh-birnen ausgetauscht werden. Sobald der Tag anbrach, wurde dieLuft im Raum drückend und änderte sich auch nicht, wenn mandas Fenster aufmachte. Es war, als ginge der Sauerstoff zur Nei-ge, und jeder Atemzug hinterließ einen ekelhaften, metallischenGeschmack im Mund. Für all dies konnte man logische Erklä-rungen finden. Das Haus war schon in die Jahre gekommen undmusste dringend renoviert werden. Andere Vorfälle ließen sichjedoch keineswegs auf den Zustand des Hauses schieben. Mor-gens waren Pésis Teddybären ordentlich aufgereiht, und seineKleider lagen gefaltet auf einem Hocker in der Ecke, obwohl sieam Abend vorher auf einem Haufen auf dem Boden gelegen hat-ten. Und das war noch nicht alles. Pési schreckte nachts oft jähaus dem Schlaf hoch, aber seine Eltern mussten ihm nicht etwaetwas zu trinken geben, ihn zurück ins Bett bringen oder beruhi-gen, sondern fanden ihn lächelnd in seinem Bett sitzend, mit denfolgenden Worten auf den Lippen: »Ihr müsst nicht aufstehen,Magga passt auf mich auf.«

Daraufhin holten sie ihn nachts zu sich, was dem Geist desMädchens zu missfallen schien. Ständig wachten sie auf, weildie Bettdecken ohne besonderen Grund langsam auf den Bodenrutschten. Unter dem Bett war ein kratzendes Geräusch zu hö-ren, erst kaum merklich, dann immer lauter und heftiger. DasGeräusch verstummte, sobald Halli aufstand, unters Bett schauteund schläfrig murmelte, das seien bestimmt die verdammtenMäuse. Aber er sah nie irgendein Tier. Dieselbe Kühle, die sie inPésis Zimmer wahrgenommen hatten, griff nun auf das Eltern-schlafzimmer über, ebenso wie die beschlagenen Fensterscheibenund die Stromschwankungen. Obendrein bildeten sich an derTürschwelle kleine Pfützen, die im Dunkeln aussahen wie Blut,sich aber bei Licht als Wasser entpuppten. Sie holten zwei Dach-decker, die aufs Dach kletterten, aber keine undichten Stellenfanden.

Im Nachhinein betrachtet war es unglaublich, wie lange sie

17

Page 13: Unverkäufliche Leseprobe - fischerverlage.de · Fall wieder auf: Jakob, ein junger Mann mit Down-Syndrom, soll einen Brand in seinem Behindertenheim gelegt haben, bei dem fünf

das alles ertragen hatten, ohne sich anderweitige Hilfe zu holen.Eines Morgens verkündete Berglind, sie halte es nicht mehr aus,das Haus würde sofort verkauft, unabhängig von der Wirt-schaftskrise und der Stagnation auf dem Immobilienmarkt. Alssie aufgewacht waren, hatte ihre Kleidung am Schrank im Schlaf-zimmer gehangen – und zwar nicht irgendwelche Kleidung, son-dern Hallis Anzug mit Hemd und Krawatte und ein dazu passen-des Kleid von Berglind. Genau dieselben Sachen, die sie an demAbend getragen hatten, als sie zu der Weihnachtsfeier wollten.Als sie ins Bett gingen, hatte definitiv noch nichts am Schrankgehangen. Halli war zum ersten Mal genauso entsetzt wie Berg-lind, was ihr noch mehr Angst einjagte. Er gab zu bedenken,dass sich ihre Lage durch den Verkauf des Hauses nicht unbe-dingt zum Besseren wenden würde, und anstatt der Verlockungnachzugeben, beschlossen sie, ein Medium zu Hilfe zu holen, umden Geist – oder was auch immer es war – zu vertreiben.

Das Medium meinte, eine geplagte, unzufriedene Seele in PésisNähe zu spüren, deren Anwesenheit sie aber nicht abwehrenkönne. Dasselbe behauptete eine Hellseherin, die ihnen eineCousine von Berglind nachdrücklich empfohlen hatte. Beide ga-ben ihre Einschätzung nicht umsonst ab, und die finanzielle Lageder Familie war nicht so rosig, dass sie die Dienstleistungensämtlicher Personen, die in den entsprechenden Kleinanzeigen-spalten der Zeitungen inserierten, in Anspruch nehmen konnten.Der letzte Ausweg war der Gemeindepfarrer, den sie zum letztenMal bei Pésis Taufe gesehen hatten. Der Mann war zunächstvorsichtig und schien das Ganze für einen Scherz zu halten. Berg-linds blanke Angst blieb ihm jedoch nicht verborgen, und er än-derte sein Verhalten, wollte aber nichts versprechen. Er besuchtesie ein paarmal und spürte die Kälte und die elektrische Ladungin Pésis Nähe am eigenen Leib. Daraufhin suchte er Rat beimBischof, und schließlich führte die Staatskirche die erste Haus-segnung seit über einem Jahrhundert durch, um einen Geist aus-zutreiben. Nachdem sie alle Zimmer durchschritten hatten, ver-

18

Page 14: Unverkäufliche Leseprobe - fischerverlage.de · Fall wieder auf: Jakob, ein junger Mann mit Down-Syndrom, soll einen Brand in seinem Behindertenheim gelegt haben, bei dem fünf

kündete der Bischof feierlich, die Seele des Mädchens würdenicht wieder in ihr Haus kommen. Und wer hätte es gedacht –genau so war es auch.

Im Handumdrehen fühlte sich alles ganz anders an, wobeiman schwer festmachen konnte, was genau sich verändert hatte.Die Atmosphäre im Haus war einfach wieder so wie früher. Na-türlich war es schwierig, nicht mehr ständig mit etwas Unheim-lichem in den eigenen vier Wänden zu rechnen, und es würdewohl einige Zeit brauchen, bis die Hände nicht mehr zitterten.Doch zweifellos würde die Zeit diese Wunde heilen, und Berglindgab sich mit einer langsamen, aber stetigen Besserung zufrieden.

Im ersten Stock knarrte das Parkett. Das Geräusch kam ausPésis Zimmer. Berglind stellte ihr Glas ab und drehte sich lang-sam um. Plötzlich hatte sie einen trockenen Mund, und die Gän-sehaut kam zurück. Verdammter Unsinn. Es würde wohl nocheine Weile dauern, bis sie sich komplett erholt hatte. Mit langsa-men Schritten ging sie die Treppe hinauf. Als sie an der Tür zumKinderzimmer angelangt war, hörte sie den Jungen leise reden.Anstatt zu lauschen, öffnete sie vorsichtig die Tür. Pési stand aufZehenspitzen am Fenster und spähte hinaus. Als er die Tür hörte,verstummte er und drehte sich um. Berglind schlug die Hand vorden Mund, als sie die beschlagene Fensterscheibe sah.

»Hallo, Mama.« Pési lächelte traurig.Berglind eilte zu ihrem Sohn und riss ihn unsanft vom Fenster

weg. Sie drückte ihn an sich und versuchte gleichzeitig, die Schei-be trockenzuwischen, aber die Dunstschicht verschwand nicht.Sie war von außen auf dem Glas.

Pési schaute seiner Mutter in die Augen. »Magga ist draußenund kann nicht rein. Sie möchte auf mich aufpassen.« Er zeigtezum Fenster und verzog das Gesicht. »Sie ist ein bisschen sauer.«

19