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Studie Urbane Lebenswelten Strategien zur Entwicklung großer Siedlungen IBA Berlin 2020

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  • StudieUrbane LebensweltenStrategien zur Entwicklung großer Siedlungen

    IBA Berlin 2020

  • URBANE LEBENSWELTEN STRATEGIEN ZUR ENTWICKLUNG GROSSER SIEDLUNGEN

    Dr. Andrea Benze Dr. Julia Gill Dr. Saskia Hebert subsolar* architektur & stadtforschung

    Studie und Projektrecherche für die IBA Berlin 2020 im Auftrag der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt

  • Urbane Lebenswelten Studie zur IBA 2020 Berlin 2 Benze, Gill, Hebert 2013

    impRESSUm

    Urbane Lebenswelten.

    Strategien zur Entwicklung großer Siedlungen Studie und Projektrecherche für die IBA Berlin 2020 im Auftrag der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung. Berlin im Februar 2013

    Verfasserinnen Dr. Andrea Benze Dr. Julia Gill Dr. Saskia Hebert subsolar* architektur und stadtforschung Pfarrstr. 139 10317 Berlin

    Ansprechpartnerin Dr. Saskia Hebert [email protected]

    mitarbeit Diana Bico Bastian Gerner

    Layout Susanne Stahl

    Dr. Andrea Benze ist Architektin und Stadtforscherin. Gemeinsam mit Anuschka Kutz leitet sie offsea - office for socially engaged architecture, London/Berlin. Offsea arbeiten an der Schnittstelle zwischen Architektur, Gesellschaftskritik, Stadt und Forschung. Mit Urban Portraits untersuchen sie persönliche Alltagsorte und biografische Ortsbindungen bei älteren Menschen (Pilotstudie im Rahmen des Stipendiums auf der Akademie Schloss Solitude 2012). Andrea Benze lehrt an der TU Berlin und zuvor an der University of Brighton und der Hochschule Johanneum, Graz. www.offseaworks.com

    Dr. Julia Gill ist freiberufliche Architektin und Wissenschaftlerin in Berlin. Sie promovierte bei Karin Wilhelm und Thomas Sieverts über Individualisierung und Standard im kommerziellen Eigenheimbau und forscht überwiegend im Bereich randstädtischer Phäno mene. Sie ist Mitglied im Netzwerk Architekturwissenschaft und lehrt Entwerfen und Architekturtheorie an verschiedenen deutschen Hochschulen, darunter an der TU Braunschweig und an der UdK Berlin. www.juliagill.de

    Dr. Saskia Hebert ist Architektin und gemeinsam mit Matthias Lohmann Geschäftsführerin von subsolar* architektur und stadtforschung in Berlin. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die ambivalente Relation zwischen gelebten und gebauten städtischen Räumen. Diese steht auch im Fokus des von ihr gegründeten lived/ space/lab an der UdK Berlin, das derzeit im Auftrag des Bezirks Lichtenberg ein experimentelles Beteiligungsverfahren im Sanierungsgebiet Frankfurter Allee Nord durchführt. www.subsolar.net & www.lived-space-lab.org

    http:www.lived-space-lab.orghttp:www.subsolar.nethttp:www.juliagill.dehttp:www.offseaworks.commailto:[email protected]

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    iNHALT

    0 EiNLEiTUNG 5

    1 SpEZiFiSCHE AUSGANGSLAGE UND THEORETiSCHER KONTEXT 7 1.1 BERLIN UND SEINE GROSSEN SIEDLUNGEN 7 1.2 URBANE STRUKTUREN: MISCHUNG, DICHTE UND IDENTITÄT 10 1.3 STADT ALS WOHNRAUM: LOKALE POTENZIALE UND TOPODIVERSITÄT 11

    2 STRATEGiEN EiNER DiFFERENZiERTEN STADTENTWiCKLUNG 14 2.1 BAULICHE STRATEGIEN 14

    Handlungsfeld 1: weniger = mehr Handlungsfeld 2: anders = besser Handlungsfeld 3: mehr = mehr Handlungsfeld 4: mehr = anders

    2.2 GESELLSCHAFTLICH-KULTURELLE STRATEGIEN 16 Handlungsfeld 1: Soziale Mischung Handlungsfeld 2: Partizipative Verfahren und Beteiligungsprozesse Handlungsfeld 3: Bildung Handlungsfeld 4: Künstlerische und temporäre Interventionen

    2.3 ÖKONOMISCHE STRATEGIEN 17 2.4 DIVERSE STRATEGIEN FÜR EINE DIFFERENZIERTE STADT 18

    3 FALLBEiSpiELE: pROJEKTSTECKBRiEFE 20 3.1 AUSWAHL DER FALLBEISPIELE 20 3.2 AUFBAU DER PROJEKTSTECKBRIEFE 20

    P01_WIMBY! HOOGVLIET (21)P02_X WOHNUNGEN (27)P03_FREEHOUSE ROTTERDAM (33)P04_OLEANDERWEG (39)P05_SCHORFHEIDEVIERTEL (45)P06_CAMPUS EFEUWEG (51)P07_HAUS DER JUGEND KIRCHDORF (57)P08_TREEHOUSES (63)P09_TOUR BOIS-LE-PRETRE (69)P10_SARGFABRIK (75)

    P11_TÖRNROSEN TOWER (81)P12_STADT:WERK:LEHEN (87)P13_MEHR ALS WOHNEN (93)

    PROJEKTÜBERSICHT: STRATEGIEN (99)

    4 FAZiT 101 4.1 RESUMEE DER UNTERSUCHUNG 101 4.2 EMPFEHLUNGEN FÜR EINE IBA BERLIN 2020 102 4.3 FAZIT 103

    ANHANG 105 LITERATURVERZEICHNIS (105)QUELLEN PROJEKTSTECKBRIEFE (106)BILDQUELLEN PROJEKTSTECKBRIEFE (107)

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    0 EINLEITUNG

    Internationale Bauausstellungen sind Experimentierfelder einer praktischen Reflexion über regionale Themen mit internatio-naler Bedeutung. Sie ermöglichen es, das aktuelle Verhältnis von Stadt und Gesellschaft, von Vergangenheit und Zukunft, von gebauten und gelebten Räumen nicht nur zu analysieren, sondern ein Stück weit auch zu verändern – eine Chance, die in jüngster Zeit an immer mehr Orten in immer kürzerem zeitli-chem Abstand genutzt wird.1

    Die Stadt Berlin hat mit Internationalen Bauausstellungen be-reits Erfahrung. Die Interbau im Hansaviertel war 1957 weitaus mehr als eine Leistungsschau der anerkannten Architekturpro-minenz: Sie war ein politisches Statement im geteilten Berlin, und sie war der bewohnbare Musterkatalog einer modernen, aufgeräumten Welt, die in erheblichem Kontrast zum kriegszer-störten Rest der Stadt stand. Die IBA 1987 leitete dreißig Jahre später vor allem mit dem Ansatz der kritischen Rekonstruktion die Abwendung vom Paradigma der Funktionstrennung (und der damit verbundenen Tabula-rasa-Mentalität) ein. Beide Ausstellungen fanden noch im geteilten Berlin statt, dessen Bewohner es stets verstanden, ihr eigenes Leben in den zahl-reich vorhandenen Nischen individuell einzurichten.

    Die Situation heute, noch einmal dreißig Jahre später, ist wie-der eine ganz andere: Als Hauptstadt mittlerweile selbstver-ständlich anerkannt, macht Berlin in Zeiten der Wirtschaftskrise eine (im positiven wie im negativen Sinne) rasante, aufholende Entwicklung im Bereich der Immobilienwirtschaft durch. Grund-stückspreise und Mieten steigen kontinuierlich, während immer mehr Menschen in die Stadt ziehen. Das passt zum weltweiten Trend der Urbanisierung: 2010 lebten erstmals mehr als 50% der Menschen in Städten, 2050 werden es voraussichtlich 75% sein. Auch Berlin wächst, und das wirft die Frage auf, ob es die dafür erforderlichen Qualitäten einer Ankunftsstadt (Saunders, 2011) hat, nämlich Offenheit für kulturelle Diversität und eine bauliche Form, die eine Teilhabe Einzelner am öffentlichen und politischen Leben gewährleistet.

    Mit fortschreitender Urbanisierung und im Zeichen von Klima- und demografischem Wandel steht auch das Wohnen erneut im Fokus des allgemeinen Interesses – und die Frage, welche „urbanen Lebenswelten“ wir haben und brauchen. Wie schon 1957 und 1987 ist das Wohnen damit Medium und Ziel eines Prozesses, dessen Ergebnisse am Ende nicht nur kurzzeitig ausgestellt, sondern langfristig angeeignet werden sollen – und das nicht nur im eigentumsrechtlichen Sinn. Eine rein (städte-)bauliche Herangehensweise kann es hier nicht geben: Gesell-schaftliche Probleme lassen sich nicht mit architektonischen Formen lösen, und die Komplexität langfristiger, nicht linear verlaufender Entwicklungen macht lernende Prozesse erforder-lich. Die zunehmende Individualisierung einer vergleichsweise wohlhabenden Stadtbürgerschaft und der allmähliche Rückzug der öffentlichen Hand aus der Steuerung städtischer Entwick-lungsprozesse werfen Fragen auf, schaffen aber auch neue Formate der Verständigung – und neue Grenzen.

    Die Leitfrage, der diese Studie nachgeht, ist die, ob sich „ur-bane Lebenswelten“ mit den städtebaulichen und architektoni-schen Mitteln von Mischung und (Nach-)Verdichtung gezielt er-zeugen lassen. Diese Frage impliziert zum Einen das (positive) Leitbild einer „gemischten Stadt“, die offen für verschiedene Formen und Formate des Zusammenlebens ist, zum Anderen aber auch eine Kritik an all jenen Gegenden, die vor diesem Hintergrund nicht „urban“ genug erscheinen, wie zum Beispiel die heterogenen, peripher anmutenden Gebieten der Draußen-stadt und die monofunktionalen Wohnsiedlungen der Moderne.

    Doch welche Definitionen des Urbanen, welche Konzepte des Städtischen und welche Wünsche an künftige Lebens-welten liegen dieser Kritik zu Grunde? Besteht „die“ Stadt nicht seit jeher aus ganz unterschiedlichen Bereichen, die jeweils ganz verschiedene Arten von Gemeinschaft, sozialer Interaktion und baulicher Form besitzen? Welche Qualitäten besitzen diese unterschiedlichen Räume, und wie kann man diese erfassen und entwickeln?

    Diese Studie präsentiert verschiedene Strategien zur Trans-formation und / oder Herstellung „urbaner Lebenswelten“, wobei ein Schwerpunkt auf Siedlungen und Siedlungs-Bau-steinen liegt. Anhand von dreizehn Fallbeispielen aus dem In- und Ausland und ihrem jeweiligen zeitlichen, räumlichen und gesellschaftlichen Kontext können einzelne Handlungs-felder dieser Strategien differenziert dargestellt und spe-zifische Werkzeuge und Methoden exemplarisch benannt werden. Anschließend werden diese Beispiele ausgewertet und im Hinblick auf ihre Vergleichbarkeit mit der Berliner Situation und eine Übertragbarkeit im Rahmen der IBA 2020 diskutiert.

    1 Nach der zweiten Berliner IBA fanden (und finden) bis heute statt: IBA Emscher Park (1989 bis 1999) und IBA Fürst-Pückler-Land (2000 bis 2010) zur identitätsstiftenden Nachnutzung von Industriefolgelandschaften, IBA Sachsen-Anhalt 2010 (2003 bis 2010) zur schrumpfenden Stadt, IBA Hamburg (2006-2013) zur Veränderung der kognitiven Stadtkarte, IBA Basel (2010 bis 2020) zur grenzüberschreitenden Entwicklung einer Region, IBA Heidelberg (2012 bis 2022) zum Thema Wissen und IBA Parkstad (2012 bis 2020) in den Niederlanden.

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    1 SpEZiFiSCHE AUSGANGSLAGE UND THEORETiSCHER KONTEXT In diesem ersten Kapitel der Recherche werden zunächst einige Begriffe erläutert, die für das Forschungslayout dieser Studie entscheidend sind. Nach einer kurzen Beschreibung des lokalen baulich-räumlichen Kontexts und einer typologischen Charakterisierung der großen Siedlung werden im zweiten Abschnitt die Begriffe Mischung, Dichte (oder Nachverdichtung) und urbane Strukturen diskutiert. Der dritte und letzte Abschnitt dieses Kapitels dient der Justierung der Instrumente und Blickwinkel: Hier wird erörtert, welche Perspektiven auf den bewohnten, städtischen Lebensraum existieren und inwiefern das für die Frage nach Erfolg und Misserfolg verschiedener Maßnahmen und Projekte eine Rolle spielt.

    1.1 BERLiN UND SEiNE GROSSEN SiEDLUNGEN

    Die aus verschiedenen dörflichen Kernen zusammengewachsene, polyzentrische Stadt Berlin2 ist bis heute maßgeblich durch ihre ausgedehnten, noch aus der Gründerzeit des 19. und 20. Jahrhunderts stammenden Mietshausgebiete charakterisiert. Diese bieten einen differenzierten, flexibel nutzbaren und relativ preisgünstigen Wohnungsbestand, der, anders als in anderen europäischen Städten, größtenteils aus Mietwohnungen besteht.3 Ein Großteil dieses Gebäudebestands befindet sich innerhalb des S-Bahn-Rings, der heute als Grenze der Inneren Stadt gilt. Anders als andere Städte ist Berlin auch in zentralen Lagen eine Wohnstadt geblieben, in der einige zentral gelegenen Bezirke trotz steigender Pro-Kopf-Wohnfläche4 eine außerordentlich hohe Einwohnerdichte aufweisen.5 Doch obwohl die Mietshausbebauung der Gründerzeit sehr homogen erscheint, gibt es noch zahlreiche andere Typologien des Wohnens – auch in der Inneren Stadt.6

    Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sind vor allem Siedlungen, also große, zusammenhängende, homogen geplante und gebaute Wohngebiete, die heute zwar selbstverständliche Teile von Städten sind, sich jedoch nicht unbedingt vollständig in deren morphologische und typologische Struktur einfügen. Das führte immer wieder zu Kritik – und zu der Forderung, die „failed cities“7 der Moderne abzureißen und an ihrer Stelle die historische Stadt (wieder) zu errichten.8

    Jane Jacobs, die mit ihrem 1963 erschienenen Buch über „Tod und Leben amerikanischer Städte“ eine der prominentesten Kritikerinnen von modernen Tabula-rasa-Reißbrettplanungen wurde (Jacobs, 1963), rief jedoch selbst zu einer differenzierten Betrachtung dieser Siedlungsstrukturen auf: „Das größte Hindernis bei der Sanierung von Siedlungen“, schreibt sie, „ist die grundsätzliche Einstellung, dass es Siedlungen sind, d.h. von der normalen Stadt losgelöste und getrennte Gebiete. ... Das Ziel sollte vielmehr sein, die Siedlung, diesen Flicken auf der Stadt, ins Gewebe der Stadt zurückzubringen und damit gleichzeitig das Gewebe selbst zu kräftigen“ (Jacobs 1963, S.

    199). Sie schlägt vor, nicht die bauliche Form der Siedlungen zu verändern, sondern ihre „städtische Mannigfaltigkeit“ zu för dern, so dass sich ihre Grenzen auflösen und sie „in die Lage versetzen, ihre Bewohner in freier Entscheidung festzuhalten“ (Jacobs 1963, S. 200). Doch wie kommt es zu diesem Appell? Warum hebt sich die ty pologische und die funktionale Struktur der (großen) Siedlung eigentlich so deutlich von benachbarten Arealen gründerzeitlicher Stadtquartiere ab? Eine Antwort auf diese Fragen gibt ein Blick in die Geschichte des Städtebaus.

    Die meisten Siedlungsprojekte des frühen 20. Jahrhunderts wurden aus einer kritischen Haltung gegenüber der dichten, eng bebauten Stadt entwickelt, die in der Folge einer zum Teil ungefedert ablaufenden Industrialisierung sehr schwierige

    2 Dieser heterogenen und polyzentrischen Struktur entspricht inder Stadtentwicklung ein spezifisches Monitoring-Modell, die „Lebensweltlichorientierten Räume“ (LOR), die 2006 gemeinsam zwischen den planendenFachverwaltungen des Senats, den Bezirken und dem Amt für StatistikBerlin-Brandenburg auf der Grundlage der von der Jugendhilfe bereits definierten Sozialräume einheitlich abgestimmt wurden. Siehe auch http://www.stadtentwicklung.berlin.de/planen/basisdaten_stadtentwicklung/lor/ (Zugriffam 27.11.2012). 3 Rund 86 Prozent, das entspricht 1,63 Millionen Wohnungen, sind

    Mietwohnungen (Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, 2011, S. 2) 4 Die durchschnittliche Wohnfläche pro Einwohner liegt in Berlin2011 mit 38,8 m2 im bundesweiten Vergleich eher im Mittelfeld: 2001 betrugdie durchschnittliche Wohnfläche pro Kopf bereits 42,8 m2 (1991 waren esnoch 34,9 m2). (Quelle: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, 2011, S. 2sowie Jones Lang Lasalle, 2011, S. 15) 5 Eine Gegenüberstellung der bezirksweise ausgewiesenen Einwohnerzahlen der amtlichen Statistik von 2007 und der Größe der Bezirke ergibt eine Bevölkerungsdichte von ca. 13.700 EW/km2 im reinen Innenstadtbezirk Friedrichshain-Kreuzberg, gefolgt von ca. 8.700 EW/km2 in Mitte, wozu auch der dicht bevölkerte Stadtteil Wedding zählt. In der Statistik folgen dann Neukölln (ca. 7.100 EW/km2), Tempelhof-Schöneberg (ca. 6.300 EW/km2), Charlottenburg-Wilmersdorf und Lichtenberg (beide mit ca.5.000 EW/km2). 6 Tatsächlich beträgt der Anteil der Wohnungen in Bauten der Gründerzeit (bis 1918) nur 27 Prozent. Die meisten Wohnungen in Berlin (58 Prozent) wurden zwischen 1945 und 1990 errichtet (Senatsverwaltungfür Stadtentwicklung, 2011, S. 2), einige davon auch in unmittelbarer Nähedes historischen Zentrums (Beispiel: die Zeilenbauten des Zweiten Bauab schnitts der Karl-Marx-Allee oder die „Ersatzneubauten“ nördlich der Bernauer Straße im Wedding). 7 Für das Scheitern der Städte der Moderne wird häufig das Bei spiel der 1972 aufgegebenen modernen Wohnsiedlung in Pruitt Igoe, Missouri angeführt. Die ca. 2.800 Wohnungen umfassende Bebauung ausden fünfziger Jahren war massiven Segregations- und Vandalismuserscheinungen ausgesetzt und wurde nicht einmal zwanzig Jahre nach ihrer Errichtung gesprengt. 8 Ein Beispiel für eine solche Herangehensweise in prominenterLage ist die Planung für die Neubebauung des Römerareals in Frankfurtam Main: „Das ehemalige Altstadtquartier zwischen Dom und Römer sollnach dem Abriss des Technischen Rathauses neu bebaut werden. Im Sinne von Stadtreparatur soll ein durch altstadttypische Dichte gepräg tes, kleinteilig strukturiertes Quartier entstehen. ... Es ist eine lebendigeNutzungsmischung angestrebt, die zur Belebung des Standorts beiträgt“(Quelle: http://www.stadtplanungsamt-frankfurt.de/dom_roemer_areal_5208.html?psid=xgyxzssivt, Zugriff am 25.11.2012).

  • Urbane Lebenswelten Studie zur IBA 2020 Berlin 8 Benze, Gill, Hebert 2013

    Lebensbedingungen und mangelnde hygienische Zustände produziert hatte. Man diagnostizierte einen Zusammenhang zwischen baulicher Form und gesellschaftlicher Problematik und ging davon aus, dass man letztere durch erstere beeinflus sen könne – und müsse.

    Auch die frühe Gartenstadtbewegung entstand aus einer ablehnenden Haltung gegenüber der komplexen, chaotischen und nur schwer zu kontrollierenden Großstadt, die zu jener Zeit vor allem Ankunftsstadt (Saunders, s.o.) für zigtausende ehe malige Landarbeiter war. Mit Ebenezer Howards Studie „Garden Cities of Tomorrow“ (Howard, 1902) wurde ein städtebauliches Modell populär, das sich zum Ziel gesetzt hatte, die Vorteile von Stadt und Land zu vereinen: Die „Land-Stadt“ sollte als Netzwerk zwischen über schaubaren Subzentren organisiert und mit der Umgebung verflochten sein, so dass sich Grund und Boden, Ackerfläche und Wohnbereiche optimal verzahnen. Howards Vorschlag vereinte ältere Idealstadt-Überlegungen mit ökologischen und ökonomischen Aspekten. Doch die angestrebte Teilhabe der Landstadt-Bevölkerung an einem besseren Leben erstreckte sich nicht auf die public domain als Sektor des Politischen: Hier blieb das um ein Zentrum gruppierte, geometrische Modell des städtischen Zusammenlebens klar hierarchisch. Vor allem der Reformwohnungsbau der Weimarer Republik entwickelt diesen Ansatz entscheidend weiter. In Berlin entstanden große, homogene Wohnsiedlungen gleich an mehreren Stellen – und wurden nach und nach außerordentlich erfolgreich in das „Gewebe der Stadt“ (Jacobs, s.o.) integriert. Sechs von ihnen zählen seit 2008 zum UNESCO-Welterbe.9

    Innerhalb kürzester Zeit wurden auf diese Weise beachtliche Kontingente von Wohnungen bescheidener Größe bereitgestellt, die durch ihre Einbettung in einen fließenden Grünraum und zum Teil ergänzt durch eigene Hausgärten deutlich besse re Lebensbedingungen für Bewohner und Bewohnerinnen mit geringem Einkommen boten als die übervölkerten Gründerzeit-quartiere. Die neuen Wohn- und Bauformen schienen den neu en politischen Verhältnissen und dem veränderten Machtgefü ge im Land zu entsprechen: Der Baustil der Moderne setzte zu einem programmatischen und typologischen Siegeszug über die gründerzeitliche Mietshausbebauung an, deren Schmuckelemente die hinter den Fassaden herrschenden, ärmlichen Verhältnisse nicht mehr kaschierten konnten.

    Mit dem Erfolg der Siedlungen der Zwischenkriegszeit wuchs das Renommee ihrer Erbauer, die oft keine akademische Ausbildung besaßen, sondern vor allem aus der Erfahrung einer langjährigen Praxis heraus agierten.10 Doch die Bestrebungen, Fragen der Bevölkerungsentwicklung, des Städtebaus und der Wohnfrage wissenschaftlich fundiert zu untersuchen, führte bald darauf zu einer Differenzierung der Betrachtungsweisen – und zu einer Trennung der Betrachtungsbereiche. Eines der wichtigsten (und heute noch in der BauNVO verankerten) Ziele einer wissenschaftlich fundierten Planung war die Entflechtung der einstmals kleinräumig stark durchmischten Funktionen der Stadt. Diese Forderung wurde unter anderem auch in der Charta von Athen verankert, dem Ergebnispapier des Vierten Internationalen Kongresses Moderner Architektur (CIAM) von

    1933. Diese besaß vor und nach dem Zweiten Weltkrieg großen Einfluss auf den internationalen Städtebau.

    Howards Land-Stadt-Modell ging im Paradigma der funktionsgetrennten, aufgelockerten Stadt auf, die zum neuen Leitbild der Stadtplanung wurde – und unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs überall dort implantiert wurde, wo dieser ausreichend große Lücken gerissen hatte. Doch die neue Typologie, das erkannte man bald, hatte gra vierende Nachteile: Vor allem die in herkömmlicher Bauweise schnell und unter Zeitdruck errichteten Zeilenbauten der 50er Jahre betonten die Zerstörungen zum Teil mehr, als sie zu kaschieren. Die parallele Entwicklung einer autogerechten Verkehrsinfrastruktur trug zusätzlich dazu bei, dass verbliebene, städtische Zusammenhänge zerfielen und räumliche Identität verloren ging – zumal die aufgelockerte Stadt aufgrund ihrer vergleichs weise geringe Dichte das eigentliche Problem, die Wohnungsnot der Nachkriegszeit, nicht in ausreichendem Maß lindern konnte.11

    Für die verbleibenden Reserveflächen der großen Städte wurden daher Ende der fünfziger Jahre bis dahin geltende Dichte-Obergrenzen außer Kraft gesetzt. Das bereits mehrfach modifizierte Gartenstadtmodell mutierte nun zur baulich-räum lichen Großform: In Ost und West entstanden Großsiedlungen, zumeist in industrieller Bauweise.12 Walter Gropius, der bereits in den 20er Jahren dafür plädiert hatte, das „Großhaus“ als Stadtbaustein zu nutzen und auf diese Weise mehr qualifi zierten Freiraum erhalten zu können, gab schließlich einer Siedlung seinen Namen, die für diese Haltung als beispielhaft gelten kann: die Berliner Gropiusstadt. Für die neuen, großen Siedlungen gab es keine Erfahrungen, auf die man hätte zurückgreifen können (Irion, Sieverts, 1991, Vorwort). Gleichzeitig machte die fortschreitende Spezialisierung der planenden Berufe zum ersten Mal Kooperationen über die Grenzen der eigenen Disziplin hinweg möglich und nötig. Es war zum Beispiel der Soziologe Edgar Salin, der auf dem deutschen Städtetag zu den dort anwesenden Architekten und Stadtplanerinnen über Urbanität referierte (Salin, 1960;

    9 Das sind die Gartenstadt Falkenberg in Treptow (1913–15, Bruno Taut), die Hufeisensiedlung Britz in Neukölln (1925–30; Bruno Taut und Martin Wagner), die Wohnstadt Carl Legien in Prenzlauer Berg (1928–30, Bruno Taut und Franz Hillinger), die Siedlung Schillerpark im Wedding (1924–30, Bruno Taut und Franz Hoffmann), die Weiße Stadt in Reinickendorf (1929–31, Bruno Ahrends, Wilhelm Büning und Otto Rudolf Salvisberg) und die Großsiedlung Siemensstadt in Charlottenburg und Spandau (1929–34, Otto Bartning, Fred Forbat, Walter Gropius, Hugo Häring, Paul Rudolf Henning und Hans Scharoun). 10 Dies galt auch für die Erbauer der heutigen Welterbesiedlungen: Taut, Salvisberg und Hoffmann besuchten zunächst nur – damals durchaus üblich – eine „Bauschule“. Gropius und Bartning brachen ihr Studium an der Technischen Universität vor dem Diplom ab. 11 Diese Entwicklung und die im Vergleich zu heute relativ schnell getroffenen Abrissentscheidungen in Bezug auf bestehende Gebäude führte dazu, dass vor allem die Bautätigkeit der Nachkriegszeit häufig als „Zweite Zerstörung“ der Städte bezeichnet wurde. 12 Auch dies war bereits ein Traum der innovativen Zwanziger Jahre, der damals jedoch aufgrund technischer Schwierigkeiten noch nicht umgesetzt werden konnte. Zum industriellen Bauen heute siehe auch die parallel zu dieser Studie entstandene IBA-Recherche „Serieller Wohnungsbau – Standardisierung und Vielfalt“ (Benze, Gill, Hebert, 2013).

    http:Bauweise.12

  • Urbane Lebenswelten Studie zur IBA 2020 Berlin 9 Benze, Gill, Hebert 2013

    siehe auch Kapitel 1.2, S. 10 ff.) und auf diese Weise anregte, sich nicht nur über die Errichtung, sondern auch über den Gebrauch gebauter Umwelt Gedanken zu machen.13

    Die großen Siedlungen waren von Beginn an ein Experiment, gleichermaßen Utopien und pragmatisch-wirtschaftliche Lösungen, die mit neuen, wissenschaftlichen Planungsmethoden aus einer Interpolation der alten Feldversuche mit der aufgelockerten Stadt hervorgehen sollten. Man war sich zu Beginn sehr sicher, dass diese neue Form der Stadt besser sei als die alte, für deren Erhalt man folglich nicht mehr kämpfte. Allerdings wich diese Sicherheit im Westen Deutschlands schon nach relativ kurzer Zeit einem massiven Zweifel, an dessen Entstehung die Ölkrise von 1973 gleichermaßen ihren Anteil hatte wie die sozialen Probleme, die in den neuen Siedlungen auftraten und ihre paradigmatische Äußerung 1978 in Christiane Felscherinows Bericht „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ fanden.14

    Im Osten Deutschlands wurde der industrialisierte Wohnungsbau bis 1989 fortgesetzt: Mangels Alternative und dank des im Vergleich zu den unsanierten Altbaugebieten höheren Wohnkomforts waren die Trabantenstädte und Siedlungen des Kom plexwohnungsbaus sogar lange Zeit relativ beliebt. Erst mit der Wiedervereinigung 1990 und den anschließenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen setzten auch hier Abwanderungs- und Segregationsprozesse ein, die nach einerÜbergangszeit in den 90er Jahren schließlich massive Rückbaumaßnahmen erforderlich machten.

    So waren die Großwohnsiedlungen bereits kurz nach ihrer Fertigstellung Geschichte: „Neue Städte dieser Größenordnung“, schreiben Irion und Sieverts 198415, „werden … in absehbarer Zukunft nicht mehr gegründet werden. So gesehen sind sie einer abgeschlossenen Phase der zentraleuropäischen Ent wicklung zuzurechnen und als in sich geschlossene Gebilde damit trotz ihres geringen Alters – sie sind noch nicht einmal finanziell abgeschrieben – zu einem Thema der modernen Stadtgeschichte geworden“ (Irion, Sieverts 1991, S. 9). Den Grund dafür sehen Irion und Sieverts unter anderem in den sozialen Problemen und einer mangelnden Adaptionsfähigkeit der Siedlungen: „Die weniger erfolgreichen Neuen Städte, insbesondere diejenigen der zweiten Generation aus den sechziger Jahren, die geprägt sind von industrialisierter Vorfertigung und hoher Dichte, leiden zum Teil jetzt schon, nach ein bis zwei Jahrzehnten, unter schweren sozialen, ökonomischen und technischen Problemen, die ihnen bisweilen den Ruf von Slums eingetragen haben, die dringend der Stadterneuerung bedürfen“ (Irion & Sieverts 1991, S. 9). Ihre Prob lemdiagnose geht über die Standardkritik der „Unwirtlichkeit“ (Mitscherlich, 1965) hinaus: Sie konstatieren, dass „die Eigen schaft des 'Fertigen', das konzeptionell kaum Entwicklungen zulässt, als schweres Hindernis bei der Anpasung an gewan delte Bedingungen“ gelten müsse (Irion, Sieverts 1991, S. 10).

    Parallel zur Problematisierung (und zur fortschreitenden Stig matisierung) des eben noch gefeierten neuen Wohnmodells, fand in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts die Rehabilitierung der einstmals verachteten Mietskasernenstruktur statt.Die nicht mehr von industriellen Emissionen, Überbelegung und allgemeiner Armut gezeichneten Gründerzeitquartiere er

    freuen sich seit Ende der 80er Jahre in ganz Berlin zunehmender Beliebtheit. Dieser bis heute ungebrochene Trend einer „Renaissance der Innenstädte“ (Häußermann, Siebel 1987, S. 11 ff.), der einer marktwirksamen „Abstimmung mit den Füßen“ gleichkommt, wirft die Frage auf, ob die urbanen Strukturen dieser funktionsgemischten, dicht bebauten innerstädtischen Quartiere in der einen oder anderen Weise auch auf die derzeit weniger beliebten Großsiedlungen der Moderne übertragen werden können – nicht zuletzt, um den Druck der anhaltenden Gentrifizierung auf die Gebiete der Inneren Stadt und ihre Be wohner und Bewohnerinnen zu verringern.

    Zugleich stellt sich die Frage, wie Fehler der Vergangenheit vermieden werden können, wenn wieder neuer Wohnraum benötigt wird: Wenn also, wie es in Berlin zuletzt in den Schlagzeilen zu lesen war, der Ruf nach der neuen Großsiedlung tatsächlich wieder zu hören ist.16 Denn die Wohnungsfrage,das hat auch der kurze Überblick bis hierher gezeigt, ist immer auch eine politische Frage – und zwar generell eine mit relativ hoher Sprengkraft. Die Frage nach neuen Siedlungen oder gar ganzen Städten ist dabei beleibe kein lokales Problem, im Ge genteil: Weltweit überziehen Neue Städte den Erdball; sie sind ganz klar das Modell der Zukunft.17

    Etwa ein Fünftel aller Berliner und Berlinerinnen leben in Großsiedlungen (etwa 700.000 Menschen in ca. 350.000 Wohnun

    13 Wie unmittelbar wirksam das war, lässt sich an der von Gerhard Boeddinghaus herausgegebenen Dokumentation zweier Fachtagungenerkennen, die 1963 und 1964 in Gelsenkirchen unter dem Titel „Gesellschaft durch Dichte“ stattfanden – ein Slogan, der zunächst provokativ gemeintwar, sich jedoch als äußerst eingängig erwies und möglicherweise zu der(stark vereinfachenden) Forderung nach „Urbanität durch Dichte“ geführt hat(Boeddinghaus, 1995). 14 Christiane Felscherinow veröffentlichte mit Hilfe zweier STERN-Autoren unter dem berühmt gewordenen Pseudonym „Christiane F.“ einenBericht über ihr Leben als minderjährige Prostituierte und Drogenabhängigeim West-Berlin der frühen 70er Jahre. Das Buch beginnt mit einerSchilderung der von ihr als anonym und kinderfeindlich empfundenenGropiusstadt, wo sie aufwuchs – und gab damit scheinbar jenen Recht,die der modernen Architektur der Siedlung eine negative Wirkung auf diesozialen Verhältnisse zuschreiben wollten.15 Ihre Studie über die „Neuen Städte“ ist Ergebnis eines DFG-

    geförderten Forschungsprojektes, das vor allem Ilse Irion in den Jahren 1981bis 1984 durchführte. Die zugehörige Publikation ihrer vergleichenden Studie„neuer Städte“ in vier Ländern erschien allerdings erst 1991. 16 So zum Beispiel in der Berliner MORGENPOST vom 11.11.2012(http://www.morgenpost.de/berlin-aktuell/article110910620/Berlin-brauchtdringend-mehr-neue-Wohnungen.html) und in der WELT vom 12.11.2012(http://www.welt.de/print/welt_kompakt/berlin/article110911250/Wirbrauchen-Grosssiedlungen.html. Etwa zeitgleich, auf dem Landesparteitagder niedersächsichen SPD, sprach der sozialdemokratische KanzlerkandidatPeer Steinbrück über die Wiederbelebung des sozialen Wohnungsbaus(http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/steigende-wohnkosten-mieterbund-warnt-vor-mittlerer-katastrophe-1.1520124). (Zugriff am 26.11.12) 17 Vor allem dieser internationale Fokus ist es, der INTI, das „International New Towns Institute“ in Almere (Holland) interessiert.Gründungsmitglied und Vorstand ist Crimson-Partnerin Michelle Provoost,die sich gemeinsam mit Wouter Vanstiphout schon vor Jahren mit derRevitalisierung einer (niederländischen) New Town beschäftigt hatte (sieheauch das Fallbesipiel WIMBY! HOOGVLIET). Seine Mission beschreibt dasInstitut folgendermaßen: „INTI is a research and knowledge institute whichfocuses on the history and regeneration of Western New Towns, with acommitment to improving the planning of present day New Towns worldwide.The research takes a wide angle approach, employing social sciences.“Crimson / INTI waren mit der New-Town-Studie „The Banality of The Good“auch bei der Architekturbiennale 2012 vertreten.

    http:26.11.12

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    gen).18 Während die Fachwelt über Gründe für das Scheitern dieser Siedlungen nachdenkt, (siehe oben, S. 7 und Fußnote 7) sind sie für ihre Bewohner und Bewohnerinnen alltägliche Realität – und damit längst auch eine ganz spezifische Form von Heimat (Bielka, Beck, 2012; sowie Abschnitt 1.3, S. 11 ff.). Stark wachsende Städte wie München und Hamburg oder Me tropolen mit Gentrifizierungsdruck wie Berlin beginnen daher, ihre Großsiedlungen nicht mehr nur als Problemzonen, sondern zugleich auch als räumliche Ressource, als Chance für eine qualitätvolle Entwicklung zu betrachten.

    1.2 URBANE STRUKTUREN: miSCHUNG, DiCHTE UND iDENTiTÄT

    In diesem Abschnitt wird kurz darauf eingegangen, wie die für diese Untersuchung relevanten Begriffe im gegebenen Kontext produktiv interpretiert werden können – auch wenn (oder gera de weil) es sich hier nicht um klare wissenschaftliche Termini handelt, sondern um gesellschaftlich geprägte Gebrauchswör ter mit unscharfer inhaltlicher Referenz.

    Bereits der Begriff „Urbanität“ ist nicht klar definiert. Edgar Salin, der ihn 1960 in den deutschen Stadtplanungsdiskurs einbrachte (Salin, 1960), definierte Urbanität soziologisch als Verhaltensweise und vermied es gezielt, Analogien oder gar Abhängigkeiten zwischen diesem Verhalten und gebauten Orten zu benennen. Für ihn waren Habitus und Habitat, Gewohnheiten und Wohnumgebungen, zwei völlig verschiedene Bereiche, zwischen denen keinerlei kausale Zusammenhänge existieren. „Lebensweisen und Mentalitäten“, schreibt der Stadttheoretiker Angelus Eisinger mit einer ähnlichen Zielrich tung, „können nicht einfach als Resultanten bestimmter bau licher Konfigurationen verstanden werden, sondern verhalten sich dazu kontingent“ (Eisinger 2004). Damit weisen beide auf die Unmöglichkeit hin, soziales Verhalten (oder soziale Verhältnisse) durch bauliche Strukturen zu prägen – und erteilen damit nicht nur den Kritikern, sondern auch den Befürwortern des modernen Städtebaus eine wichtige Lektion. Auch Walter Siebel, der bereits zu Beginn der „Renaissance der Städte“ (Häußermann, Siebel, 1987) danach fragte, was Urbanität heute sein könne, warnt davor, den Begriff als Zielvorstellung in den städtebaulichen Diskus einzubringen. Für ihn liegt die spezifische Qualität des Städtischen gerade nicht darin, dass eine bestimmte (zum Beispiel als urban empfunde ne) Lebensweise sich homogen über das gesamte Stadtgebiet ausbreitet, sondern im Gegenteil: „Die positiven Momente ei ner städtischen Lebenskultur“, schreibt er, „gehen immer dann verloren, wenn eine Seite ihrer Ambivalenz verabsolutiert wird, wenn die Dialektik von Heimat und Anonymität, von Aneignung und Entlastung negiert oder aufgehoben wird in einseitigen Rezepten einer städtischen Lebensform. Stadtkultur heißt vor al lem, Ambivalenzen zu ermöglichen und Widersprüche, wo sie nicht aufgehoben werden können, doch bewußt auszuhalten" (Häußermann, Siebel, 1987, S. 245).

    Urbanität – als soziologischer Begriff – erscheint demnach grundsätzlich ungeeignet, um stadträumliche Qualitäten zu fordern oder gar zu planen. Dennoch glauben viele Architekten und Stadtplanerinnen, Politiker und Stadtbenutzerinnen intuitiv

    genau zu wissen, was urbane Strukturen ausmacht: erkennbare Orte mit je eigener Atmosphäre, offen und zugänglich für jeden, kleinteilig und vielfältig in ihrer Nutzung und tags wie nachts belebt. Urbane Strukturen ermöglichen die Interaktion Einzelner mit der Menge und Begegnungen zwischen Einheimischen und Fremden, sie präsentieren die Stadt als Bühne, auf der sich das reale Leben ereignet. Urbane Strukturen schaffen Räume, die Identität besitzen oder stiften, sei es im Alltag oder in der Wiederkehr kollektiver Rituale, und sie ermöglichen jedem Anwesenden die Teilhabe und eine positive Bindung an diese gefühlte Realität.

    Wenn man sich auf diese populärwissenschaftliche Beschrei bung des Urbanen als Lebensgefühl, als Interaktions- und Begegnungsqualität einlässt, dann wird deutlich, dass die Wahrnehmung und Performanz urbaner Strukturen nicht zuletzt eine Frage der (eigenen) Präsenz und der individuellen Wahrnehmung ist. Die prächtigsten Fassaden und die breitesten Straßen würden uns kaum urban erscheinen, wenn sie menschenleer und still wären; hingegen können dicht bevölkerte, chaotisch und eng bebaute Kasbah-Strukturen urban wirken, obwohl ihre bauliche Dichte gering sein mag. Urbane Strukturen, so scheint es, müssen vor allem eine gewisse Dichte von Menschen aufweisen – oder aushalten. Erst in der anonymen Begegnung und im unwahrscheinlichen Zufall, in der Kunst der Improvisation (Dell, 2011) liegen die Chancen des Urba nen, der eigenen Biographie eine überraschende Wendung zu geben – und damit die Überschreitung vermeintlich vorge zeichneter Lebenspläne zu ermöglichen.

    Eisinger verweist jedoch auch für diesen performativen Urbanitätsbegriff auf die Grenzen, die diesbezüglich für die Planung und Entwicklung von Städten existieren. Er mahnt, „ … Urba nität nicht einfach mit einer bestimmten Dichte urbaner Inter aktionen gleichzusetzen. Dichte und Durchmischung erhöhen zwar die Intensität und Häufigkeit von Kontakten, können aber einzig die Wahrscheinlichkeit für bestimmte Verhaltensweisen erhöhen, programmieren aber lassen sich diese nicht.“ (Eisin ger, 2004). Auch Siebel und Häußermann sehen die Rolle der Planung nicht darin, bestimmte Arten von Urbanität an bestimmten Orten erzeugen zu wollen, sondern appellieren an die Bereitschaft zum Experiment – inklusive der Verpflichtung, daraus zu lernen. "Nicht, ob die Planung das wirklich Richtige tut,“ sagen sie, „sondern ob sie es gegebenenfalls auch wieder rückgängig machen könnte, nicht der Grad der Gewißheit, sondern ... der Grad der Revidierbarkeit bestimmt die Rationalität von Politik. Solchen Irrtumsvorbehalt und ironischen Möglichkeitssinn zu stärken, ist Aufgabe der Kritik an unseren Städten und ihrer Kultur. ... Und dieses Versprechen auf eine offene Zukunft ist der Kern dessen, was Stadtkultur und städtisches Leben aus macht." (Häußermann, Siebel 1987, S. 250)

    18 Quelle: Dokumentation einer Ausstellung des „KompetenzzentrumGroßsiedlung e.V.“, die am 05. November 2008 im Rathaus von Paris statt fand. (Kompetenzzentrum Großsiedlung e.V., 2008) Das Kompetenzzentrumist ein eingetragener Verein, der 2001 gegründet wurde, um „die ErfahrungenBerlins bei der nachhaltigen Erneuerung der großen Wohngebiete zu bündeln und an interessierte Partner in Deutschland und Europa weiterzugeben“(http://www.gross-siedlungen.de/de/20_Startseite.htm).

    http://www.gross-siedlungen.de/de/20_Startseite.htm

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    Die planenden Berufe sollten daher, fordert Eisinger, Stadt neu denken: „Wenn wir unter Urbanität mehr als einen Sammelbe griff für städtische Lebensweisen verstehen, wenn wir diesen Begriff also mit bestimmten normativen Eigenschaften wie Offenheit, Toleranz, Innovationsfähigkeit und Wandelbarkeit ausstatten, stellt sich die Frage, auf welche Weise eine solche Mentalität überhaupt entstehen kann. Wie die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zeigen, sind Architektur und Städtebau mit einer derartigen Aufgabe schlicht überfordert. Folgerichtig nähert sich die aktuelle urbanistische Diskussion deshalb der Stadt nicht mehr als dem Objekt der Architektur, sondern versteht sie als den Kontext, mit welchem Architektur interagiert, auf welchen Architektur ihre Konzepte bezieht, dem sie neue Potentiale zu verleihen versucht.“ (Eisinger 2004)

    Um diesen Kontext zu verstehen, genügt es nicht, Quotienten zu bilden: Das Errechnen von baulicher Dichte, Einwohnerdichte oder Begegnungswahrscheinlichkeit befördert nicht die Urbanität einer Struktur, sondern bestenfalls ihre finanzielle Kalkulierbarkeit. Auch das Kriterium der Mischung ist in diesem Zusammenhang unscharf: Die programmatische Mischung – als Angebot unterschiedlicher Räume für verschiedene Tätigkeiten –, kann zwar dazu beitragen, eine Diversität der Nutzun gen (mit) zu erzeugen, doch sind – auch das sieht man heute an den Bauten der Gründerzeit – häufig viel eher gesetzliche und gesellschaftliche Normen dafür verantwortlich, dass Plätze nur als Plätze und Wohnungen nur als Wohnungen genutzt werden können. Letztlich sind es die am Reißbrett geplanten Siedlungen selbst, die belegen, dass die genaue funktionale Zuordnung von Einrichtungen des täglichen Bedarfs (Schulen, Supermärkte, Arztpraxen) keine geheimen Orte übrig lässt und auch keine zufälligen Begegnungen generiert, sondern dass genau diese maßgeschneiderten Räume heute jene sind, die sich gegenüber einer möglichen Umnutzung als besonders widerständig erweisen. Schon allein deshalb kann man Urbanität an Orten, die diese nicht besitzen, nicht einfach „nachrüsten“;19 zumal man allenfalls ahnen, aber nicht wissen kann, was die gesellschaftlichen Wünsche in abermals dreißig Jahren sein werden: Es zeichnet sich ab, dass die Definition des Urbanen sich vor dem Hin tergrund des Klimawandels, fortschreitender Verstädterung und schwindender Ressourcen erneut verändern wird – und künftig, wie es die Soziologen beschreiben, keinen Lebensstil, sondern eine existentielle Rahmenbedingung bezeichnet. Es ist absehbar, dass vor allem Mobilitätskonzepte an diese ver änderten Bedingungen angepasst werden müssen, und dass die Verlagerung zahlreicher Aktivitäten in virtuelle Räume zwar nicht, wie einst befürchtet, zu einer Marginalisierung, wohl aber zu einem veränderten Gebrauch städtischer Strukturen führen kann. Die historisch gewachsene, kompakte Stadt wird dabei ebenso einer Revision bestehender Werte und Vorstellung unterzogen werden müssen wie die verdichteten Gartenstädte oder die suburbanen, zwischenstädtische Randgebiete.

    Urbane Strukturen als bauliche Rahmenbedingungen sind damit genau so wenig eindeutig planbar wie eine funktionale oder soziale Mischung verschiedener Programme und Personen. Sie können dennoch überall dort entstehen, wo der spezifische Charakter des Ortes, die Diversität der zur Verfügung stehen den Räume und die Bereitschaft der Bevölkerung dazu füh

    ren, dass Begegnungen stattfinden. „Urbanity“, formuliert die niederländische Künstlerin Jeanne van Heeswijk, „is founded on encounter … For example, the encounter of different ideas sparks new ideas. Urban qualities, a beating heart, shared his tory, social interaction and a sense of community are, indeed, all qualities that must grow and evolve; they cannot be planned on the drawing board or be built by a contractor."20

    Theoretische Untersuchungen zur Urbanität nicht zentral gelegener Orte gibt es bisher nur wenige, obwohl es nach dem bisher Gesagten auf der Hand liegt, dass die (allgemeinen baulichen) Vorstellungen von Urbanität stärker differenziert werden müssen, wenn es um Gegenden geht, die abseits der Zentren und doch in der Stadt liegen. Christa Kamleithnerund Susanne Hauser unternahmen es 2006, die „Ästhetik der Agglomeration“ zu erforschen (Hauser, Kamleither, 2006) und kamen dabei zu dem Schluss, dass Urbanität vor allem durch die Schaffung „zugänglicher Räume“ und „intensiver Orte“ be fördert werden könne – ein Programm, dass sie nicht nur, aber auch für zwischenstädtische Gegenden vorschlagen.

    1.3 STADT ALS WOHNRAUm: LOKALE pOTENZiALE UND TOpODiVERSiTÄT

    Stadt, so könnte man die Diskussion des vorangegangenen Abschnitts zusammenfassen, ist kein Zustand, den man erzeugen kann, sondern ein Prozess, der nie endet. An ihrer spezifischen Ausdifferenzierung sind nicht nur die lokalen Gegebenheiten und der Geist des Ortes21 beteiligt, sondernauch viele Menschen: Akteure aus Planung, Politik und Ökonomie und natürlich vor allem die Bewohner und Bewohnerinnen, die die Identität von Orten ganz wesentlich prägen. Eine besondere Herausforderung sowohl bei der Transformation, als auch bei der Neuerrichtung von Siedlungen und Stadtteilen ist daher nicht allein der Umgang mit der baulichen Substanz, sondern auch der mit den dort lebenden Menschen. Ihre individuellen Wohn-Biographien überlagern sich im öffentlichen Raum und verdichten sich zu einem spezifisch „gelebten Raum“ 22 oder Lebensraum, dessen Qualitäten zu erkennen, zu erfassen und zu entwickeln sind.

    Die Fähigkeit des Menschen, sich heimatlich in seiner Wohnumgebung zu verankern, ist nur zu einem Teil von deren baulicher Substanz und Form abhängig.23 Das Wohnen, phänome

    19 In diesem Sinn äußert sich ein Mitarbeiter der Initiative „ThinkBerlin“ im Interview mit der taz (15./16.9.2012), der unter der Überschrift„Urbanität kann man nachrüsten“ unter anderem empfahl, den „Cappucino-Belt“ auszuweiten. 20 zitiert nach: Jeanne van Heeswijk: het blauwe huis (http://www.blauwehuis.org/blauwehuisv2/?page_id=560, Zugriff: 09.10.2012) 21 Hier ist nicht nur die kunsthistorische Figur des Genius Loci,des Geistes, der einen Ort bewohnt, gemeint, sondern auch neuereForschungen, die Städten eine „Eigenlogik“ attestieren (z.B. Berking, Löw,2008). 22 Zur Gegenüberstellung von gelebten und gebauten Räumenund zum Verhältnis zwischen (phänomenologischer) Theorie und(architektonischer) Praxis siehe auch Hebert (2012a). 23 Zu den Zusammenhängen zwischen der räumlichen Gestalt vonOrten und ihrer Aneignung im Gebrauch vergleiche auch Andrea BenzesKartographie von „Alltagsorten in der Stadtregion“ (Benze 2012).

    http://wwwhttp:abh�ngig.23

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    nologisch als existentielle Form des „Zur-Welt-Seins“ (Merleau-Ponty, 1966) verstanden, ist ein existenzielles Grundbedürfnis. Dieses spezifische „Engagiertsein“ an bzw. in der eigenen Lebensumgebung, das unseren „Anhalt an der Welt“ (Merleau-Ponty, 1966) herstellt, ist Voraussetzung und Ergebnis erfolg reichen Wohnens. Ob man sich an einem Ort heimisch fühlen kann, ist damit nicht so sehr eine Frage der richtigen (oder falschen) Architektur, sondern vor allem eine Frage des Verhältnisses, das man zu ihr entwickelt.

    Auch die „Glücksversprechen“ (Dolff-Bonekämper)24 der Moderne werden nicht sofort und nicht ohne eigenes Zutun wirksam: Ein gelingendes Leben hängt von mehr Faktoren ab als nur der eigenen Wohnumgebung, auch wenn es für die eigene Biografie und die Selbstpräsentation nach außen durchaus von Bedeutung sein kann, wo man wohnt – und wie hoch das all gemeine Ansehen dieses Wohnortes bei Anderen ist.

    Auf diese grundsätzliche Weise betrachtet, endet das Wohnen nicht an der Wohnungstür: Nicht nur im world wide web, sondern auch außerhalb der „eigenen“ vier Wände legen wir Spu ren, hinterlassen Merkzeichen oder begegnen anderen Menschen, real und in unserer Vorstellung. Die „Stadt als Wohnraum“ (Hasse, 2010 und darin vor allem Janson, Wolfrum, 2010) ist mehr als ein Behälter, in dem die Grundbedürfnisse von Rekreation und Reproduktion befriedigt werden. Stadt, solchermaßen als Wohnraum verstanden, lenkt den Blick auf Aneignungsformen, die unterschiedliche Formen und Abstufungen haben können – als temporäre Inbesitznahme, vorüberge hende Zweckentfremdung oder biografische Zuschreibung. Jede Form des öffentlichen Engagements ist ein Statement, unter Umständen auch eines, das provozieren möchte. Bei der Transformation städtischer Lebensräume ist die Empfindung einer Einmischung von außen vorprogrammiert: Jeder Eingriff in die bewohnte Stadt verändert bestehende Zusammenhänge, verhindert alte und ermöglicht neue Begegnungen, modifiziert den eigenen, bereits angeeigneten Lebensraum jedes einzelnen dort ansässigen Menschen.

    Der gelebte Raum ist niemals leer: Auch wenn die vorhandenen Bezüge und Beziehungen, das Gespinst aus Bedeutung und Erinnerung und die individuellen Zuschreibungen, die an einem Ort vorhanden sind, für den Außenstehenden unsichtbar sind, prägen sie doch ganz wesentlich den Charakter und die Identität des Quartiers und zählen somit zu den spezifischen Qualitäten und lokalen Potenzialen des jeweiligen Kontextes. Wenn daher bestehende Strukturen transformiert werden sollen, um sie für mehr Menschen attraktiv zu machen, muss am Beginn dieser Transformationen eine sehr sorgfältige Prüfung der bereits vorhandenen Qualitäten stattfinden,25 um deren versehentliche Überschreibung zu vermeiden. Der hierfür erforderliche, analytische Blick muss, um die oben zitierte Forde rung von Jane Jacobs zu erfüllen, über den Tellerrand gehen: Über den der eigenen Profession, den des persönlichen kulturellen Hintergrunds und über die Grenzen des betrachteten Gebietes hinaus.

    Der Vorgang der Gewöhnung ermöglicht es Menschen an fast allen Orten der Welt, Bezüge zu ihrer Umgebung aufzubauen und sich heimatlich in ihr zu verankern. Ob (große) Siedlungen

    auch Heimat sein können, steht daher völlig außer Frage; zu diskutieren wäre allerdings, welche Qualitäten diese Heimat aufweist – und wie diese Qualitäten durch anstehende Transformationsprozesse hindurch erhalten oder im besten Fall sogar verstärkt werden können.

    Eine Konzentration der Analyse und der Planung auf zu kleine lokale Einheiten ist dabei ebenso zu vermeiden wie eine zu einseitige Festlegung auf bestimmte Formen und Formate gewünschter urbaner Strukturen: Gerade die Vielfalt der verschiedenen Lebensformen und –räume, die Topodiversität der Großstadt, ist (im Vergleich zu kleinstädtischen Strukturen) deren größtes Potenzial. Allerdings muss, damit jeder Stadtbewohner nach seinen individuellen Vorstellungen leben kann, eine gewisse Freizügigkeit gewährleistet sein – und die ver schiedenen Formen der Urbanität, die in einer Stadt existieren, sollten weder nivelliert, noch im Rahmen einer einseitig geführten Wertediskussion gegeneinander ausgespielt werden.

    Die bewohnte Stadt „gehört“ allen, was eine konsensuelle Entwicklung ihrer baulichen Form natürlich erschwert: Die Perspektiven auf, die Ziele für und die Wünsche an die Stadt unterscheiden sich, je nachdem, was man in ihr sieht – oder sucht. Gleichzeitig ergibt sich jedoch aus dem Kaleidoskop dieser Perspektiven ein offener Raum, in dem vieles möglich erscheint. Im folgenden Abschnitt wird erläutert, welche Me thoden und Strategien dafür eingesetzt werden können, diese (vorhandenen und verborgenen) Potenziale zu erkennen, zu entwickeln und zu intensivieren.

    24 Gabi Dolff-Bonekämper, Professorin für Denkmalpflege an derTU Berlin, fragt nach der „Heimatfähigkeit“ von Großsiedlungen (öffentlicheDebatte im Rahmen der Reihe „Stadt Wert Schätzen“ am 03. 09.2012 auf dem Tempelhofer Feld zum Thema „Umgang mit dem Erbe der Moderne“)und fordert einen sensiblen Umgang mit den Qualitäten großer Siedlungenan Stelle von pauschalen Urteilen und Verurteilungen. 25 Eine solche Analyse muss über die Erhebung statistischerDaten hinausgehen: Ansätze für partizipative Verfahren in der qualitativenStadtforschung sind heute nicht mehr ungewöhnlich. Künstlerische undkuratorische Praxen (z.B. Vorkoeper, Knobloch, 2012 und Krasny, Nierhaus,2008) verschränken und ergänzen sich hier mit qualitativer Forschung(Urban Portaits, Pilotstudie von OFFSEA – Andrea Benze und AnuschkaKutz, Akademie Schloss Solitude, 2012) und wissenschaftlichen Ansätzen(z.B. das von Saskia Hebert initiierte lived/space/lab an der UdK).

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    2 STRATEGiEN EiNER DiFFERENZiERTEN STADTENTWiCKLUNG Das städtebauliche Bekenntnis zur Topo- und Soziodiversität der Stadt, wie es die IBA 2020 formuliert, ist heute ein wichtiges und starkes Signal, denn der globale Trend ist ein anderer: Urbane Segregationsprozesse führen scheinbar zwangsläufig zur Entstehung homogener Inseln, die sich von anderen Inseln abgrenzen. Die Bereitschaft zum Aushalten von Widersprüchen (Siebel, s.o.) ist in der individualisierten Gesellschaft eher gering, daher müssen Strategien, die dem Leitbild der „gemischten Stadt“ folgen, diese Diversität sehr entschieden fordern und ganz sensibel fördern.

    Dabei sind heute Verschiebungen zu beobachten, die nicht nur die Rolle und die Zuständigkeit der am Entwicklungsprozess beteiligten Akteure betreffen, sondern auch die Orte selbst: Die Steuerung langfristiger Prozesse, früher ganz klar Aufgabe einer starken öffentlichen Hand, liegt heute mehr und mehr in den Händen privater Investoren, während auf der anderen Seite immer mehr Gruppen und lokale Akteure in langfristige (Planungs-)Prozesse involviert werden möchten. Planung kann hier die Rolle einer Moderation übernehmen, die einen Prozess offen gestaltet und begleitet, statt seinen Ausgang apodiktisch vorauszusagen.

    Das Nachjustieren bestehender Eigenschaften, die behutsame Diversifizierung bestehender Quartiere und die langfristig flexible Adaption städtischer Strukturen an neue technische und gesellschaftliche Standards sind wichtige Operationen, um Stadt dauerhaft bewohnbar zu halten. Marktorientierte Segregationsprozesse können langfristig zu negativen sozialen Entwicklungen führen; daher bleibt es eine wichtige Aufgabe, auch günstigen Wohnraum zu erhalten. Gerade in einer Stadt wie Berlin, deren im Vergleich mit anderen Großstädten geringe Mieten nicht unerheblich zu einem nun auch statistisch nachweisbaren Zuzug beigetragen haben, ist dies eine wichtige Frage: Obwohl die Kosten für Wohnraum im deutschlandweiten Vergleich hier immer noch niedrig erscheinen, liegen sie im Verhältnis zum verfügbaren Netto-Einkommen bereits heute im Spitzenbereich.26

    In diesem Zusammenhang spielen vor allem Bestandsbauten eine wichtige Rolle. Zum Einen besitzen bestehende Quartiere meist einen eigenen Charakter, der entwickelt werden kann, und zum Anderen stellen vorhandene Gebäude eine Ressource dar. In ihnen ist nicht nur Energie gebunden, sondern es lasten meist auch keine finanziellen Verbindlichkeiten mehr auf ihnen – ein Umstand, der allerdings gefährdet ist, wenn aufgrund neuer technischer Standards aufwändige Sanierungsmaßnahmen durchzuführen sind. Eine weitere, damit zusammenhängende „Ressource“, deren Energien zu nutzen sind, stellen die Bewohner und Bewohnerinnen dieser Bestandsbauten und –gebiete dar. Ihr Engagement und ihr Wissen sind wertvolle Quellen für eine nachhaltige Entwicklung, und es gibt heute zahlreiche Verfahren, dieses Wissen zu erschließen und dieses Engagement zu fördern.

    Grundsätzlich kann man drei Ebenen identifizieren, auf denen Eingriffe in die Struktur und den Charakter großer, zusammenhängender Wohnstandorte erfolgen können. Sie umfassen baulich-räumliche, gesellschaftlich-kulturelle und ökonomische Maßnahmen (siehe auch Greb, Kraft, 2011). Sie treten meist nicht isoliert, sondern in unterschiedlichen Kombinationen auf und sind sowohl für die Transformation bestehender, als auch für den Bau neuer Siedlungen und Stadtteile relevant. Die drei aus ihnen abgeleiteten städtebaulichen Diversifizierungs-Strategien werden in der Folge kurz beschrieben. Im darauf folgenden dritten Kapitel (S. 20 ff.) werden ihnen einige Fallbeispiele aus verschiedenen Ländern und unterschiedlichen stadträumlichen Kontexten zugeordnet.

    2.1 BAULiCHE STRATEGiEN

    Bauliche Strategien zur Entwicklung urbaner Strukturen umfassen verschiedene Handlungsfelder und -optionen. Sie gehören in der Regel – vor allem in Bezug auf größere Wohnungsbestände –, zu den kostenintensiveren Maßnahmen. Bauliche Transformationen benötigen, je nach Umfang und Grad der gewünschten Veränderungen, einen relativ langen Planungsvorlauf und auch eine relativ lange Umsetzungsphase. Sie greifen deutlich spürbar in die Lebenswelt und -wirklichkeit der Bewohner vor Ort ein. In der Regel gelten sie dafür als nachhaltig, den Status quo langfristig verändernd und werterhaltend. Der Umfang und die Reichweite von baulichen Maßnahmen zur Entwicklung oder zur Errichtung von Wohnquartieren kann sehr unterschiedlich sein und vom eher städtebaulichen Maßstab (ganze Siedlung, Stadtviertel) bis hin zum einzelnen Gebäude (Umbau, energetische Ertüchtigung) reichen.

    Der Vielzahl möglicher Anwendungsbereiche steht eine Vielzahl möglicher Einzelmaßnahmen und Förderprogramme gegenüber, die es erforderlich machen, für jedes einzelne Vorhaben eine genaue Analyse anzufertigen: Was in der einen Situation Sinn macht, kann für eine andere Siedlung falsch sein. Innerstädtische Gebiete unterliegen anderen Gesetzmäßigkeiten als Stadtrandlagen, und auch die Bewohner vor Ort können, abhängig von ihrem gesellschaftlichen Status und kulturellen Hintergrund, ganz unterschiedliche Bedürfnisse haben. Welche baulichen Maßnahmen sinnvoll sind, ergibt sich sowohl aus den ökonomischen Rahmenbedingungen, als auch ausden gesellschaftlichen Anforderungen, womit bereits die Überschneidungsbereiche zu den beiden weiter unten erläuterten strategischen Ansätzen benannt sind.

    26 Die Wohnkostenkarte 2012 des Immobilienverband Deutschland (IVD) zeigt, dass zwar die durchschnittlichen Mieten in Berlin mit 6,20 €/m2 deutlich unter denen von München liegen (10,70 €/m2), dass aber der Anteil am durchschnittlichen Nettoeinkommen mit 23,0% nur unwesentlich unter dem gleichen Wert in der bayrischen Landeshauptstadt liegt (23,7%) - und über denen aller anderen deutschen Großstädte.

    http:Spitzenbereich.26

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    Handlungsfeld 1: weniger = mehr In Deutschland hat es nach der Wiedervereinigung im Jahr 1990 große Wanderungsbewegungen gegeben, die eine Folge der Deindustrialisierung ganzer Regionen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR waren. Das bestehende Wohnungsangebot, das zu großen Teilen von industriell hergestellten Wohnblöcken geprägt ist, entsprach schnell nicht mehr den quantitativen, aber auch nicht mehr den qualitativen Anforderungen einer Bevölkerung, die nun erstmals seit Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr unter einem gravierenden Wohnungsmangel litt, sondern die Wahl zwischen unterschiedlichen Wohnorten und -modellen hatte (siehe auch Kil, 2005).

    So gab es in den 1990er Jahren Förderprogramme für den Eigenheimbau, während auf der anderen Seite die kommunalen Wohnungsunternehmen hohe Schuldenlasten zu tragen hatten und entsprechend wenig in Bestandserhaltung und -entwicklung investieren konnten. Stadtumbau-Förderprogramme dienten in erster Linie der Stärkung von Innenstädten und dem Ausbau der Infrastruktur, während in den großen Siedlungen eine Marktbereinigung und -anpassung durch den Rückbau von Wohnungen stattfand. Die damit verbundene Unsicherheit auf Seiten der Mieter und Mieterinnen trug dazu bei, dass viele Siedlungen in einen filtering-down-Prozess gerieten, der die sozialen und gesellschaftlichen Probleme noch verstärkte.

    Während in Teilen Deutschlands und vor allem in den Groß städten heute (wieder) ein Zuwachs der Bevölkerung zu ver zeichnen ist, betrifft das Phänomen der „Schrumpfenden“ Re gionen27 heute nicht mehr nur ehemals ostdeutsche Gebiete.28 Unter den Projekten, die im folgenden Kapitel exemplarisch mögliche Ansatzpunkte erläutern, befinden sich daher zwei erfolgreiche Projekte aus dem Programm Stadtumbau Ost, die jeweils sehr unterschiedlich mit den Gegebenheiten und dem Kontext des Bevölkerungsrückganges umgehen. Während sich das Projekt P04_OLEANDERWEG in Halle-Neustadt vor allem eine Ergänzung und Aufwertung des Wohnungsangebotes zum Ziel setzt, liegt der Schwerpunkt im Projekt P05_MARZAHN SCHORFHEIDEVIERTEL auf einer Qualifizierung des öffentlichen Raumes, dessen Umbau durch ein partizipatives Verfahren (Charrette29) entwickelt und gestützt wurde. Beide Projekte stehen für ein Konzept, das man in Anlehnung an den berühmten Ausspruch von Mies van der Rohe als „Weniger ist mehr“-Option bezeichnen könnte.

    Handlungsfeld 2: anders = besser Ein anderer Ansatz ist der, vorhandene Bauten abzureißen und durch neue zu ersetzen. In weiten Teilen der Niederlande, aber auch in Frankreich schien diese „Anders-ist-besser“-Option lange Zeit der erfolgversprechendste Weg zu sein, um soziale Probleme vor allem in Stadtrandlagen zu beheben (dies war zum Beispiel der Ursprung des Projekts P01_WIMBY! HOOGVLIET). Doch der reine Ersatz des einen Wohngebäudes durch ein anderes erscheint heute – vor dem Hintergrund schwindender Ressourcen und einem anstehenden Wandel der Mobilitäts konzepte –, wirtschaftlich und sozial problematisch: Die relativ hohen Kosten amortisieren sich nicht, der Energieeinsatz ist unangemessen hoch, und zudem werden auch auf der Ebene des gelebten Raumes, des bereits bewohnten Stadtgebietes,

    Schneisen geschlagen, die anschließend erneut angeeignet werden müssen. Dennoch kann das Ersetzen von Gebäuden ein städtebauli ches und gesellschaftliches Zeichen sein, wie beim Beispiel P07_HAUS DER JUGEND KIRCHDORF. Hier bekam ein vorhandenes, seit vierzig Jahren in einem provisorischen Flachbau untergebrachtes Jugendzentrum inmitten eines sozial schwachen Wohngebietes einen Neubau, der als Ausgangspunkt einer ambitionierten städtebaulichen Entwicklung30 und als Bekenntnis zu einer Verbesserung der Lebensbedingungen und -chancen von Jugendlichen im Stadtteil wahrgenommen werden kann. Hier ist Architektur Teil einer gesellschaftlich-kulturellen Strategie und Baustein eines Stadtmarketings, das den veränderten Rahmenbedingungen der wachsenden Stadt Rechnung trägt.

    Handlungsfeld 3: mehr = mehr Für die Entwicklung bestehender Wohnstandorte ist vor allem die folgende Vorgehensweise, die man im Gegensatz zu den bereits beschriebenen Herangehensweisen auch als „Mehr-ist-Mehr“-Option bezeichnen könnte, von Interesse. Sie beinhaltet verschiedene Möglichkeiten, den vorhandenen Bestand nicht nur zu respektieren, sondern sogar in die Transformation mit einzubeziehen und kann daher (ganz im Sinne des diesjähri gen Biennale-Konzepts „Reduce/Reuse/Recycle“ (Petzet, Heil meyer, 2012) als besonders nachhaltig gelten.

    Exemplarisch hierfür ist vor allem das Projekt P09_TOUR BOIS-LE-PRETRE, den Lacaton & Vassal mit Philippe Druot umgebaut haben. Hier konnten sie die von ihnen im Rahmen einer städtebaulichen Studie entwickelte „plus“-Strategie (Druot, Lacaton, Vassal, 2007) exemplarisch demonstrieren, indem sie ein Wohnhochhaus aus den 1960er Jahren durch eine vorgebaute Schicht aus Balkonen und Wintergärten er gänzten. Während bei diesem Projekt der generierte Flächenzugewinn keine höhere Dichte im Sinne der Bewohnerschaft erzeugte, da hier die vorhandenen Wohnungen einfach größer wurden,

    27 Der Bevölkerungsverlust vor allem in Klein- und MittelstädtenSachsen-Anhalts war Thema der IBA Sachsen-Anhalt (Ministerium fürLandesentwicklung und Verkehr des Landes Sachsen-Anhalt, 2010). Sieheauch (Hannemann, 2004 und Oswalt, 2005).28 „In den Städten der alten Bundesländer zeichnet sich immerdeutlicher ein wirtschaftlicher und demografischer Strukturwandel ab. Diesstellt die Kommunen vor die Herausforderung, auf diese Entwicklung auchvorbeugend städtebaulich zu reagieren. Deshalb hat die Bundesregierungbereits im Jahr 2002 mit der Unterstützung der Städte beim Stadtumbau inden alten Ländern begonnen und das Forschungsfeld 'Stadtumbau West'des Experimentellen Wohnungs- und Städtebaus (ExWoSt) gestartet. AufGrundlage dieser Erfahrungen legte die Bundesregierung im Jahr 2004 dasStädtebauförderungsprogramm 'Stadtumbau West' auf“ (Quelle: http://www.stadtumbauwest.info/, Zugriff am 30.11.2012). 29 Zum Charretteverfahren siehe den zugehörigen Projektsteckbriefund die ausführliche Publikation des Projektes in (Senatsverwaltung fürStadtentwicklung Berlin, 2011). 30 Die IBA in Hamburg Wilhelmsburg befasst sich schwerpunktmäßigmit einem Stadtteil, der erst durch die Entwicklung der Hafen-City auf demAreal der ehemaligen Speicherstadt in das Blickfeld der Stadtentwicklunggeraten ist. Metapher für die Wiederentdeckung und Neuerfindung desehemals zum Freihafen gehörenden Areals als Stadtgebiet ist der „Sprungüber die Elbe“ (siehe auch: www.iba-hamburg.de).

    http:www.iba-hamburg.dehttp://wwwhttp:Gebiete.28

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    steht das Hamburger Beispiel P08_TREEHOUSES in der Bebelallee für eine bauliche Nachverdichtung, die auch zu einem Zuzug neuer Bewohner und Bewohnerinnen geführt hat. Ziel war hier, die Bestandswohnungen zu ertüchtigen und die Mieter und Mieterinnen in diesen zu belassen, gleichzeitig aber mehr vermietbare Fläche und ein zusätzliches Wohnungs angebot (Familien mit Kindern) zu realisieren. Beides ist hier durch „Bauen auf dem Bestand“ (blauraum) geschehen. Beide Projekte schaffen zusätzlichen Wohnraum und tragen dazu bei, dass bestehende Wohnstrukturen dichter werden, ohne dass die Qualität der vorhandenen Wohnungen leidet. Allerdings bleibt es in beiden Fällen bei einer programmati schen Einseitigkeit: Eine Verdichtung mit gleichzeitiger Nutzungsmischung ist nicht zuletzt eine baurechtlich komplizierte Angelegenheit, weswegen programmatische Diversifizierung heute vor allem in (größeren) Neubau- und Ergänzungsprojek ten angestrebt wird.

    Handlungsfeld 4: mehr = anders Wichtig erscheint eine programmatischer Mischung verschiedener Funktionen, die „Mix“-Option, vor allem dann, wenn keine reine Wohnsiedlung, sondern das städtische Quartier als urbane, gemischte und nutzungsflexible Struktur entstehen (oder verbleiben) soll. Hierzu werden auf den folgenden Beispielseiten sowohl selbstinitiierte Projekte im Maßstab des einzelnen Stadtbausteins gezeigt (P10_SARGFABRIK), als auch größere städtebauliche Entwicklungsgebiete (P12_STADT:WERK:LEHEN und P13_MEHR ALS WOHNEN). Der erst kürzlich entschiedene Wettbewerb zum Malmöer Stadtteil Rosengård ist ein Beispiel für eine gemischte Nachverdichtung (P11_TÖRNROSEN TOWER), von der sich die Initiatoren eine Urbanisierung des vorhandenen, monofunktionalen Quartiers aus den Sechziger Jahren versprechen.

    2.2 GESELLSCHAFTLiCH-KULTURELLE STRATEGiEN

    In einigen der zuvor beschriebenen baulichen Ansätze wurde bereits deutlich, dass diese selten isoliert auftreten. Vor allem bei größeren Transformationsmaßnahmen, die in der Regel zur Vermeidung oder zur Beseitigung sozialer Missstände initiiert werden, ist eine Einbeziehung der Menschen vor Ort wichtig. Unter den gesellschaftlich-kulturellen Strategien gibt es ebenso wie bei den baulichen Maßnahmen verschiedene Handlungsfelder.

    Handlungsfeld 1: Soziale mischung Vor allem in Bestandsgebieten wird in der Regel darauf Wert gelegt, einer Homogenisierung der Bewohnerschaft entgegenzuwirken, die im Extremfall zur Ghettobildung oder zur Entstehung von Gated Communities führen kann. Auch bei reinen Wohn-Nachverdichtungen wird daher meist auf eine soziale Mischung Wert gelegt, die entweder durch die Schaffung neuer Eigentumsformen erfolgen kann oder bestehende Bewohnergruppen diversifiziert. Beispiele hierfür sind die P08_TREE HOUSES, die dem demographischen Wandel begegnen, und der Pariser P09_TOUR BOIS-LE-PRETRE, der die Wohngegend insgesamt aufwertet, ohne die vorhandenen Mieter und Mieterinnen zu verdrängen.

    Auch selbst initiierte Projekte wie die P10_SARGFABRIK, die Flächen geschaffen hat, die von Bewohnern des um liegenden Viertels mit genutzt werden können oder P12_ STADT:WERK:LEHEN, das sozialen Wohnungsbau mit Laden- und Galerienutzungen kombiniert, zielen auf eine kulturell und finanziell breit gefächerte Nutzer- und Bewohnerschaft.

    Handlungsfeld 2: partizipative Verfahren und Beteiligungsprozesse Ob und wie langfristig eine soziale Mischung im Gebiet erhalten werden kann, ist nicht allein eine Frage der städtebaulichen Konfiguration und der zufälligen, zeitlichen Entwicklung. So können beispielsweise Verfahren der Bewohnerbeteiligung relativ stabile Bindungen an das betroffene Gebiet herstellen und insgesamt zu einem aktiven Engagement beitragen – auch über die eigentliche Bau- oder Umbauphase hinaus. Ein erfolgreiches Beispiel hierfür ist zum Beispiel das im P05_ SCHORFHEIDEVIERTEL durchgeführte Charretteverfahren, wo Bürger im Rahmen mehrerer Workshops Ideen und Vorschläge zur Umgestaltung „ihres“ Wohnhofes machen konnten. Auch der Umbau des P09_TOUR BOIS-LE-PRETRE wurde von einer detaillierten Befragung der circa 100 Mietparteien begleitet, die auf diese Weise nicht nur während der Bauzeit im Gebäude verbleiben, sondern auch Einfluss auf die Maßnah men in ihrer Wohnung nehmen oder innerhalb des Gebäudes umziehen konnten.

    Zunehmend werden Beteiligungsprozesse nicht erst dann begonnen, wenn Probleme bereits entstanden sind, sondern bereits im Vorfeld von Baumaßnahmen. So verfügt beispielsweise das genossenschaftliche Projekt P13_MEHR ALS WOHNEN über eine ausgefeilte Partizipationsstruktur, die unter anderem auf Erfahrungen der Stadt Zürich zurückgreift (Eisin ger, Reuther, 2007). Hier finden in regelmäßigen Abständen Planungs- und Vermittlungsworkshops mit Laien und Experten statt, die von Echogruppen begleitet werden. Der gesamte Prozess wird kontinuierlich dokumentiert und auf einer Internetplattform transparent dargestellt, so dass nicht nur aktuelle Informationen entnommen, sondern auch Daten und Fakten für wissenschaftliche Untersuchungen verfügbar gemacht werden können.

    Auch im Projekt P10_SARGFABRIK, das die Struktur einer Großbaugruppe hatte, wurden eigene Regeln erarbeitet, um einerseits Entscheidungen fällen zu können, andererseits aber zu gewährleisten, dass die Mitglieder der Gruppe Mitsprache-und sogar Vetorechte hatten. Im P12_STADT:WERK:LEHEN gab es ebenfalls bereits vor der Bauzeit eine Steuerungsgruppe, innerhalb derer ein Soziologe und ein Quartiersmanager nicht nur mit der künftigen Bewohnerschaft, sondern auch mit den zukünftigen Nachbarn aus dem Stadtteil arbeiteten. Pionierarbeit auf diesem Gebiet leistete unter anderem P01_ WIMBY! HOOGVLIET, das mehrere Projekte mit Akteuren vor Ort und aus deren Bedürfnissen heraus entwickelte. Wenn diese Akteure nicht Einzelpersonen, sondern Institutionen und Organisationen sind, ergibt sich allerdings häufig eine komple xe Interessenlage, die zu langwierigen und mühsamen Aushandlungsprozessen führen kann. Dies betrifft oftmals gerade jene Projekte, die das nun folgende Handlungsfeld „Bildung“ bestimmen.

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    Handlungsfeld 3: Bildung Bildung kann zu einem zentralen Thema werden, wenn es um gezielte Verbesserungen der Chancen von ortsansässigen Kin dern und Jugendlichen gehen soll, aber auch dann, wenn Bildung, wie im Beispiel P07_HAUS DER JUGEND KIRCHDORF zu einem Leitthema der Stadtteilentwicklung erklärt wird. Mit dem Ziel, den Stadtteil Wilhelmsburg auch für Menschen mit mittleren und höheren Einkommen attraktiv zu machen, wird hier, ähnlich wie beim Campus-Projekt in Hoogvliet oder der Berliner Rütli-Schule, eine Konzentration und Qualifikation bestehender Einrichtungen angestrebt. Auch beim Projekt P06_CAMPUS EFEUWEG ist dies, parallel zu einer funktionalen Mischung und einer geplanten Nachverdichtung, erklärtes Ziel der Behörden. Hier liegt noch ein zusätzlicher, innovativer Ansatz darin, Universität und Praxis miteinander zu verzahnen.

    Handlungsfeld 4: Künstlerische Ansätze und temporäre interventionen Eine besondere Variante der Arbeit mit lokalem kulturellem Kapital stellt das Projekt P01_FREEHOUSE in Rotterdam dar, das im stark von Einwanderung geprägten Rotterdamer Afrikaander-Viertel mit handwerklichen und gastronomischen Angeboten in, aus und für die Bewohner und Bewohnerinnen operiert. Zentraler Kern des städtebaulichen Wirkungsraumes ist ein Markt, der zwei Mal wöchentlich stattfindet und den die Freehouse-Aktivisten den „Markt von Morgen“ nennen, weil er der „öffentlichen Domäne“ Raum gibt und den Bewohnern des Viertels Kompetenzen zuspricht, die diese (in mehrfacher Hin sicht) gewinnbringend einsetzen können.

    Während dieses spezielle Modell auf einem relativ langfristi gen Engagement einer Steuerungsgruppe von Außenstehenden basiert, besitzen gesellschaftlich-kulturelle Projekte und Strategien auch den Vorteil, dass sie sehr spontan, sehr kurzfristig und sehr intensiv in vorhandenen Strukturen wirken können. Temporäre Eingriffe und Ereignisse wie zum Beispiel das Experiment einer Kreuzung aus Theater und Großsiedlung im Projekt P02_X WOHNUNGEN können nicht nur die Sicht auf das betreffende Gebiet (in diesem Fall das Märkische Viertel in Berlin) verändern, sondern auch die Sicht aus dem betreffenden Gebiet hinaus: Eine Konfrontation zwischen Kunstpublikum und Einheimischen, wie sie hier (und an anderen Or ten) für einen begrenzten Zeitraum stattfand, fördert eine Identifikation mit dem eigenen Viertel bei allen, die daran teilneh men – und das möglicherweise nachhaltiger, als zum Beispiel die Neugestaltung eines Spielplatzes.

    2.3 ÖKONOmiSCHE STRATEGiEN

    Bei allen vorgestellten Ansätzen und Beispielen unterscheiden sich nicht nur der örtliche Kontext und die gewählten Ansätze, sondern auch die Akteure – und ihre Interessen. Es macht einen Unterschied, wer Eigentümer oder Eigentümerin, Investor oder Investorin und Nutzer oder Nutzerin der durchgeführten baulichen und gesellschaftlichen Maßnahmen ist, und demzufolge sind auch unterschiedliche Formen der Förderung und der Finanzierung sinnvoll. Initiatoren von stadträumlichen Transformationsprozes

    sen sind dabei nicht zwangsläufig die öffentliche Hand (P12_STADT:WERK:LEHEN, P07_HAUS DER JUGEND KIRCHDORF) oder städtische Wohnungsbaugesellschaften (P05_SCHORFHEIDEVIERTEL, P06_CAMPUS EFEUWEG, P09_TOUR_BOIS-LE-PRETRE), sondern dies können auch Genossenschaften (P13_MEHR ALS WOHNEN), ein privater Grundbesitzer (P08_TREEHOUSES) oder eine Gruppe von Einzelindividuen (Baugruppen) sein (P10_SARGFABRIK). Während für genossenschaftliche Projekte keine Rendite aus Immobiliengeschäften erwirtschaftet werden muss, unterliegen private Investitionen einem höheren Druck und führen häufig zu höheren Mietkosten – doch auch hier bestätigen Ausnahmen die Regel.

    Natürlich können bauliche und gesellschaftlich-kulturelle Maßnahmen nur dann erfolgreich sein, wenn sie auch aus ökonomischer Sicht sinnvoll erscheinen. Dabei gilt nicht, dass die kostengünstigste Variante immer die beste ist: Auch bei einer erforderlichen Sanierung oder einer energetischen Optimierung von Bestandsbauten kann eine „plus“-Strategie (s.o. S. 15) sinnvoll sein. So konnte bei den P08_TREEHOUSES die vermietbare Flä che (im Interesse des Eigentümers) nahezu verdoppelt wer den, während sich der Primärenergieeinsatz (im Interesse der Mieter und Mieterinnen sowie der Umwelt) etwa auf die Hälfte reduzierte (Angabe: blauraum). In Paris konnte die Erweiterungsfläche des P09_TOUR BOIS-LE-PRETRE dank einer deutlichen Senkung der Betriebskosten ebenfalls kostenneutral durch die Mieter und Mieterinnen übernommen werden (Angabe: Lacaton, Vassal & Druot Architekten). Hier wurden die Baukosten zudem mit dem sehr viel höheren Budget verglichen, das für einen kompletten Abriss und Neubau erforderlich gewesen wäre. Und selbst vergleichsweise teure Umbauten wie der im P04_OLEANDERWEG in Halle-Neustadt rechnen sich dann, wenn beispielsweise neue Eigentumsformate geschaffen und dadurch kostengünstige Mietanteile gehalten werden können (dort nicht durchgeführt), oder wenn ganz einfach die vorhan dene Substanz werthaltig erneuert und neuen Nutzungen zugeführt werden kann.

    Während damit in Bezug auf das einzelne Gebäude oder die kleine Wohnsiedlung einzelne Maßnahmen auch im wirtschaftlichen Sinn darstellbar werden,31 ist die Kosten-Nutzen-Rechnung bei Projekten im öffentlichen Raum, bei künstlerischen und kulturellen Initiativen oder Bildungsprojekten nicht gleichermaßen einfach anzustellen. Doch auch hier kann nicht nur in Hinblick auf die teurer werdenden Energie- und Nebenkosten davon ausgegangen werden, dass gezielte Investitionen nachhaltiger sein können als der Erhalt des Status Quo, sondern es ist auch eine Frage der sozialen Gerechtigkeit und einer funktionierenden Gesellschaft, wenn alle Mitglieder von Umbau- und Aufwer

    31 Über eine umfangreiche Projektdatenbank, die vor allem fürEigentümer von Wohnimmobilien eingerichtet wurde, verfügt zum Beispieldas Berliner „Kompetenzzentrum Großsiedlungen“ (siehe auch Fußnote 18).Hier werden insbesondere Fallbeispiele des Stadtumbau Ost gesammelt und ausgewertet.

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    tungsmaßnahmen profitieren können. Dies wird in den klassi schen Formaten des geförderten öffentlichen Wohnungsbaus (P12_STADT:WERK:LEHEN) genau so angestrebt wie in den genossenschaftlichen Projekten der Schweiz, wo hohe Mieten und hohe Baukosten seit jeher die Solidargemeinschaft herausfordern (P13_MEHR ALS WOHNEN). Nicht zuletzt ist eine gute Ausstattung von Wohnvierteln mit Einrichtungen für Bildung, Kultur und Konsum von gegenseitigem Interesse: Bei eingeschränkter (eigener oder gesellschaftlicher) Mobilität ist die funktionsgemischte Stadt der kurzen Wege ein attraktives Modell, das auch bei größeren Investitionen in Gebäude und Infrastruktur deren langfristigen Werterhalt garantiert (P11_TÖRNROSEN TOWER).

    Ein willkommener Nebeneffekt aller hier vorgestellten Maßnahmen ist ein psychologischer, dessen monetäre Auswirkung sich nur schwer beziffern lässt: Mit dem Gefühl einer Aufwertung des eigenen Stadtteils, der Ent-Stigmatisierung großer, zusammenhängender (Wohn-)Gebiete, gehen nicht nur ein neues Selbstbewusstsein (und damit eine verbesserte Lebensquali tät) einher, sondern es ergeben sich auch neue Möglichkeiten der Außendarstellung, die wiederum Investoren und neue Bewohner anziehen können. Insofern sind auch rechtliche und diskursive ökonomische Instrumente wie beispielsweise Eigentümer-Standortgemeinschaften (ESG) keine Wohltätigkeitsveranstaltungen, sondern im positiven Sinn Beiträge einer stabilen Stadtentwicklung: Hier können viele kleine Betriebe und Geschäfte sich zusammen schließen und auf die Entwicklung des öffentlichen Raumes EInfluss nehmen – nicht zuletzt in ihrem eigenen Interesse.

    2.4 DiVERSE STRATEGiEN FÜR EiNE DiFFERENZiERTE STADT

    Für eine langfristig erfolgreiche Transformation sind einzelne Maßnahmen und isolierte Perspektiven nicht zielführend. Projekte des einen Handlungsfeldes führen nur dann zum Erfolg, wenn sie Aspekte aus anderen Handlungsfeldern mit einbeziehen – und gerade bei der Frage nach dem „Erfolg“ ist zu be denken, dass dieser von den verschiedenen Akteuren mit ganz unterschiedlichen Erwartungen verglichen und an verschiedenen Skalen gemessen wird. Während es für Städte und Grundeigentümer insgesamt von Vorteil sein kann, wenn sich Schmuddelecken zu 1a-Lagen entwickeln, sehen sich die dort lebenden Bewohner von Gentrifizierungs- und Verdrängungsprozessen bedroht. Allerdings zeigen die Fallbeispiele, dass diesen negativen Nebenwirkungen mit einem differenzierten Ansatz auch begegnet werden kann, so dass letzten Endes alle Beteiligten von den umgesetzten Maßnahmen profitieren. Hier gilt es, unter Anwendung der beschriebenen Strategien maßgeschneiderte Modelle zu entwickeln, um eine Balance zu halten zwischen Verbesserungen der baulichen Substanz, den Gesetzen der Immobilienwirtschaft und dem gesellschaftlichen Ziel, unterschiedliche Lebensweisen in der Stadt zu ermöglichen. Die begrüßenswerten Ansätze, partizipative Verfahren in die Stadt- und Quartiersentwicklung zu integrieren, können auf der anderen Seite neue bürokratische Strukturen fördern und privilegierte Gruppen dazu ein laden, die eigenen Interessen

    durchzusetzen – während die „öffentliche Hand“ sich immer mehr aus der qualitativen und quantitativen Steuerung der Wohnraumentwicklung zurückzieht. Wichtig ist in jedem Fall sein, die verschiedenen Verfahren und die begonnenen Experimente zu dokumentieren und überprüfbar zu machen, so dass eine kontinuierliche und kritische Evaluation der jeweiligen Prozesse möglich ist. Insgesamt können alle hier vorgestellten Strategien nur vor dem Hintergrund und in Kongruenz mit einem entsprechenden politischen Interesse wirksam werden. Denn nur auf dieser Ebene können Regeln geändert und Planungen beauftragt werden, die innovative Formate erzeugen.

    An den nun folgenden Fallbeispielen wird deutlich, dass Stadtentwicklung keinem Patentrezept folgen kann. Jedes Gebiet ist anders: „Wir dürfen uns eine solche Siedlung nicht von au ßen anschauen“, sagt Jean-Philippe Vassal, „die Arbeit findet von innen heraus und mit den Bewohnerinnen und Bewohnern statt. Das Leben dieser Familien, der Menschen vor Ort, sind ein Reichtum. Hier fängt Stadtplanung an“ (zitiert nach dem IBA-Symposiumsmitschnitt „Leben mit Weitsicht“, 2012).

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    3 F ALLBEiSpiELE:pROJEKTSTECKBRiEFE In diesem Kapitel werden dreizehn Fallbeispiele vorgestellt, die Aspekte der zuvor erläuterten Strategien und Handlungsfelder exemplarisch verdeutlichen. Ihre Auswahl erfolgte anhand von Veröffentlichungen und zum Teil auch eigenen Besichtigungen. Es handelt sich um Projekte unterschiedlicher Planungs- und Laufzeit aus insgesamt neun Städten und sechs europäischen Ländern, die von verschiedenen Akteuren initiiert wurden. Unser Fokus liegt bei allen Beschreibungen auf dem Aspekt des Gebrauchs, was vor allem bei den neueren, zum Teil noch nicht realisierten Projekten einen spekulativen Aspekt beinhaltet: Hier weiß man zum Teil noch nicht, ob die getroffenen Annahmen und die ergriffenen Maßnahmen letztlich auch zu den angestrebten Lebensräumen führen werden.

    3.1 AUSWAHL DER FALLBEiSpiELE

    Die meisten Projekte sind bereits abgeschlossen (acht von dreizehn). Das älteste Fallbeispiel, P01_WIMBY! HOOGVLIET, geht auf eine Initiative aus den späten neunziger Jahrenzurück. Für das jüngste Projekt, den P11_TÖRNROSEN TOWER, wurde gerade erst der Wettbewerb entschieden (Ende 2012).

    Auch die Akteure variieren: Während manche Projekte von Künstlern und Künstlerinnen oder kulturellen Institutionen initiiert waren und wenig bis gar keine baulichen Veränderungen erzeugt haben (P03_FREEHOUSE und P02_X Wohnungen), sind bei anderen öffentliche Einrichtungen (P07_HAUS DER JUGEND und P12_STADT:WERK:LEHEN) die verantwortlichen Träger. Einige sind über herkömmliche Architekturwettbewerbe entschieden worden (P09_TOUR BOIS-LE-PRETRE und P11_TÖRNROSEN TOWER), andere von Architekten und Architektinnen oder von Bewohnergruppen selbst initiiert und maßgeblich mit entwickelt worden (P10_SARGFABRIK und P08_TREEHOUSES). Und mit dem P06_CAMPUS EFEUWEG gibt es ein Beispiel für ein Projekt, bei dem ein Forschungsauftrag eines Wohnungsbauunternehmens an eine Universität zu einer weiteren Auseinandersetzung mit dem betreffenden Gebiet geführt hat.

    Die Recherche war auf die Auswertung unterschiedlicher Informationsquellen angewiesen: Neben umfangreichen Pub likationen (siehe Anhang) zu einzelnen Projekten wurden vor allem Zeitschriftenartikel ausgewertet, aber auch Websites der federführenden Akteure sowie Experteninterviews. Während eine vergleichende Betrachtung im Hinblick auf Ausgangssituationen, Größenordnungen, Akteure u.v.m. auf diese Weise möglich wird, kann eine Wertung im engeren Sinne hier nicht stattfinden: Zu verschieden sind die Bedingungen, die Ziele und auch die Interessen, als dass der Vergleich hier ein klares Ranking ergeben könnte. Keines der Projekte ist „gescheitert“, auch wenn zum Beispiel bei P01_WIMBY! HOOGVLIET viele Projekte gar nicht oder

    erst lange nach Beendigung der Tätigkeit des Projektmanage ments realisiert werden konnten. Erfolg äußert sich zudem nicht unbedingt in spektakulären Bauten: Zwar gibt es auch dafür Beispiele (P07_HAUS DER JUGEND KIRCHDORF, P09_TOUR BOIS_LE_PRETRE), aber auch jene, wo wenig zu sehen ist (P03_FREEHOUSE und P05_SCHORFHEIDEVIER TEL) können als sehr gelungene, ihre Umgebung dauerhaft aktivierende Maßnahmen gelten.

    Ob (und unter welchen Bedingungen) einige dieser Ansätze für eine IBA Berlin 2020 relevant sein können, hängt nicht zuletzt davon ab, wo und wie diese im städtischen Raum intervenie ren wird – eine Frage, die vor allem im letzten Kapitel (Fazit, S. 100 ff.) diskutiert werden wird.

    3.2 AUFBAU DER pROJEKTSTECKBRiEFE

    Die Dokumentationen umfassen jeweils sechs Seiten. Auf dem Titelblatt, das farbig markiert ist, befinden sich der Name des Projekts und ein abstrahierter Stadtplan mit der Lage des Areals sowie eine kurze Darstellung der Zielsetzung. Am unteren rechten Blattrand geben drei Piktogramme eine Orientierung darüber, welche der zuvor erläuterten Strategien hier in welchem Maß wirksam sind. Sie stehen für baulichräumliche, gesellschaftlich-kulturelle und ökonomische Aspekte, deren Bedeutung im Projekt durch die Transparenz ihrer Erscheinung wiedergegeben wird.

    Auf der zweiten Seite befinden sich unterhalb eines Luftbilds mit dem genaueren Umgriff des betreffenden Areals grundlegende Projektdaten (Art, Umfang, Verfasser und Verfasserinnen) sowie eine Beschreibung des städtischen Kontexts, in dem auf die spezifische Ausgangslage, zum Teil auch auf die städtebauliche Konzeption des Projektes eingegangen wird.

    Auf dem dritten Blatt findet sich bei allen Steckbriefen eine Zeittafel, die einen Überblick über die zum Teil komplexen Prozesse gibt, die zu jedem Projekt geführt haben bzw. noch stattfinden sollen; ergänzt wird diese Darstellung durch eine kurze Beschreibung der wichtigsten am Projekt beteiligten Akteure.

    Die letzten drei Seiten dienen der genaueren Erläuterung des Projektes. Auf Seite vier befinden sich in der Regel grafische Informationen (Pläne, Diagramme) und auf den beiden letzten Seiten Bilder. Seite vier und fünf enthalten zudem einen kurzen Erläuterungstext. Auf Seite sechs wird ein Resumee des Projektes gezogen, das die ursprüngliche Zielsetzung und das erzielte Ergebnis zueinander ins Verhältnis setzt.

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    Urbane Lebenswelten Studie zur IBA 2020 Berlin 21 Benze, Gill, Hebert 2013

    01 WimBY!

    ROTTERDAm HOOGVLiET

    Rotterdam

    Zielsetzung Die Wortschöpfung WIMBY! = „Welcome into my backyard!“ ist eine Abänderung des gängigen Akronyms „NIMBY!“ – „not in my backyard!“, das Personen bezeich net, die eine ablehnende Haltung gegenüber fremden Ansprüchen und öffentlichen Aktivitäten einnehmen. WIMBY! ist Titel und Programm einer Internationalen Bauausstellung in der Nachkriegs-Stadterweiterung Hoogvliet in Rotterdam. In unterschiedlichen Formaten werden lokale Akteure, Bewohner und Bewohnerinnen in die zukünftige Entwicklung eingebunden. Umgesetzt wer den einzelne, aus dem Bestand und den Bedürfnissen entwickelte Teilprojekte.

  • Urbane Lebenswelten Studie zur IBA 2020 Berlin 22 Benze, Gill, Hebert 2013

    Art des projektes Implementierung einer Internationalen Bauausstellung zur Revitalisierung einer „New Town“

    projektdaten

    Zeitraum 2001 — 2007

    Konzeption Crimson Architectural Historians in Kooperation mit zahlreichen Projektpartnern (siehe Zeitleiste)

    Auftraggeber Stadt Rotterdam

    Kontext Das mittelalterliche Dorf Hoogvliet wurde in den 1940er Jahren als Wachstumskern einer Stadterweiterung von Rotterdam ausgewiesen, um die Arbeiter und Arbeiterinnen des nahe gelegenen Petroleumhafens, mit Wohnungen zu versorgen. Die Siedlung wurde als New Town nach dem englischen Vorbild der Gartenstädte für 60.000 Einwohner geplant. Während der Bauzeit veränderte sich der Gesamtplan mehrfach. Eine Explosion auf dem Gelände der Shell-Raffinerie 1968, bei der die Fenster der angrenzenden Gebäude von Hoogvliet barsten, machte die Gefährdung des Standortes deutlich und führte zur Ausweisung einer nicht zu bebauenden Schutzzone.

    Heute besteht Hoogvliet aus zehn Nachbarschaften, die um ein Zentrum gruppiert und voneinander durch grüne Zwischenzonen getrennt sind. Da immer weniger Einwohner und Einwohnerinnen von Hoogvliet tatsächlich in der nahe gelegenen Raffinerie arbeiten, wurde die relativ große Entfernung zum Stadtzentrum (12 km) nach und nach zum Standortproblem: Seit den 1970er Jahren siedelten sich hier fast ausschließlich Migranten und Migrantinnen an.

    In den 1990er Jahren beschloss die Stadt Rotterdam daher ein Stadterneuerungsprogramm für ihren abgelegensten Stadtteil: Die Zeilenbauten der Nachkriegszeit sollten zum größten Teil abgerissen und durch niedrige Einfamilien- und Reihenhausty pologien ersetzt werden. Man