Urbaner Wandel und soziale Fragmentierung : Einleitung zum ... · tenstadtmodell von Ebenezer...

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230 Geographica Helvetica Jg. 56 2001/Heft 4 Urbaner Wandel und soziale Fragmentierung Einleitung zum Themenheft Gabriel Wackermann, Paris 1 Von Entwicklungsprozessen zur sozialen Fragestellung Jahrhundertelang war die Stadt «ein Ganzes». Sie hatte Aussenviertel («faubourgs»), die sich bis in die neu¬ zeitliche Geschichte hinein jenseits der Stadtmauer entwickelten. Vom Mittelalter an über die Zeit des politischen Wandels im ausgehenden 18. Jh. und bis in die erste Hälfte des 19. Jh. wurden dort unerwünschte Bevölkerungsgruppen von der Stadt ferngehalten, manche oft nur nachts, so zum Beispiel Bettler, Obdachlose und wandernde Händler. Im Industrie- zeitaller entstanden ausserhalb der Stadt Bannmeilen, und die Viertel innerhalb der Stadt wurden sozialen Umschichtungen durch «Invasions- und Sukzessions¬ prozesse» ausgesetzt. Es entstanden sozialräumlich stark differenzierte Städte; sie Hessen in den USA rie¬ senhafte Stadtgebiete des sozialen und baulichen Ver¬ falls und in europäischen Metropolen unter anderem die «roten» Stadtgürtel entstehen, die zur Herausfor¬ derung für die bürgerliche Gesellschaft wurden. Das postindustrielle Zeitalter beschleunigte besonders seit dem Zweiten Weltkrieg den Umbau der Stadt zu einer «Sladtlandschaft». Suburbanisierung, Deur- banisierung und Reurbanisierung haben die ehemali¬ gen Schranken zwischen Stadt und Umland verwischt (Cheshire & Gornostaeva 2001, Wackermann 2000). Die Entwicklung der Metropol- zu Megalopolräumen unterzog auch die Problematik der Städte einem aus¬ serordentlichen Wandel (Ascher 1995). In der zwei¬ ten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sich die mei¬ sten Grossstädte der Welt so schnell entwickelt, dass ihre heutige Immobiliensubstanz überwiegend kaum mehr als hundert Jahre alt ist. In Brüssel beispielsweise sind ungefähr zwei Drittel der Wohnhäuser und des Stadtraumes erst nach 1900 entstanden, in Paris rund 80 Prozent. In Metropolen der Entwicklungsländer ist das Alter der Bausubstanz weit geringer: In Teheran z.B. sind Privathäuser, die mehr als ein halbes Jahrhun¬ dert alt sind, eine Seltenheit. Urbaner und suburbaner Raum unterlagen zugleich einer intensiven Konzentration und einer internatio¬ nalen Öffnung in Richtung Handel und Dienstlei¬ stungen (Nitsch 2001). Die Globalisierung und die daraus hervorgegangene Beschleunigung der Vernet¬ zungsmechanismen (Blotevogel, Ossenbrügge, Wood 2000) führten zu Agglomerationsräumen und schliess¬ lich zu Metropolregionen mit sich ergänzenden oder gegenüberstehenden Teilräumen. Die Agglomeration als solche behielt zwar ihre morphologische und funk¬ tionelle Bedeutung, hing jedoch in immer stärkerem Masse von den eigenen Standortwerten und quanti¬ tativen sowie qualitativen Raumergänzungsangeboten des erweiterten Umlands ab (Wackermann 2002). Das durch morphologische Kontinuität und hohe Bevölkerungsdichte abgegrenzte Agglomerationskon¬ zept erlaubt es nicht mehr, die wirkliche Metropolitan¬ rolle der Agglomeration zu definieren. Die vielfältigen Agglomerations-Umlandvernetzungen und die wech¬ selseitigen sozialen und wirtschaftlichen Einflüsse führen zu neuen Ansätzen, den gesamten Regional¬ raum und die Impulskraft des Zentralpols zu erfassen (Geographica Helvetica 3/2001, Kruse 2001). Statistisch genügt es derzeit nicht mehr, mit elementa¬ ren statischen, wenn auch international vergleichbaren Daten zu operieren. Die ausserordentliche Vielfalt und Spezialisierung hochrangiger Dienstleistungen, die nur im Rahmen der vernetzten Metropolregion ihre Opti¬ malentfaltung erreichen können (Geenhuizen 2001), entgehen oft der offiziellen Statistik. Dies ist ganz besonders der Fall, wenn es sich um die Metafunk¬ tionen Technologieenlwicklung und Innovation han¬ delt (Behrendt & Kruse 2001). Daher sind Agglo¬ merationsabgrenzungen wie jene, die seit 1989 vom N.U.R.E.C. (Network on Urban Research in the European Union) für die Europäische Union erarbei¬ tet wurden, für eine eingehende dynamische Metro¬ polforschung - soziale Fragmentierung einbegriffen - nur noch Ansatzpunkte. Selbst das Konzept der europäischen Metropolregion ergibt, «dass die Ein¬ führung der Metropolen-Semantik in die deutsche Raumordnungspolitik als Reaktion auf eine ganze Reihe von externen Herausforderungen zu verstehen ist» (Blotevogel 2001). Die Metropolregion ist ein Gesamtes, welches als Entscheidungs-, Kontroll- und Koordinationszenlrum von internationaler Bedeutung erscheint. Der mangelnde wissenschaftliche Abstand erlaubt jedoch noch nicht, festzustellen, inwiefern sogar in einer Metropolregion wie Frankfurt/Rhein- Main diese gebündelte Dreierfunktion gesichert ist (Schamp 2001). Obwohl die urprüngliche Stadt als prestigeträchtiges Aushängeschild oft zur Innenstadt, City, Touristen- und Freizeitstadt, und somit gewissermassen zur Muse¬ umsstadt reduziert wurde, erlebte sie gleichzeitig sozi-

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Urbaner Wandel und soziale FragmentierungEinleitung zum Themenheft

Gabriel Wackermann, Paris

1 Von Entwicklungsprozessen zur sozialenFragestellung

Jahrhundertelang war die Stadt «ein Ganzes». Sie hatteAussenviertel («faubourgs»), die sich bis in die neu¬zeitliche Geschichte hinein jenseits der Stadtmauerentwickelten. Vom Mittelalter an über die Zeit des

politischen Wandels im ausgehenden 18. Jh. und bis indie erste Hälfte des 19. Jh. wurden dort unerwünschteBevölkerungsgruppen von der Stadt ferngehalten,manche oft nur nachts, so zum Beispiel Bettler,Obdachlose und wandernde Händler. Im Industrie-zeitaller entstanden ausserhalb der Stadt Bannmeilen,und die Viertel innerhalb der Stadt wurden sozialenUmschichtungen durch «Invasions- und Sukzessions¬

prozesse» ausgesetzt. Es entstanden sozialräumlichstark differenzierte Städte; sie Hessen in den USA rie¬senhafte Stadtgebiete des sozialen und baulichen Ver¬falls und in europäischen Metropolen unter anderemdie «roten» Stadtgürtel entstehen, die zur Herausfor¬derung für die bürgerliche Gesellschaft wurden.

Das postindustrielle Zeitalter beschleunigte besondersseit dem Zweiten Weltkrieg den Umbau der Stadtzu einer «Sladtlandschaft». Suburbanisierung, Deur-banisierung und Reurbanisierung haben die ehemali¬

gen Schranken zwischen Stadt und Umland verwischt(Cheshire & Gornostaeva 2001, Wackermann 2000).Die Entwicklung der Metropol- zu Megalopolräumenunterzog auch die Problematik der Städte einem aus¬serordentlichen Wandel (Ascher 1995). In der zwei¬ten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sich die mei¬sten Grossstädte der Welt so schnell entwickelt, dassihre heutige Immobiliensubstanz überwiegend kaummehr als hundert Jahre alt ist. In Brüssel beispielsweisesind ungefähr zwei Drittel der Wohnhäuser und desStadtraumes erst nach 1900 entstanden, in Paris rund80 Prozent. In Metropolen der Entwicklungsländer istdas Alter der Bausubstanz weit geringer: In Teheranz.B. sind Privathäuser, die mehr als ein halbes Jahrhun¬dert alt sind, eine Seltenheit.

Urbaner und suburbaner Raum unterlagen zugleicheiner intensiven Konzentration und einer internatio¬nalen Öffnung in Richtung Handel und Dienstlei¬stungen (Nitsch 2001). Die Globalisierung und diedaraus hervorgegangene Beschleunigung der Vernet¬zungsmechanismen (Blotevogel, Ossenbrügge, Wood

2000) führten zu Agglomerationsräumen und schliess¬lich zu Metropolregionen mit sich ergänzenden odergegenüberstehenden Teilräumen. Die Agglomerationals solche behielt zwar ihre morphologische und funk¬tionelle Bedeutung, hing jedoch in immer stärkeremMasse von den eigenen Standortwerten und quanti¬tativen sowie qualitativen Raumergänzungsangebotendes erweiterten Umlands ab (Wackermann 2002).Das durch morphologische Kontinuität und hoheBevölkerungsdichte abgegrenzte Agglomerationskon¬zept erlaubt es nicht mehr, die wirkliche Metropolitan¬rolle der Agglomeration zu definieren. Die vielfältigenAgglomerations-Umlandvernetzungen und die wech¬

selseitigen sozialen und wirtschaftlichen Einflüsseführen zu neuen Ansätzen, den gesamten Regional¬raum und die Impulskraft des Zentralpols zu erfassen(Geographica Helvetica 3/2001, Kruse 2001).

Statistisch genügt es derzeit nicht mehr, mit elementa¬ren statischen, wenn auch international vergleichbarenDaten zu operieren. Die ausserordentliche Vielfalt undSpezialisierung hochrangiger Dienstleistungen, die nurim Rahmen der vernetzten Metropolregion ihre Opti¬malentfaltung erreichen können (Geenhuizen 2001),entgehen oft der offiziellen Statistik. Dies ist ganzbesonders der Fall, wenn es sich um die Metafunk¬tionen Technologieenlwicklung und Innovation han¬delt (Behrendt & Kruse 2001). Daher sind Agglo¬merationsabgrenzungen wie jene, die seit 1989 vomN.U.R.E.C. (Network on Urban Research in theEuropean Union) für die Europäische Union erarbei¬tet wurden, für eine eingehende dynamische Metro¬polforschung - soziale Fragmentierung einbegriffen- nur noch Ansatzpunkte. Selbst das Konzept dereuropäischen Metropolregion ergibt, «dass die Ein¬

führung der Metropolen-Semantik in die deutscheRaumordnungspolitik als Reaktion auf eine ganzeReihe von externen Herausforderungen zu verstehenist» (Blotevogel 2001). Die Metropolregion ist einGesamtes, welches als Entscheidungs-, Kontroll- undKoordinationszenlrum von internationaler Bedeutungerscheint. Der mangelnde wissenschaftliche Abstanderlaubt jedoch noch nicht, festzustellen, inwiefernsogar in einer Metropolregion wie Frankfurt/Rhein-Main diese gebündelte Dreierfunktion gesichert ist(Schamp 2001).

Obwohl die urprüngliche Stadt als prestigeträchtigesAushängeschild oft zur Innenstadt, City, Touristen-und Freizeitstadt, und somit gewissermassen zur Muse¬umsstadt reduziert wurde, erlebte sie gleichzeitig sozi-

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alen Niedergang, baulichen Verfall und Ghettoisie-rung. Dies führte zwar zu Aufwertungsmassnahmendurch Gentrifikation und «gated communities», wasjedoch auch Nachteile mit sich bringt. Die Innenstadt,in denen Megaprojekte der Stadtentwicklung reali¬siert werden, verkörpert heutzutage nur noch einenwinzigen Teil der Kernstadt einer Metropolagglomera¬tion, die insgesamt von hohen sozialen und finanziellenKosten herausgefordert wird. Sozialräumliche Frag¬mentierung, Armut und Sozialhilfeabhängigkeit sowiederen kulturelle Folgen nehmen rasch zu (Farwick2001). Der Verlust des Augenmasses für den Men¬schen in der Stadt und die Masslosigkeit im Städtebausind dabei miteinander verbunden. Der Raum wird aufKosten Dritter, u.a. Steuerzahler und nachkommenderGenerationen, erschöpft. Der Leitsatz «Stadt machtfrei» gehört der Vergangenheit an, und die komple¬xen Konfliktsituationen im Stadtraum zeigen sich auchinternational in einer allgemeinen Krise der Stadt.

Man kann natürlich eine Stadtmetropole als Kon¬

sequenz und Manifestation des Fortschritts werten,so wie man auch die Bedeutung eines Staates -selbst eines Entwicklungslandes - in Kenngrössen vonBevölkerung oder Wirtschaft messen kann. WederBevölkerungsgrösse noch wirtschaftliche Dynamikbewirken jedoch per se «Urbanität» und eine optimaleStadtenwicklung. Die dynamischsten Agglomerationenweisen beispielsweise oft recht hohe Arbeilslosenquo-ten auf. Daher ist es angebracht, die sozialen Folgender Verstädterung und Metropolisierung eingehend inBlick auf die Entwicklungsdynamik von Kernstadt undsuburbanem Raum zu untersuchen und Segregationsowie sozialen Verfall bzw. soziale Fragmentierung als

eine der wichtigsten Problemstellungen unserer Gesell¬schaften zu thematisieren (Schneider-Sliwa 1996).

Die Dimension der aktuellen Stadtentwicklung, städti¬sche Sozialpathologien inbegriffen, führt wieder dazu,den Menschen als Mass der Dinge und die Lebens¬

bedingungen in Städten ins Zentrum der wissen¬schaftlichen Betrachtung zu rücken, wobei diese inder Geographie auch als Resultat einer global-loka¬len Dialektik thematisiert werden (Schneider-Sliwa2002). Allerdings bedarf es noch vielfacher empirischerArbeiten, um aktuelle soziale Realitäten im Stadt¬

raum, die sich immer kleinräumiger abzeichnen, ana¬

lytisch und kartographisch zu erfassen.

2 Die Verstädterung als Zukunftsproblem: Die Suchenach einem Sinn der Stadt

Die Krise, in welcher sich die urbanisierte Welt befin¬det, ist in einen allgemeinen Krisenzyklus eingebun¬den, der zusammen mit der Komplexität der Stadt dieMöglichkeit des friedlichen Miteinanderlebens immer

mehr in Frage stellt, es ist dies eine «Komplexität, die als

positiven Effekt das Entstehen eines Solidaritätsgefühlsauf Weltebene hervorrufen kann» (Reeves 1996): Vonder Entropie ausgehend zur Negentropie könnte sichdadurch das Stadtsystem neu aufbauen.

Seit der Industriezeit wurde die Stadt funktionell nachund nach zerrissen. Persönlichkeiten wie Haussmannund Le Corbusier und dessen «Schule», die sich demCredo der Charta von Athen zuwandten, haben dazubeigetragen, diese Tendenz mit ihrem Fokus auf Archi¬tektur vor Stadtentwicklung als Ganzem zu verstärken.Die ausserordentlichen Umwälzungen, die aus demIndustriezeitalter und der postfordistischen Epocheresultieren, stellen zwingend die Frage einer Ethikund dadurch auch einer Ästhetik, die dem Fortschrittangepasst ist und zugleich dem Grundbedürfnis derMenschen als Individuen und Gemeinschaftswesenentspricht. Die meisten urbanen sozialen Fragestellun¬gen sind auf tiefe Zeit- und Raumkontinuitätsbrüchezurückzuführen sowie auf die Diskrepanz zwischenLokalem und Globalem. Die wirtschaftliche Entwick¬lung vernachlässigte kulturelle Eigenheilen und somitviele kulturelle Werte.

In den sechziger Jahren schreibt der französischeSoziologe Henri Lefebvre. dass «bisher nur die Dich¬ter die Stadt als Heim des Menschen verstandenhaben». Mit Emotion und Sensibilität betrachtet LewisMumford bereits Jahre früher die Stadt als ein Mei¬sterwerk der Zivilisation. Er lässt sich durch das Gar¬tenstadtmodell von Ebenezer Howard beeinflussen.Die «new towns» sollen zu neuer Inspiration und kul¬tureller Rückkehr anspornen. In seinem Buch «Sky-line-La ville Narcisse» (Die Narzistische Stadt) weistHubert Damisch sogar auf die kulturelle Rolle desWolkenkratzers hin: «Die Stadt erzeugt den Wolken¬kratzer, der Wolkenkratzer erzeugt jedoch nicht dieStadt» (Damisch 1996). Ausserdem zeichnet sich diePostmetropolis durch Widersprüchlichkeit aus, einer¬seits weist sie sphinxhaft auf viele Möglichkeiten hin.andererseits ist sie klar durch die Wissensökonomieals besonderem Qualitätsfaktor strukturiert, die «den

metropolitanen Regionalstandort als Denkraum kenn¬zeichnet» (Helbrecht2001).

Die Pluri- und besonders die Interdisziplinarität habenzudem zur Neubesinnung auf die Stadt in Forschungund Praxis geführt. Die Suche nach dem Sinn derderzeitigen Stadt und der Verstädterung sowie das

erneuerte Stadtdenken (Giiorra-Gobin 2001) habenzur Notwendigkeit angepasster sozialpolitischer Mass¬

nahmen geführt. Beispiele sind die Dekonzentrierungund die damit verbundenen erweiterten Vernet¬

zungen des urbanen Raumes, die Meisterung vonFlächennutzungsproblemen, die Festlegung einer an¬

nehmbaren Mobilität für die Agglomerations- und

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Metropolräume, eine den ökologischen Gegebenhei¬ten angeglichene Wirtschaftsattraktivität sowie dieErforschung räumlicher Potentiale und angemessenerSiedlungsentwicklung (Kreibich 1999). NachhaltigeEntwicklungsstrategien benötigen sowohl eine denStruktur- und Konjunkturverhältnissen angepasstekoordinierte Wirtschaftslogik als auch ein entspre¬chendes Sozialverhalten.

Die angestrebten Neuorientierungen sind jedoch nichteffizient genug, wenn man nicht vorher grundsätzlicheFragen stellt und dazu innovative Lösungsansätze zufinden sucht (Siebel 2000). Für Walter Siebel bleibt es

zweifelhaft, ob man immer noch die Stadt als Standortder wirtschaftlichen Emanzipation betrachten kann. Ererwägt, ob es nicht angebrachter ist, sich auf eine demo¬kratische Selbstverwaltung zu stützen und wirft dieFragen nach den Voraussetzungen auf, mit denen dieStadt als Standort sozialer Integration gestaltet werdenkann. Ob dies in der traditionellen europäischen Stadtüberhaupt noch möglich ist, lässt sich letzten Endesauch für andere Städte weltweit diskutieren.

3 Die Beiträge und deren Aussagekraft

Die in diesem Themenheft veröffentlichten Aufsätzegeben Anlass dazu, die durch den urbanen Wandel welt¬weit verursachte soziale Fragmentierung unter verschie¬denen Grundaspekten zu analysieren und dementspre-chende Lösungsansätze ausfindig zu machen, die nichtnur lokale Aussagekraft, sondern generelle Anwend¬barkeit haben. Die ausgewählten Fallbeispiele sind fürtheoretische Überlegungen besonders angebracht.

Susanne Eder untersucht eingehend am Metropolbei¬spiel Basel-Stadt die residentiellen Segregationsmu-ster, welche sich aus den städtischen Sozialstruklurenentwickeln. Sie geht von den neueren gesamtgesell¬schaftlichen Strukturveränderungen aus, um die auf¬

grund von Einwanderungen eingetretene Heterogeni-sierung zu analysieren, wobei festgestellt wird, dasssich kleinräumig soziale Milieus gebildet haben undeine Mosaikstruktur besteht. Unter dem Einfluss derWohnumfeldqualität entwickeln sich Abgrenzungs¬und Konzentrationsprozesse, die innerhalb der Stadtein neues soziales Profil mit starker Heterogenität derSozialgruppen bilden.

Ernst Steinicke stellt mit einer tiefgreifenden Ana¬lyse am Beispiel der slowenischen ethnischen Min¬derheiten in Kärnten fest, dass auch in der postfor-distischen Epoche in urbanen Räumen autochthonc,ethnolinguistische, nicht dominierende Volksgruppenvor dem Assimilationsprozess bewahrt und gefördertwerden können. Unter der Voraussetzung eines recht¬lichen Minderheitenschutzes ist es innovativen Kräften

möglich, ethnische Rückbesinnung in ihrem gesell¬schaftlichen Milieu anzustreben. Zentralörtliche Ein¬richtungen wie Gymnasien tragen dazu bei. Akteureauszubilden, die die Selbstbehauptung der Minder¬heitsgruppe nicht nur im städtischen Raum, sondernauch im Umfeld stärken und regionale Ethnodiversitätentfalten, eine Entwicklung, die als ein Reichtum imderzeitigen regionalen Wettbewerb erscheint.

Joachim Burdack und Robert Rudolph zeigen, dasssich auch die Städte der postsozialistischen Welt denErfordernissen der globalen Wirtschaft so gut wiemöglich anpassen, obwohl der Intensitätsgrad dieserIntegration von Stadt zu Stadt sehr verschieden ist. Diestrukturellen Hemmnisse sind qualitativ und quanti¬tativ noch zahlreich, die eigenen Lösungswege eben¬falls. Die gutinformierten Autoren analysieren diese

Entwicklung anhand des Vergleichs von vier typi¬schen Städten: Moskau. Budapest. Jekaterinburg undLodz. Trotz der starken Ausdifferenzierung verbleibenosteuropäische Städte von übergreifenden Transfor¬mationsphänomenen gekennzeichnet.

Der Aufsatz von Martin Coy gibt einen Einblick in dieurbane und metropolitanregionale Problematik derEntwicklungsländer. Die Untersuchung stützt sich aufden derzeitigen Stand der Metropolitanregionen Bra¬siliens, wo das rasche städtische Wachstum die sozialeSegregation dadurch verstärkt hat, dass sich zugleichMarginalviertel ausdehnen und privilegierte Wohn¬ghettos entstehen. Der Verfall der Innenstädte lässtdie Zentrumsfunktionen zum Stadtrand hin entlangder neuen Entwicklungsachsen entstehen. Die gemein¬same Aufgabe der Stadtverwaltungen und der Nicht-Regierungsorganisationen besteht in dem Versuch, dieStadtzentren zu revitalisieren.

Das Problem der Suche nach einer regionalen Stadt- auf Europa bezogen - wirft William Salet auf. Erweist darauf hin. dass Initiativen des privaten Sektorsin die Raumentwicklungspolitik einbezogen werdenmüssen, was eine Neuverteilung der Rollen auf zen¬traler Ebene erforderlich macht. Dieser Schritt wirdjedoch nicht immer gemacht. Er stellt fest, dass diePrinzipien «local aecountability» und «electoralism» imGleichgewicht in die Praxis umgesetzt werden müssen,damit die grossstädtisch-regionale Dynamik das sozialeund politische Gleichgewicht nicht gefährdet. Daherwird es unumgänglich sein, dass sich Bürger und Politi¬ker nicht länger mit verblasstcn Zentrumsstädten iden¬

tifizieren, sondern «neue regionale Identitäten mobili¬sieren».

LiteraturAscher. F. (1995): Metapolis ou l'avenir des villes. -Paris: Odile Jacob, 346 S.

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Prof. Dr. em. Gabriel Wackermann (Paris-SorbonneIV)

180, Route d'Oberhausbergen. F-67200 Strasbourg,e-mail: [email protected]