Urzidil, Johannes - Da Geht Kafka - Beta
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Johannes Urzidil
Da geht Kaa
Artemis Verlag Zrichund Stuttgart
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965 Artemis Verlags-AG ZrichSatz und Druck: Benteli AG Bern-BmplizPrinted in Switzerland
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I Im Prag des Expressionismus
Wie kam es dazu, da deutsche Dichtung und Literatur inden zehner und zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts ge-
rade in Prag mit so besonderer Kra und Originalitt gedei-
hen konnten? Welches Aggregat von Lebenskren hatte an
dieser dichterisch erfllten und schpferischen Atmosphre
Anteil? Ich sollte es wissen, denn ich wurde dort geboren,
wuchs dort auf und war Zeuge und Teilnehmer jener mitweltweiten Ideen, immer neuen Formen und sittlichen Be-
geisterungen erfllten deutschen Prager Geisteswelt. Aber
ein rasches und eindeutiges Urteil ber die Grnde dieser
Erscheinung kann nicht gefllt werden, und die sozialen,
biologischen oder sonst im Materiellen wurzelnden Vor-
aussetzungen knnen mir nur teilweise behilflich sein. EinPhnomen wie die Ansammlung einer auffallend groen
Zahl schpferischer Persnlichkeiten hchsten, hohen oder
zumindest sehr beachtlichen Ranges whrend einer verhlt-
nismig kurzen Zeitspanne auf dem engen Raum einer
Stadt (wie hnlich einst in Weimar oder in Concord, Massa-
chusetts) ist in der Hauptsache immer etwas Sublimes undMetaphysisches. Die meisten der Prager deutschen Auto-
ren waren Juden, aber sie waren von ihrer jdischen Zuge-
hrigkeit nur fallweise durchdrungen. Ihr deutsches
Sprachbewutsein bestimmte ihr Geschichtsbewutsein
strker, als dies etwa ihr Stammesbewutsein vermochte
(um hier Begriffe zu verwenden, die der Prager Philosoph
Felix Weltsch sehr berzeugend in einer Studie ber Kaa
aufgestellt hat). Eine gewisse, aber auch nur unvollkom-
mene Sttze mag mir bei meiner Betrachtung die Idee der
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Gestalt und Gestaltsqualitt bieten, die ja brigens auch in
Prag von meinem Lehrer Christian Freiherrn von Ehren-
fels und spter durch den Prager Max Wertheimer entschei-
dend entwickelt wurde. Sie noch am ehesten ermglichtden erkennenden Anblick des Geheimnisses einer literari-
schen Physiognomie, deren disparate Einzelzge sich zu
einer unanalysierbaren Gesamtschnheit vereinigen.
Die Prager deutschen Dichter und Schristeller hatten
gleichzeitigen Zugang zu mindestens vier ethnischen Quel-
len: dem Deutschtum selbstverstndlich, dem sie kulturellund sprachlich angehrten; dem Tschechentum, das sie
berall als Lebenselement umgab; dem Judentum, auch
wenn sie selbst nicht Juden waren, da es einen geschicht-
lichen, allenthalben fhlbaren Hauptfaktor der Stadt bilde-
te; und dem sterreichertum, darin sie alle geboren und
erzogen waren und das sie schicksalha mitbestimmte, siemochten es nun bejahen oder auch dieses oder jenes daran
auszusetzen haben. Jeder dieser Quellpunkte nun bezog
seine Dynamik aus zwei Sphren: aus dem ortsgebundenen
Pragertum und aus dem zentripetal anflutenden Bhmen-
tum. Dieses wiederum bestand aus den teils ansssig gewor-
denen, teils von der deutschen Universitt herangezogenenSudetendeutschen; aus einem Grundstock tschechischen
Landvolkes, das nach der Landeshauptstadt, spter Staats-
hauptstadt, gravitierte; aus tschechischen oder auch deut-
schen Landjuden, die als mittlere Gutsbesitzer oder Guts-
pchter einen besonderen Typus darstellten; dann aber aus
dem eingeborenen bhmischen, zum Teil auch tschechisch
betonten sterreichischen Adel (sowie dem deutsch, das
heit sterreichisch katexochen empfindenden) mit seinen
Palais in der Stadt und seinen prchtigen Landsitzen rund-
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um in Bhmen, uralt und in manchen Fllen sogar noch in
die Zeit der Pemysliden-Knige zurckreichend, einem
Adel also, dem selbst die Habsburger als relative Neuan-
kmmlinge erscheinen mochten. All dies wirkte zusammen,mit alledem fand sich ein Dichter konfrontiert und geriet
dadurch sehr bald aus der Sphre rtlicher Gebundenheiten
in die des Grundstzlichen.
Tschechische Dichter und Schristeller, noch tief ver-
strickt in ihre nationalen Bestandskmpfe, konnten sich sol-
cher Grundstzlichkeit nicht anheimgeben, obschon sichVorzeichen hiefr in der Literatur bei den Brdern Josef
und Karel apek, bei mehreren eine gewisse Weltweite an-
strebenden bildenden Knstlern und in der tschechischen
modernen Musik ankndigten, jenen Ausdrucksformen
also, die am ehesten und unmittelbarsten unter Beibehal-
tung des nationalen Stigmas ein knstlerisches Weltbrger-tum erreichen konnten. Deshalb waren auch die persn-
lichen Beziehungen der Prager deutschen Dichter und
Schristeller zu den tschechischen Malern und Musikern
lebhaer als die zu den tschechischen Autoren. Die gerade-
zu groteske Sprachbarriere wirkte dabei auch noch mit.
Nicht alle deutschen Literaten waren mit der tschechischenSprache vollkommen vertraut (obwohl das von den Juden
unter ihnen weitgehend gelten konnte), und nur wenige
tschechische Autoren sprachen deutsch oder mochten es
sprechen.
Fr die deutsch schreibenden Prager bildete die zuweilen
freundschaliche, zumeist politisch turbulente und streit-
lustige von antisemitischen Anwandlungen tschechi-
scherseits keineswegs vllig freie Symbiose und Wechsel-
wirkung, dieses Durcheinanderglhen des alchemistischen
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Prager Schmelztiegels, die causa causarum eines literarischen
Freimuts, der sich sehr bald seinen dichterischen Ausdruck
in allen Rngen schuf und fr den um jene Zeit die Bewe-
gung, die man Expressionismus nannte, ein machtvollesEntbindungsmittel darstellte. Denn vermge seines natio-
nalen, sozialen und konfessionellen Facettenreichtums bot
ihnen Prag in der Tat das geistige Potential einer Gro-
und Weltstadt, viel brillanter als so manche weit volkrei-
chere europische Metropole.
Zwar hatte in Prag schon vormals ein deutschsprachigesliterarisches Eigenleben bestanden, und wir knnen seinen
Spuren sehr genau folgen, wenn wir den Verbindungen
Goethes mit Bhmen nachgehen und in der Folgezeit dem
Schaffen der Achtundvierziger sowie noch spter dem
der Dichter der liberalen ra, die mit Friedrich Adler
und Hugo Salus noch in meine Jugendentwicklung her-berreichte. Auch Rilke wurde noch jener liberalen ra
mancherlei schuldig, doch leitete er zugleich den Ausbruch
der Deutschprager Dichter ins Europische ein. Seit Rilke
datiert die Epoche, deren Leistungen dann unter dem ent-
scheidenden Einflu Max Brods durch Kaa und Werfel
eine mondiale Streuung erlangten. Derartiges war vorheraus Prag nicht gekommen, obwohl whrend des ganzen 9.
Jahrhunderts dort so viel Deutsch gesprochen wurde, da
die hunderttrmige goldene Hauptstadt der Tschechen
oberflchlicherweise manchen Unwissenden beinahe schon
als deutsche Stadt galt, eine Mideutung, die spter bit-
tere Folgen haben sollte.
Rilke hatte die tschechische Umwelt nachhaltig vom
Volkstum aus erlebt. Bhmischen Volkes Weise klang
ihm im Ohr und mag sich mancher Wortformung und Satz-
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wendung bei ihm mitgeteilt haben. Das ist Schicksal, dem
sich keiner in keinem Lande entziehen kann noch soll, denn
es ist auch Bereicherung des eigenen. Aber Rilke wandte
sich zeitig von Prag ab. Mit den Menschen und den Ge-schicken der Stadt und des Landes hat er zu wenig gelebt,
Schmerz und Glck zu wenig mit ihnen geteilt. Das aber
konnte nicht von Paul Leppin oder Franz Werfel, nicht von
Paul Kornfeld oder Max Brod, nicht von Felix Weltsch,
dem philosophischen Kopf, nicht von dem religionsweisen
Hugo Bergmann, von Willy Haas, dem kritischen Mentor,oder Egon Erwin Kisch, dem rasenden Reporter, gelten.
Und selbstverstndlich am allerwenigsten von Franz Kaf-
ka, in dem Prag daheim ist wie Zrich in Keller oder Con-
cord in oreau. Alle genannten Prager lebten mit der
Stadt, verdankten ihr das Beste, wurden Zeugen der anstei-
genden politischen Vehemenz der Tschechen, des immermehr nachlassenden Lebenswillens der Habsburger Mon-
archie, zugleich aber im Gelnde der deutschen Literatur,
das sie geistig mitbewohnten, der Befreiung der literari-
schen Ausdruckskre von den Residuen der Baumbach-
ra. Bei diesem revolutionren Proze konnten sie gerade
in Prag bernationaler sein als wo immer in deutschenLanden.
Sprachlich und atmosphrisch verfgten sie ber einen
direkteren Zugang zu den groen Russen. Ich las zum Bei-
spiel Tolstoj und Dostojewskij nicht blo in deutscher
bersetzung, sondern auch tschechisch, und das bedeutet,
diese Autoren nicht nur vermge des Verstandes, sondern
gleichsam aus einem verwandten Herzen heraus zu begrei-
fen. Die moderne tschechische Malerei, radikal und khn
vorstoend, ri weite Sichten nach Frankreich auf. Die
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ungeheuere natrliche Musikalitt der Tschechen umgab
uns, und die besten Zeugnisse des in Prag lange gepflegten,
nun aber schon hinsinkenden Wagnerismus wurden bereits
von den Schpfungen einer durch Alexander von Zemlin-sky, den Lehrer und Schwager Schnbergs, heraufgefhrten
neuen musikalischen Epoche berboten. Freilich konnten
und wollten wir uns den Wirkungen Hauptmanns und We-
dekinds im Drama, denen Georges und Hofmannsthals in
der Lyrik nicht entziehen, aber Prag blieb eine autochthone,
noch mehr: eine geistig autarke Welt, die zum Beispiel einKarl Kraus obschon selbst aus Mittelbhmen stammend
von Wien aus berhaupt nicht mehr verstand und jedenfalls
vllig verkannte.
Aber nicht mehr der sentimentale Zauber Prags konnte
die dichterischen Emotionen der dortigen deutschen Ex-
pressionisten auslsen (wie er mit gotischer und barockerMagie noch die Verse der Adler und Salus getnt hatte),
sondern das realistische Leben, das sich Verwandelnde, dar-
in die Gottheit ist, das Soziale, das Humane und Welt-
freundschaliche, das schlechthin Europische, zu dem ge-
rade diese Stadt der unaurlichen kmpferischen Anti-
thesen stndlich herausforderte. Unter solche Forderungwaren die Deutschprager Dichter viel entschiedener ge-
stellt als die auf ihr Nationalgefhl verpflichteten Tsche-
chen oder die Sudetendeutschen drauen im Lande. (Ich
redigierte eine Zeitlang eine literarische Zeitschri, die ich
geradezu Der Mensch benannt hatte und die als gemein-
same weltbrgerliche Tribne deutscher und tschechischer
Dichter beabsichtigt war. Sie hielt sich freilich nur ein
knappes Jahr, denn was ist vom Menschen und knnte
dauern?.)
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Prag war die Stadt der Raconteure, der magischen Rea-
listen, der Erzhler mit exakter Phantasie. Gewi war Wer-
fel ein weithin vernehmbarer lyrischer Herold und der
ethisch respektgebietende Rudolf Fuchs ein reiner, tief-grndiger Lyriker. Gewi war Paul Kornfeld einer der
Protagonisten des expressionistischen Dramas. Aber die
Entscheidungen von grter Tragweite wurden in der
Prager deutschen Prosa getroffen. Sie drang am wirksam-
sten in der Welt vor, sie war frei von einengendem Provin-
zialismus und verfgte ber den weitesten Gesichtskreis,an dem auch sehr bald diejenigen Autoren Anteil hatten,
die von auen in das Prager Magnetfeld gelangten, wie et-
wa Ernst Wei, Hermann Ungar und Ludwig Winder (alle
drei aus Mhren), Oskar Baum oder Melchior Vischer
(beide aus Innerbhmen). Im Prag jener Phase entwickel-
ten sie sich zu Exponenten einer anzufordernden allgemei-nen Geistes- und Weltfreiheit.
So, wie ich jenes Prag heute noch vor Augen habe, er-
scheint es mir im Wesentlichen als kaaeske Stadt. Das
mag heutigentags selbstverstndlich und fast trivial klingen,
aber ich und nicht nur ich fhlte das bereits, als Kaa
dort noch mit uns weilte. Obzwar Prag in Kaas Werkhchstens in gelegentlichen Umschreibungen deutlich
wird, ist es doch berall in den Schrien enthalten, wie das
Salz jenes buddhistischen Gleichnisses im Wasser. Obzwar
das Salz als solches nicht sichtbar wird, schmeckt dennoch
das Wasser ganz und gar salzig. So liee sich in jeder Ge-
stalt, jeder Situation, jeder Milieuschilderung Kaas das
Pragerische nachweisen. Nur ein Beispiel: Die Verwand-
lung, nach deren Erscheinen Kaa zu dem Vater meiner
Frau, Professor Karl ieberger, den er auf der Strae traf,
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bemerkte: Was sagen Sie zu den schrecklichen Dingen,
die sich in unserem Haus abspielen? Wer das fr einen
bloen Scherz hielte, der wei eben nichts von Kaa. Es
war wie fast alles bei ihm zwar Ironie, aber eben nichtbloe Ironie, sondern zugleich ernster Realismus.
Zur Zeit der Hauptproduktion Kaas war Prag am ty-
pischsten Prag und auch am typischsten kaaesk. Man
kann die eigentliche Essenz jenes Prag durch Kaa voll-
kommener begreifen und definieren als durch jeden ande-
ren Autor, ganz bestimmt aber eher durch ihn als durchjedwedes tschechische Werk jener Zeit, obwohl ein solches
an sich prdestiniert sein mte, Prag darzustellen. Das ist
vielleicht auch einer der unwillkrlichen Grnde dafr, da
auf tschechischer Seite immer wieder Versuche gemacht
werden, Kaa als eine Art verhohlenen Tschechen darzu-
stellen und ihn aus der deutschen Literatur zu eskamotie-ren, wobei unter anderem die amerikanische Begriffsbe-
stimmung der Nationalitt nach dem Geburtsstaat solchen
Bestrebungen unvermerkt dadurch dienlich ist, da sie
Kaa zuweilen als Czech writer bezeichnet. Das ist na-
trlich barer Unsinn, denn ein Schristeller gehrt zur
geistigen Reprsentanz der Sprache, in der er denkt undschreibt. (Wenn Kaa einmal an seine tschechische Freun-
din Milena Jesensk schrieb: Deutsch ist meine Mutter-
sprache und deshalb mir natrlich, aber das Tschechische
ist mir viel herzlicher so mu man bedenken, da dieser
Satz nicht als literarische Aussage zu bewerten, sondern
an eine tschechische Geliebte gerichtet und auf diese abge-
stimmt ist. Auch fr den Prager Rilke hatte das Tschechi-
sche zweifellos einen herzlichen Klang, den es in der Tat
fr jeden hat, der diese Sprache vom Volke aus kennt und
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womglich (wie eben Kaa, Rilke, Brod oder auch der
Verfasser dieser Betrachtungen] in tschechischer Umwelt
aufwuchs und die Sprache selbst zu sprechen wei.)
Unser o genug gelstertes, zwar nicht akzent-, aberdurchaus dialektfreies Prager Deutsch konnte sich seit dem
Mittelalter auf der Prager Sprachinsel unversehrt erhalten,
eben weil es den verschleifenden und dialektisierenden Ein-
wirkungen des Provinzialen und Landschalichen nicht
unterworfen war. Das war fr die Literatur ein einzigartiger
Segen. Denn wir Prager Deutschen dichteten und dichtennoch immer in der Sprache, in der wir leben und die wir
auch tagsber sprechen. Das galt schon von Karl Egon
Ebert ebenso wie von Rainer Maria Rilke und von Egon
Erwin Kisch. Zwischen Dichtung und Lebenssprache be-
stand fr die Deutschprager niemals eine Klu, kein inne-
res wenn auch noch so unbewut vollzogenes Umschal-ten ist ntig. Diese vllige Koinzidenz der Sprache des Le-
bens mit der des Dichtens ist wahrscheinlich das strkste
Form- und Wirkungsgeheimnis der Prager und besonders
gerade Kaas. Wer ihn als Menschen sprechen hrte, der
hrt ihn auch bis in die kleinste Nuance aus jeder seiner
Zeilen. Dies ist das Geheimnis einer inneren Identitt, diewir Prager so lange als mglich gehtet haben und die mit
uns Letzten entschwindet.
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II Edison und Kaa
In Prag gab es ein Kaffeehaus Edison. Herr Turnovsky,Vater eines meiner lteren Mitschler, war der Eigentmer.
Der amerikanische Erfinder, der 9 in Prag weilte und
von einem Fenstertisch aus das Treiben auf dem Wenzels-
platz zu beobachten liebte, hatte Herrn Turnovsky gestat-
tet, sein Lokal fortan Edison zu nennen. An der Wand
ber dem Tisch hing ein groes Lichtbild des Weisen vonMenlo Park, geschmckt mit dessen eigenhndiger Unter-
schri. Unter diesem Bild sa ich einmal mit Kaa. Ein
denkwrdiges Dokument, sagte dieser ernst und zugleich
mit jener leisen Ironie, die auch dem Ernstesten bei ihm an-
haete. (Man mute auf der Hut sein, denn zuweilen sagte
er auch Ironisches ironisch, nicht um es zu unterstreichen,sondern um es gleichsam aufzuheben.)
Amerikaner kamen dazumal nur selten nach Bhmen.
Die meisten von ihnen besuchten Karlsbad und Marienbad,
und einige kamen dann wohl auch nach Prag. Der Besuch
Edisons mute freilich besonders auffallen. Er war damals
schon ein lterer Herr mit energisch geprgtem echt ameri-kanischem Gesicht, zugleich mit etwas Knstlerischem in
seinem Gehaben, etwas Prometheischem, das dem Licht-
bringer, dem praktischen Genie mit seinen 200 Patenten
wohl anstand. Kaa trug in sein Tagebuch (. November
9) die Bemerkung ein, Edison habe in einem amerika-
nischen Interview ber seine Reise durch Bhmen erzhlt,
seiner Meinung nach beruhe die verhltnismig hhere
Entwicklung Bhmens darauf, da die Auswanderung der
Tschechen nach Amerika so gro ist und da die einzel-
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weise Zurckkehrenden neues Streben von dort mitbrin-
gen. Diese Schlufolgerung war wohl nur zu geringem
Grade richtig. Hauptschlich mochte sie darauf zurckge-
hen, da einer der liebsten Mitarbeiter Edisons, der PragerIngenieur Kolben, aus Amerika in seine Heimat zurckge-
kehrt und daselbst in der Industrie sehr bald fhrend ge-
worden war. Kolben war allerdings kein Tscheche, sondern
gehrte ebenso wie Kaa dem Prager deutschen Juden-
tum an. Da ich mit Kaa unter jenem Edisonbildnis sa,
war brigens nur zufllig; denn Kaa besuchte Kaffee-huser nur selten. Aber er kam doch zuweilen ins Conti-
nental, ins Arco oder eben auch ins Edison, und ich
entsinne mich noch einer anderen Gelegenheit, wie er unter
jenem Edisonbild in grerem Kreis nach einer Vorlesung
Ludwig Hardts diesem erstaunlichen Rezitator lauschte,
der stundenlang prachtvolle ostjdische Geschichten zumbesten gab.
Kaas Eintragung ber Edison und sein Interesse an
seiner Erscheinung war keineswegs beilufig, sondern ge-
hrte dem Magnetfeld an, das sich dann 92 in den ersten
Skizzen des fragmentarisch gebliebenen Romans Der Ver-
schollene auswirkte, von Max Brod postum unter demTitel Amerika verffentlicht (das Anfangskapitel Der
Heizer allerdings schon 93 in der von Kurt Wolff ge-
schaffenen Reihe Der jngste Tag). Die wichtigste zu
diesem Roman gehrende Amerikaaufzeichnung Kaas
ist die Tagebucheintragung Traum vom . September
92. Der Trumer, das heit Kaa, erlebt sich selbst mit-
ten im Hafen von New York. Der Himmel war grau, aber
gleichmig hell. Ich drehte mich, frei der Lu von allen
Seiten ausgesetzt, auf meinem Platz (einer aus Quadern
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weit ins Meer hinausgebauten Landzunge) hin und her, um
alles sehen zu knnen. Gegen New York zu ging der Blick
ein wenig in die Tiefe, gegen das Meer zu ging er empor.
Nun bemerkte ich auch, da das Wasser neben uns hoheWellen schlug und ein ungeheuer fremdlndischer Verkehr
sich auf ihm abwickelte. In Erinnerung ist mir nur, da statt
unserer Fle lange Stmme zu einem riesigen runden
Bndel zusammengeschnrt waren, das in der Fahrt immer
wieder mit der Schnittflche je nach der Hhe der Wellen
mehr oder weniger auauchte und dabei auch noch derLnge nach sich in dem Wasser wlzte. Ich setzte mich,
zog die Fe an mich, zuckte vor Vergngen, grub mich
vor Behagen frmlich in den Boden ein und sagte: Das
ist ja noch interessanter als der Verkehr auf dem Pariser
Boulevard.
Diese Traumvision bildet die Erlebnisparallele des tur-bulenten Hafenbildes der Einfahrt in New York in Der
Heizer, zu dem anschauliche persnliche Berichte von
Amerikabesuchern, aber bestimmt auch die Beschreibung
der Ankun in New York in den American Notes von
Charles Dickens beigetragen haben. Kaa wnschte ja
auch, das Buch mchte wie ein Dickens-Roman zu lesensein, nur bereichert um die schrferen Lichter, die ich der
Zeit entnommen, und die matteren, die ich selbst aufge-
steckt hatte. Den wichtigsten Beitrag freilich lieferte Kaf-
kas exakte Phantasie, die sich besonders an dem unge-
heuer fremdlndischen Verkehr entzndete, der in Der
Heizer lustvoll beschrieben wird. Seine Imaginationen
waren so korrekt, da er in Der Verschollene die doch
von ihm nie wirklich gesehenen amerikanischen Autobah-
nen mit einem ebenso gewaltigen wie vllig zutreffenden
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Bild kennzeichnet: Ein mchtiges Licht, das immer wie-
der von der Menge der Gegenstnde verstreut, fortgetra-
gen und wieder eifrig herbeigebracht wird und das dem be-
trten Auge so krperlich erscheint, als werde ber dieserStrae eine alles bedeckende Glasscheibe jeden Augenblick
immer wieder mit aller Kra zerschlagen. Hier werden in
der Metapher Riesenmassen aufgespeicherter natrlicher
und technischer Energien entbunden, und wer amerikani-
sche Highways kennt, wird die Echtheit dieser vehementen
Vision besttigen. Nicht minder gegenstndlich ist Kaas Darstellung der
Verkehrsdichte New Yorks. Es ist, als htte er die Metro-
pole jetzt, fnfzig Jahre spter, genauest studiert. Straen,
wo das Publikum in groer, unverhllter Furcht vor Ver-
sptung in fliegendem Schritt und in Fahrzeugen, die
zu mglichster Eile gebracht waren, vorwrts drngte riesenhae Wagen, so auffllig in ihrem Bau und so kurz
in ihrer Erscheinung, da man nicht Zeit hatte, auch nur
das Vorhandensein von Insassen zu bemerken Kolonnen
von Fuhrwerken, die in fnf die ganze Breite der Strae ein-
nehmenden Reihen so ununterbrochen dahinzogen, da
niemand die Strae htte berqueren knnen wenn aneinzelnen Stellen infolge allzugroen Andrangs von den
Seiten her Umstellungen vorgenommen werden muten,
stockten die ganzen Reihen und fuhren nur Schritt fr
Schritt Dann aber kam es vor, da fr ein Weilchen alles
blitzschnell vorbeijagte, bis es, wie von einer einzigen Brem-
se regiert, sich wieder besnigte. Ein anderes konkretes
Bild: Die Brcke, die New York mit Brooklyn verbindet,
hing zart ber dem East River, und sie erzitterte, wenn man
die Augen klein machte. Sie schien im Vogelschaubild
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ganz ohne Verkehr zu sein, und unter ihr spannte sich das
glatte Wasserband. Die psychophysische Prgnanz dieser
Bilder entspricht der klaren Sicht soziologischer Phno-
mene, so da Kaa zum Beispiel die Umstnde eines ameri-kanischen Liboys in den Tatsachen nicht nur eindrucks-
voll, sondern sogar richtiger schildert als etwa eodore
Dreiser, der doch auf Grund persnlicher Anschauung und
als Amerikaner schrieb. Wenn aber Kaa in den Eingangs-
zeilen von Der Heizer die Freiheitsstatue ein Schwert
zcken lt anstatt der wirklichen Lampe, so war das kei-neswegs ein lapsus calamioder gar visionis, sondern eine sym-
bolische Absicht, ein Dahinterblicken hnlich dem Haw-
thornes (in seiner Einleitung zu Der scharlachrote Buch-
stabe) bei Betrachtung des amerikanischen Wappenadlers
ber dem Zollhaus seiner Heimatstadt Salem in Massa-
chusetts. In Kaas erstem Buch, Betrachtung (92), tauchen
bereits amerikanische Anspielungen auf. Da ist der in einen
einzigen dichten Satz gebannte Wunschtraum, Indianer
zu werden (dem sich eine Tagebuchnotiz ber Kmpfe
zwischen Indianern und amerikanischen Regierungstrup-
pen gesellen liee), oder die Antwort eines schnen Md-chens, das einem Anwrter auf ihre Gunst vorhlt: Du
bist kein breiter Amerikaner mit indianischem Wuchs, mit
waagerecht ruhenden Augen, mit einer von der Lu der
Rasenpltze und der sie durchstrmenden Flsse massier-
ten Haut; du hast keine Reisen gemacht zu den groen
Seen und auf ihnen. Also bitte, warum soll ich, ein schnes
Mdchen, mit dir gehen? Ironisch gemeint? Gewi. Aber
ebenso wehmtig ernst auf sich selbst hinblickend. Zu al-
lem auch noch eine Vorhaltung, mit der besonders mancher
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Anwrter heute bei einem schnen Mdchen zu rechnen
hat. Kaas Tagebcher enthalten Bemerkungen ber die
Mdchen New Yorks, jung, berufsttig und hbsch ge-
kleidet; ber das Leben eines Warenhausangestellten inChicago und die dortigen Verhltnisse; ber die tschechi-
schen Ansiedler in Nebraska, die amerikanischen Wahlen
und das amerikanische Parteiensystem (auf Grund eines von
Kaa mitangehrten Vortrags des tschechischen sozial-
demokratischen Politikers Soukup); ber jemanden, der
die Frage stellt, warum es den Amerikanern so gut geht,obwohl sie bei jedem zweiten Wort fluchen. Die Erschei-
nung Benjamin Franklins beschigte Kaa auerordent-
lich, vor allem psychologisch. Aus dem (November 99)
geschriebenen langen Brief an den Vater geht hervor,
da Kaa seinem Vater Franklins Autobiographie zu le-
sen gegeben hatte, um ihm die Wechselbeziehung zwischenFranklin und dessen Vater vorzufhren. (Auch in dem Pro-
sastck Elf Shne spiegelt sich etwas von Franklins klar-
sichtigem und zugleich liebendem Realismus.)
Kaas Interesse an Amerika, seine Informiertheit wie
sein innerlich erschlossenes dichterisches Wissen um die
ferne Welt (in vielem mit jenem Goethes vergleichbar, derden Hafen von Boston auch genau beschreiben konnte und
von Amerika mehr wute, als ihm aus Bchern und persn-
lichen Berichten zukommen konnte) bilden aber keines-
wegs die direkte Ursache fr das heige Interesse der Ame-
rikaner an Kaa, dessen Name als literarisches Haushalt-
wort ebensoo gebraucht und mibraucht wird wie der
Freuds als psychologisches oder der Einsteins als eines
Schwurzeugen dafr, da alles relativ sei. Zwar kann
man die Befassung mit Kaa heutzutage als ein Weltph-
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nomen bezeichnen (das nunmehr auch fhlbar in den Ln-
dern hinter dem Eisernen Vorhang zur Geltung kommt,
sogar in Kaas Geburtsland), aber am strksten bekunden
sich die Einwirkungen Kaas doch in der angloamerika-nischen Sphre. Ich stutzte schon 939, als mir im Londo-
ner Daily Telegraph mitten in einem Tagesbericht der
Ausdruck Kaa-like begegnete, also eine selbstver-
stndliche Anwendung des Namens, die seine Gemein-
kenntnis beim durchschnittlichen Leser voraussetzte. In
Amerika dann stie ich seit 94 unablssig und zunehmendauf den Namen Kaas, nicht nur im Kreise von Schri-
stellern oder ein geistiges Leben fhrender Menschen. Der
Name war ein allgemeiner Begriff geworden fr die Seelen-
problematik des Individuums innerhalb gewisser von Un-
sicherheiten aller Art, von unerreichter oder unverarbeite-
ter Religiositt gequlter Schichten. Sie glauben sich selbstund ihre Auswegslosigkeit in Kaas Menschen zu erken-
nen; da Kaas eigene Persnlichkeit problematisch war,
da sein autobiographisches Werk ber dem Leser immerzu
mit aller Kra sich zersplittert wie das magische Licht ber
den amerikanischen Highways, drngt introverte Naturen
zu einem hohen Grad von Identifizierung. Sie bersehendabei den unbestechlichen Realismus Kaas, seinen Hu-
mor und die herrliche Ironie, mit der er sich ber die Er-
scheinungen zu stellen wute, um ihnen dadurch den Cha-
rakter des Problems zu belassen (eine Anregung Goethes),
seinen durchdringenden Blick, der den faxenlosen Urzu-
stand der Dinge und Menschen blolegte.
Die Aktualitt Kaas deutet man als einen Beweis fr das
Zusammentreffen seiner Visionen (von angsterfllter Aus-
weglosigkeit inmitten einer kosmischen Brokratie) mit
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gewissen qualvollen, keineswegs auf bestimmte Zonen be-
schrnkten Zeiterscheinungen. Seine wahre Gre liegt in
der Gltigkeit seiner Bilder. In jeder Metapher ist immer
mehr enthalten, als deren Schpfer beabsichtigte, da ja einBild eine autonome Existenz fhrt und wenn es echt und
exakt ist von sich aus Bedeutungen entwickelt, fr die zur
Zeit seiner Entstehung vielleicht noch gar keine ueren
Beziehungsgrnde bestanden. So vermchte etwa Goethe
die gegenwrtige Bedeutungstiefe seiner Symbole nicht zu
ermessen. Denn sie deuten heute eine ihm noch unvorstell-bare Welt. In dieser dauernden Deutungskra liegt ihre
Gre. Das problematisch oder zeitrumlich Gebundene
von Symbolen kann sich entbinden und neu verknpfen.
Deshalb haben Brods Deutungen Kaas in ihrer Art eben-
soviel Gltigkeit wie die des um etwa zwei Generationen
jngeren Wilhelm Emrich. Fr den spten Leser mag sich der o so bedeutsame An-
regungspunkt eines Bildes ohne Schaden verlieren. Wer
Kaa und seine Umwelt kannte, wei noch, da sein Tr-
hter (in Vor dem Gesetz) eine direkte Spiegelung der
schwerbemantelten, zweispitzgekrnten, brtigen und
grimm dreinblickenden Portiers ist, die mit goldbeknauenStben die mchtigen Tore der Prager Adelspalste be-
wachten und die Knaben auch nicht einmal von der Seite
ins Innere bcken lieen, von wo ein unverlschlicher h-
herer Glanz hervorzudringen schien. Die Bedeutung der
Dialoge des Trhters mit dem einlabegehrenden Mann
vom Lande ist vielfltig und hat sich gewandelt. Kaas
Bilder sind eigentlich keine Bilder, sondern die Realitt
hinter den Bildern, in denen sich die Welt und das Dasein
anbieten. Existenz ist berhaupt nur symbolisch, die Tra-
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gik des Symbolseins besteht in seiner unaurlichen und
vergeblichen Suche danach, was symbolisiert wird. So war
Amerika, gerade mit all seinem Realismus, dem er nachhing
und den er gestaltete, fr Kaa ein Symbol. Das unauf-hrliche Suchen aber nach dem Gehalt des Symbols ist auch
die unaurliche Angst, der sich nur die Ironie rettend
entgegenstellen kann. Mein Wesen ist Angst, schreibt
Kaa (in einem Brief an seine Freundin Milena). Diese
Angst endet auch nicht vor den Pforten des Paradieses, ja
dort ertnen ihre lautesten Schreie. Der Amerikaner vonheute wittert in Kaas Einsicht in die seelische Struktur
des Individuums mit Recht die triigste Gesellschaskritik
des Zeitalters. Der Verschollene (rechtens Amerika
benannt und ob schon in vllig anderen problematischen
Rumen die Linie der Wanderjahre weiter fhrend)
stellt sich in die Mitte der realistischsten und soziologischin grten Entscheidungen begriffenen Welt. Deshalb
mute die Aktualitt Kaas so enorm werden, und deshalb
lohnt es, sich die scheinbare Antithese EdisonKaa ge-
genwrtig zu halten; denn Edison wie einst Franklin
reprsentiert den amerikanischen Wunschtraum.
Trotz aller Bewunderung empfindet man weder beiProust noch bei Joyce das Tua res agitur so intensiv wie
bei Kaa. Der amerikanische Leser fhlt sich aber auch
deshalb von ihm so unmittelbar alteriert, weil hinter allen
seinen Fragestellungen die groe Frage nach der Freiheit
sich warnend erhebt, die man bereits beantwortet glaubte.
Diese Frage aber ist im tiefsten religis und nur im ue-
ren politisch. Der Besitz mechanischer Apparaturen, um
die Welt aus den Angeln zu heben, kann ber das wahre
Wesen der Straolonie nicht hinwegtuschen. In der
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verzweifelten Suche aber nach dem Platz, wo der verhng-
nisvolle Hebel anzusetzen wre, bemerkt man pltzlich, da
man selbst auf ihm sitzt.
Karl Romann, der Held von Der Heizer und des Ro-mans Der Verschollene, der auch schon deshalb Frag-
ment bleiben mute, weil Kaa fr ihn ein Happy End ge-
plant hatte, stammt aus derselben Zeit, in der mir mein Phy-
sikprofessor tadelnd vom Katheder zurief: Solche Men-
schen wie Sie hat man frher nach Amerika geschickt. Ich
bin freilich etwas spter und allerdings auch aus anderenGrnden hingelangt als den vom Physiklehrer als zwin-
gend erachteten. Aber Kaa habe ich dort wieder vorge-
funden, lebendig, bewundert, als Geist des Zeitalters er-
kannt oder auch skeptisch abgewiesen. Vielerlei endlos in-
einandergreifende Kaasche Korridore bot die reale ameri-
kanische Wolkenkratzerwirklichkeit. Die fnf- und sechs-jhrigen Kinder von Angel Flores, der e Kaa Pro-
blem herausgab, kamen mir in der Halle seines Hauses mit
dem Schrei Kaa, Kaa entgegengerannt, als wre es
ein von den endlosen Rasenpltzen der Prrien herberhal-
lender indianischer Kampfruf, und im Wohnzimmer war-
teten gleich drei amerikanische Autoren, von denen jederim Begriffe war, ein Buch ber Kaa zu schreiben, und de-
ren Frauen die Tageseinteilung Kaas in Prag genau ge-
genwrtig hatten. Ich hatte mit Kaa einmal um drei
Uhr nachmittags beim Pulverturm ein Rendezvous, be-
gann meine Frau zu erzhlen. Unmglich, fiel eine blut-
junge Amerikanerin ein, er hatte doch bis vier Uhr dreiig
Amtsstunden in der Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt.
So genau wuten die Teenager schon vor zwanzig Jahren
ber Kaa Bescheid. Er traf mich aber trotzdem um drei
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Uhr, beharrte Gertrude Urzidil, damit andeutend, da
man es mit dem Positiven so genau nicht nehmen, sondern
sich mit Ironie darber erheben msse, um ihm dadurch
den Charakter des Problematischen zu bewahren.
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III Das Reich des Unerreichbaren
Kaas kurzes Prosastck Das nchste Dorf bietet sich
zunchst als autobiographische uerung. Kaa kannteseinen Grovater und berliefert von ihm eine Aussage,
wie sie fast ausnahmslos von allen Grovtern der Welt ge-
macht zu werden pflegt, nmlich: Das Leben ist kurz.
Da der Grovater wie alle Menschen sich sein Leben
lnger vorgestellt oder gewnscht hatte, als es nun doch zu
dauern scheint, qualifiziert er seine Feststellung, indem erdie Krze des Lebens erstaunlich findet. Das Leben ist
erstaunlich kurz. Selbstverstndlich hat nur ein Grovater
gengend zeitliche Voraussetzungen fr eine derartige Er-
kenntnis. Bis hieher, so scheint es, liefert uns Kaa ledig-
lich das Bild einer behaglichen Familiensituation, so behag-
lich, wie sie sich in seinem Elternhaus kaum je ergab. Umdiese einfache Situation zu etablieren, bedient er sich eines
einfachen Satzes. Das Behagliche uert sich im Iterativen.
Mein Grovater pflegte zu sagen, man hrte ihm also
hufig zu.
Nun aber folgt, was das Vorgebrachte zur Parabel um-
prgt, zu einer sehr farbenkrigen Gleichnisrede, zu dersich vorerst das folgende beibringen lt.
Der achtzigste Spruch des Lao Tse lautet:
Mag das Land klein sein und wenig Leute haben.
La es zehnerlei oder hunderterlei Gerte haben,
ohne sie zu gebrauchen.
La die Leute den Tod wichtig nehmen
und nicht in die Ferne schweifen.
Ob auch Schiffe und Wagen vorhanden wren,
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sei niemand, der darin fahre.
Ob auch Wehr und Waffen da wren,
sei niemand, der sie verwende.
La die Leute wieder Knoten aus Stricken knpfen und sie gebrauchen statt der Schri.
Mach s ihre Speise
und schn ihre Kleidung,
friedlich ihre Wohnung
und frhlich ihre Sitten.
Nachbarlnder mgen in Sehweite liegen, da man den Ruf der Hhne und Hunde
gegenseitig hren kann:
Und doch sollten die Leute in hchstem Alter sterben,
ohne hin und her gereist zu sein.(Zitiert nach Richard Wilhelm)
Was ist fr den Chinesen die entscheidende Voraussetzungdes goldenen naturnahen Zeitalters, das er als Ideal vor-
fhrt? Die Beschrnkung auf ein Mindestma der Bedrf-
nisse; da es unntig sei, in die Ferne zu schweifen; und da
es richtig sei, selbst bei allerlngster Lebensspanne nicht
einmal das nchste Dorf angestrebt zu haben, sei es auch
so nahe, da einen die dortigen Hhne wecken und dieHunde zur Nacht durch Bellen stren. Ovid hat bei der
Darstellung seiner Aurea Aetas das Fehlen der Reiselust
als Tugend hervorgehoben: Nullaque mortales praeter
sua litora norant. Und von oreau stammt die uerung,
er kenne die Welt grndlich, denn er sei viele Jahre in Con-
cord umhergereist.
Hier sei gleich bemerkt, da Kaa die Haltungen der
Entsagung und des Verzichtes von sich aus nicht einnahm.
Sein war die Leidenscha der Suche und der Flucht, die
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beiden Daseinsformen virulenten Begehrens, whrend Ent-
sagung und Verzicht eben eher grovterlich sind. Die Me-
ditation des Grovaters lu nun dahin, da sein erstaun-
lich kurzes (in Wirklichkeit erstaunlich langes) Leben jetztin der Erinnerung eine merkwrdige Zusammendrngung
erfhrt. Es ist in diesem Leben so viel vorgegangen, da es
im Erinnerungsraum fast nicht mehr Platz finden kann, so
viel, da ich zum Beispiel kaum begreife, wie ein junger
Mensch sich entschlieen kann, ins nchste Dorf zu rei-
ten Man beachte zunchst die Formulierung zum Bei-spiel, die bedeuten kann, es liee sich auch noch anderes zur
Untersttzung meiner Ansicht vorbringen; oder auch:
zum Beispiel begreife ich es kaum, das heit ich begreife
es zwar einigermaen, aber doch nicht vollkommen (eine
der Kaaschen Vorsichtsmanahmen beim Vorbringen
von Ansichten); oder ich begreife es nur zum Beispielkaum, ich stelle dieses Beispiel meines unzulnglichen
grovterlichen Begreifens zur Diskussion und frage: wie
kann sich ein junger Mensch entschlieen, ins nchste Dorf
zu reiten (deutlicher: wie kann sich ein junger Mensch ber-
haupt entschlieen, auch nur ins nchste Dorf zu reiten),
ohne zu frchten, da von unglcklichen Zufllen ganzabgesehen (wie also kann er sich entschlieen, ohne zu
frchten, wie kann man berhaupt existieren, ohne zu frch-
ten) schon die Zeit des gewhnlichen glcklich ablaufen-
den Lebens (wenn es berhaupt derartiges gibt, aber das
Glck wird hier als allgemeine Lokalfarbe des Gewhnli-
chen im Kontrast zu den unglcklichen Zufllen einge-
fhrt) fr einen solchen Ritt bei weitem nicht hinreicht.
Nicht einmal ein bis zur Grovterlichkeit gedehntes
Leben wrde also hinreichen, nein, bei weitem nicht,
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denn die Entfernung ist ja, genau genommen, so unausme-
bar gro und die Zeit so unausmebar kurz, da man wh-
rend eines solchen Rittes vor Erreichung des Zieles, schiene
es auch noch so nahe, sehr wahrscheinlich sterben mte.Kaa, beziehungsweise sein Grovater, behauptet kei-
neswegs, da die Entfernung wirklich so weit und die Zeit
wirklich so kurz sei; er sagt lediglich, da diese Zeit- und
Raumvorstellungen der Furcht eines solchen jungen Men-
schen angehren mten. Es geht also in diesem Prosa-
stck nicht um das Zusammendrngen der Realitt odergar um die Auebung des Zeitbegriffs, nicht um die Kr-
ze des Lebens an sich oder auch nur im Rckblick, nicht
um Raumvorstellungen der geographischen Nhe oder
Ferne, sondern um die Furcht. Was der Grovater, der
nicht mehr handelt, sondern nur noch bedenkt, kaum be-
greifen zu knnen glaubt, ist des jungen Menschen Furcht-und Bedenkenlosigkeit, sein ungehemmtes Sich-entschlie-
en-Knnen. Der Kern der Parabel, die Lehre und Forde-
rung erzhlend aufgestellt, liegt im Begriff der Verantwor-
tung und kann durch Goethes Satz illustriert werden: Der
Handelnde ist immer gewissenlos; es hat niemand Gewis-
sen als der Betrachtende. Die Parabel ist ein groes Staunen. Staunen darber, da
es Menschen gibt und offenbar sogar die meisten Men-
schen , die ohne Furcht, Bedenken oder Gewissen einen
Entschlu und seine Ausfhrung wagen, Menschen, die
gar nicht auf den Gedanken kommen, sich die weitreichen-
den Ramifikationen und Folgemglichkeiten ihres Ent-
schlusses mit seiner Ausfhrung vor Augen zu halten, dem-
gem also jenseits der Sittlichkeit agieren und ohne diese
auskommen; ja da eigentlich das Leben als Geschehen
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aufgefat sich auerhalb des Bedenkens vollzieht, ja voll-
ziehen mu, denn nur auerbedenklich kann es berhaupt
Farbe haben und Leben genannt werden. Staunen und Be-
dauern, da Kaa sich selbst auerhalb dieser lebendigenWirklichkeit wahrnimmt. In den Maximen und Reflexio-
nen vermerkte Goethe: Es ist nichts Furchtbareres an-
zuschauen als grenzenlose Ttigkeit ohne Fundament.
Man beachte die Begriffe Furchtbar und Grenzenlos.
Auch Lao Tse schien eine grenzenlose Ttigkeit beun-
ruhigend. Menschen, die glcklich sein wollen, sollen mg-lichst wenig Betrieb veranstalten, denn sie sind den Ver-
antwortungen nicht gewachsen. Um auf oreau umzu-
schalten: Selbst grter Wissensdurst kann auf kleinstem
Raum befriedigt werden. Concord reicht aus, um die Welt
kennenzulernen, und sogar grndlich. Tolstoj, ein erklr-
ter Geistesverwandter oreaus, lt den Gedanken in sei-ner Meistererzhlung Wieviel Erde braucht der Mensch?
aulingen. In Verbindung mit Kaa mte auch hier
Kierkegaard beschworen werden, der seine Religiositt
aus den Elementen der Furcht und Verantwortung ent-
wickelt. Es sind ja biblische Elemente. Die Furcht der
Dinge und Menschen, der irdischen Phnomene, die Furchtvor sich selbst entbindet sich in der Furcht des Herrn, die
als eigentlichste Weisheit angesagt wird; und das Meiden
des Bsen ist jene verstndige Verantwortung, mit der der
Mensch von Anfang an von Gott belehnt wird, die er aber
vermge des bedenkenlosen Handelns im Sndenfall ber-
springt.
Der Stil des parabolischen Teils der grovterlichen
Aussage ist der fr Kaa bezeichnende, durch Zwischen-
schaltungen unterbrochene, gleichsam nicht zu Ende kom-
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mende (oder kommen wollende) Satz. Er ist wie das Le-
ben selbst, das er umfat labyrinthisch und zugleich klar,
abstrakt und zugleich konkret, eine realistische Feststellung
ohne Pathos. Wie die Welt ist er voll von Einschrnkungenund Ausweitungen (da ich zum Beispiel kaum begreife
ohne zu frchten ganz abgesehen von schon
die Zeit des gewhnlichen, glcklich ablaufenden Lebens
bei weitem nicht hinreicht). Deutlicher noch als in der
Trhtergeschichte zeigt sich im Satz ber das nchste
Dorf die Parabel als einzig legitime, biblisch unterlegteForm des Amalgams von Jenseits und Diesseits.
Furcht (oder Angst) sind bei Kaa religise Affekte und
als solche gedankenerzeugend und formgebend, nicht
wie angustiae andeutet drosselnder Engpa physiolo-
gisch bedingter Angst und nicht das Furchthaben der Phi-
lister, von dem sich Goethe so deutlich distanzierte (nichtvon der Furcht selbst, ohne die niemand leben kann, son-
dern von der Furcht der Philister, die frchten, was dem
Erkennenden oder Frommen nie furchtbar wre). Auch
Kaas Tagebuchaufschrei: Furcht vor der Nacht, Furcht
vor der Nicht-Nacht (8. Oktober 97) ist keine physio-
logische, sondern eine religise Emotion (Tag als Nicht-Nacht; Nacht als das eigentlich Bestehende). Wenn er (in
einem Brief an Milena, aber auch sonst immer wieder in
Brief- und Tagebuchstellen) sein eigentliches Wesen als
Angst bezeichnet, so haben wir an den gttererzeugenden
timor des Statius zu denken, an einen produktiven Zu-
stand, denn niemand singt so rein als die, welche in der
tiefsten Hlle sind; was wir fr den Gesang der Engel hal-
ten, ist ihr Gesang (an Milena). Solche religis bedingte,
produktive Angst wirkt beim Bau der Chinesischen Mauer
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oder der endlosen und lebenslangen Maulwurfsgnge, mit
denen sich das allegorische aber auch das wirkliche Tier
gegen unabsehbare Bedrohungen zu sichern sucht; sie
wirkt auch in den superbrokratischen Daseinslabyrinthen,mit denen sich das Schlo die Dorfleute und den Homo-
Landvermesser, der Mensch den Menschen (vermge der
Institutionen und Gerichte im Proze) oder das unab-
sehbare und inkalkulable Gastland den Einwanderer (im
Romann-Roman) vom Leibe hlt. Und indem die Furcht
die Gtter, die Gesnge, die Architekturen und die Insti-tutionen hervorbringt, steht sie dauernd unter den verant-
wortungsschweren Anfechtungen des bedenkenden Ge-
wissens.
Das Problem liegt nun aber so und das ist aller Haupt-
konflikt des Menschen fr Kaa wie schon fr Kierke-
gaard , da der Mensch durch die Wlle der bewutenVerantwortung gar nicht bis zum Entschlu oder gar zur
Tat vordringt, die ihm aber andrerseits auferlegt erscheint,
ja vom Leben um des Lebens willen gefordert wird. Ent-
scheidest du dich nicht, so versumst du das Leben. Das ist
Snde, denn Leben ist religise Pflicht. Willst du dich aber
entscheiden, dann ist die Avenue der Verantwortungen,die sich vor dir auut, so endlos lang, da du die Entschei-
dung nicht erreichst. Auch dadurch wirst du sndig. Han-
delst du aber ohne Entscheidung und Verantwortungsbe-
wutsein, das heit jenseits des Gewissens, dann bist du
ebenfalls sndig (woran nichts ndert, da gewisse dialek-
tisch wohlunterkellerte Ideologien das Handeln jenseits
des Gewissens auch als jenseits der Snde erachten). Der
Mensch ist nur dadurch Mensch, da er sich der Problema-
tik des Menschen stellt, die sich aus der Aktivierung seines
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Verantwortungsbewutseins ergibt. Der Konflikt kann
aber fernstlich durch Vermeidung des Ritts ins nchste
Dorf fr uns nicht gelst werden, denn das goldene Zeit-
alter vor der Schwelle der Problematik ist dahin, falls es je-mals bestand. Der Grovater kann kaum begreifen, wie ein
junger Mensch sich entschlieen kann, ins nchste Dorf zu
reiten, obschon er selbst als junger Mensch es wahrschein-
lich getan hatte oder zumindest andere dabei beobachtete.
Er selbst (oder die anderen) haben sich vielleicht gar nicht
entschlossen, sie lieen Gewissensskrupel gar nicht erstauommen, sondern ritten eben los. Und wenn schon,
fragt jemand, was lag daran? Die Antwort lautet: Alles!
Denn jede Tat wird nicht erst durch ihre Folgen sndha,
sondern ist es bereits dadurch, da sie ohne volles Bedenken
ihrer Implikationen vollbracht wird (auch wenn sie keinen
unmittelbaren Schaden zu stien scheint). Da sitzt nun derGrovater, und es sieht aus, als ob er das Leben nicht ver-
stehen knne, obwohl er es gelebt hat. Und das allein ist
auch vollkommen richtig, denn zwischen Leben und Ver-
stehen ist eine unberschreitbare Klu, und die Welt ist ein
niemals aufgehender Bruch.
Die Parabel Vor dem Gesetz ist gedanklich das Kern-stck der sittlichen, gestalterisch das der dichterischen Exi-
stenz Kaas. Vor dem Gesetz steht ein Trhter. Das
Gesetz erscheint also hier als Gebude, vor dem (beziehungs-
weise vor dessen Eingang) ein Portier, ein Trhter, steht.
Seine Aufgabe ist offenkundig. Wer hinein will, unterliegt
seinem Skrutinium und soll nicht um ihn herumkommen.
Dies wenigstens ist der bliche Sinn von Trhtern.
Das Gesetz als Haus ist eine verbrgte Vorstellung. In
meines Vaters Hause sind viele Wohnungen, heit es im
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Evangelium. Das Gesetz gut als die Wahrheit, in der zu
wohnen die Vergnstigung gewisser Menschen sein kann.
(Flaubert: Ces sont dans le vrai, von Kaa wiederholt
zitiert.) Gemeint ist selbstverstndlich nicht das von Men-schen aus Phnomenen gefolgerte Gesetz, sondern je-
nes, das das menschliche Sein bestimmt, das moralische
Gesetz, durch das der Mensch sittlich, also eben als
Mensch, existiert und das, ebenso wie der gestirnte Him-
mel, Ehrfurcht und Bewunderung erweckt. Das Gesetz
aber, wie es Kaa vorschwebt, ist noch weit mehr als dasGesetz Kants, selbstverstndlich auch weit mehr als alle
juristischen Gesetzesbauten, deren etwa Kaa vermge
seines Rechtsstudiums htte gewahr werden knnen: sein
Haus des Gesetzes ist wesentlich nach dem Richtma der
jdischen Gesetzesgesamtheit gebaut, die aus der ora,
also der Unterweisung und deren Auslegung durch denTalmud, besteht. Es ist freilich nicht etwa so, da Kaa
geradezu das jdische Gesetz als solches meint; er whlt es
blo als das ihm zunchst liegende Grundbeispiel, fr das
ein jeder seine eigene moralisch magebende Gesetzhaig-
keit substituieren knnte. Was Kaa vorschwebt, ist das
erhabene Gefge eines durch gttliche Regelung gesicher-ten und getrsteten, von Flucht und Suche erlsten Da-
seins.
Der Trhter, der vor diesem Gesetzeshaus Wache hlt,
ist daher nicht etwa ein jdischer Schammasch (Synagogen-
diener), er knnte vielmehr jede mit einer gewissen Schls-
selgewalt betraute Person sein, ja seine uere Erscheinung
weist den Trhter unverkennbar einer mittelasiatischen-
mongolischen Sphre zu. Da aber Kaa trotzdem von
jdischen Vorstellungen ausgeht, erkennen wir sogleich
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beim zweiten Satz. Zu diesem Trhter kommt ein Mann
vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Warum
gerade ein Mann vom Lande? Schon vor Jahren konnte ich
darauf hinweisen, da Kaa sich hier eines talmudischenTerminus bedient, der hebrisch als Am ha-Arez in Ge-
brauch ist und soviel bedeutet wie Landvolk oder un-
wissender Laie im Gegensatz zum eingeweihten Gelehr-
ten (die Griechen htten Botier gesagt). Dieser Am ha-
Arez oder Mann vom Lande hat den brennenden Wunsch,
ins Gesetz eintreten zu drfen, um darin zu leben wie alleoder jedenfalls die meisten. Er will kein Auenseiter, mch-
te so wie die anderen sein. Aber der Trhter will ihn jetzt
nicht einlassen. Das Wrtchen jetzt ist wichtig. Es
tuscht dem Am ha-Arez eine Chance vor. Vielleicht wird
er spter eintreten drfen. Es ist mglich, sagt der Tr-
hter, jetzt aber nicht. Das Tor zum Gesetz steht offen, es steht immer offen,
aber der Trhter mu wohl ein riesenhaer Mann sein,
denn er verdeckt den ganzen Durchblick, und erst als der
Trhter ein wenig (und wie es scheint: zufllig) beiseite
tritt, wird es dem Mann vom Lande mglich, berhaupt
hineinzusehen, und auch da mu er sich noch bcken. Eskostet also bereits Anstrengung und hngt berdies nicht
vom Manne selbst ab, sondern von der Willkr des Tr-
hters, ob der Am ha-Arez auch nur einen flchtigen, ganz
uerlichen Blick gerade noch ber die Schwelle des Geset-
zes werfen kann. Aber die Anstrengung und die verkrmm-
te Haltung des ins Gesetz Strebenden reizen den Trhter
nur zu Hohn und Lachen. Wenn es dich so lockt, versuche
es doch trotz meines Verbotes hineinzugehen. Merke aber:
ich bin mchtig. Und ich bin nur der unterste Trhter.
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Von Saal zu Saal stehn aber Trhter, einer mchtiger als der
andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal
ich mehr ertragen. Eine ganze Reihe von Rigorosen ist
also vorgesehen, bevor der Kandidat in das eigentlicheReich des Gesetzes promoviert werden kann. (Man mchte
fast an Freimaurerei oder an die Zauberflte denken.)
Die Frage ist aber, ob er berhaupt ein Kandidat ist.
Doch wir glauben bereits zu merken, welchen Verdacht
Kaa hegt. Der Unwissende, der sich nach dem anschei-
nend Selbstverstndlichen sehnt, nach der Ausbung eines(vorgeblich) allgemeinen Rechtes, nmlich ins Gesetz ein-
zutreten, knnte vielleicht die Neigung verspren, von
sich aus und ohne Rcksicht auf den grimmen Trhter zu
handeln, der sich als Gewissen vor ihm aufgepflanzt hat, als
Mentor der Verantwortungen, und ihn nun zu schrecken
beginnt: Sieh zu, worauf du dich da einlassest! Schon ichbin unberwindlich. Aber ich bin blo der Anfang. Bist du
erst einmal eingetreten, dann wird es von einemmal zum
anderen immer rger und bedrohlicher fr dich. Es wird
ausdrcklich erklrt: Solche Schwierigkeiten hat der
Mann vom Lande nicht erwartet. Es will ihm scheinen,
da da irgend etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. War-um sollte der Eintritt in das Gesetz so frchterlich schwer
sein? Der Mann vom Lande schwankt ein wenig und er-
wgt, ob er nicht doch einfach eintreten sollte. Aber der
Anblick des Trhters ist so schreckenerregend, da der
Am ha-Arez aufgibt und sich doch lieber entschliet, auf die
Erlaubnis zu warten. Man beachte: er entschliet sich, sich
nicht zu entschlieen.
Das Schreckenerregende des Trhters kommt beson-
ders im Fremdlndischen seines Wesens zum Ausdruck, das
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uns hier beschrieben wird (Pelzmantel, Spitznase, langer,
dnner, schwarzer tatarischer Bart). Heines Verse An
Edom kommen uns in den Sinn. Aber der Trhter ist
dennoch nicht gerade bsartig. Er gibt dem Mann vomLande sogar einen Schemel, damit er seitwrts der Tr sit-
zen und dort auf die Erlaubnis warten knne, in das Gesetz
einzutreten. Die Schergen des Gesetzes bieten uns also so-
gar gewisse vorgebliche Erleichterungen an, aber doch nur,
um die Schwierigkeiten, die sie uns bereiten, ins Endlose
grausam verlngern zu knnen (Synthese von Gartenlaube-biederkeit mit Sadismus). Denn der Mann vom Lande sitzt
nun auf diesem Schemel Tage und Jahre, er macht immer
wieder Versuche, eingelassen zu werden, er ermdet den
Trhter durch seine Bitten, er wird von diesem immer
neuen Verhren unterworfen, in denen viele Fragen ge-
stellt werden, die aber vllig teilnahmslose Fragen sind,denn der Trhter hat ja aber das wei der Mann vom
Lande nicht oder gesteht es sich nicht ein gar nicht die
Absicht, ihn auf Grund der Fragebeantwortungen einzu-
lassen. Denn er ist gar nicht dazu da aber auch das wei
der Mann vom Lande nicht , den Eintritt wirklich zu ver-
hindern, falls der Wartende sein Warten aufgeben und etwaungeniert eintreten wrde. Dieser aber entschliet sich
nicht, er will eine ausdrckliche Erlaubnis. Das bringt ihn
auf die Idee, den Trhter mit seiner Habe bestechen zu
wollen. Der sadistische Trhter lt ihn gewhren, aber
er interpretiert zugleich sein Verhalten mit den gutmtigen
Worten: Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, et-
was versumt zu haben. So besorgt ist der Trhter um
das Wohlbefinden seines Opfers. hnliches findet sich auch
in Der Proze und Das Schlo. Bei unseren mtern
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nimmt man zwar der Einfachheit halber, um unntige Re-
den zu vermeiden, Bestechungen an, aber erreichen kann
man nichts damit. Der Mensch darf beten, aber er tut dies
auf eigene Faust (Faust, weil das Gebet einer verhaltenenEmprung gegen den Lauf des Beschlossenen gleich-
kommt); ob er damit die obersten Instanzen bewegen kann,
bleibt zumindest fraglich. Behrden ewige wie zeitliche
amtieren wie das Circumlocution Office des kaanahen
Dickens. In order to have an appointment you have got
to have an appointment. But you havent got an appoint-ment, so you cant get an appointment. Und oreau wie-
derholte mit Betonung den Satz: Wir leben nicht von der
Gerechtigkeit, sondern von der Gnade. (Der Apostel an
die Rmer, 6, 4.) Gnade aber will ergriffen sein.
Der Mann vom Lande wird alt und mrrisch ber sol-
chem Warten auf die Gnade. Seine Schwierigkeiten sieht ernicht etwa in sich selbst, sondern einzig in dem wider-
spenstigen Trhter, den er nun jahrelang studiert hat, so
da er sogar mit den Flhen in dessen Pelzkragen vertraut
wird und in kindischer Greisenhaigkeit unter Verlust
smtlicher Proportionen nun sogar diese Flhe bittet, den
Trhter zu einer Erlaubnis zu bewegen. Er hat alle Wrdeund Selbstachtung verloren. Sein Augenlicht ist schwach
geworden. Das einzige, was er noch erkennen kann, ist der
Glanz, der unverlschlich aus der Tre des Gesetzes bricht.
Es ist der Glanz des Verweilens, des getrosten Wohnens,
des Daseins dans le vrai, der Glanz der Schechina, der
Gegenwart Gottes unter den Menschen, seiner das Gebet
der Gemeinscha erleuchtenden Herrlichkeit. Von diesem
fr ihn unerreichbaren Glanz entdeckt der Mann vom
Lande einen Widerschein.
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Nun aber, unmittelbar vor seinem Tode (und Kaa be-
richtet, da sich jetzt in seinem Kopf alle Erfahrungen der
ganzen Zeit sammeln, hnlich wie bei dem Grovater sich
in der Erinnerung das ganze Leben zusammendrngt), vorseinem Tod also und schon kralos in sich gesunken und
unfhig, den erstarrenden Krper aufzurichten, ra er sich
zu einer letzten Frage auf und winkt dem Trhter, sich zu
ihm hinunterzuneigen. Der Trhter ist migelaunt. Seine
Aufgabe bestand ja wie wir wissen nicht darin, die Tre
zu hten, sondern von dem Mann vom Lande unbeachtetbergangen zu werden. Was willst du denn jetzt noch
wissen? fragt er unmutig, du bist unersttlich. Und
jetzt stellt der Am ha-Arez seine Schicksalsfrage, die er kei-
neswegs frher htte stellen knnen, denn es ist eine Frage,
die langjhriges Reifen und die Bitterkeit unendlicher Ver-
sagung voraussetzt: Alle streben doch nach dem Gesetz.Wieso kommt es, da in den vielen Jahren niemand auer
mir Einla verlangt hat? Und da der Trhter erkennt,
da der Mann schon an seinem Ende ist, brllt er ihm zu
er mu brllen, um das bereits vergehende Gehr gerade
noch zu erreichen : Hier konnte niemand sonst Einla
erhalten, denn dieser Eingang war nur fr dich bestimmt.Ich gehe jetzt und schliee ihn.
Diesem Finale entspricht das der Erzhlung Ein Land-
arzt. Betrogen! Betrogen! Einmal dem Fehlluten der
Nachtglocke gefolgt es ist niemals gutzumachen. Jeder
hat eine Tr zum Gesetz, zum Sein dans le vrai; versumt
oder verspielt er den Eintritt, so ist es niemals gut zu ma-
chen. Der Mann vom Lande und jeder ist ein Mann vom
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Lande hngt im Unlsbaren, denn der Eintritt ins Gesetz
soll sich doch unter Befolgung des Gesetzes vollziehen,
wre aber lediglich unter Nichtachtung des Trhters des
Gesetzes mglich, der jedoch nur als trgerischer Ablen-ker vor den Eingang postiert wurde. Betrogen! Betrogen!
Die Schuld verlagert sich zu Gott, der am Ende vor sich
selbst erlsungspflichtig wird. Vor dem Gesetz ist para-
digmatisch fr Kaas theologisches Gesamtwerk, dieses
unbeendete (weil unbeendbare) Streitgesprch mit Gott,
das nur in Ausnahmsstunden der Waffenruhe sich an derParole trstet: Schreiben als Form des Gebets. Das Ge-
bet fhrt die Auseinandersetzung auf anderem Gelnde
weiter. (In der Regula des heiligen Benediktus heit es:
Laborare est orare.) Aber das Gebet ist immer auch eine
Leistung fr die Welt, und nur betende Dichter verdienen
ihren Namen. Die grten beten jedenfalls, auch wenn diesnicht offen ersichtlich scheint.
Vor dem Gesetz ist von jenem realistischen Humor
durchdrungen, den Kaa gerade in ernstesten Zusam-
menhngen in burlesker und skurriler Weise zur Geltung
bringt. Gbe es in einer Welt der Unsicherheiten, Hinder-
nisse und unaurlichen Vorbereitungen auch unwichtigeNebensachen, dann wre selbst diese Welt eingeteilt und
einigermaen bersichtlich, so da eine richtige Bahn des
Verhaltens und Handelns herausgefunden werden knnte.
Nun gibt es aber keine unwichtigen Nebensachen. Es darf
daher bei den Vorkehrungen auch das scheinbar Geringste
nicht unbeachtet bleiben. Auch das sogenannte Zufllige
und selbstverstndlich das Alltglichste ist wichtig zu neh-
men. Alle Erscheinungen aber weisen sich in wandelbaren
Proportionen, wodurch sie ungewhnlich, deformiert, gro-
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tesk, freilich auch immer neu und interessant werden, so
da ber ein Gewohntestes fglich so gesprochen werden
darf, ja sollte, als wre es etwas Niedagewesenes. Es gibt
also berhaupt nur Wunder (Ausspruch Kaas). Und des-halb wendet Kaa jedem Detail auch den Flhen im
Pelzkragen des Trhters jene wissenschaliche Akribie
zu, die und Kaa wei das in ihrer Projektion auf den
Hintergrund eines gigantischen Seelenproblems als Ironie
erscheint.
Diese Ironie ist die herbe Frucht des Mitleids mit derKreatur, deren individuelle Absonderlichkeit sie einer je-
desmal neuen und unlsbaren Tragik preisgibt. Das Unls-
bare fordert die Satire heraus. Da jeder besonders ist, kann
er sich im Grunde an kein Beispiel halten. Nur durch seine
spezifische Tr fnde er Eintritt in das Gesetz. Da er diese
einfache Bestimmung nicht erkennt und statt dessen miteinem monstrsen Trhter endlos verhandelt, macht ein
wunderliches Miverhltnis offenbar. Die Parabel, die den
unbekannten Leerraum zwischen gttlicher und mensch-
licher Welt berbrckt, bedient sich der Hilfe des Abstrusen
(auch in den Evangelien).
Ein groer Teil der Prosa Kaas setzt die anekdotisch-aphoristische Linie fort, auf der sich Claudius, Lichtenberg,
Hebel, Heinrich von Kleist bewegten, durchwegs Auto-
ren, die Kaa hoch verehrte. Die Anekdote und der Apho-
rismus (der in seinen Tagebchern besonders stark auf-
leuchtet) bewahrten sich vor jenem Fragmentarismus, dem
Kaa im Roman rettungslos ausgesetzt erscheint. Dies ist
nicht etwa formal aufzufassen, als ob er technisch den weiten
Atem eines Romans nicht htte durchhalten knnen oder
weil sein verhltnismig frher Tod Beendigungen hint-
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angehalten htte, sondern weil durchgreifende Probleme
und echte Konflikte eher aphoristisch belichtet als einer
epischen Lsung zugefhrt werden knnen. Obschon die
Definitionen des Romans schwanken, so bleibt doch beste-hen, da seine groe Form sich in Lsung und quilibrium
ausdrckt, die nur bei vollem Einklang mit der Natur, der
gewaltigen Besnigerin aller Zustnde, zu erzielen sind.
Deshalb ist vielleicht ein Bck auf Kaas Verhltnis zur
Natur aufschlureich.
Die Antike, die in ungebrochener Beziehung zur Naturlebte, hinterlie uns zwar viele Torsi, aber keine Fragmente.
Hingegen vollzog sich beilufig um die Mitte des zweiten
christlichen Jahrtausends ein Einbruch des skeptischen Be-
denkens, des Wissenwollens und Wissens (auch des Zum-
Beispiel-kaum-begreifen-Knnens), und zugleich wird
jene Epoche des beginnenden abendlndischen Experimen-tierens auch zu einer des signifikanten Fragmentarismus,
der in wesentlichen Fllen (zum Beispiel bei Michelangelo)
mit einem unausgeglichenen Verhltnis zur Natur zusam-
menfllt. Michelangelo ist wie spter Kaa ganz und
gar anthropozentrisch.
Ad personam war Kaa zwar ein Naturfreund. Aber inden Werken und Tagebchern ist nur selten von der leben-
digen Natur die Rede (am meisten noch in den sogenannten
Oktavheen seines Nachlasses). In dem Amerika beti-
telten Romanfragment tauchen zwar Landschaen auf, aber
sie sind um einen Ausdruck Goethes zu gebrauchen von
der exakten Phantasie Kaas errichtet (und deshalb
frappant zutreffend). In anderen Schrien erscheint die Na-
tur nur bruchstckweise, in Traumelementen oder als Ab-
straktion, in Gestalt unbenannter Blumen metaphysischen
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Charakters oder als anthropomorphes Getier mit symboli-
schem Sinn. (In den siebenhundert Seiten der vierzehn
Jahre umfassenden Tagebcher wird Natur oder Land-
scha kaum zehnmal erwhnt und auch dann nur nebenbei.)In Kaas Briefen an seine geliebte Freundin Milena Jesen-
sk liest man freilich von grnenden Struchern, sich ffnen-
den Blten, ragenden Bergen, leuchtender Sonne und wei-
tem Himmel, von einer belebten Landscha mit Insekten,
Eidechsen und Vgeln. Die Ursache liegt darin, da die be-
zaubernde Tschechin selbst wie eine Naturerscheinung inKaas Leben trat.
Die Naturbeziehung der Antike war unwillkrliches Da-
zugehren, so da sich auch zwischen Knstler und Kunst-
werk jene Identitt ergab, die kein Fragment auommen
lie. Solch restlose Identitt gelang Kaa in der anekdo-
tischen oder aphoristischen Aussage, zu der er daher auchdas grte Vertrauen hatte und sich zu ihrer Verffentli-
chung verstand. Das Anekdotische und Aphoristische nun
ist selbstverstndlicher Trger sowohl des Humors als auch
der Satire (was bei Lichtenberg, Claudius, Hebel, Kleist
und anderen deutlich wird). Die Groaufnahme einer Klei-
nigkeit, die Miniaturwiedergabe eines gigantischen Phno-mens, der absurde Riesenschatten, den ein Pygme bei be-
sonderem Sonnenstand wir, die Zeitlupenschau eilferti-
ger Vorgnge, solche Kontraste und Kurzschlsse decken
die latente Komik auf, die bei allem, auch dem Ernstesten,
Tiefsinnigsten und sogar Tragischsten mitagiert, sofern es
von dieser Welt ist. Kaas Satire grei den Widersinn, das
Verworrene und das Unerreichbare auf, etwas der Natur
nach Schmerzhaes, dem er mit sadistischer Przision nach-
geht, erbarmungslos (wie bei In der Straolonie oder
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wie Poe in Die Wassergrube und das Pendel). Gelegent-
lich wird das Schmerzhae so ausschlielich bizarr darge-
tan, da es gar kein Bedauern auommen lt. In solchen
Augenblicken ist Kaa der vollendetste Raconteur, einer,der es versteht, das Phnomen ins Absolute zu erheben, zu-
gleich aber das Diskrepante seines relativen Daseins dem
Lachen vorzubehalten.
In der Anekdote Eine alltgliche Verwirrung berich-
tet Kaa mit berlegener Trockenheit von einem alltg-
lichen Vorfall, dessen Ertragen eben eine alltgliche Ver-wirrung darstelle. Damit aber zeigt er gerade die Merkwr-
digkeit dieses Alltglichen. Worauf er abzielt, ist das All-
tagswunder. Alle menschliche Erziehung wnscht Ursa-
chen und Wirkungen der Dinge blozulegen und verrin-
gert dadurch die Fhigkeit zum Staunen. Man glaubt die
Welt durch Entzauberung wibar zu machen und durchVeralltglichung organisierbar. Dadurch aber verliert der
Mensch jedes echte Verhltnis zu den Erscheinungen. Er
schtzt keine Wunder, denn Wunder sind unbequem, un-
heimlich und daher ungebhrlich. (Schwchlinge geben
keine Begeisterung zu, zeigen sich nie berrascht und ken-
nen alles lngst besser.) Hier sind wir aber bereits wiederbeim religisen, denn die Veralltglichung des Lebens-
wunders hngt mit dem Abhandenkommen des Glaubens
und der Religion zusammen. Kaa aber sieht berhaupt
nur Wunder. Den Horror der Veralltglichung des Un-
gewhnlichen bezeichnet folgender Aphorismus: Leo-
parden brechen in den Tempel ein und saufen die Opfer-
krge leer; das wiederholt sich immer wieder; schlielich
kann man es vorausberechnen, und es wird ein Teil der
Zeremonie. Die Veralltglichung liegt nicht in der Wie-
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derholung des Vorfalls, sondern im Vorausberechnen, dem
der Bildungsmensch alles, aber auch alles zu unterwerfen
sucht.
Das deskriptiv angewandte Wort alltglich aber hat inder Anekdote einen besonderen satirischen Sinn. Seht euch
einmal an, was ihr fr alltglich hlt! Es handelt sich um
einen nchternen Geschsabschlu zwischen den Herren
A. und B. Die Herren versumen einander bei ihrem Ren-
dezvous. Nichts scheint gewhnlicher. Worauf aber geht
das Versumen zurck? Auf den seltsamen Umstand, daA. fr den Weg zu B. der erfahrungsgem zehn Minuten
dauert, am Tage des Geschsabschlusses zehn Stunden
braucht. B. ist nicht mehr anwesend, da er inzwischen zu
A. gegangen ist. Warum dessen Weg zu B. statt zehn Mi-
nuten diesmal zehn Stunden dauerte, wird zwar nicht ge-
sagt, aber wir knnen es uns erklren. A. mchte zwar mitder merkantilen Seite seines Wesens das Gesch gerne ab-
schlieen, irgend etwas in ihm aber erzeugt einen unbe-
wuten Widerstand und verzgert sein Vorwrtskommen,
obwohl er unglaublich hastet. Das geht so weit, da er im
eigenen Haustor an seinem prsumtiven Partner vorber-
eilt und ihm, mit dem er doch das Gesch abschlieenwill, sagt, er habe keine Zeit, sich mit ihm abzugeben, da er
schnell fort msse, um mit ihm ein Gesch abzuschlieen.
Ja noch mehr: als er bei der Rckkehr hrt, der Partner
warte im Oberstock bereits auf ihn, treibt er seine Eile, ihn
zu treffen, so sehr an, da er stolpert, sich eine schmerzhae
Sehnenzerrung zuzieht und sich derart selbst daran verhin-
dert, zu B. zu gelangen, der inzwischen wtend (wahr-
scheinlich an dem Verletzten vorbei) die Treppen hinunter-
stamp und endgltig verschwindet.
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Kaa kannte Freuds eorie der Fehlleistungen genau
und Goethe als entschiedensten Verknder der Bedeutung
des Unbewuten noch viel genauer, bentigte aber fr
seine tiefenpsychologischen Wahrnehmungen keinen vonbeiden, denn gerade die aus dem Unbewuten vordringen-
den Reaktionen bilden das Um und Auf seiner eigensten
Satire. Doch kam es ihm bei Eine alltgliche Verwirrung
weder auf das Psychologische noch auf die Satire, sondern
auf das Ethische an. Die Verwirrungen im Dasein entstehen
eben dadurch, da die meisten Menschen (daher alltg-liche Verwirrung) Dinge tun oder tun mchten, gegen die
ihr innerstes Gewissen Stellung bezieht. Entweder gelangen
sie dadurch berhaupt nicht zum Handeln und das wre
noch der gnstigste Fall, obschon der schmerzhaere ,
oder ihr Handeln gert widernatrlich, unaufrichtig, un-
ethisch. Die Kreatur erscheint als Opfer der ber sie ver-hngten Wesensart in ihren verzweifelten Anlufen gegen
einen unberwindlich scheinenden Determinismus. Der
Geschsmann A. macht vermge seines unbewuten Ge-
wissens seine eigene Absicht zuschanden. Der schne und
schreckliche Bamberger Reiter bedenkt sich nicht wegen
des nchsten Dorfs. Zwischen beiden war Hamlet. (Somacht Gewissen Feige aus uns allen.)
Kaas Realismus aktualisiert (und aktualisiert auf die
Dauer) auch rumliche und mythische Fernen. Die ferne
Straolonie, die afrikanische Araber-Oase, das China der
Parabeln, das Amerika nicht nur des groen Fragments,
sondern so mancher Einzelstcke und Traumfhrten des
Tagebuchs (Hermann Hesse gewhre mir die bernahme
seiner Wortprgung), insbesondere auch die Hinwendung
zum Mythos der Antike, all das deutet, immer vom Ge-
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genstndlichen ausgehend, bleibende Grundanlagen und
Grundverhngnisse. Das Gegenstndliche mu sich dabei
zuweilen Korrekturen gefallen lassen.
Whrend der Mann vom Lande vor seiner Eingangstr
zum Gesetz sein Leben vergeblich verwartet, paraphrasiert
Eine kaiserliche Botscha das Verhngnis der Vergeb-
lichkeit und Unerreichbarkeit gleichsam mit umgekehrten
Vorzeichen, nmlich vom Innersten des Gesetzes her in der
Richtung zum wartenden Menschen. Die Macht des Gleich-nisses wird noch bezwingender, weil es in eine stliche
Welt der Allmhlichkeit und Zeitabgewandtheit gesetzt
ist, eine Welt, in der sich Kaas Intuition mit Vorliebe be-
heimatete.
Es ist nicht nur so, da der Mensch von sich aus nur un-
ter schier unerfllbaren Bedingungen in die Erlsung Ein-tritt findet, sondern diese die kaiserliche Botscha kann
auch nicht bis zu ihm gelangen. Sie ist beabsichtigt, der
Bote wird abgefertigt, er setzt alle seine Kre daran, seine
Botscha auszurichten, aber selbst schon die Gemcher des
innersten Palastes kann er nicht hinter sich bringen. (Wir
denken an die vielen Trhter, die vor den Hallen des Ge-setzes postiert sind.) Aber selbst wenn des Kaisers Bote
durch die innersten Gemcher drnge: nichts wre gewon-
nen. Er mte sich dann die Treppe hinabkmpfen; und
gelnge ihm auch dies: nichts wre gewonnen. Die Hfe
wren noch zu durchmessen, und nach den Hfen der zwei-
te umschlieende Palast: und wieder Hfe und Treppen;
und wieder ein Palast; und so weiter durch die Jahrtausen-
de. Aber selbst wenn er dann endlich aus dem uersten Tor
strzte, lge ja erst die Residenzstadt vor ihm. Niemand
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dringt hier durch, und gar mit der Botscha eines Toten.
Die Botscha also, die die Erlsung enthlt, ist an die ganze
Qual der Unendlichkeit gebunden. Sie ist uns zugesagt. Sie
eilt uns entgegen. Wir selbst, wenn wir etwas taugen, bewe-gen uns auf sie zu. Aber dazwischen liegt die Unendlichkeit,
wenn ein solches Vorstellungsbild anders als eben in der
Parabel gestattet ist. Der Mensch aber darf trotz dieser ab-
surden Vergeblichkeit, trotz der fast vlligen Unwahr-
scheinlichkeit der Erlsung, von seiner Intention der Erl-
sungsbereitscha nicht abweichen. An das winzige Wrt-chen fast mu er sich halten, an ihm hngt sein Heil,
wenn es berhaupt eines gibt.
Kaas Werk berichtet von der unentrinnbaren Maschi-
nerie des Lebens; von seiner brokratischen Mechanik, die
den Menschen in dauernder Untersuchungsha hlt; gegen
ihn Anklagen erhebt, deren Substanz und Zweck dem An-geklagten nie vllig bekannt werden; ihn zwingt, Delikte
einzugestehen, die er nie beging; unbegreifliche und raffi-
nierte Torturen und Strafen ber ihn verhngt. Es wre je-
doch absurd, Kaas Werk unter irgendeinem politischen
Aspekt betrachten zu wollen. Er registrierte nur die unab-
wendbare Not, den unlsbaren Konflikt und Daseins Wider-spruch des Individuums, das sich im Labyrinth seiner eige-
nen inneren und ueren Institutionen verliert. Von unbe-
stechlichem Eifer wie die Propheten, ist er doch nicht ohne
Gnade und stets voll des Erbarmens mit den grotesken Ver-
zerrungen, denen alles Kreatrliche anheimgegeben ist.
Der Wille zur unbedingten Wahrheit, der allein die Kor-
rektheit der Metaphern bewirken kann, stellt ungeheuer-
liche Anforderungen an den Schreibenden. Es ist schwer,
die Wahrheit zu sagen, denn es gibt zwar nur eine, aber sie
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ist lebendig und hat daher ein lebendig wechselndes Ge-
sicht (an Milena). Kaa war sich dessen bewut, da fr
den Verantwortlichen jede definierende Aussage in sich
selbst die Symptome des Widerspruchs und des tdlichenZerfalls trgt. Als Schristeller stand er deshalb immer vor
der Frage: Von welchem Punkte an hat jemand berhaupt
das Recht, Menschen um seine Erkenntnisse zu versam-
meln? Das ist keine blo literarische, vielmehr eine religise
Frage.
Swedenborg sagte einmal: Das Gewissen ist die Anwe-senheit Gottes im Menschen. Das Daimonion des So-
krates, der Deusin nobis des Ovid (agitante calescimus eo)
ist der Trger des Gewissens, das allein die echte Tat er-
mglicht, aber auch Unternehmungen voll Mark und Nach-
druck aus der Bahn lenkt, die Entscheidung zum Ritt sogar
noch ins nchste Dorf bremst, den Eintritt ins Gesetz hint-anhlt. Wenn Kaa sein erstes Buch, seine erste groe
Entscheidung in der Sphre des geistigen Wirkens mit dem
Titel Betrachtung versah, so schlug er sich vllig auf die
Seite des Gewissens, bedenkend, da er damit dem Handeln
absagte, da er unaurlich auf die kaiserliche Botscha
werde zu warten haben, die wahrscheinlich fast niemalskommt denn niemand dringt hier je durch , fr die aber
der Mensch dennoch allezeit sich festlich bereithalten soll,
denn wie er im Tagebuch schon 92 zu sich sagte :
Wenn auch keine Erlsung kommt, so will ich doch jeden
Augenblick ihrer wrdig sein.
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IV Umgang mit Sirenen
Kaas Anekdote Das Schweigen der Sirenen ist ebensortselha und bestrickend wie die mythischen Sngerinnen
selbst, die darin nicht zu Worte kommen. Inwiefern Reali-
tt hinter dem ursprnglichen Mythos wirksam war, ver-
suchte man seit eh und je zu erkunden. Vergeblich aller-
dings, weil ja vermutlich der Mythos von Anfang an die
eigentliche Realitt war. Materialistische Dummkpfeidentifizierten die berhmten Unheilstierinnen abwech-
selnd mit orientalischen Eulen oder mit Pinguinen, andere
mit zudringlichen Berghirtinnen, die als verlockende K-
der im Dienste kannibalischer Zuhlter sangen. Phantasie-
reichere Deutungen nahmen substantiierte Sonnenstrahlen
oder planetarische Wirkungen an, und die Reihe ging wei-ter bis zu Seehexen, Nymphen und Halb-Fisch-, Halb-Weib-
Wesenheiten. Bei alledem und ungeachtet des Wandels in
den Elementen steht eines fest: das Weibliche nmlich. Die
menschenkpfigen Vogelwesen, die Odysseus sah, oder die
Wassernixen, denen Henry Hudson und Kapitn John
Smith auf ihren Amerikafahrten im Ozean begegneten,wiesen sich jedenfalls allesamt durch weibliche Attribute
aus, ebenso wie die Undinen, Melusinen und Loreleis, die
der gleichen Vorstellungswelt angehren. Weiblich an ih-
nen ist besonders, da sie Enttuschungen absolut nicht
vertragen konnten. Auch bedienten sich die meisten des
weiblichsten aller Verlockungsmittel, des Gesangs nmlich,
auer wir wollten von jener Sirene absehen, ber die Nor-
man Douglas, der geistreichste aller Sirenenkenner, berich-
tet, sie sei anfangs des fnfzehnten Jahrhunderts in der Zui-
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dersee gefangen worden und htte dann in Haarlem durch
lngere Zeit ein gutbrgerliches Leben gefhrt, aber nie-
mals ein Wort gesprochen. Von dieser schweigenden Sirene
liee sich also eine Verbindung zu Kaas seltsamenSchweigerinnen herstellen.
Von den drei antiken Zauberwesen Parthenope, Ligea
und Leucosia berliefert man eine deutliche Genealogie,
die sie von Phorkys und Keto abstammen lt. Phorkys,
ein ganz unheimlicher Geselle, war auch der Vater der Grai-
en, der Gorgonen und des Drachen Ladon, der die pfelder Hesperiden htete. Von dieser gruseligen Nachkom-
menscha waren ursprnglich die Sirenen weitaus die
schnsten. Aber weil sie ihrer Gespielin Persephone nicht
beistanden, als diese von Hades gekidnappt wurde, hatte
ihnen Demeter das Vogelgefieder angezaubert. Von da an
trieben sie es mit harmlosen Reisenden und rchten sich da-fr an ihnen, wozu sie ihren Sitz praktischerweise auf den
Capri vorgelagerten Klippen nahmen. Die Homerische
Kosmographie verlegt sie jedenfalls dahin, wie denn auch
die amalfitanische Seite des Kaps der Minerva als Wohn-
sttte Kirkes gilt. Gregorovius ebenso wie spter Douglas
tun so, als wren sie den Sirenen in jener Gegend geradezupersnlich begegnet, ohne im brigen Schaden davonge-
tragen zu haben. In Goethes exakter Phantasie machen sie
sich zwar sehr ausfhrlich am oberen Peneios und in den
Felsbuchten des gischen Meeres vernehmbar; aber das
war vor ihrer bersiedlung in die Gegend von Capri, zu der
wohl die verschiedenen Westfahrten der Hellenen Anla
gegeben hatten. (Auf der Rckfahrt von Sizilien wre Goe-
thes Schiff bei vllig heiterem Himmel und ungebrochener
Meeresstille einzig infolge der Strmung an den Sirenen-
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inseln beinahe gescheitert. [Ital. Reise, 4. Mai 787.]
Eine Zeichnung Goethes [wahrscheinlich zum 2. Teil von
Faust] zeigt Sirenen, die, auf Klippen hingelagert, flten
und singen. In Goethes Bibliothek befand sich das Grnd-liche Mythologische Lexicon von M. Benjamin Hederich,
darinnen die Sirenen als berhmte Huren figurieren,
welche die Vorbeireisenden an sich gelocket und hernach
ausgezogen.) Die Argonauten, so hren wir, fuhren an
den Sirenen unbelstigt vorbei, denn Jason mitsamt seinen
hochberhmten Gefhrten lauschte gerade dem Gesangseines Mitreisenden Orpheus. Mit dem konnten die Sirenen
es nicht aufnehmen, wie sie denn auch bei ihrem Zweikampf
mit den Musen unterlagen, von denen sie zur Strafe gerup
wurden. Immerhin wuchsen ihnen die Federn wieder nach.
Odysseus war jedenfalls der letzte, der sie noch als halbe
Vogelwesen sah, und da sie ihn nicht beeindrucken konn-ten, strzten sie sich ins Meer, eine recht feminine Reaktion.
ber ihr weiteres Schicksal liegen drei berlieferungen
vor. Nach der einen (von Euripides) leben sie im Hades mit
Persephone weiter, die zweite lt sie als Halbfischwesen in
den Ozeanen umher schwimmen, die dritte will wissen, da
sie sich in Felsklippen bei Capri verwandelten. Dies ist diebeste, mit dem Urmythos noch am ehesten bereinstimmen-
de Wahrscheinlichkeit. Denn es mu wohl etwas Sirenisch-
Wundersames ber der Lu von Capri schweben, was der
Umstand beweist, da Mr. Wreford, ein englischer Publi-
zist des neunzehnten Jahrhunderts, die Insel besuchte, um
dort einen Nachmittag zu verbringen, aber mehr als dreiig
Jahre, bis zu seinem Tode, blieb. hnliches soll sich dort
nachher des eren abgespielt haben, wird allerdings auch
von Hawaii erzhlt.
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Alle diese Details sind zu erwgen, wenn man Kaas
Sirenenanekdote richtig wrdigen will. Insbesondere mu
man sich die Homerische Version zum Bewutsein brin-
gen. Sie steht in der Odyssee zwlem Gesang. Man ver-gesse nicht, da dort Odysseus selbst die Geschichte erzhlt,
der ja als Aufschneider bekannt war und sich vor der lieb-
lichen Nausikaa womglich noch wichtiger machen wollte,
als er es in der Tat ohnehin schon war. Er berichtet also, wie
er von Kirke vor den Sirenen gewarnt worden sei, die da-
mals noch nicht zu dritt, sondern nur zu zweit auf einer blu-migen Wiese saen, umgeben von Gebein, verwesenden
Menschenleibern und drr getrockneten Huten. In diesem
makabren Milieu bezaubern die Grausamen alle, die ihrer
Wohnsttte nahekommen. Wer ihnen lauscht, der wird da-
heim die Familie nicht mehr begren. Hier zeigt sich, wie
genau Kirke ihren Odysseus kannte, der die Heimat sogarder Unsterblichkeit vorzog. Ithacam ut videret, immorta-
litatem scribitur repudiasse (Cicero, De Legibus II, und
Dion Chrysosthomus, Orat. XIII). Kirke ist es denn auch,
die das Verstopfen der Ohren der Gefhrten mit Wachs und
das Anketten des Odysseus an den Mast anregt, falls dieser
die Sirenen ungeachtet aller Warnungen dennoch zu hrenwnsche (eine Neugier, die Kirke nach ihren Erfahrungen
mit Recht bei Odysseus voraussetzte).
Die Fahrt des Odysseus verlu dann zunchst vom Kap
der Minerva, wo Kirke residierte (man zeigt noch Palast-
reste), nach Westen, vermutlich in der Absicht trotz aller
Heimatsehnsucht , zwischen den Sulen des Herakles nach
dem fabulosen Atlantis zu gelangen, eine Reise, die spter
Dante divinatorisch mitverfolgte und die er den Ithaker
auch nahezu vollenden lt. Dieser selbst aber erzhlte den
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Phaken, wie pltzlich der Wind sich legte, das Wasser
glatt wurde und die stille See zu glnzen begann. Sympto-
me, die die Nhe der Sirenen andeuteten. Eilig wird nun
Wachs (das antike Ohropax) den Gefhrten in die Ohrengestop, und Odysseus lt sich an den Mast binden (wohl-
gemerkt: mit offenen Ohren). Und unverzglich vernimmt
er denn auch den Gesang der Sirenen, der in griechischer
Sprache malos verfhrerisch klingt, schon im ersten He-
xameter mit siebzehn vollen Vokalen lockend (nur fnf-
zehn Konsonanten): : Komm, du besungener Odysseus, du
groer Ruhm der Acher, so zauberflten die Vogelda-
men, komm, und du wirst vergngt und weiser als zuvor
weiterfahren ( ), denn wir wissen alles ber
Troja