Venedig die grüne Lagune -...
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Venedig die grüne Lagune oder: von Crostino zu Crostino, von Schatten zu Schatten, von
Salzpflanze zu Salzpflanze (mit Zitaten aus dem schönsten aller Venedig-Romane: „L’amante senza fissa
dimora“ von Fruttero & Lucentini)
Als Mr. Silvera endlich den Sicherheitsgurt lockert und sich über seinen Sitznachbarn reckt, um aus dem Flugzeugfenster zu spähen, ist Venedig schon wieder verschwunden, er sieht nichts als ein aluminiumfarbenes Meer und ein
ganz nahes, massiges Aluminiumtrapez den Flügel…
Als ich oben an der Gangway am Aeroporto Marco Polo stand, empfing mich
morgens um halb neun schon dieser einmalige, unverwechselbare, dichte,
warme, salzhaltige und verheißungsvolle Duft des nahen Meeres, der alle
Reisenden in den Süden begeistert und kommende herrliche Stunden verheißt,
ob man Kind ist oder alt, es riecht nach Wundern!
In der frischen Morgenluft ziehe ich meinen Koffer wie alle Touristen durch die
schmalen Gäßchen, überquere damit Brücken und diesen oder jenen Campo
(wußten Sie, daß „Campo“ in früheren Zeiten wirklich ein „Feld“ war, daß man
sich mitten in der Stadt davon ernährte und daß der letzte Kuhstall in Venedig
erst 1960 geschlossen wurde?).
Auch die Friedhöfe (campi dei morti) lagen in der Stadt direkt bei den Kirchen
und wurden erst von Napoleon zentral auf die Friedhofsinsel verbannt und die
Flächen eingeebnet und aufgeschüttet. Napoleon hat auch sehr viele Kanäle
aufschütten lassen, was man heute noch an den Namen der Gassen erkennen
kann (Rio Tera Gesuati = eingeebneter Kanal). Das Trinkwasser kam aus großen
Zisternen, die mit Sand und Kies gefüllt waren, um das Wasser vor Gebrauch zu
filtern und wenn es knapp wurde, brachte man frisches Wasser mit Booten von
der Brenta in die Stadt.
Die großen Handelshäuser entlang des Canal Grande dienten sowohl der
Repräsentation, als auch dem Geschäft: auf Holzpfählen und istrischem
Kalkstein gebaut, mit dem Eingang nur vom Wasser (Dienstboteneingang vom
Land) befanden sich in der Mitte die Repräsentationsräume, rechts und links die
Kontore und die Lager. Die Küche lag wegen der Brandgefahr und der Gerüche
im 3. Stock, so brauchte man nur einen kurzen Kamin und störte die Geschäfte
und Feste der Patrizier nicht.
Unter den Palästen: die Gondelgaragen, von denen viele nach der Anhebung des
gesamten Stadtbodens nach dem großen Hochwasser 1966 zugemauert wurden.
ehemalige „Gondel-Garage“
Viele Gondelbauer waren Holzhandwerker aus den Alpen und behielten auch in
Venedig den Baustil ihrer alpenländischen Häuser bei. Lärchen, Buchen,
Eichen, Ulmen für den großen Holzbedarf Venedigs kamen aus Istrien und den
Dolomiten bis weit hinauf zum Misurina-See. Da man aber wußte, daß eine
nachhaltige Holzwirtschaft für Venedigs Überleben entscheidend war, holzte
man nicht einfach ab, wie die Römer, sondern entnahm einzelne Bäume, zwang
auch Privatleute dazu, ihre Eichen dem Staat zu vermachen und die Äste in einer
gewissen Form zu biegen und so wachsen zu lassen, damit diese sich gleich in
die richtige Form für die Spanten der Gondeln legten.
Am Anfang waren die Gondeln symmetrisch, aber um in den engen Kanälen zu
navigieren, waren zwei Ruderer zu viel, also veränderte man die
Gewichtsverhältnisse der Gondel so, daß ein Ruderer diese geschickt und
gekonnt durch die Wasserstraßen bewegen konnte. Der Gondelaufsatz, den man
auf alten Gondeln sieht, diente im Winter dem Kälteschutz und garantierte den
Liebenden die Anonymität, z.B. der Principessa und Mr. Silvera bei Fruttero &
Lucentini.
So also, auf die scheinbar harmloseste Art der Welt, ohne daß irgendetwas auf
einen außergewöhnlichen Zufall, auf ein Zeichen, auf einen besonderen Wink
des Schicksals hindeutete, so also sah ich ihn wieder…Der erste Blick, der erste
Kuß, die erste Liebesnacht sind nichts im Vergleich zum ersten gemeinsamen
Lachen. Das ist der entscheidende Kontakt, der eigentliche Wendepunkt…auch
wenn ich damals einfach nur dachte: sympathisch, dieser Silvera…
sympathisch…dieses Venedig!
Die Fresken, die die beiden Liebenden im Kreuzgang von Santo Stefano
suchten, die gab es nicht mehr…aber…“einen Schatten“:
Es sind dann zwei Schatten geworden, ein gut gekühlter Weißwein, bei dem
Wetter, das sie inzwischen haben. Über dem Campo Morosini, über den sie jetzt
schlendern, ist keine Wolke mehr; das Marmordenkmal von Niccoló Tommaseo
leuchtet im strahlenden Sonnenschein.Es ist warm wie im Sommer…
Wir trinken einen „Schatten = un ombra“ am Rio San Trovaso in der Nähe der
„Zattere“ (la zattera = das Floß) in der Osteria „Alsquero“ mit dem schönsten
und nettesten Kellner der Welt und essen „Cichetti“ , belegte Brötchen, dazu,
z.B. Crostini mit Thunfischcreme und Artischocken, Baccalá mantecato (püriert)
auf Polenta, Weißbrot mit Sardelle oder „Gamberetti in saor“ auf einer
Brotscheibe. Oder Käse: Gorgonzola mit Feigensauce, Montasio, Asiago…alles
gleich köstlich!
NiccolòTomaseo, Dichter der Revolution
Ach ja, bei einem „Schatten“, einem kleinen Glas Wein schweift man schnell
ab. Wußten Sie, daß der Begriff „Schatten“ daher kommt, daß die Weinhändler
nach der Lieferung immer im Schatten ein Gläschen mit ihren Kunden
getrunken haben, bevor sie wieder heimfuhren? Das war dann „un ombra“!
Und… ja, noch zu den Gondeln…wußten Sie, daß der Senat von Venedig nach
Pracht- und Protzexzessen im Jahre 1562 den Erlaß herausgab, daß alle Gondeln
schwarz zu sein hatten? Und daß das ca. 20 kg schwere Bugeisen auch eine
enorme Bedeutung hat? Es repräsentiert die 6 (sestiere = Stadtsechstel im
Unterschied zu „Quartier“ = Stadtviertel) Stadteile, die „Giudecca“ die 3
Brücken über den Canal Grande, den Dogen und die Rialto-Brücke.
Von oben: Doge, Rialto (links: Giudecca), San Marco, Scalzi-Brücke, San Polo,
Santa Croce, Rialto (einmal als Halbkreis oben und einmal als Brücke wegen
der besonderen Bedeutung) ,Cannaregio, Castello, Accademia-Brücke, Castello,
Dorsoduro.
Er spürt aber gleichzeitig in sich eine Sehnsucht nach Selbstaufgabe, den Hang
zu einer leichten und mechanischen Passivität wie die eines im Kanal treibenden
Korkens: schwimmender, tanzender, gefügiger Gefährte bald von Gondeln,
Motorbooten, sich auflösenden Obstkisten, bald von verfallendenMauern,
algenbewachsenen, glitschigen Stufen..
Auch wir sind vielleicht aus diesem Grund nach Venedig gekommen, aus der
Sehnsucht nach Selbstaufgabe, nach einem anderen Zauber, der uns aus unserem
Alltag befreien möge.
Im Peggy Guggenheim Museum muß das auch einer gespürt haben, sonst hätte
er nicht diese Lichtinstallation geschaffen:
Unser Hotelchen, Hotel „Tivoli“ liegt in der Ca Foscari, im Stadtteil Dorsoduro,
und es könnte eigentlich beschrieben werden wie das von Mr. Silvera, der sich
kein teures Hotel leisten kann, weil er den Notfonds der Imperial Tours
kurzerhand gekapert und sich von seiner Touristengruppe abgeseilt hat, um ein
paar unerlaubte Tage mit der schönen Italienerin von Flug Z 114 zu verbringen.
Sie sind an der Haltestelle am Arsenal ausgestiegen, gehen die stillen, fast
verlassenen Kanalstraßen des Rio di San Martino entlang, dann durch ein
Labyrinth von Gäßchen, die sie unversehens wieder zurück zum Campo
Bandiera e Moro bringen.“ Ah, da ist es ja, sehen Sie?“ sagt er an der Ecke
eines Gäßchens. Das Gäßchen endet in grünen Stufen, die zumWasser eines
engen Kanals hinunterführen. Rechts ist ein zerschundenes Haustor mit dem
Schild „Pensione Marin“.“Da, sehen Sie, von außen betrachtet, ist es ziemlich
heruntergekommen, aber innen ist es gar nicht so schlecht. Im Aufenthaltsraum
gibt es sogar ein Sofa und alte Sessel und ein Regal mit alten Büchern…Das
Zimmer 12 ist lang und schmal, mit einem Eisenbett, einem klapprigen Schrank
und einem wackligen Tischchen neben dem Fenster, aus dem man auf den Kanal
hinaussieht…doch der Heizkörper funktioniert und auch das Wasser läuft warm,
was Mr. Silvera befriedigt feststellt.
2 Sterne mit Bad und Frühstück im „Tivoli“
Auf unserer Wanderschaft gelangen wir an diesem Abend ins Ghetto von
Venedig. Dieses Stadtviertel, das eigentlich eine Gießerei für Kanonen
beherbergte (getare = gießen), wurde den immer mehr aus allen Ländern
herbeiströmenden Juden überlassen, weil man sie woanders nicht mehr
unterbringen konnte. Zunächst wohnten sie im Geto Nuovo, dann kam noch das
Geto vecchio hinzu und schließlich das Geto novissimo. Und weil die deutschen
Juden das Wort Geto mit G und nicht mit „Tsch“ aussprachen, wie es eigentlich
richtig gewesen wäre, fügte man das H ein, damit alle die gleiche Aussprache
benutzen konnten: GHETTO. Es wurde ein schicksalsträchtiges Wort für die
Geschichte der Juden.
Das Ghetto von Venedig ist heute kaum mehr von der übrigen Stadt
unterscheidbar. Seine Synagogen verschiedener Riten, die schil der Italiener,
der Sephardim, der Askenasim, heben sich nicht von den übrigen Gebäuden ab.
Exotische jüdische Läden sind keine zu sehe, und begegnet man einmal zufällig
einer Gestalt mit langem schwarzen Bart und schwarzem Hut, handelt es sich
wahrscheinlich um einen amerikanischen Rabbiner auf touristischer
Pilgerfahrt…
Alle Gebäude hier waren unverhältnismäßig hoch, weil die Bewohner das ihnen
zugewiesene begrenzte Gebiet aufs Äußerste hatten nutzen müssen. Dicht an
dicht reihten sich die Fensterchen in ungleichmäßigen, wie
übereinandergedrückten Stockwerken, und angesichts des leprosen Zustands des
Verputzes und der Simse hätte man meinen können, daß niemand mehr in diesen
elenden Behausungen wohnte, wie nach einer Pestepidemie oder einem
Pogrom…
Hinter dem Kanal lag grau und traurig der Campo di Ghetto Nuovo wie eine
ausgekratzte Pfanne…fußballspielende Kinder liefen schnell und kreischend
zwischen den kahlen Bäumen hin und her…
im Ghetto
Später saßen wir dann doch noch im Ghetto bei einem wunderbaren Menü in
einem Restaurant in einer unscheinbaren Gasse , während draußen der Regen
tobte, und manch einer von uns sinnierte insgeheim mit einer Prise schwarzen
jüdischen Humors: „Wer hätte gedacht, daß man im Ghetto so gut essen kann?“
Arsenale…und zwei Stadtführungen anderer Art
Im Sestiere Castello liegt eine ganze Militärstadt: die große Werft Venedigs mit
zu ihren Spitzenzeiten bis zu 16.000 Handwerkern, die dort lebten und
arbeiteten. Die Kanonengießer z.B.wurden aus dem Ghetto ins Arsenale
umgezogen. In einer Art Fließbandarbeit fertigte man alle 12 Stunden 1 Galeere!
Zutritt war nur mit offizieller Erlaubnis möglich, denn das Arsenale war
militärisches Sperrgebiet.
Heute findet dort die Kunst-Biennale statt und auch unser Stadtrundgang ist
kunstmäßig von anderer Art: wir sollen nämlich selber führen, egal, wo wir
landen würden, wir sollen mit allen Sinnen durch die breiten Gassen gehen,
metallene Türklopfer anfassen, Hausschilder angucken, Triumphbögen
betrachten, den anderen den Hund in den Giardini zeigen, der gerade wie
verrückt herumtobt, weil er mal ein Stückchen Grün gefunden hat in dieser
steinigen Stadt. Und das ohne Worte! Eine neue Erfahrung, die uns staunen läßt,
nicht die Worte erklären, sondern die Augen, die Hände, die Ohren, die Nase.
Il tempo e immateriale…wie Mr. Silvera sagt.
Nach dem Motto: wir wissen zwar nicht, wo wir hin wollen, werden aber als
erste ankommen, landen wir natürlich wieder an einem Kanal (wo immer das
gewesen sein mag) bei einem „Schatten“.
Napoleon hat auch dem Arsenale seinen Stempel aufgedrückt. Er hat viel
strukturiert, Häuserzeilen korrigiert, Kanäle zuschütten lassen und einen Park
angelegt. Er wollte vom Markusplatz bis zum Arsenale eine durchgehende
Promenade schaffen, damit Venedig ein großstädtischerisches Aussehen
bekommen möge. Erst mit Napoleon kommt auch der Patriarch von Venedig
nach San Marco und erlangt einen seiner Würde entsprechenden Status.
Nach unserem „Schatten“ müssen wir die Stadt auf eigene Faust erkunden und
sollen dabei die Venezianer kennenlernen. Wir sollen zwei Bilder suchen, den
Fundort lokalisieren und eine Frage dazu beantworten. Dazu müssen wir uns in
Venedig durchfragen. In einem Haushaltsgeschäft fangen wir an, da gibt man
uns schon einmal die grobe Richtung „Santa Maria Formosa“. Ein freundlicher
Mann im „Tabacchi“ kennt das gesuchte Zeichen, es ist das Schild eines Lokals,
des „Mascaron“. Und schließlich finden wir es in einer unscheinbaren
Seitengasse in der Calle S. Maria Formosa („Formosa“ = die Formenreiche).
im Tabacchi
das „Mascaron“, Calle Santa Maria Formosa
Auf unserem Weg durch ganz Castello kommen wir auch an einen Platz, der
nach den 7 unbekannten Märtyrern benannt ist, die von den Deutschen im 2.
Weltkrieg wahllos erschossen wurden, nachdem man einen toten deutschen
Soldaten im Kanal treibend gefunden hatte.
Die Lösung unseres zweiten Rätsels fällt uns quasi in den Schoß: wir wissen:
Sestiere San Polo und überqueren die Rialto-Brücke. Wo anfangen? Astrid ruft:
da ist es! Sie sieht die Rückseite der Kirche San Giacomo mit ihrer umseitigen
großen Uhr. Gesucht ist die Steinfigur gegenüber: „ der Bucklige“, der Mann,
der die Gesetzesbücher mit den Marktvorschriften, den Maßen und Gewichten
von San Marco nach San Giacomo tragen muß.
der Bucklige
San Giacomo di Rialto
im Arsenale
Wußten Sie, daß Tintoretto der Sohn eines Färbers war und deshalb der kleine
Färber = Tintoretto genannt wurde?
Und wußten Sie, daß in Venedig viele Geschäfte, um die Steuer zu umgehen,
per Handschlag abgewickelt wurden, nur mit Juden nicht, die durfte man nicht
berühren!
Und wußten Sie, daß ein Marktbetrüger von San Marco bis zur Säule bei San
Giacomo di Rialto Spießrutenlaufen mußte? Wenn er aber es schaffte, bis
dorthin zu kommen und die Säule zu berühren, war er straffrei.
Wir wußten das alles natürlich auch nicht, wir ließen vielmehr die Worte von
Italo Calvino auf uns wirken:
„Bei Städten erfreust du dich nicht nur an den Kunstwerken, sondern daran, was
für eine Antwort sie dir geben!“
Ja, die Spaziergänge durch Venedig… vielleicht lag das Hotelchen von Mr.
Silvera an einem ähnlichen Kanal wie diesem hier…
wie die Principessa schreibt:
„Pensione Marin, hinter San Giovanni in Bragora, wissen Sie, wo das ist?“
Der Mann beriet sich mit anderen Heiligen an der Anlegestelle des Hotels, aber
ich merkte sehr gut, daß sie mich neugierig ansahen. „Eine Pensione Marin
müßte es in der Gegend geben“ berichtete mir der Heilige San Georg, als er
wiederkam. Am Rio di Santa Ternita!“ –„Gut, und da muß ich hin!!!“…
„Da, hier ist es!“ Der Heilige band sein Pferd an einem Ring an der Mauer an
und half mir beim Aussteigen mit einem mißtrauischen Blick auf den Eingang
der Pension und einem offen mißbilligenden Blick auf meine Silberschühchen.
„Vorsicht, gnädige Frau, halten Sich gut am Geländer fest!“
Und als ich die Pension ging, fühlte ich mich mehr als Prinzessin von
Trebisonda denn je, zwischen einem Ritter, der wegging, und einem anderen,
der mich im Schloß erwartete…“
Ja, und als Mr.Silvera ein allegorisches Gewand braucht, um auf einem der
glamourösen Abendessen der Freunde der Principessa mit zu erscheinen, suchen
die beiden einen Altkleiderladen, den es in der Lista di Spagna einmal gegeben
haben muß.
Der Laden liegt immer noch am Anfang des Gäßchens, gleich neben der
Fleischerei an der Ecke, aber er hat nichts Schüchternes, nichtsVerstohlenes
mehr. Er trägt nun über der Tür ein stolzes Schild in Anglo-Venezianisch:
THRIFTERIA-STRAZZERIA…der alte Jude, Abramo Mendes ist tot. Der Laden
ist von seiner Enkelin in die Hand genommen worden, die bereits zwei ähnliche
in New York hatte und in kurzer Zeit auch aus diesem einen Erfolg gemacht hat.
…Wälder von Kostümen nehmen fast den ganzen Raum ein, eine ganze Wand ist
mit Masken und Larven in allen Farben bedeckt, silberne, goldene, lackierte,
aus Pappmaché, Satin, Holz, Samt, Pelz, in grotesk diabolischen, zart floralen,
leichenhaft anatomischen Formen…
Thrifteria-Strazzaria
Venedig ist ein Wunder und es gibt so viel zu entdecken!
Wir erfahren z.B., daß die Bleikammern im Dogenpalast keineswegs im Keller
lagen, sondern unter dem Dach, wo es im Sommer + 50° und im Winter unter
10° Celsius haben konnte („Blei“ wegen der Verfugung des Daches des
Dogenpalastes mit Blei), und daß man in Venedig kein Geld für aufwändige
Folterkammern verschwendete: der zu Folternde wurde einfach an einem Seil
mit den Armen nach oben aufgehängt; das tat genug weh, um Informationen aus
ihm herauszupressen. Allerdings mußte der Rat einstimmig und nach
dreimaliger Befragung der Folter zustimmen, was immerhin schon etwas
menschlicher war.
Die Deckenkonstruktion des großen Saals im Dogenpalast ist eine
Meisterleistung der Schiffbaukunst, denn die gesamte Decke über einem Saal, in
den tausend Menschen paßten, kommt ohne stützende Säulen aus, und das
Wanken des Gebäudes durch die Pfähle wird durch Schwimmböden
ausgeglichen.
Venedig wurde auch schnell, obwohl die Kunst des Buchdrucks in Deutschland
erfunden wurde, in dieser Sparte europäischer Marktführer. Der erste gedruckte
Koran entstand hier; man hat ihn kürzlich zufällig in der alten Bibliothek der
Franziskaner gefunden, eine Sensation, denn bis dahin war er verschollen!
Blick vom Turm von San Giorgio Maggiore auf Venedig und die Alpen
Palladios Prachtbau, die Klosterkirche von San Giorgio Maggiore und die
Erlöserkirche Il Redentore, die als Votivkirche zur Erlösung von der
Pestepidemie, um 1590 entstanden, führten einen neuen Stil in Venedig ein, die
Philosophie eines anderen Naturerlebnisses: der Mensch erlebt die Natur durch
seine eigene Schöpferkraft, durch seine Gestaltungsmöglichkeit, durch seine
Phantasie. Säulen, Pfeiler, Pilaster…der antike Geist wird wieder belebt und
entfaltet seine ganz Strahlkraft. Das Chorgestühl in San Giorgio Maggiore ist
ganz aus Nußbaum geschnitzt und erzählt das Leben des Heiligen Benedikt.
Eine Meisterleistung des Barock und der Holzschnitzkunst!
Palladio hatte auch eine monumentalen Entwurf zur Neugestaltung der Rialto-
Brücke abgegeben, die bisher aus Holz bestand, aber wegen der Brandgefahr aus
Stein gebaut werden sollte. Der Entwurf wurde wegen Disharmonie mit dem
vorherrschenden Stil Venedigs abgelehnt. Ein weiser Entschluß!
Palladio war nämlich wegen seiner Vision von Architektur in Venedig heftig
umstritten, um ihn aber nicht zu verprellen, gab man ihm die Aufträge für San
Giorgio Maggiore und Il Redentore…auf einer Insel…das war weit genug weg,
aber trotzdem nicht aus der Welt!
Entwurf Palladios für Rialto
Um ca. 1520 mußten sich die Venezianer neben dem Seehandel nach neuen
Einnahmequellen umsehen, denn die Portugiesen und Spanier verdienten durch
die Entdeckung des Seeweges nach Indien inzwischen mit. Man besann sich auf
die Landwirtschaft und weitete seine Aktivitäten aufs Festland aus. Sümpfe
wurden trockengelegt und dann im großen Stil landwirtschaftlich bearbeitet. Das
Markenzeichen dieser Epoche war die „Villa an der Brenta“, das Landgut
außerhalb Venedigs, das sowohl Wohnhaus, als auch Produktionsstätte war.
Es entstand in den Villen eine neuartige Illusionsmalerei, die an den Wänden
Phantasielandschaften zeigte mit großer Perspektive. Denn, wenn man wirklich
aus einem richtigen Fenster hinaussah, dann bot sich dem Blick außer Äckern,
Feldern und flacher Landschaft nicht viel Schönes.
Die „Hanse-Architektur“ des 19. Jahrhunderts stellte den Schritt Venedigs in
die industrialisierte Welt dar. Ein Hannoveraner, Wullekopf, brachte diesen
vollkommen neuen Baustil mit und bekam großzügige Aufträge von
Unternehmern auf der Giudecca. Fortuni, ein Hersteller von kostbaren Stoffen
und Erfinder des „Dimmers für Licht“ ließ ein Fabrikgebäude bauen, die
Brauerei Dreher war vor Ort, und der größte und bedeutendste Unternehmer,
Giovanni Stucky ließ eine ganze Hanse-Stadt errichten.
Giovanni Stucky war Schweizer, sein Vater noch angestellter Müller in einer
Mühle in Cannaregio zur Zeit der österreichischen Besatzung. Giovanni
heiratete eine Venezianierin, die Verbindungen zum Schwarzmeerhandel hatte.
Aus Odessa, das 90% des gesamten europäischen Getreidehandels kontrollierte,
kamen die besten Getreidequalitäten, das in gemahlenem Zustand bis nach
Südamerika verschifft werden konnte.
Der Name „Stucky“ stand bald für Qualität bei allen erdenklichen
Getreideprodukten, vom Schiffszwieback bis zu Brot und Nudeln. Die Stucky-
Mühle hatte als erste Strom in Venedig und wurde bald zum größten
Nudelfabrikanten Italiens. Giovanni Stucky zahlte in Venedig die besten Löhne,
bot die besten Arbeitsbedingungen und schuf auch Wohnraum für seine
Arbeiter. Dies führte sogar zu Streiks in anderen Fabriken, die die gleichen
Bedingungen von ihren Arbeitgebern forderten.
Tragischerweise wurde er 1910 von einem geistig verwirrten Arbeiter
erschossen.
die Stucky-Mühle
Der Sohn, Giancarlo Stucky allerdings war glücklos. Nach dem Ausbruch des 1.
Weltkrieges war die Versorgung der Bevölkerung mit den
Grundnahrungsmitteln Brot und Pasta zwar durch die Stucky-Mühle
gewährleistet, aber Giancarlo zeichnete Staatsanleihen im großen Stil, die nach
dem Krieg wertlos waren. Er verlor sein gesamtes Vermögen, auch den Palazzo
Grassi, den sein Vater gekauft hatte; seine Freunde, inzwischen Sympathisanten
der aufkommenden neuen politischen Mächte um Mussolini, verweigerten ihm
ihre Hilfe (Stucky hatte noch nicht die italienische Staatsbürgerschaft und
konnte daher auch rechtlich keine Ansprüche geltend machen) und am Schluß
blieb der Mutter nur noch eine Wohnung, in der sie bis zu ihrem Tod lebte.
Giancarlo beging wahrscheinlich Selbstmord oder starb an einem Herzinfarkt
aus Scham vor der Mutter. Innerhalb von 3 Generationen totaler Aufbau und
totaler Fall. Welch eine Tragik!
Giovanni Stucky
Um 1910 war Venedig verarmt, die Gebäude baufällig, die Stadt hatte den
Anschluß an die Industrialisierung bis auf einige Ausnahmen nur langsam
geschafft und eine neue, moderne Strömung machte von sich reden: die
Futuristen.
Sie hatten eine totale Wut auf die bleierne Lähmung, die über der Stadt lag. Ihr
Chefdenker Marinetti bezeichnete die Gondeln als „Schaukelstühle für Idioten“,
wollte am liebsten die Kanäle mit dem Schutt der abzureißenden Paläste
zuschütten und Venedig in die industrialisierte Moderne führen. Den Futuristen
erschien wie auch einer ähnlichen Bewegung in Russland (Malewitsch in der
Kunst) die Zukunft nur lebenswert durch Entrümpelung der alten Zöpfe, durch
eine massive Industrialisierung und Modernisierung der Lebenswelt. Dies allein
schien den Futuristen ein Mittel gegen die Misere, die Armut und die
Rückständigkeit. Später wurden die Futuristen nicht ganz zu Recht als
„Steigbügelhalter des Faschismus“ bezeichnet.
„Schaukelstühle für Idioten“ - (Vorschlag der ersten Südtiroler Kfz-
Mechanikerin Astrid zum Thema: „Legt die Gondeln tiefer!“)
Ja…
die Welt kann dir beim Kaffeertrinken zusammenbrechen…
wie der Principessa, wenn man auf die falschen Leute setzt!
Und wenn es so weit ist, dann braucht man erst einmal etwas Kulinarisches, eine
Gaumenfreude, an denen Venedig ja so reich ist. Für uns war das ultimative
Erlebnis das Abendessen in der „Trattoria alla Madonna“ in der Nähe der Rialto-
Brücke.
Die dunkle Gasse zum Restaurant hin hätte manchen Unbedarften abgeschreckt,
denn sie sah eher nach Vergnügungsviertel aus, denn nach kulinarischen
Genüssen, aber wir waren ja schon ein bißchen venedig-erprobt und fürchteten
uns (zu zehnt) nicht allzu sehr.
In diesem glorreichen Restaurant probierten wir „Moleche“ (gesprochen: Mo-
ecke), die Krebse, von denen wir am Nachmittag zufällig auf der Insel Torcello
gehört und deren Holzreusen wir gesehen hatte. Die ultimative Spezialität in
Venedig, teuer und nur zwei Mal im Jahr zu haben!
Der albanische Ober empfahl sie uns und wir waren begeistert! Im Frühling und
im Herbst nämlich erneuern die Männchen ihre Panzer; dieser fällt nicht ab, aber
weicht auf, und das ist die ideale Zeit, die Krebse komplett, so wie sie sind, in
Mehl zu wenden und zu fritieren und total, sozusagen mit Haut und Haaren zu
verschlingen. Ein köstlicher Genuß! Vielleicht sollten wir Frauen das auch mal
tun, wenn unsere Männchen ihre Panzer im Frühling und Herbst erneuern und
diese noch weich sind???
Moleche roh
Moleche fritiert
Vor lauter Begeisterung stolperte dann einer von uns noch in die Fallen der
italienischen Sprache und bestellte „Fagioli con gelato“, worüber der Ober sich
totlachen konnte…es waren „fragole“-Erdbeeren gemeint (fagioli = Bohnen).
„Fagioli“ con gelato
Als „Ombra“ tranken wir oft einen leichten Weißwein, den „Friulano“ , auf dem
Tisch stand „Hundefutter“ = Taraluggi, kleine Teigkringel, die aussahen, wie
hierzulande Hundedrops. Es gab Begeisterungsstürme für „sardine in saor“,
Sardinen mit sauren Zwiebeln, Garusoli, gekochte Schnecken, Jakobsmuscheln,
Branzino etc., etc. und alles „a la sua morte“, d.h. zum Dahinschmelzen gut,
eigentlich: so gut, daß der Tod sich für das Tier gelohnt hat.
Ja, der Mensch ist grausam, wir wissen es! Und nach dieser Auswahl an
exotischem Getier brauchen wir uns über die Chinesen nicht mehr zu wundern.
„Ma, siamo adulti e vaccinati“ = „aber, wir sind erwachsen und geimpft“ und in
der Lage, mit diesen Dingen souverän fertig zu werden!
Und außerdem meinte Stefan: „Genießt es, morgen geht das öde Leben wieder
weiter!“ Oder mit Wolfgangs Devise: „Gut leben und den anderen nicht weh
tun!“ Darauf ein Bier von „Menabrea & figli“ von Biella aus der Lombardei –
noch nie so ein köstliches Bier getrunken!!!
Falls Sie nach all den exotischen Gerichten einen Digestif nötig und den Grappa
al Barolo schon zu oft getrunken haben, hier ein ruhrpottisches Rezept aus dem
Schrebergarten von Wolfgang: „Wodka Blau“. Das geht so: mit einer Flasche
Volvic die Blumen gießen. Die leere Wasserflasche mit Wodka auffüllen und
eine Packung „Wick Blau“ unter langem Schütteln darin auflösen. Trinken!
Resultat: 1. Du kriegst nie wieder Husten! 2. Wenn du am Boden liegst, fragst
du dich: waren die Ameisen schon immer so groß?
auf dem Fischmarkt am Rialto
die Köche der Trattoria alla Madonna
Die Lagune
Wie eine Beziehung ist eine Lagune ein fragiles Ökosystem.
Fischfarmen vertragen sich so schlecht mit Naturschutzgebieten wie unsere
schöne Principessa mit einem mysteriösen Fremden, der sein Geheimnis nicht
preisgeben will.
Was wissen Sie über seine Muttersprache? Nichts! Andererseits deutet sein
Nachname auf einen sephardischen, also spanischen oder portugiesischen
Ursprung hin…Silvera!
Die Lagune von Venedig führt Brackwasser, ist 1,5 m tief und entspricht einer
Art Watt wie in Norddeutschland. Sie ist ein Zwischenstopp für Zugvögel und
bietet Meeresfischen, die als Jungtiere kommen, ein ideales Terrain, um sich
sattzufressen (wie Venedig-Stadt den Menschen). Am Ende des Jahres verlassen
sie die Lagune wieder (am Ende einer Woche verlassen die Menschen Venedig
wieder). 1,1 Meter Hochwasser in Venedig ist im November normal, dann
werden die Stege aufgestellt (so wie bei einem Pegel von mehr als „4 ombre“
die Liegen).
Der Putz an den Häusern hält wegen der Feuchtigkeit nicht lange und wird oft
gar nicht mehr erneuert, obwohl die Experten es empfehlen, denn eine
Putzschicht, die feucht ist, kann man abklopfen, den blanken Stein aber nicht.
Eine große Gefahr für die Lagune sind die Kreuzfahrtschiffe, deren
Wasserverdrängung den Wasserspiegel anhebt und das Mikroklima der Lagune
stört. Außerdem sind sie mit ihrem gewaltigen Gewicht eine Gefahr für die
Stabilität der Palazzi.
Kreuzfahrtschiff in der Stadt
Die Insel Torcello war einst die Wiege Venedigs, dort steht die älteste Kirche
der Stadt: „Santa Maria Assunta“ aus dem 11. Jahrhundert mit herrlichen
byzantinischen Fresken und Mosaiken. Die riesige Madonna in der Apsis, ganz
in Gold, rührt den Betrachter zu Tränen.
Garten auf Torcello
Auf Torcello kann man sehr schön die Welt der Salzwiesen studieren.
Salzpflanzen, lat. „Halophyten“ hatten schon die Wikinger und Phönizier auf
ihren Schiffen dabei, weil diese Pflanzen Vitamin C liefern und durch ihren
Salzgehalt lange haltbar sind. Es gibt die „Quella“, eine salzliebende Pflanze,
die immer mal wieder eine salzige Überschwemmung braucht, aber bei
Hochwasser eingeht. Dann die „Melde“, den „Strandflieder „ (lavande de mer),
den „Alanth“, das „Kalisalzkraut“ und die Salzsode. Alle Salzpflanzen schützen
sich vor Wasserverlust durch Osmose auf ihre Weise: manche haben
dickfleischige Blätter und Stengel, andere kleine Härchen auf den kleinen
Blättern, um ähnlich wie die Kakteen der Verdunstung wenig Angriffsfläche zu
bieten. Das „Kalisalzkraut“ wurde früher verbrannt, um dann als Pottasche bei
der Glasproduktion eingesetzt zu werden; die seifigen Rückstände der Salzsode
verwendete man bei der Produktion von Seife. Die „Artemisia marittima“ ist ein
altes Heilkraut für die Verdauung und die inneren Organe.
Der Mensch hat sich früh die Salzlandschaft der Lagune zunutze gemacht und
gestaltet diese auch heute noch. Vongole, Venusmuscheln werden z.B.
regelrecht in den Sand gesät, um nach einem Jahr mit großen Rechen geerntet zu
werden. Miesmuscheln werden in Netzen gezogen, immer wieder umgebettet,
bis sie groß genug sind für die Ernte.
Muschelzüchter auf Pellestrina beim Umfüllen der Miesmuscheln in neue
Netze
Und dann noch der Lido!
Wir machen eine Radtour am Lido entlang bis nach Pellestrina, ca. 35 km!
Der Lido selbst ist ja ein exclusiver Badestrand mit den Gebäuden für die
Filmfestspiele und zahlreichen Villen aus der Gründerzeit. Uns kommt er
wahnsinnig lang vor, dann noch die Strecke über Pellestrina bis zu den
„Murazzi“ ,
der dunklen Schranke der Lagunendämme,wo die Busstation nur von einzigen
Laterne beleuchtet ist, wenn man von den Scheinwerfern der Fähre, die noch an
der Mole wartet, absieht. Mr.Silvera, der sich immer etwas abseits von der
Gruppe gehalten hat, wartet, bis alle eingestiegen sind, um wieder seinen Koffer
zu nehmen und…
Auf Pallestrina, äh, Palästina, äh, Pellestrina…“Mann, der Gazastreifen ist aber
verdammt lang!“ brauchen wir erst einmal einen „Laguna“, äh, „Lugana“ als
„Schatten“, bevor wir es schaffen, das Restaurant, wo es Mittagessen gibt, zu
erreichen. Dort erwartet uns in absoluter Schwerelosigkeit das „Fritto Misto“
schlechthin. Am Meer, unter blauem Dach, in seliger Erschöpfung sind wir
willenlos ob der Schönheit dieser Reise. „Äh, Bedienung, wir brauchen Sie
nochmal“ ruft Wolfgang und bestellt Wein nach, und Birgit meint zu den
Männern: „Gebt den Blumen mal Flüssigkeit, sonst vertrocknen die noch!“, was
fast ein Satz von Casanova hätte sein können.
Wir bekommen Flüssigkeit und vertrocknen genauso wenig wie die
Salzpflanzen, denn wir sind das Salz der Erde!
am Lido entlang
Fritto misto
typisches Flachboot von der Insel Pellestrina, die sog. „Pierrota“ nach ihrem
Herstellungsort San Pietro in Volta benannt
Ja, und hier endet unsere Reise durch die venezianische Seele, enden unsere
„Schatten“ und „Lagunas“ , unser „wir wollten was mit Menschen machen“,
unsere Wanderung von „Crostino zu Crostino“, vom Vaporetto zur Pierrota
(Scusi, scendere, per favore!!! – Scendo anch’io!), von Tintoretto zu Veronese,
von Salzpflanze zu Salzpflanze, von den Krebsen zu den Tintenfischen, von den
Bigoli zu den Linguine, vom „Rombo“, dem Rambo unter den Schollen zum
„Branzino“, dem Wolf unter den Fischen, von Truman Capote zu Peggy
Guggenheim, von den Teutonen, die man jeden Morgen wecken mußte, zu den
Titanen Palladios, von Wullekopf zu Wuschelkopf…
und wir sind genauso traurig, wie unsere Principessa, die ihren Mr. Silvera
gehen lassen muß aus einem Grund, den Sie nun nachlesen sollten in dem
großartigen Buch „Der Liebhaber ohne festen Wohnsitz“ von Fruttero und
Lucentini, denn verraten wird das Geheimnis hier nicht!
…Es blieb der letzte Kuß. Im Wind.
Dann, unter der nicht weniger strengen Tafel als der im Ghetto, die Unbefugten
den Zutritt zum Hafen verbot, trennten sie sich, und Mr. Silvera stieg langsam
die Eisenbrücke hinauf, die auf den Damm
führte…
Man konnte an der Punta della Dogana anfangen zu unterscheiden, zu ahnen,
dann den Umriß eines Schiffes sehen, das um 11.25 an Venedig vor den Giardini
vorüberglitt und sich mit seinen wenigen Lichtern hinter der Landspitze von
S.Elena verlor. Man konnte weinen, aber man hielt ganz fest in der Hand eine
falsche Münze und weinte nicht.
Und Mr.Silvera sucht in der Rumpelkammer seiner Erinnerungen ein dunkles
Eckchen, um dort dieses letzte Souvenir unterzubringen, zwei winzige
brokatbezogene Holzschuhe mit ganz hohler Sohle, so wie sie die
venezianischen Damen trugen, um damit auf die Straße zu gehen.
„Ah“, murmelte Mr. Silvera, während er die Laternen der Giardini erlöschen
sieht, die letzten Lichter von S.Elena, von Sant’Erasmo, des Lido. Und während
sich auch dort, hinten am Ufer, die Holzschühchen der Schickse entfernten, die
hätte mitkommen wollen, wenn sie gekonnt hätte, um mit ihm zu wandern bis
zum Tag des Jüngsten Gerichts.
Alle kursiv gedruckten Zeilen Zitate aus dem Buch von Fruttero & Lucentini:
„Der Liebhaber ohne festen Wohnsitz“
Reisebericht von Ursula Lauterbach, Mai 2014
Aus einem Interview des „Osservatore Romano“ mit dem letzten Franziskaner-
Pater der Quarantäne-Insel im Jahre 2074: „Ich erinnere mich, daß erstmals seit
1812 im Jahre 2014 wieder eine Touristengruppe nach dem übermäßigen Genuß
von „ombre“ und „cichetti“ auf die Quarantäne-Insel eingewiesen wurde.
„Ich kannte sie noch persönlich!“