Venezuela unter Chávez: Zwischen demokratischer Revolution und ...

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IBERO-ANALYSEN Dokumente, Berichte und Analysen aus dem Ibero-Amerikanischen Institut Preußischer Kulturbesitz Berlin Heft 7 Januar 2001 Venezuela unter Chávez: Zwischen demokratischer Revolution und Caudillismo Friedrich Welsch José Vicente Carrasquero Friedrich Welsch, Professor für politische Wissenschaft, Universidad Simón Bolívar, Caracas; E-mail [email protected] ; José Vicente Carrasquero, phD, Profesor Asociado an der Universidad Simón Bolívar, Caracas.

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  • IBERO-ANALYSEN

    Dokumente, Berichte und Analysen aus dem Ibero-Amerikanischen Institut

    Preuischer Kulturbesitz Berlin

    Heft 7 Januar 2001

    Venezuela unter Chvez:

    Zwischen demokratischer Revolution und Caudillismo

    Friedrich Welsch Jos Vicente Carrasquero

    Friedrich Welsch, Professor fr politische Wissenschaft, Universidad Simn Bolvar, Caracas; E-mail [email protected]; Jos Vicente Carrasquero, phD, Profesor Asociado an der Universidad Simn Bolvar, Caracas.

    mailto:[email protected]

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    Venezuela unter Chvez: Zwischen demokratischer Revolution und Caudillismo Friedrich Welsch und Jos Vicente Carrasquero

    I. Der bergang zur Fnften

    Republik

    Als der frhere Fallschirmjger-Oberstleutnant und Anfhrer des erfolglosen, blutigen Putschver-suchs vom 4. Februar 1992, Hu-go Chvez, am 8. Dezember 1998 einen haushohen Wahlsieg errang, der ihm das Amt des ve-nezolanischen Staatsprsidenten sicherte, tanzten seine Anhnger auf den Straen im Zentrum der Hauptstadt Caracas die ganze Nacht hindurch, feierten ihr Idol und sprhten vor Hoffnungen. In der Geschichte Venezuelas brach eine neue ra an, in der sie, die ewig Benachteiligten, in den Vordergrund treten und die Ge-schicke des Landes mageblich mitbestimmen wrden. Gleich-zeitig sorgten die Unwgbarkei-ten der von Chvez versproche-nen friedlichen und demokrati-schen Revolution bei weiten Kreisen der Mittel- und vor allem der Oberschichten fr erhebliche Beunruhigung. Es zeichnete sich bereits ab, was nunmehr immer augenscheinlicher wird: die im Umgang miteinander traditionell egalitren Venezolaner began-nen, sich in zwei einander immer feindlicher gegenberstehende Lager zu spalten, nmlich das souverne Volk und die Oli-garchie - in der effekthascheri-schen Terminologie des Staats-prsidenten.1 1 Eine im November 2000 durchgefhr-

    te Umfrage verdeutlicht diese Polari-sierung: whrend die Popularitt des Staatsprsidenten in der Unterschicht

    Chvez hielt sein Versprechen, er werde das politische System Venezuelas in seinen Grundfes-ten erschttern. In einer bei-spiellosen Kampagne stndiger Agitation, Propaganda und Mobi-lisierung, die er vor allem ber endlose, in amtlich verordneten Schaltkonferenzen von Radio- und Fernsehstationen gehaltene Reden, Aufrufe und Verbalatta-cken gegen die Politik und die Politiker der Vergangenheit vo-rantrieb, gewann er die Unter-sttzung eines bedeutenden Teils der ffentlichkeit fr sein Vorhaben eines politischen Neu-anfangs. Der Erfolg seines ag-gressiven Werbens ist zweifellos auch seinem messianischen Dis-kurs zu verdanken, den er be-wusst einsetzt und meisterhaft beherrscht.2 Mit seinem rastlo-sen Einsatz berrollte Chvez die Oppositionsparteien, die in den Parlaments- und Regionalwahlen vom November 1998 einen Monat vor seinem Sieg bei den Prsidentschaftswahlen die Mehrheit in beiden Kammern des Kongresses und zwei Drittel der Gouverneursposten errungen hatten (Welsch/Werz 1999). Die

    bei 76 % liegt, fllt sie in der Mittel-schicht auf 45 % und in der Ober-schicht auf 26 % (El Universal, 17.12.2000).

    2 In seinen Gesprchen mit dem Autor Blanco Muz bemerkte Chvez zum Messianismus: diese messianische Befrachtung, der blinde Glaube, die gibt es einfach [...] Das Werkzeug ist vorhanden, man muss es nur richtig nutzen (Blanco Muz 1998: 601).

    Chvez hielt sein Versprechen, er

    werde das politi-sche System Vene-

    zuelas in seinen Grundfesten er-

    schttern. In einer beispiellosen Kam-

    pagne stndiger Agitation, Propa-

    ganda und Mobili-sierung [...] ge-

    wann er die Unter-sttzung eines be-

    deutenden Teils der ffentlichkeit fr sein Vorhaben eines politischen

    Neuanfangs.

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    Opposition kapitulierte bedin-gungslos, ebenso wie die Ge-werkschaftsorganisationen und Arbeitgeberverbnde. Chvez lie sich die Gelegenheit nicht entgehen, die ihm der Vertrau-ensverlust der Bevlkerung ge-genber den staatlichen und ge-sellschaftlichen Institutionen bot (Carrasquero/Welsch 2000). Ihre Schwche machte es ihm leicht, sie zu demontieren: den Obers-ten Gerichtshof, den Kongress, den Nationalen Wahlrat, die Gouverneure der Bundesstaaten und deren Parlamente, die Sozi-alpartner.

    Seit seiner Amtseinfhrung im Februar 1999 hat Chvez seine bolivarianische Revolution auf die Zermrbung der bestehen-den Institutionen und die paral-lele Errichtung einer Struktur fo-kussiert, die auf Machtkonzent-ration und monopolisierung in den Hnden einer Fhrungsfigur ausgerichtet ist, einem Fhrer, der mit dem Volk ohne Mittler direkt kommuniziert. Der direkte Draht zum Volk ist notwendige Voraussetzung des postdemo-kratischen Entwicklungsmodells: die Postdemokratie chvezscher Prgung prsentiert sich als ple-biszitr, im Gegensatz zum re-prsentativen Ansatz. Das ple-biszitre Paradigma durchzieht das Aktionsprogramm des von Chvez gefhrten Bndnisses Patriotischer Pol, zusammen-gesetzt aus seiner Bewegung Fnfte Republik, der demokra-tisch-sozialistischen Bewegung zum Sozialismus (Movimiento al Socialismo/MAS) und sieben weiteren Kleinparteien und Gruppierungen des linken Spekt-rums. Im April 1999, nur zwei

    Monate nach seiner Amtseinfh-rung, wurde die Volksbefragung zur Einberufung einer Verfas-sungsgebenden Versammlung sowie deren Handlungsrahmen durchgefhrt. Im Juli wurden die Abgeordneten der Nationalen Verfassungsgebenden Versamm-lung gewhlt; das Chvez-Bndnis setzte sich dabei auf der gesamten Linie durch und errang ber 90% der Sitze. Die Ver-sammlung legte in Rekordzeit eine neue Bolivarianische Ver-fassung vor, die sich weitgehend an den von Chvez vorgelegten Entwurf anlehnt und im Dezem-ber 1999 per Volksabstimmung in Kraft gesetzt wurde. Trotz ei-ner ununterbrochenen Mobilisie-rungskampagne war die Wahl- und Abstimmungsbeteiligung zwischen einem guten Drittel und etwas ber der Hlfte der Wahlberechtigten nicht nur nicht hher, sondern in der Ten-denz sogar noch niedriger als bei den letzten Wahlen der so ge-schmhten Vierten Republik, ein Indiz dafr, dass es auch Chvez nicht gelungen ist, jenen Gro-teil der Brger, die der politi-schen Beteiligung den Rcken gekehrt haben, wieder in die Entscheidungsprozesse einzube-ziehen.

    Whrend der bergangsphase zwischen der Annahme der Boli-varianischen Verfassung und der Relegitimierung aller Wahlmter nach deren Regeln in den soge-nannten Megawahlen vom 30. Juli 2000 bernahm eine von der Verfassungsgebenden Versamm-lung eingesetzte, ausschlielich aus Chvez-Gefolgsleuten be-stehende Gesetzgebungskom-mission die Rolle einer Legisla-

    Seit seiner Amtseinfhrung im Februar 1999 hat Chvez seine bolivarianische Revolution auf die Zermrbung der bestehenden In-stitutionen und die parallele Errich-tung einer Struk-tur fokussiert, die auf Machtkonzent-ration und monopolisierung in den Hnden ei-ner Fhrungsfigur ausgerichtet ist, einem Fhrer, der mit dem Volk ohne Mittler direkt kommuniziert.

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    tive, welche die von der Regie-rung vorgeschlagenen Politiken parlamentarisch absegnete. Pa-rallel dazu bereitete ein ebenfalls von der Verfassungsgebenden Versammlung eingesetzter und ebenfalls ausschlielich mit re-gierungstreuen Gewhrsleuten besetzter Nationaler Wahlrat die-sen Wahlgang vor. Der ur-sprnglich fr Ende Mai 2000 vorgesehene Wahltermin musste wegen offensichtlicher Unfhig-keit dieses Organs bei dessen Zusammensetzung eher auf Loy-alitt als auf Fachkompetenz ge-achtet worden war auf Ende Juli verschoben werden; die wei-tere Vorbereitung wurde einem Gremium mit einigen neutralen Fachleuten bertragen. Die Zweifel ber den demokrati-schen Charakter des Regimes, die eine auf Gleichschaltung smtlicher Staatsorgane gerich-tete Personalpolitik noch ver-strkte, konnten auch durch den fnften, aufeinanderfolgenden Wahl- bzw. Volksabstimmungs-sieg von Hugo Chvez nicht zer-streut werden, zumal die Boliva-rianische Verfassung mit ihren schwachen Gegengewichten die Machtposition des Staatsprsi-denten monopolartig absichert (Brewer-Caras 2000; Rey 1999; Vanossi 1999).

    Das vorlufige Ende der Kette von landesweiten Wahlakten bil-deten die mit einer Volksabstim-mung ber die Amtsenthebung der Vorstnde der Gewerk-schaftsverbnde und deren Re-organisation verbundenen Ge-meinderatswahlen, die zum ers-ten Fiasko der bolivarianischen Revolution wurden. Zwar konnte die Regierungsallianz ihre Positi-

    on in den mehrheitlich von der Opposition bzw. Unabhngigen beherrschten Rathusern str-ken, aber die Wahlbeteiligung erreichte mit einem Fnftel ei-nen historischen Tiefstand;3 weitaus geringere Legitimations-defizite hatten den Niedergang der Vierten Republik begleitet und beschleunigt. An der gekop-pelten Volksbefragung beteilig-ten sich nur etwas ber drei Pro-zent der Wahlberechtigten, und Chvez gelang es daher vorerst nicht, die Arbeiterbewegung gleichzuschalten.

    II. Die Bolivarianische Verfassung

    Die vom Patriotischen Pol klar beherrschte Verfassungsgebende Versammlung forderte zwar alle Brger und organisierten Grup-pen auf, Vorschlge zu unter-breiten, richtete ein Brgerbro ein und stellte eine interaktive Seite ins Netz, erhielt auch zahl-reiche Eingaben zu allen mgli-chen Themen und diskutierte Antrge und Gegenantrge in gelegentlich hitzigen Debatten, verabschiedete aber schlielich ein Werk, das praktisch alle Ele-mente des Entwurfs enthielt, den Prsident Chvez ihr bei der Erffnungssitzung vorgelegt hat-te.

    Der entscheidende Einfluss des Staatsprsidenten wurde fr je-dermann offensichtlich, als die Versammlung beschloss, entge-gen dessen Wunsch die Staats-bezeichnung nicht zu ndern. Chvez intervenierte direkt, for-derte eine erneute Abstimmung und setzte seinen Willen durch: 3 In der Hauptstadt Caracas z.B. lag

    die Wahlbeteiligung nur knapp ber 14% (www.cne.gov.ve).

    Die Zweifel ber den demokrati-

    schen Charakter des Regimes, die eine auf Gleich-

    schaltung smtli-cher Staatsorgane gerichtete Perso-

    nalpolitik noch verstrkte, konn-

    ten auch durch den fnften, aufeinan-

    derfolgenden Wahl- bzw. Volks-abstimmungssieg von Hugo Chvez

    nicht zerstreut werden, zumal die

    Bolivarianische Verfassung mit ih-

    ren schwachen Gegengewichten

    die Machtposition des Staatsprsi-

    denten monopolar-tig absichert.

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    das Land heit nunmehr offiziell Bolivarianische Republik Vene-zuela. Diese nderung ist kei-neswegs blo nominal, sondern hat programmatischen Charak-ter, denn sie suggeriert eine doppelte Identitt, indem sie die Einheit von Fhrer Bolvar und unterjochtem Volk im Befrei-ungskampf gegen die spanische Kolonialherrschaft mit der Ein-heit von Chvez und unterdrck-ter Unterschicht in der demokra-tischen Revolution von heute gleichsetzt und damit die Identi-tt von Bolvar und Chvez pos-tuliert (Welsch/Carrasquero 2000, Arenas/Gmez 1999; Welsch 1999). Auerdem ver-weist diese Staatsbezeichnung auf ein ber Venezuela hinaus-reichendes politisches Pro-gramm, indem es Bolvars Traum von der Einigung Spa-nisch-Amerikas transportiert, d.h. weiteren bolivarianischen Republiken Raum bietet.

    Zu den wichtigsten organisatori-schen Neuerungen der Bolivaria-nischen Verfassung gehrt die Abschaffung der Vertretung der Bundesstaaten in der Nationalversammlung, einem Ein-Kammer-Parlament, das den bisherigen Zwei-Kammern-Kongress ersetzt. Der Verfas-sungsrechtler Brewer-Caras eines der wenigen nicht re-gierungstreuen Mitglieder der Nationalversammlung bezeichnet das als Widerspruch zu der fderalen Staatsform (Brewer-Caras 2000: 107). Die Bundesstaaten verlieren eine Vertretungsinstanz und werden dafr mit dem Fderalen Regierungsrat (Consejo Federal de Gobierno) entschdigt, einer unter der Federfhrung des

    Exekutiv-Vizeprsidenten ange-siedelten Koordinationsinstanz, der neben den direkt gewhlten Gouverneuren der Bundesstaa-ten auch die Kabinettsminister, ein Brgermeister je Bundes-staat sowie Vertreter der orga-nisierten Gesellschaft angeh-ren. Dem Rat obliegt die Pla-nung und Koordination von Poli-tiken und Manahmen zur Ent-wicklung des Dezentralisierungs-prozesses und der Kompetenz-bertragung von der nationalen auf die Ebene der Bundesstaaten und Gemeinden (Bolivarianische Verfassung 1999, Art. 185). Die Definition und Regulierung die-ser Funktionen obliegt dem Ge-setzgeber, also einer Instanz, in der die Bundesstaaten und Ge-meinden nicht als Organe vertre-ten sind. Die Verfassung schafft auch das neue Amt des Exeku-tiv-Vizeprsidenten (Vicepresi-dente Ejecutivo), der nicht vom Volk gewhlt, sondern vom Staatsprsidenten ernannt wird und nur diesem Rechenschaft ablegt. Die dritte Neuerung in diesem Bereich ist die Mglich-keit einer Wiederwahl des Staatsprsidenten und die Ver-lngerung seiner Amtszeit von fnf auf sechs Jahre. Mit der Zu-lassung der Wiederwahl folgt Venezuela den Beispielen ande-rer lateinamerikanischer Lnder, z.B. Argentinien, Brasilien und Peru.

    Die Bolivarianische Verfassung fhrt auerdem zwei neue Ge-walten ein, nmlich die Brger- und die Whlergewalt (Poder Ci-udadano und Poder Electoral). Die Brgergewalt wird vom Mo-ralrat der Republik (Consejo Mo-ral Republicano) ausgebt, dem

    Das Land heit nunmehr offiziell Bolivarianische Republik Venezue-la. Diese nde-rung ist keines-wegs blo nomi-nal, sondern hat programmatischen Charakter, denn sie suggeriert eine doppelte Identitt, indem sie die Ein-heit von Fhrer Bolvar und unter-jochtem Volk im Befreiungskampf gegen die spani-sche Kolonialherr-schaft mit der Ein-heit von Chvez und unterdrckter Unterschicht in der demokrati-schen Revolution von heute gleich-setzt und damit die Identitt von Bolvar und Chvez postuliert.

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    der Ombudsman (Defensor del Pueblo), der Generalstaatsan-walt (Fiscal General) und der Oberste Rechnungsprfer (Con-tralor General) angehren; der Moralrat stellt inhaltlich und terminologisch einen Rckgriff auf Bolvars Verfassungsvorstel-lungen dar.4 Seine Hauptaufga-ben umfassen die Verhinde-rung, Untersuchung und Bestra-fung von Tatbestnden, welche sich gegen die ffentliche Ethik und die Verwaltungsmoral rich-ten; auerdem soll er fr die Gesetzmigkeit bei der Ver-wendung ffentlicher Mittel sor-gen (Bolivarianische Verfas-sung, Art. 274) sowie alle p-dagogischen Aktivitten frdern, die der Kenntnis dieser Verfas-sung, der Vaterlandsliebe, den brgerlichen und demokrati-schen Tugenden, den Grundwer-ten der Republik und der Ach-tung der Menschenrechte ver-pflichtet sind (Art. 278). Dem Nationalen Wahlrat obliegt die Regelung der Wahlgesetze, die Organisation von Wahlen, die Fhrung des Melde- und Whler-verzeichnisses und des Verzeich-nisses der politischen Organisati-onen sowie die berwachung der Finanzen dieser Organisationen (Art. 293).

    Die Mitwirkungsrechte der Br-ger wurden erheblich erweitert, der Schutz der Menschenrechte ausgeweitet und das Selbstbe-stimmungsrecht der indigenen Bevlkerung gestrkt, da sie nunmehr durch Quoten in den parlamentarischen Instanzen al-ler Ebenen vertreten sind. Den

    4 Bolvar, Discurso de Angostura,

    15.2.1819, Obras Completas, La Ha-bana (Lex) 1947.

    Mitgliedern der Streitkrfte wur-de das Wahlrecht eingerumt und die Brger knnen ihren Forderungen durch Volksbegeh-ren und abstimmungen Gehr verschaffen. Die Funktionen der Kandidatenauswahl und benen-nung fr die Richter des Ober-sten Gerichts und die Mitglieder des Moralrats der Republik wur-den getrennt und durch Brger-beteiligung zumindest teilweise der ausschlielichen Zustndig-keit des Parlaments entzogen. Die Kandidatenauswahl liegt nunmehr bei Bewerbungsaus-schssen, an denen die gesell-schaftlichen Gruppen zu beteili-gen sind, whrend die National-versammlung die Amtstrger mit qualifizierter Mehrheit aus Drei-erlisten auswhlt, die von diesen Ausschssen erstellt werden. Bedauerlicherweise wurde dieses Partizipationsrecht mit Verfas-sungsrang schon verletzt, als die Tinte noch feucht war, mit der es zu Papier gebracht wurde, denn die Nationalversammlung verabschiedete ein Bewerbungs-gesetz, das die Beteiligung der Gesellschaft auf eine praktisch einflusslose Prsenz in Dialog-ausschssen (Mesas de Dilo-go) reduziert, die obendrein kei-ne Entscheidungskompetenz be-sitzen, sondern nur Empfehlun-gen aussprechen. Deshalb n-dert sich trotz der Einfhrung zweier neuer Gewalten nichts an der angestammten Praxis der Gewaltenfusion statt Gewalten-teilung. Ebenso wie in der Vier-ten Republik beherrscht das Parlament die brigen Gewalten durch seine Zustndigkeit fr deren Besetzung und wird selbst wiederum von der Exekutive be-herrscht, die frhere parlamen-

    Trotz der Einfh-rung zweier neuer Gewalten nderte sich nichts an der

    angestammten Praxis der Gewal-

    tenfusion statt Gewaltenteilung.

    Ebenso wie in der Vierten Republik

    beherrscht das Parlament die b-

    rigen Gewalten durch seine Zu-

    stndigkeit fr de-ren Besetzung und

    wird selbst wie-derum von der

    Exekutive beherrscht.

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    tarische Zustndigkeiten an sich gezogen hat.

    So wurde die ohnehin dominie-rende Position des Staatsprsi-denten noch weiter gestrkt. Der Prsident hat heute das alleinige Recht auf Befrderung von Offi-zieren vom Rang eines Obersten an und kann so seine Machtbasis auch militrisch sichern; er er-nennt den Exekutiv-Vizeprsi-denten und kontrolliert damit faktisch den Fderalen Regie-rungsrat, also die Koordinations-instanz fr die Dezentralisierung. Schlielich kann der Staatsprsi-dent die Nationalversammlung auflsen, wenn diese drei Miss-trauensvoten gegen Exekutiv-Vizeprsidenten zustandebringt (Art. 240). Diese Schwelle kann man zwar mit Brewer-Caras als kaum berwindbar ansehen es sei denn, die Nationalversamm-lung provoziere ihre eigene Auf-lsung aber dennoch handelt es sich hier um eine Kompetenz, die durch kein Gegengewicht einer anderen Gewalt ausgewo-gen wird.

    Im Bereich der Wirtschaft sind die Neuerungen weniger eindeu-tig. So werden einerseits Regeln eingefhrt, die auf ein moder-nes, effizientes und verantwor-tungsvolles ffentliches Mana-gement zielen, z.B. die straf-rechtliche Verfolgung von Steu-erdelikten, ein restriktiver Rah-men fr ffentliche Haushalte und eine offene Ordnungspolitik, andererseits wird die Unabhn-gigkeit der Zentralbank durch eine Rechenschaftspflicht ge-genber der Nationalversamm-lung stark eingeschrnkt, weil ihre Steuerungsinstrumente da-mit der jeweiligen parlamentari-

    schen Machtkonstellation unter-worfen werden.

    Eine vertiefende Diskussion ber die Bolivarianische Verfassung wird dadurch erschwert, dass bisher keine Klarheit darber be-steht, welcher Text wirklich gl-tig ist. Die Fassung, die vom Volk am 15. Dezember 1999 verabschiedet wurde, unter-scheidet sich sowohl von der am 30. Dezember 1999 im Staats-anzeiger verffentlichten als auch von einer korrigierten Fassung, die ohne weitere par-lamentarische Beratung von einem Stilausschuss erstellt und am 24.3.2000 im Staatsan-zeiger abgedruckt wurde. Die Generalstaatsanwaltschaft ent-deckte in einem Vergleich mehr als 250 nderungen, die beileibe nicht nur stilistischer, sondern handfester inhaltlicher Natur sind. So wurde z.B. in Ziffer 3 des Artikels 266, der die Kompe-tenzen des Obersten Gerichts regelt, durch Einfgung eines simplen Kommas die Immunitt von Offizieren der Streitkrfte im Generals- und Admiralsrang auf smtliche Offiziere ausgeweitet (Fiscala ... 2000). Im Klartext heit das, dass bei Strafflligkeit eines Offiziers jeden Ranges das Oberste Gericht zu entscheiden hat, ob Anklage erhoben werden darf oder nicht.

    Zusammenfassend kann man feststellen, dass die Ungleichge-wichte in den Beziehungen zwi-schen den Gewalten, welche schon in der Verfassung von 1961 der Exekutive eine Vor-rangstellung gesichert hatten, sich noch weiter in Richtung ei-ner Strkung der Position des Staatsprsidenten verschoben

    Eine vertiefende Diskussion ber die Bolivarianische Verfassung wird dadurch er-schwert, dass bis-her keine Klarheit darber besteht, welcher Text wirk-lich gltig ist.

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    haben, und dass die Mitwir-kungsrechte der nicht nher de-finierten organisierten Gesell-schaft sich verflchtigen, wenn es um Machtfragen geht. Das jedenfalls belegt bereits jetzt die kurze Umsetzungswirklichkeit der Bolivarianischen Verfassung.

    Die althergebrachten politischen Akteure haben keine ernsthaften Versuche unternommen, den in-stitutionellen Umbau zu verhin-dern oder zu beeinflussen. Sie haben es nicht verstanden, ihre Niederlage in den Prsident-schaftswahlen von 1998 in Re-formfhigkeit umzumnzen und programmatische Aussagen zu alternativen Vorhaben zu entwi-ckeln. Sie verzettelten sich in Schuldzuweisungen und Perso-naldebatten und verabschiede-ten sich widerstandslos von der politischen Bhne. Im Wahl-kampf fr die Verfassungsge-bende Versammlung traten sie nicht einmal an, stellten keine eigenen Kandidaten auf und ver-legten sich auf die aussichtslose Verteidigung ihrer Positionen in den noch bestehenden Instituti-onen, wie z. B. dem todgeweih-ten Kongress. Im Vorfeld der Volksabstimmung ber die neue Verfassung initiierten sie eine zaghafte Kampagne fr das Nein. Sie verweigerten ihre Mit-wirkung am Entwurf und der Er-richtung der neuen politischen Ordnung, hatten aber auch nicht gengend Macht oder berzeu-gungskraft, um sie zu verhin-dern.

    III. Regierungsbilanz nach zwei Jahren

    Nach nur zwei Regierungsjahren kann Prsident Chvez auf eine eindrucksvolle politische Leis-

    tung verweisen. Er war der un-ermdliche Impulsgeber des Wandels. Er verlieh ihm mit sei-nem mobilisierenden verbalen Dauerfeuer eine unaufhaltsame Dynamik. Er berrollte die tradi-tionellen politischen und gesell-schaftlichen Akteure und setzte seinen Diskurs und seine Agenda durch. Er vermochte sein Image als unbestrittener Anfhrer des revolutionren Prozesses von dem als Chef einer Regierung mit einer traurigen Wirtschafts- und Sozialbilanz zu trennen. Es gelang ihm, die an Schrfe zu-nehmende Kritik in den Medien zu neutralisieren.

    Aber aller Rhetorik und Dynamik des Wandels zum Trotz sind die praktischen Ergebnisse der Ch-vez-Revolution bisher eher be-scheiden, wie selbst ihre Apolo-geten implizit eingestehen, in-dem sie die meisterhafte Kom-munikation des Comandante mit seinem Volk hervorheben, sich aber nur verhalten zur qua-litativen Entwicklung des Re-gimes und der versprochenen Verbesserung der Lebensqualitt der Venezolaner uern (Gott 2000: 20f. u. 229). Im direkten Vergleich mit der politischen Praxis des von Chvez tagaus, tagein geschmhten verlotter-ten Fhrungszirkels des abge-lsten Regimes erweist sich sei-ne Fnfte Republik als noch in-tensiver nach Machtkonzentrati-on strebend,5 noch absolu-

    5 So erhalten z.B. die Regierungen der

    Bundesstaaten nur knapp 5% des Mehrwertsteueraufkommens ge-genber 15-20% in der Vergangen-heit whrend gleichzeitig der Haus-halt der Zentralregierung dank des Erdlbooms alle Wachstumsrekorde bricht (Gesetz des Dezentralisie-rungsfonds [FIDES]; siehe auch:

    Aber aller Rhetorik und Dynamik des

    Wandels zum Trotz sind die prakti-

    schen Ergebnisse der Chvez-

    Revolution bisher eher bescheiden,

    wie selbst ihre Apologeten implizit

    eingestehen, in-dem sie die meis-

    terhafte Kommuni-kation des

    Comandante mit seinem Volk her-

    vorheben, sich aber nur verhalten

    zur qualitativen Entwicklung des Regimes und der

    versprochenen Verbesserung der

    Lebensqualitt der Venezolaner

    uern.

  • Friedrich Welsch/Jos Vicente Carrasquero: Venezuela unter Chvez 10

    tistischer bei der Zusammenstel-lung von Kandidatenlisten,6 noch klientelistischer und nepo-tistischer bei der mterbeset-zung, noch strker auf Loyalitt statt Fachkompetenz fixiert,7 noch korrupter in ihrer Verwal-tungspraxis, ob in der Zollver-waltung, im Bereich der Sozial-politik oder dem vom Militr verwalteten Entwicklungspro-gramm Plan Bolvar 20008 und, besonders besorgniserregend, weil dieser Bereich ja zu den er-klrten Prioritten des neuen Regimes gehrt, noch mehr die Menschenrechte missachtend.9

    Wie eingangs bereits erwhnt, spaltet Chvez mit seinem radi-kal-dualistischen Diskurs die ve-nezolanische Gesellschaft in zwei Lager: die verarmte und somit

    Zentralregierung steigert Ausgaben von Januar bis August um 48,5%, El Universal, 3.11.2000).

    6 Z.B. bei der Kandidatenaufstellung fr die Verfassungsgebende Ver-sammlung, fr die Chvez sich offen das letzte Wort vorbehielt.

    7 Zweifellos verdanken Chvez Vater (Gouverneur eines Bundesstaates), Bruder (Chef einer ffentlichen Bank) und Frau (Mitglied der Verfassungs-gebenden Versammlung), ebenso wie eine Reihe von Putschkameraden ihre mter weniger ihrer Kompetenz als ihrer Beziehung zum Comandante.

    8 Z.B. Rechnungshof moniert unbeleg-te Zahlungen von ber 380 Millionen Bolivares im Plan Bolivar 2000 (Bo-letn de la Contralora General de la Repblica, 9-12-1999); der Chef des Rechnungshofs, obwohl Chvez-Ge-folgsmann, wurde inzwischen abge-lst.

    9 Die Menschenrechtsorganisation Pro-vea stellte in Ihrem Jahresbericht 2000 (Okt. 1999 Sept. 2000) fest, die Situation der Menschenrechte ha-be sich verschlimmert. Sie wies be-sonders darauf hin, dass die Zahl der von Sicherheitskrften getteten Per-sonen in diesem Zeitraum (170) nur im Putschjahr 1992 bertroffen wur-de (187) (Informe de Provea, www.politica/eluniversal.com).

    gute Mehrheit der Souve-rn und eine korrupte, verr-terische Minderheit, die Oligar-chie. Ob beabsichtigt oder nicht schrt er so den sozialen Hass, mit der Folge einer nie da gewe-senen Zunahme der Gewaltkri-minalitt.10 Viele Venezolaner verlassen das Land, die Kapital-flucht hlt unvermindert an und frher enthusiastische Wegge-fhrten des Prsidenten kehren ihm inzwischen den Rcken zu.11 Die Medien, insbesondere die greren Tageszeitungen, halten mit Kritik an der Regierung nicht zurck, aber die hat bisher die Popularitt des Staatsprsiden-ten nicht geschmlert. Dennoch spren die Medien und ihre Mit-arbeiter verstrkten Druck, nicht nur durch die stndigen verbalen Attacken seitens Chvez, son-dern auch durch vermehrte Ge-richtsverfahren. So werden im Lnderbericht Venezuela des In-teramerikanischen Zeitungsver-bands die stndigen, ffentlich vorgebrachten Drohungen und

    10 Die Kriminalstatistik des Statistischen

    Amtes ist nur bis 1998 aktualisiert. In der Presse wird die amtliche Zahl von 7779 Ttungsdelikten im Jahr 2000 genannt (El Nacional, 25.1.01), inof-fizielle Zahlen gehen bis zu 9000 (TalCual, 2.1.01), das entspricht 34 bis 39 Ttungsdelikten pro 100.000 Einwohner, etwa 30mal hher als in Deutschland (1,2/100.000 im Jahr 1999)(www.bka.de).

    11 Die Zahl der in Miami registrierten Venezolaner betrgt inzwischen 150.000, und die Kapitalflucht drfte im Jahr 2000 bei 4-5 Milliarden Dollar liegen; einer Umfrage zufolge wrde fast die Hlfte der jngeren Venezo-laner auswandern, wenn sich die Ge-legenheit bte (Maxwell 2000); ne-ben Mitrdelsfhrern des Putschs vom Feburar 1992 Urdaneta, Arias Crdenas und Acosta Chirinos ist be-sonders Angela Zago zu erwhnen, die Autorin der Chvez-Glorifikation La rebelin de los ngeles (1998).

    Chvez spaltet mit seinem radikal-dualistischen Dis-kurs die venezola-nische Gesell-schaft in zwei La-ger [...]. Ob beab-sichtigt oder nicht schrt er so den sozialen Hass, mit der Folge einer nie da gewesenen Zu-nahme der Ge-waltkriminalitt.

  • Ibero-Analysen 7 Januar 2001 11

    Beleidigungen des Staatsprsi-denten gegen Printmedien, ihre Herausgeber, Journalisten und wiederholt auch gegen den Zei-tungsverband gergt, ebenso wie die Tatsache, dass Heraus-geber und Journalisten als Ver-leumder bezichtigt und vor Ge-richt gestellt [...] und dass die Prozesse hinausgezgert wer-den.12 Das wirtschaftliche Management der Fnften Republik hat bisher nicht zu den gewnschten und versprochenen Ergebnissen ge-fhrt, trotz der von Erfolg ge-krnten Entscheidung, die Erdl-politik von der Marktsicherung durch Produktionsvolumen auf Preissicherung durch Produkti-onsverknappung eines revitali-sierten Produzentenkartells um-zustellen. Zweifellos hat der un-ermdliche Einsatz des frheren Erdlministers und heutigen OPEC-Generalsekretrs Al Ro-drguez und des Staatschefs selbst dazu beigetragen, die Dis-ziplin bei der Einhaltung der Ex-portquoten der Mitglieder zu strken und damit die Preise deutlich zu steigern. Die absolu-te Vorrangigkeit des politischen Wandels als Voraussetzung fr mittel- und langfristige Vernde-rungen in anderen Bereichen er-forderte offenbar alle zur Verf-gung stehenden Ressourcen, und die Formulierung einer ko-hrenten Wirtschaftspolitik blieb auf der Strecke. Die Investitio-nen sanken, die Arbeitslosigkeit stieg 1999 deutlich an und hielt sich im Jahr 2000 trotz der wirt-schaftlichen Erholung auf dem 12 Informe de la 56. Asamblea de la

    Sociedad Interamericana de Prensa, Oktober 2000, (www.eluniversal. com/apoyos/sip1./html).

    hohen Niveau von fast 15%, wobei die Hlfte der Beschftig-ten in der Schattenwirtschaft t-tig ist. Die Wirtschaftsttigkeit schrumpfte 1999 um ber 6% und konnte 2000 mit einem Wachstum von etwas ber 3% nur die Hlfte des verlorenen Bodens wiedergewinnen, ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Hochkonjunktur im Erdlsek-tor die strukturellen Schwchen der venezolanischen Wirtschaft nicht auszugleichen vermochte. Die Inflation wurde zwar einge-dmmt, liegt aber immer noch im zweistelligen Bereich (14%); zu dieser Entwicklung trug die mit gut 7% weit unter der Infla-tionsrate liegende Verteuerung des Wechselkurses bei, die einen strkeren Preisauftrieb verhin-derte, aber andererseits die Bin-nenproduktion und die nicht-traditionellen Exporte erschwer-te. Positiv zu vermerken sind die hohen Devisenreserven (rd. 21 Milliarden US$).13

    Selbst der gute Vorsatz der Re-gierung, die Staatsausgaben un-ter Kontrolle zu bringen, verpuff-te angesichts der lpreisbeding-ten Einnahmesteigerungen. Ur-sprnglich nicht geplante Sub-ventionen, Lohnsteigerungen und Einstellungen im ffentli-chen Dienst trieben die Ausga-ben im ersten Quartal 2000 um ber 40% in die Hhe.14 Den An-gaben des Statistischen Amtes

    13 Zu den Wirtschaftsdaten s. Lnderbe-

    richt Venezuela (www.eclac.org/ pu-blicaciones) sowie Mensaje de fin de ao del Presidente del Banco Central de Venezuela (El Universal, 27.12. 2000).

    14 CEPAL, Divisin de Estadstica y Pro-yecciones Econmicas: Finanzas P-blicas, Resumen Venezuela (www. eclac.org).

    Selbst der gute Vorsatz der

    Regierung, die Staatsausgaben

    unter Kontrolle zu bringen, verpuffte angesichts der l-

    preisbedingten Einnahmesteige-

    rungen. Ursprng-lich nicht geplante

    Subventionen, Lohnsteigerungen und Einstellungen

    im ffentlichen Dienst trieben die Ausgaben im ers-ten Quartal 2000 um ber 40% in

    die Hhe.

  • Friedrich Welsch/Jos Vicente Carrasquero: Venezuela unter Chvez 12

    zufolge wuchs die Zahl der Staatsdiener von April bis Juni 2000, also den drei Monaten vor den Mega-Wahlen, um ber 100.000 Personen (Estadsticas de la Fuerza Laboral; www.ocei. gov.ve). Aus den Tabellen 1 und 2 wird ersichtlich, dass die Re-gierung die tatschlichen Ausga-ben Quartal um Quartal, Jahr um Jahr steigerte. Ein Groteil des Mehraufwands entfiel auf laufen-de Ausgaben, die sich wie Lohnerhhungen und Personal-verstrkungen auch auf die folgenden Haushalte auswirken. Eine derartige Haushaltspolitik hat sich in der Vergangenheit stets als nicht nachhaltig erwie-sen und drfte es auch jetzt nicht sein. Tabelle 1: Vernderung der Staats-ausgaben gegenber dem Vorjahr

    Jahr Vernderung

    1999 +23%

    2000 +58% Quelle: Oficina Central de Presupuesto www.ocepre.gov.ve

    Tabelle 2: Vernderung der Staats-ausgaben gegenber dem Vorquartal

    Quartal Vernderung

    1999/III +24%

    1999/IV +27%

    2000/1 +33% Quelle: Oficina Central de Presupuesto (www.ocepre.gov.ve).

    Dass die Venezolaner die schwa-che Leistung der Regierung am eigenen Leib spren, nmlich in Form von Arbeitslosigkeit und Kriminalitt, ergibt sich aus ihrer Sicht der Hauptprobleme des Landes (Tabelle 3), bedeutet a-ber keineswegs, dass sie diese Probleme dem Prsidenten Ch-vez anlasten (Tabelle 4) oder das Vertrauen in dessen Fhig-keit verlieren, sie in eine bessere

    Zukunft zu fhren (Tabelle 5). Allerdings fllt auf, dass im zwei-ten und dritten Quartal 2000 einer wegen der Verschiebung der Mega-Wahlen turbulenten Zeit der Anteil derjenigen, die ihn fr die Probleme verantwort-lich machten, auf mehr als das Doppelte stieg und danach auch nicht mehr das frhere, niedrige Niveau erreichte. Neuesten Da-ten zufolge verstrkt sich diese Tendenz wieder, denn 60% bzw. 52% sind der Meinung, die Re-gierung kmmere sich zu wenig um die Bekmpfung von Arbeits-losigkeit und Kriminalitt (Datos-Umfrage in: El Universal, 26.1. 2001). Tabelle 3: ffentliche Meinung: Hauptprobleme des Landes

    Quartal

    I/2000 II/2000 III/2000

    Arbeits-losigkeit

    37% 36% 38%

    Krimina-litt

    35% 29% 31%

    Quelle: Consultores 21

    Tabelle 4: Chvez Verantwortung fr die Probleme des Landes (in %)

    Janu-ar

    2000

    I

    2000

    II

    2000

    III

    2000

    Nicht verant-wortlich

    75%

    55%

    52%

    63%

    Verant-wortlich

    22% 42% 45% 34%

    Quelle: Consultores 21

    Tabelle 5: Vertrauen in Chvez F-higkeit, die Probleme zu lsen III/ 2000 (in %)

    Kann Probleme l-sen

    80%

    Kann Probleme nicht lsen

    14%

    Quelle: Consultores 21

    Das aufgrund der politischen Vernderungen aufgebaute Ver-

    Dass die Venezo-laner die schwa-che Leistung der Regierung am ei-genen Leib spren [...], ergibt sich aus ihrer Sicht der Hauptprobleme des Landes, be-deutet aber kei-neswegs, dass sie diese Probleme dem Prsidenten Chvez anlasten oder das Vertrau-en in dessen F-higkeit verlieren, sie in eine bessere Zukunft zu fhren.

    http://www.ocei. gov.ve/http://www.ocei. gov.ve/http://www.ocepre.gov.ve/http://www.ocepre.gov.ve/

  • Ibero-Analysen 7 Januar 2001 13

    trauen in die Regierung erstreckt sich bisher auch noch auf ihre wirtschaftspolitische Kompetenz, obwohl die volkswirtschaftlichen Eckdaten ein solches Vertrauen kaum rechtfertigen. Chvez hat die Bastionen des bei vielen ver-hassten, alten Systems mit sol-cher Wucht und berzeugungs-kraft geschliffen, dass die Masse der Bevlkerung sich in Geduld bt und ihm Zeit dafr zuge-steht, die tiefgreifenden wirt-schaftlichen und sozialen Prob-leme des Landes zu lsen (Ta-belle 6). Tabelle 6: Chvez zugestandene Zeit zur Lsung der Probleme

    Quartal

    I/2000 II/2000 III/2000

    Zeit in Monaten

    14 12 15

    Quelle: Consultores 21

    Vllig anders hingegen denkt die Wirtschaft: eine Umfrage unter 319 Unternehmern ergab, dass mehr als zwei Drittel (68%) die Wechselkurspolitik fr verfehlt halten. Nahezu alle Befragten (93%) forderten eine grundle-gende nderung der Wirtschafts-politik, von der sie v.a. strkere Anreize fr Investitionen erwar-ten (Umfrage der Venezolanisch-Amerikanischen Handelskam-mer, El Nacional, 26.1.2001).

    Im Bereich der Sozialpolitik hat die Regierung Chvez bisher keine klaren Richtungen vorge-geben oder Programme einge-fhrt, die sich von den blichen, bekannten Manahmen abhe-ben. So wurden die bei den fr-heren Ministerien fr Familie und Wohnungsbau angesiedelten Programme z.B. ein Baukre-ditprogramm, Vorsorge- und Er-

    nhrungsprogramme fr Mutter und Kind, die Schulspeisung fortgefhrt, zum Teil unter an-deren Bezeichnungen, oder in den vom Verteidigungsministeri-um verantworteten Plan Bolvar 2000 einbezogen, mit dem die Streitkrfte im weitesten Sinne als Entwicklungsinstrument ein-gesetzt werden und vom Wege-, Schul- und Landbau bis zum Haareschneiden und Reihenun-tersuchungen infrastrukturelle und soziale Leistungen anbieten.

    In der Zukunft soll die Bildungs- und Sozialpolitik gesellschaftli-chen Netzwerken bertragen werden (Programa de gobierno de Hugo Chvez: 54ff.), aber bisher ist nicht abzusehen, wie dieses Vorhaben umgesetzt wer-den soll. Im Bildungsbereich deutet sich noch am ehesten an, was gemeint sein knnte: hier soll eine Nationale Bildungsver-sammlung mit regionalen und lokalen Versammlungen gleicher Art vernetzt werden, an denen sich alle Eltern beteiligen und die die entsprechenden inhaltlichen und Manahmenvorschlge dis-kutieren sollen.15 Was allerdings von der Wirklichkeit solcher par-tizipativen Vorstellungen zu hal-ten ist, zeigt ein umstrittener Prsidialerlass, der sogenannten Wanderaufsehern, die zentral vom Ministerium ausgewhlt und eingesetzt werden, die Kompe-tenz verleiht, die Schlieung vor allem privater Schulen und die Entlassung von Lehrern zu empfehlen, welche die bildungs-

    15 Ministerio de Educacin, Cultura y

    Deportes, La educacin se postula en funcin de construir la Nueva Rep-blica (www.eluniversal.com/apoyos/ educacin).

    Im Bereich der So-zialpolitik hat die

    Regierung Chvez bisher keine klaren Richtungen vorge-

    geben oder Pro-gramme einge-

    fhrt, die sich von den blichen, be-kannten Manah-

    men abheben.

  • Friedrich Welsch/Jos Vicente Carrasquero: Venezuela unter Chvez 14

    politischen Richtlinien nicht be-folgen.16

    Die Bildungspolitik wird von der Regierung als Instrument zur langfristigen Absicherung des revolutionren Prozesses und der Regierbarkeit angesehen: [...] das Neue Nationale Bil-dungsprojekt soll die Regierbar-keit der Neuen Republik und den bereits begonnenen, neuen re-volutionren Prozess sichern.17 Und, deutlicher noch auf die Gleichschaltung des Bildungssys-tems zielend: Ziel ist die For-mulierung von Regeln fr die ge-sellschaftliche Organisation und Mitwirkung in den Gemeinschaf-ten, Vierteln und Gemeinden zur gemeinsamen Verantwortung fr den Bildungsprozess in Schule, Familie und Gemeinschaft, damit die Schule durch Staatsbrger-bildung zum Zentrum gemein-schaftlichen Lebens und so ein Beitrag dafr geleistet wird, eine neue politische Kultur zu schaf-fen, welche die Unumkehrbarkeit des revolutionren Prozesses der Bolivarianischen Republik Vene-zuela sichert.18 Dieses Ziel wird auch mit der fr alle Schulen verbindlichen Einfhrung der so-genannten vormilitrischen Un-terweisung verfolgt, die der da-

    16 Presidencia de la Repblica, Decreto

    1.011, 4.10.2000, Reforma del regla-mento del ejercicio de la profesin docente (www.politica.eluniversal. com); s. auch Interview mit dem Bil-dungsminister, El Universal, 24.12. 2000 und El Universal, 19.12.2000.

    17 Presidencia de la Repblica, Pro-puestas de la nueva resolucin para las Comunidades Educativas, Octubre 2000, 2.

    18 Ministerio de Educacin, Cultura y Deportes, Propuestas de la nueva re-solucin para las Comunidades Edu-cativas, Octubre de 2000, 5 (www. politica.eluniversal.com).

    malige Sekretr der Stndigen Kommission fr die Vormilitri-sche Unterweisung, ein General, mit dem Hinweis begrndete und verteidigte, die Jugendlichen wrden auf diese Weise lernen, einem Befehl zu folgen, Diszip-lin zu ben und sich an Ordnung und Verantwortung zu gewh-nen (El Universal, 4.9.2000). Wenn das die Werte sind, die im Zuge der sekundren Sozialisie-rung unter der Aufsicht der bil-dungspolitischen Kommissare der Zentralregierung eingebt werden sollen, besteht kaum Hoffnung auf die Herausbildung des selbstbewussten, kritischen und aktiven Staatsbrgers, der solche gesellschaftlichen Netz-werke gestalten knnte. Die ge-setzgeberischen Manahmen, mit denen die Bildungspolitik auf diese Weise in den Dienst der Revolution gestellt wird, wer-den berdies ohne parlamentari-sche Beratung im Rahmen eines (in der venezolanischen Politik keineswegs unblichen) Ermch-tigungsgesetzes (Ley Habilitan-te) dekretiert, das dem Staats-prsidenten fr ein Jahr legislati-ve Funktionen in nahezu allen Bereichen des ffentlichen Le-bens bertrgt.

    IV. Zur Persnlichkeit von Hugo Chvez Fras

    Hugo Chvez (Jahrgang 1954) wuchs als Sohn eines Lehrer-paars in Sabaneta auf, einem Ort in der venezolanischen Sa-vanne, im Bundesstaat Barinas. Als 18jhriger begann er seine militrischen Laufbahn mit dem Eintritt in die Militrakademie. 1982 grndete er die Revoluti-onre Bolivarianische Bewegung 200 (Movimiento Bolivariano

    Die Bildungspolitik wird von der Re-gierung als In-strument zur lang-fristigen Absiche-rung des revolu-tionren Prozes-ses und der Re-gierbarkeit ange-sehen.

  • Ibero-Analysen 7 Januar 2001 15

    Revolucionario 200/MBR-200), im Gedenken an den 200jhri-gen Geburtstag des Befreiers (Garrido 2000: 7). Als Oberst-leutnant dieser Dienstgrad wird auch als Comandante be-zeichnet verantwortete er im Rahmen des Putschversuchs vom 4. Februar vor laufenden Kameras den Fehlschlag der O-peration in der Hauptstadt Cara-cas und erwarb sich damit schlagartig das Image eines ge-scheiterten, aber aufrechten Helden, der von jenem Augen-blick an seine in den Garnisons-stdten Maracaibo, Maracay und Valencia erfolgreichen Kamera-den berstrahlte. Er verbrachte zwei Jahre in Haft, bis ihn der damalige Staatsprsident Calde-ra zusammen mit seinen Mitver-schwrern auf dem Gnadenweg von jeder Strafverfolgung befrei-te.

    Aus der Haft entlassen, entfalte-te er eine rastlose politische Ak-tivitt, besuchte jeden Winkel des Landes, baute seine politi-sche Basis auf und entschied sich schlielich fr eine Kandida-tur im Prsidentschaftswahl-kampf 1998, nachdem er noch 1995 zum Boykott der damali-gen Regional- und Gemeinde-ratswahlen aufgerufen hatte. Gemeinsam mit seinen Putsch-kameraden wandelte er die Mili-trloge MBR-200 in eine politi-sche Partei unter praktisch dem-selben Krzel um. Da nationale Symbole wie der Befreier nicht fr Parteizwecke verwendet wer-den drfen, musste Bolvar aus dem Parteinamen entfernt wer-den. MBR wurde in MVR umbe-nannt, was im Spanischen ge-nauso ausgesprochen wird, wo-

    bei das V fr V. Republik steht: Movimiento Quinta Rep-blica.

    MVR und ihr Kandidat waren in der Frhphase des Prsident-schaftswahlkampfs nur Auen-seiter, aber die Botschaft radika-len Wandels, die Chvez glaub-wrdig verkrperte, sicherte ihm zunehmende Aufmerksamkeit. So lag er bereits im Mai des Wahljahres 1998 in den Umfra-gen vorn und verlor diese Positi-on auch nicht mehr bis zur Ent-scheidung im Dezember.

    Hugo Chvez ist ein sehr um-gnglicher Mensch, der physi-schen Kontakt mit anderen ge-radezu sucht, er umarmt alt und jung mit natrlicher, ungespiel-ter Herzlichkeit und versteht es, Barrieren und Reserven seiner Gesprchspartner zu berwin-den. Er argumentiert mit groer berzeugungskraft und hrt ge-duldig die Meinung anderer, auch wenn er sie nicht teilt. Er strahlt Glaubwrdigkeit aus und beeindruckt selbst Kritiker mit seinem freundlichen Umgang.

    Darber hinaus ist er ein gebo-rener Kommunikator, charisma-tisch, mit einem Talent dafr, die Massen zu begeistern und Optimismus zu verbreiten. Ob-wohl er es liebt, seine Anspra-chen endlos weiterzuspinnen und dabei nicht selten seine zentralen Botschaften im Rede-fluss verloren zu gehen drohen, ermdet er seine Zuhrer selten, denn seine emotionale Zuwen-dung, sein mit rhetorischen Fra-gen scheinbar interaktiv ange-legter Ansatz kommen beim Volk an, auch wenn die Intellektuellen sich angewidert abwenden. Sei-nen Diskurs pflegt er mit zahllo-

    Hugo Chvez ist ein sehr umgngli-

    cher Mensch, der physischen Kon-takt mit anderen

    geradezu sucht, er umarmt alt und

    jung mit natrli-cher, ungespielter

    Herzlichkeit und versteht es, Barrie-

    ren und Reserven seiner Gesprchs-

    partner zu ber-winden. [...]

    Darber hinaus ist er ein geborener

    Kommunikator, charismatisch, mit

    einem Talent da-fr, die Massen zu

    begeistern und Op-timismus zu verbreiten.

  • Friedrich Welsch/Jos Vicente Carrasquero: Venezuela unter Chvez 16

    sen, nicht immer gelungenen Metaphern anzureichern eine Demokratie ohne Menschen ist wie eine Kapelle ohne Heiligenfi-gur und gibt sich gebildet, in-dem er nicht immer zuverls-sig Autoren, Persnlichkeiten oder die Bibel zitiert, allen voran natrlich Simn Bolvar und des-sen Lehrer Simn Rodrguez, a-ber auch Montesquieu, Ratzel, Haushofer, Nietzsche oder J.F. Kennedy.

    Chvez Kommunikation mit dem Volk ist durch Symbolik und Mythos gekennzeichnet. Er lsst keine Gelegenheit aus, an Ruh-mestaten aus dem Unabhngig-keitskrieg gegen Spanien zu er-innern, dessen glorreiche Helden zu feiern und dabei Parallelen zu seinem revolutionren bolivari-anischen Prozess zu ziehen. Wenn er dann noch die Bibel als Referenz heranzieht, entsteht die Vorstellung einer venezolani-sche Dreieinigkeit aus Jesus, Bo-lvar und Chvez. So vergleicht er in seinem Brief an die vene-zolanischen Bischfe vom Mai 2000 den authentischen Revo-lutionr Jesus mit den Idealen Bolvars und seiner eigenen Re-volution, die mit dem fehlge-schlagenen Staatsstreich am 4. Februar 1992 begann (Carta a la Conferencia Episcopal, www. eluniversal.com). Der Bezug zur Fidel-Saga hier der fehlge-schlagene Sturm auf die Monca-da-Kaserne sechs Jahre vor dem Sieg ber den Diktator Batista liegt auf der Hand. Was wir tun so weiter der Brief an die Bi-schfe ist Jesus und Bolvar in die Herzen der Unterjochten ein-zupflanzen: die Dreieinigkeit Chvez-Jesus-Bolvar.

    Fidel Castro und Jorge Elicer Gaitn sind fr Chvez Idole und Mentoren. Bei seinen ffentli-chen Auftritten prsentiert er sich hufig in einer schlichten, nicht dem offiziellen Muster ent-sprechenden Uniform, wetteifert mit Castro im Dauerreden. Und wie Gaitn, der sich Mussolini-Reden angehrt hatte, um des-sen theatralische Gestik und Mo-dulation zu studieren (Posada Cabr: 1), zeichnet er sich durch Gespreiztheit, berauschendes Wort und Identifikation mit dem Volk aus.

    Hugo Chvez wird von einem pa-ternalistischen Staatsbegriff ge-leitet, einem berall prsenten und fr alles zustndigen Staat,19 denn selbst die sozialen Netzwerke, die er zu schaffen gedenkt im normalen Ver-stndnis genuine Ausdrucksfor-men der Zivilgesellschaft sind fr ihn ein Vorhaben, das vom Staat umgesetzt werden muss, weil sie das Staatshandeln zum Brger hinleiten sollen (Progra-ma de gobierno de Hugo Ch-vez: 55). Die im Diskurs und auch in der Verfassung gepflegte Vorstellung vom Volk als Haupt-darsteller protagonismo popu-lar ist mithin vom Ansatz ein von oben her zugestandenes staatliches Geschenk, nicht etwa eine eigenstndige Leistung der Basis.

    19 Der Paternalismus hat in der Verfas-

    sung Gestalt angenommen. Brewer-Caras bemerkt dazu: Der Staatspa-ternalismus im sozialen Bereich fhrt zu einer staatslastigen Verfassung [...] die im Sinne der staatlichen In-tervention geschrieben wurde, nicht im Sinne der wirtschaftlichen Entwicklung durch die Individuen [...] (Brewer-Caras 2000: 224f).

    Hugo Chvez wird von einem pater-nalistischen Staatsbegriff ge-leitet, einem ber-all prsenten und fr alles zustndi-gen Staat, denn selbst die sozialen Netzwerke, die er zu schaffen ge-denkt im norma-len Verstndnis genuine Aus-drucksformen der Zivilgesellschaft sind fr ihn ein Vorhaben, das vom Staat umge-setzt werden muss, weil sie das Staatshandeln zum Brger hinlei-ten sollen.

    http://www.eluniversal.com/http://www.eluniversal.com/

  • Ibero-Analysen 7 Januar 2001 17

    V. Postdemokratische Ideo-logie

    Chvez Vorstellungen zur Er-richtung einer neuen Republik enthalten ideologische Bausteine der postdemokratischen Theorie in der Fassung des argentini-schen Autors Norberto Ceresole. Einige Passagen der Bolivariani-schen Verfassung, insbesondere im Titel ber die Sicherheit und die aktive Beteiligung der Streit-krfte an der Entwicklung des Landes, aber auch der Diskurs des Prsidenten belegen diesen Bezug.20 Praktisch gewendet kann man Ceresoles politische Theorie wie folgt zusammenfas-sen (Ceresole 1991 u. 1999):

    Postdemokratischer Caudillismo: Der Rckgriff auf den autorit-ren Caudillismo ist kein Rck-schritt, sondern fortschrittlich, denn schlielich handelt es sich um ein eigenstndiges latein-amerikanisches Modell, das -berdies in der Vergangenheit le-gitim war und auch heute noch ist: Hugo Chvez ist der lebende Beweis. Unter diesem Modell wurden bei der Einkommensver-teilung grere Erfolge erzielt als in der reprsentativen Demokra-tie liberalen Zuschnitts. In die-sem Sinne ist der Caudillismo ein wahrhaft postdemokratischer Ansatz. Chvez sieht das eben-so: die reprsentative Demo-kratie ist nicht gut fr die Vene-zolaner (El nacional, 16.10. 2000).

    Charismatische Fhrung: Die Machtkonzentration in den Hn-den eines charismatischen Fh- 20 Z.B. Art. 328: [...] die Streitkrfte

    sichern die Unabhngigkeit und Sou-vernitt des Landes [...] durch akti-ve Beteiligung an der nationalen Ent-wicklung[...]

    rers archetypisch ein Militr-caudillo ist eine notwendige Vorbedingung fr tiefgreifenden Wandel. Hugo Chvez gibt sich bewusst als militrischer Caudil-lo, mit seiner Uniform und sei-nem roten Barett der Fallschirm-jger, dem Wahrzeichen seiner Bewegung; er ist die einzig legi-time Quelle der Macht. In die-sem Sinne ist das venezolani-sche Modell kein theoretisches Konstrukt, sondern wurde von der Wirklichkeit selbst geschaf-fen: es ist die direkte, funda-mentale Beziehung eines cha-rismatischen Militrcaudillos zu den Massen, die ihn gewhlt ha-ben, nicht irgendeine Idee oder ein Programm, den sie mit ei-nem unbeschrnkten Mandat ausgestattet und so auf eine me-tapolitische Ebene katapultiert haben. Um an die Macht zu kommen, musste Hugo Chvez den Putschversuch von 1992 un-ternehmen, denn nur so konnte er sich zum wahren Militrcaudil-lo hochstilisieren. Chvez grn-det seine Macht auf die emotio-nale Zustimmung des Volkes, die er sich durch permanente Agita-tion sichert.

    Apostel: Weitere Machtinstanzen sind die vom Caudillo auserwhl-ten Apostel, die Fhrungsfunk-tionen bernehmen, jedoch kei-ne eigenen Machtbasen aufbau-en (tun sie das dennoch, wie z.B. der erste Vizeprsident Rodrguez, dann werden sie um-gehend durch blassere Persn-lichkeiten ersetzt). Sie sind un-lsbare Bestandteile der kon-zentrierten Macht des Caudillo. Die Entscheidungsmechanismen der MVR spiegeln diese Philoso-phie getreu wider, insbesondere

    Chvez Vorstel-lungen zur Errich-tung einer neuen

    Republik enthalten ideologische Bau-steine der postde-mokratischen The-orie in der Fassung des argentinischen

    Autors Norberto Ceresole.

  • Friedrich Welsch/Jos Vicente Carrasquero: Venezuela unter Chvez 18

    bei der Auswahl von Kandidaten fr Wahlmter.

    Rolle der Streitkrfte: Die Streit-krfte sind als integrierte Kr-perschaft ohne Unterteilung in Waffengattungen zu konzipieren und sollen Aufgaben im Rahmen der wirtschaftlichen und gesell-schaftlichen Entwicklung ber-nehmen. Sind die Streitkrfte erst in dieser Weise umstruktu-riert und ausgerichtet, dann fhrt ihre weitere Strkung au-tomatisch zu beschleunigter Entwicklung. Es berrascht da-her nicht, dass das wichtigste Vorhaben der Regierung im sozi-alpolitischen Bereich der Plan Bolvar 2000 der Zustndigkeit der Streitkrfte bzw. des Vertei-digungsministeriums unterstellt wurde.

    Kontinentale Ausstrahlung: Fr den revolutionren Prozess ist es von entscheidender Bedeutung, dass Venezuela die Vorstellun-gen Bolvars von einem geeinten Subkontinent wiederbelebt, alte Konzepte wie das Gro-Kolumbiens [...] Wenn der vene-zolanische Prozess sich nicht in-nerhalb einer vernnftigen histo-rischen Frist eine kontinentale Ausstrahlung erffnet, wird er unter dem Druck einer feindseli-gen, auf trgerische Weise glo-balisierten Welt ersticken, weil dieser Druck irgendwann uner-trglich wird (Ceresole 1999: 4). Die internationale Politik der Chvez-Regierung folgt diesem Gedanken, indem sie Venezuelas Energie-Ressourcen zum Auf- und Ausbau eines integrations-frderlichen Beziehungsgeflechts einsetzt.21 Chvez selbst machte

    21 Venezuela greift auf seine integrati-

    onistische Vision zurck; Energiepo-

    sich Ceresoles Bedingung rck-haltlos zu eigen, als er anlsslich der Unterzeichnung des Abkom-mens ber Energiepolitische Zu-sammenarbeit zwischen Venezu-ela und den Staaten Zentral-amerikas und der Karibik erklr-te: [...] wir greifen ein Konzept wieder auf, eine Integrationsvi-sion [...] um jeden Preis [...] weil es sich um eine existenzielle Vision handelt [...] die aus dem bolivarianischen Traum eines geeinten Amerika geboren wird. Die Integration ist mehr als not-wendig, sie ist lebenswichtig (El Universal, 20.10.2000).

    Postdemokratie, charismatischer Militrcaudillo, Apostel und Glubige, direkter Bezug zwi-schen Fhrer und Volk, Streit-krfte als Motor der Entwicklung, geopolitische Ausstrahlung Ve-nezuelas als Herzland des ge-einten Kontinents: Elemente ei-ner politischen Philosophie, die so wird immer deutlicher das politische Handeln von Hugo Chvez prgt.

    VI. Zur Dynamik der politi-schen Kultur

    Einige Aspekte der politischen Kultur der Venezolaner wie das Vertrauen in Institutionen, die Protestbereitschaft oder die Par-teiidentifikation haben sich seit Chvez Erscheinen auf der poli-tischen Bhne positiv verndert. Neueren Daten zufolge sympa-thisieren z.B. mehr als die Hlfte der Brger zwischen 18 und 24 Jahren mit einer politischen Par-tei, vor allem der MVR (Umfrage

    litisches Abkommen von Caracas, 20.10.2000; OPEC-Gipfel in Caracas; Rahmenvertrag ber Zusammenar-beit mit Kuba, 31.10.2000 (www. politica.eluniversal.com).

    Postdemokratie, charismatischer Militrcaudillo, Apostel und Glu-bige, direkter Be-zug zwischen Fh-rer und Volk, Streitkrfte als Motor der Ent-wicklung, geopoli-tische Ausstrah-lung Venezuelas als Herzland des geeinten Konti-nents: Elemente einer politischen Philosophie, die so wird immer deutlicher das politische Handeln von Hugo Chvez prgt.

  • Ibero-Analysen 7 Januar 2001 19

    Consultores 21, El Nacional, 5.5. 2000.), ein Anteil, aus dem zu schlieen ist, dass die Partei-verdrossenheit besonders der Jugend im Zusammenhang mit dem Aufstieg der Boliviariani-schen Bewegung zurckgegan-gen ist.

    Andererseits schmolz das wie-dergewonnen Vertrauen der Brger in die Fairness von Wah-len rasch dahin und fiel auf das beschmende Niveau der Zeiten des Niedergangs der Vierten Re-publik zurck. So besa der von den politischen Parteien besetzte Oberste Wahlrat der Jahre 1995 und 1996 trotz seiner pluralen Zusammensetzung keine Glaub-wrdigkeit, weil die Parteien

    selbst nicht glaubwrdig waren, whrend der erneuerten, inzwi-schen von Unabhngigen gefhr-ten Institution, die die Parla-mentswahlen von 1998 organi-sierte, ein hohes Ma an Ver-trauen entgegengebracht wurde. Nach Chvez Wahlsieg, der von demselben Wahlrat besttigt wurde, stieg dieses Vertrauen auf eine unerreichte Hhe, strz-te dann aber regelrecht ab, als die unabhngige Fhrung im ersten Jahr der Fnften Republik durch eine Mannschaft von Ch-vez-Gefolgsleuten ersetzt wurde, die sich mit der Vorbereitung der Wahlen des Jahres 2000 so schwer taten (Tabelle 7).

    Tabelle 7: Vertrauen in die Fairness von Wahlen 1995-2000 (in %)

    1995 1996 1998* 1999** 2000***

    Wahlen sind fair 20 9 64 91 15

    Wahlen sind un-fair

    80 91 36 9 85

    Quellen: Latinobarmetro 1995, 1996; Redpol 1998, 1999; CECA 2000.

    *Oktober, vor den November-Wahlen; **April, nach den Prsidentschaftswahlen; ***Mrz, whrend der Debatte ber die technische Durchfhrung der Mega-Wahlen.

    Noch beeindruckender ist aber der Geist der Fairness der Vene-zolaner, der aus diesen Daten spricht. Denn obwohl sie mehr-heitlich mit Chvez sympathi-sierten, lehnten sie es rundher-aus ab, dass die mit der Organi-sation von Wahlen beauftragte Institution so einseitig parteiisch besetzt war. Weniger auffllige, aber dennoch interessante Ver-nderungen haben sich im Pro-testverhalten der Brger und ih-rer Auffassung von der gesell-schaftlichen Entwicklung einge-stellt. Der Index fr Protestver-halten, konstruiert aus der Ge-wichtung von Fragen zur Teil-

    nahme an Demonstrationen, Verkehrsblockaden und gewalt-ttigen Aktionen sank zwischen 1995 und 1999 um ein gutes Fnftel (Tabelle 8).

    Eine mgliche Lesart dieser Da-ten ist, dass die Regierungsber-nahme durch eine Persnlichkeit, die den Bruch mit der ungelieb-ten Politiktradition verkrperte, vielversprechend war und einen Burgfrieden verdiente. Es wird aber ebenfalls deutlich, dass es einen harten Kern gibt, der nicht einmal im Zuge der de-mokratischen Revolution auf die Beteiligung an Blockaden und sonstigen, mit Gewalt verbunde-

    Eine mgliche Les-art dieser Daten

    ist, dass die Regie-rungsbernahme

    durch eine Persn-lichkeit, die den

    Bruch mit der un-geliebten Politik-tradition verkr-

    perte, vielverspre-chend war und ei-

    nen Burgfrieden verdiente.

  • Friedrich Welsch/Jos Vicente Carrasquero: Venezuela unter Chvez 20

    nen Aktionen verzichtet. Der Burgfrieden kann auerdem vor-bergehender Natur sein, be-sonders wenn die Menschen un-geduldig werden, weil die ver-sprochenen Vernderungen nicht eintreten, oder wenn sich er-weist, dass Protestaktionen Er-folg haben, das Volk also seine ihm zugesicherte Rolle als Hauptdarsteller auf der politi-

    schen Bhne auf diese Weise wahrnimmt. Die Zunahme von Protestaktionen im Verlauf des Jahres 2000 scheint diese dop-pelte Lesart zu besttigen, und das drfte sich auch in den Da-ten der Weltwertestudie nieder-schlagen, die von einer Gruppe von Universitten in Venezuela durchgefhrt wird.

    Tabelle 8: Protestverhalten 1995-1999

    1995 (%) Gewichtet 1999 (%) Gewichtet

    An Demostrationen teilge-nommen (.33)

    22 7,26 12 3,96

    An Blockaden teilgenommen (.66)

    8 5,28 9 5,94

    Gewaltttige Aktionen (1) 4 4,00 3 3,00

    Index Protestverhalten 16,54 12,90

    Quelle: Latinobarmetro 1995 und Redpol 1999

    Die Auffassung der Venezolaner zur Form des gesellschaftlichen Wandels bzw. Fortschritts hat sich in der relativ kurzen Zeit zwischen der Endphase des Pr-sidentschaftswahlkampfs von 1998 und den ersten 100 Tagen der Regierung Chvez (Oktober 1998-April 1999) deutlich vern-dert, denn das Eintreten fr ra-dikalen Wandel (Die Gesell-schaft muss radikal verndert werden) verdoppelte sich fast, whrend der Anteil konservativer Haltungen (Die Gesellschaft muss so bleiben, wie sie ist) auf die Hlfte zurckging und die re-formerische Mitte (Die Gesell-schaft muss schrittweise refor-miert werden) konstant blieb. Man kann das so interpretieren, dass ein Teil der Konservativen sich ins Lager der Mitte bewegt hat, whrend sich gleichzeitig ein Teil dieser Mitte radikalisier-te. Nach dieser Lesart wre hin-

    sichtlich des gesellschaftlichen Wandels eine allgemeine Dyna-mik der Radikalisierung zu beob-achten, die parallel verluft zu der von Chvez angestoenen politischen Dynamik: groe Mehrheiten treten fr Wandel ein und ein steigender Anteil mchte diesen Wandel noch beschleu-nigen (Tabelle 9). Tabelle 9: Auffassungen zum Gesell-schaftswandel 1998-1999 (in %)

    1998 1999

    Die Gesellschaft muss radikal verndert werden

    14

    24

    Die Gesellschaft muss schrittweise refor-miert werden

    64

    65

    Die Gesellschaft muss so bleiben, wie sie ist

    22 11

    Quelle: Redpol 1998 und 1999

    Die oben beschriebene Lesart wird gestrkt, wenn man das Wahlverhalten der so definierten

    Der Burgfrieden kann vorber-gehender Natur sein, besonders wenn die Men-schen ungeduldig werden, weil die versprochenen Vernderungen nicht eintreten, oder wenn sich erweist, dass Pro-testaktionen Er-folg haben, das Volk also seine ihm zugesicherte Rolle als Haupt-darsteller auf der politischen Bhne auf diese Weise wahrnimmt.

  • Ibero-Analysen 7 Januar 2001 21

    Radikalen, Reformer und Kon-servativen, ihre Haltung gegen-ber der Demokratie und ihre Neigung zu demokratischen Werten wie Toleranz und Kon-sensbildung betrachtet. Die Ra-dikalen neigen deutlich mehr zu Chvez, halten aber die Demo-kratie in geringerem Mae fr

    unentbehrlich als die beiden an-deren Gruppen, unterscheiden sich aber nicht in ihrer Toleranz und Konsensbereitschaft. Selbst die Radikalen verfgen also ber bedeutende Reserven an demo-kratischen Werthaltungen (Ta-belle 10).

    Tabelle 10: Gesellschaftswandel und Werte (1999)

    Wahlverhalten und Werthaltungen Radikale (24%)

    Reformer(65%)

    Konservative (11%)

    Haben Chvez gewhlt Mehr Weniger Weniger

    Demokratie ist unersetzlich Weniger Mehr Gleich

    Tolerant gegenber Opposition Gleich Gleich Gleich

    Konsensbereit Gleich Gleich Gleich

    Quelle: Redpol 1999

    VII. Abschlieende berle-gungen

    Mit seiner ungewhnlichen Sen-sibilitt gegenber den Erwar-tungen und Vorstellungen des Volkes hat Hugo Chvez es ver-standen, sich fr alle seine Schritte zur Errichtung der boli-varianischen Demokratie ein ho-hes Ma an Untersttzung durch die ffentliche Meinung zu si-chern. Im Unterschied zum ver-faulten reprsentativen System der Vergangenheit vertraut sich das Volk in dieser bolivariani-schen Demokratie direkt seinem Fhrer an, ohne sich auf Dele-gierte oder Mittler verlassen zu mssen. Sein betrchtlicher Rckhalt im Volk erleichterte es Chvez, die Politiker der Opposi-tion als Vertreter der alten, kor-rupten Praktiken vorzufhren und sich ein solides, personalis-tisches Machtmonopol aufzubau-en, immer auf der Basis demo-kratischer Legitimation oder Akklamation.

    Hugo Chvez hat seine bisher uneinnehmbare Bastion aus-gebaut, ohne die Nachbarlnder Venezuelas zu antagonisieren, und er hat seine Entscheidungs-autonomie durch die Strkung der Beziehungen zu Castros Ku-ba bewiesen. Er hat dafr die aus seiner Sicht akzeptablen Kosten auf sich genommen, die mit der Spaltung der venezolani-schen Gesellschaft in zwei geg-nerische Lager verbunden sind. Es wre jedoch falsch anzuneh-men, die Chvez-Anhnger seien eine rachschtige, antidemokra-tische und zur Hexenjagd bereite Masse. Die vorliegenden Daten zeigen, dass sie dieselben de-mokratischen Werte kultivieren wie ihre Opponenten. Nachdem er auch mit Hilfe einer stndigen Mobilisierung des Volks die ver-fassungsmigen Grundlagen fr eine weitgehende Transformati-on gelegt hat, htte man erwar-ten knnen, dass Chvez auf ei-nen staatsmnnischen Diskurs

    Es wre jedoch falsch anzuneh-

    men, die Chvez-Anhnger seien ei-

    ne rachschtige, antidemokratische und zur Hexenjagd bereite Masse. Die

    vorliegenden Da-ten zeigen, dass

    sie dieselben de-mokratischen Wer-

    te kultivieren wie ihre Opponenten.

  • Friedrich Welsch/Jos Vicente Carrasquero: Venezuela unter Chvez 22

    umschaltet, um die weitere Ent-wicklung auf eine breitere ge-sellschaftliche Basis zu stellen. Das ist aber nicht eingetreten. Es muss daher befrchtet wer-den, dass sich die gesellschaftli-che Spaltung vertieft und die daraus entstehenden Spannun-gen noch zunehmen.

    Das uneingeschrnkt mit Chvez identifizierte Regime kann als in-stitutionell begrndeter, populis-tischer Caudillismo bezeichnet werden; Caudillismo im Sinne des von Stinchcombe geprgten Begriffs, in dem die Beziehungen zwischen Patron und Klienten, Held und Gefolgsleuten die kul-turelle Materie (Stinchcombe 1999: 70) der Regierung dar-stellen, und populistisch im Sin-ne des von Weyland definierten, engeren Begriffs, der sich auf die Existenz einer personalistischen Fhrung beschrnkt, die sich unvermittelt auf eine heterogene und nicht fest organisierte Masse sttzt (Weyland 1999). Ein ent-scheidender Unterschied zwi-schen Stinchcombes Begriff und dem Chvez-Modell liegt aller-dings darin, dass die Bezieh-ungen zwischen Fhrer und Ge-folgsleuten nicht auf Transaktio-nen zwischen nationalen, regio-nalen und lokalen Fhrungsfigu-ren aufbauen neben dem Fh-rer gibt es nur Apostel ohne ei-gene Machtpositionen sondern das Volk insgesamt erfassen, und dass das Volk als ursprng-liche Machtquelle diese Macht durch Wahl uneingeschrnkt auf den Fhrer bertragen und da-mit seine unbestrittene und un-bestreitbare Autoritt legitimiert hat. Zu dem hier verwendeten Populismusbegriff muss beachtet

    werden, dass die Chvez stt-zenden Massen einen gewissen Organisationsgrad aufweisen, auch wenn man diese Organisa-tion noch nicht als konsolidiert werten kann. Dennoch ist der eingeschrnkte Begriff ntzlich und geeignet, weil er das We-sentliche des Phnomens her-vorhebt und so dazu beitrgt, die Unschrfe zu berwinden, die sich aus den soziokonomi-schen Merkmalen ergibt, die dem Populismus nicht selten zugeschrieben werden (Novaro 2000).

    Dass Chvez sich immer wieder auf den Dritten Weg des demo-kratischen Sozialismus und das Zwei-Hnde-Paradigma bezieht die unsichtbare Hand des Marktes im Verbund mit der sichtbaren Hand des Staates frdert seine Darstellung als fortschrittliche Fhrungsfigur. Wenn man sein Eintreten fr die Integration Lateinamerikas und seine durchaus noch im freund-schaftlichen Rahmen gehaltene Absetzbewegung von den USA einbezieht, dann ergibt sich, was Rother als Gottesgeschenk fr die nach einem autochthonen Helden lechzende lateinamerika-nische Linke (Rother 2000) be-zeichnet. Vielleicht sogar fr eu-ropische Linke, die glaubwrdi-ge, heterodoxe Modelle zur Ent-wicklung und Integration der Dritten Welt suchen, die sie un-tersttzen und von denen sie lernen knnen.

    Andererseits knnte Stinchcom-be Recht behalten, wenn er sagt, der Caudillismo beinhalte noch zu viele Unwgbarkeiten der re-volutionren Phase, als dass er deren Krnung darstellen knne;

    Dass Chvez sich immer wieder auf den Dritten Weg des demokrati-schen Sozialismus und das Zwei-Hnde-Paradigma bezieht die un-sichtbare Hand des Marktes im Verbund mit der sichtbaren Hand des Staates fr-dert seine Darstel-lung als fort-schrittliche Fh-rungsfigur. Wenn man sein Eintreten fr die Integration Lateinamerikas und seine durch-aus noch im freundschaftlichen Rahmen gehaltene Absetzbewegung von den USA ein-bezieht, dann er-gibt sich, was Ro-ther als Gottes-geschenk fr die nach einem auto-chthonen Helden lechzende latein-amerikanische Linke bezeichnet.

  • Ibero-Analysen 7 Januar 2001 23

    Chvez bleibt schlielich auch nach Errichtung der Bolivariani-schen Republik unberechenbar. Sein eiserner Griff um die Macht kann sich ebenso schnell lockern wie er zupackte, wenn er die materiellen Erwartungen der Menschen nicht erfllt. Im Au-genblick sieht es fr ihn gnstig aus, weil hohe Erdlpreise eine umfassende Verteilungspolitik ermglichen und er bewiesen

    hat, dass er im Verbund mit sei-nen OPEC-Partnern auf diese Preise Einfluss zu nehmen ver-steht. Mit der erfolgreichen Ver-knpfung der internationalen Erdl- und der Verteilungspolitik hat er zweifellos Zeit gekauft. Das reicht aber nicht als Ersatz fr die erforderliche strukturelle Anpassung, von der sich in sei-nem Programm bisher wenig ab-zeichnet.

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  • IBERO-ANALYSEN

    bisher erschienen:

    Heft 1: Mario Solrzano: Vorwrts in die Vergangenheit oder rckwrts in die Zukunft? Wahlen zum Ende des Jahrhunderts in Guatemala (Oktober 1999)

    Heft 2: Ral Leis: Panama und die bergabe der Kanalzone. Groe Her-ausforderungen fr ein kleines Land (Dezember 1999)

    Heft 3: Jrg Meyer-Stamer: ber den Verlust von Dekaden und den Ver-lauf von Lernkurven. Wirtschaftlicher Strukturwandel und die Ir-rungen und Wirrungen der wirtschaftspolitischen Diskussion in Brasilien (Mai 2000)

    Heft 4: Ral Trejo Delarbre: Die neue demokratische Ungewissheit in Mexiko. Ein kurzer Bericht vor den Wahlen (Juni 2000)

    Heft 5: Jrgen Weller: Lohnarbeit und Beschftigungsentwicklung im La-teinamerika der 90er Jahre. Erwartungen, Ergebnisse und Perspektiven (September 2000)

    Heft 6: Alvaro de la Ossa: Der zentralamerikanische Integrationsprozess. Ende einer Entwicklungsalternative (Dezember 2000)

    Heft 7: Friedrich Welsch / Jos Vicente Carrasquero: Venezuela unter Chvez: Zwischen demokratischer Revolution und Caudillismo (Januar 2001)

    Ibero-Amerikanisches Institut Preuischer Kulturbesitz, Potsdamer Strae 37, 10785 Berlin

    ISBN 3-935656-00-9

    Ibero-Amerikanisches Institut Stiftung Preuischer KulturbesitzZwischen demokratischer Revolution und CaudillismoFriedrich Welsch und Jos Vicente CarrasqueroQuelle: Consultores 21

    Tabelle 7: Vertrauen in die Fairness von Wahlen 1995-2000 (in %)

    ISBN 3-935656-00-9