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1499 Anerkennung und Vollstreckung von ausländischen Strassenverkehrsmassnahmen AJP/PJA 11/2015 Verfahren und Rechtsschutz bei der Anerkennung und Vollstreckung von ausländischen Strassenverkehrsmass- nahmen und -sanktionen in der Schweiz Immer wieder machen Zeitungsmeldungen auf ein bekanntes Phä- nomen aufmerksam: Viele Motorfahrzeuglenker mit Wohnsitz in der Schweiz lieben es, auf ausländischen Autobahnen zu schnell zu fah- ren. Dabei gefährden sie nicht nur sich selbst, sondern auch andere Verkehrsteilnehmende. Weit verbreitet gilt jedoch die Meinung, die Fol- gen selbst einer erheblichen Geschwindigkeitsübertretung im Ausland bekomme der Schweizer Bürger in seinem Heimatland nicht zu spüren. Es stellt sich die Frage, ob es sich hierbei um eine zutreffende Volks- weisheit oder um ein Ammenmärchen handelt. Inhaltsübersicht I. Ausgangslage II. Nationale Rechtsgrundlagen A. Schweizerisches System der Ahndung von Strassenverkehrs- delikten B. Erstes Verfahren: Strafverfahren 1. Verfahren der Anerkennung und Vollstreckung auslän- discher Entscheide über Strassenverkehrssanktionen: Art. 101 SVG 2. Rechtsschutz bei anerkannten ausländischen Entscheiden zu Strassenverkehrssanktionen C. Zweites Verfahren: Administrativverfahren 1. Verfahren der Anerkennung und Vollstreckung auslän- discher Entscheide über Strassenverkehrsmassnahmen: Art.  16c bis  SVG 2. Exkurs: Verletzung von «ne bis in idem» durch Art. 16c bis SVG? 3. Rechtsschutz nach einer Anerkennung von ausländischen Administrativmassnahmen i.S.v. Art.  16c bis  SVG III. Internationale Rechtsgrundlagen A. Bilaterale Abkommen 1. Schweiz – Österreich 2. Schweiz – Deutschland 3. Schweiz – Liechtenstein 4. Schweiz – Frankreich 5. Zwischenfazit B. Multinationale Übereinkommen 1. Europäisches Übereinkommen über die internationalen Wirkungen des Entzugs des Führerausweises für Motor- fahrzeuge 2. Wiener Übereinkommen über den Strassenverkehr 3. Zwischenfazit IV. Fazit V. Ausblick I. Ausgangslage Es gilt der Grundsatz der souveränen Gleichheit aller Staaten (Art. 2 Abs. 1 UN-Charta). Aus diesem völker- rechtlichen Prinzip ergibt sich die Pflicht eines jeden Staats, die territoriale Unversehrtheit anderer Staaten zu respektieren. Diese Souveränitätsakzeptanz findet Aus- druck darin, dass grundsätzlich keine hoheitlichen Hand- lungen von einem Staat in einem anderen ohne dessen Einverständnis durchgeführt werden dürfen. 1 Dies bedeu- tet, dass ein ausländischer Staat nicht dazu berechtigt ist, eigenmächtig Vollstreckungshandlungen zur Durchset- zung seiner Entscheide auf Schweizer Territorium vorzu- nehmen. Die Vorstellung, dass die Verfolgung eines in der Schweiz wohnhaften Tatverdächtigen für seine strafbaren Handlungen im Ausland an der Schweizer Landesgrenze enden kann, erscheint jedoch unbefriedigend. Damit der im Ausland gefällte Entscheid im Zusammenhang mit Strassenverkehrsdelikten unter Wahrung der völkerrecht- lichen Souveränität auch Rechtswirkungen in der Schweiz entfalten kann, ist der Abschluss völkerrechtlicher Verein- barungen notwendig. 2 In diesen kann sich die Schweiz verpflichten, einen im Ausland gefällten Entscheid im Zu- sammenhang mit einem Strassenverkehrsdelikt in einem 1 ANDREAS VON ARNAULD, Völkerrecht, 2. A., Heidelberg 2014, N 315 f. 2 Nicht Gegenstand dieses Aufsatzes sind die nationalen und in- ternationalen Zustellungsmodalitäten der im Ausland verfügten Strassenverkehrsmassnahmen und -sanktionen. Hierfür wird auf den Aufsatz von MARKUS KERN, Zustellung und Vollstreckung ausländischer Verkehrsbussen in der Schweiz, in: René Schaffhau- ser (Hrsg.), Jahrbuch zum Strassenverkehrsrecht 2014, St. Gallen 2014, 151 ff., verwiesen. Des articles de presse attirent régulièrement l’attention sur un phéno- mène connu : De nombreux conducteurs de véhicules à moteur domici- liés en Suisse aiment conduire à une vitesse excessive sur les autoroutes à l’étranger. Ce faisant, ils mettent non seulement leur vie en danger, mais aussi celle des autres usagers de la route. Selon une opinion lar- gement répandue, les citoyens suisses n’auraient toutefois pas à subir, dans leur pays d’origine, les conséquences d’un important excès de vitesse commis à l’étranger. On peut se demander s’il s’agit là d’une croyance populaire justifiée ou juste d’un mythe. FABIA SPIESS FABIA SPIESS, MLaw, Advokatin, Schweizerische Treuhandge- sellschaft AG (STG), Basel und Dozentin Schweizerisches Grenz- wachtkorps. Die Autorin dankt Herrn Dr. iur. ROBERT WEYENETH für seine wertvollen Hinweise.

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Anerkennung und Vol l s t reckung von aus ländischen St rassenverkehrsmassnahmen

AJP/PJA 11/2015

Verfahren und Rechtsschutz bei der Anerkennung und Vollstreckung von ausländischen Strassenverkehrsmass­nahmen und ­sanktionen in der Schweiz

Immer wieder machen Zeitungsmeldungen auf ein bekanntes Phä-nomen aufmerksam: Viele Motorfahrzeuglenker mit Wohnsitz in der Schweiz lieben es, auf ausländischen Autobahnen zu schnell zu fah-ren. Dabei gefährden sie nicht nur sich selbst, sondern auch andere Verkehrsteilnehmende. Weit verbreitet gilt jedoch die Meinung, die Fol-gen selbst einer erheblichen Geschwindigkeitsübertretung im Ausland bekomme der Schweizer Bürger in seinem Heimatland nicht zu spüren. Es stellt sich die Frage, ob es sich hierbei um eine zutreffende Volks-weisheit oder um ein Ammenmärchen handelt.

Inhaltsübersicht

I. AusgangslageII. Nationale Rechtsgrundlagen

A. Schweizerisches System der Ahndung von Strassenverkehrs-delikten

B. Erstes Verfahren: Strafverfahren1. Verfahren der Anerkennung und Vollstreckung auslän-

discher Entscheide über Strassenverkehrssanktionen: Art. 101 SVG

2. Rechtsschutz bei anerkannten ausländischen Entscheiden zu Strassenverkehrssanktionen

C. Zweites Verfahren: Administrativverfahren1. Verfahren der Anerkennung und Vollstreckung auslän-

discher Entscheide über Strassenverkehrsmassnahmen: Art. 16cbis SVG

2. Exkurs: Verletzung von «ne bis in idem» durch Art. 16cbis SVG?3. Rechtsschutz nach einer Anerkennung von ausländischen

Administrativmassnahmen i.S.v. Art. 16cbis SVGIII. Internationale Rechtsgrundlagen

A. Bilaterale Abkommen1. Schweiz – Österreich 2. Schweiz – Deutschland3. Schweiz – Liechtenstein4. Schweiz – Frankreich5. Zwischenfazit

B. Multinationale Übereinkommen1. Europäisches Übereinkommen über die internationalen

Wirkungen des Entzugs des Führerausweises für Motor-fahrzeuge

2. Wiener Übereinkommen über den Strassenverkehr3. Zwischenfazit

IV. FazitV. Ausblick

I. Ausgangslage

Es gilt der Grundsatz der souveränen Gleichheit aller Staaten (Art. 2 Abs. 1 UN-Charta). Aus diesem völker-rechtlichen Prinzip ergibt sich die Pflicht eines jeden Staats, die territoriale Unversehrtheit anderer Staaten zu respektieren. Diese Souveränitätsakzeptanz findet Aus-druck darin, dass grundsätzlich keine hoheitlichen Hand-lungen von einem Staat in einem anderen ohne dessen Einverständnis durchgeführt werden dürfen.1 Dies bedeu-tet, dass ein ausländischer Staat nicht dazu berechtigt ist, eigenmächtig Vollstreckungshandlungen zur Durchset-zung seiner Entscheide auf Schweizer Territorium vorzu-nehmen. Die Vorstellung, dass die Verfolgung eines in der Schweiz wohnhaften Tatverdächtigen für seine strafbaren Handlungen im Ausland an der Schweizer Landesgrenze enden kann, erscheint jedoch unbefriedigend. Damit der im Ausland gefällte Entscheid im Zusammenhang mit Strassenverkehrsdelikten unter Wahrung der völkerrecht-lichen Souveränität auch Rechtswirkungen in der Schweiz entfalten kann, ist der Abschluss völkerrechtlicher Verein-barungen notwendig.2 In diesen kann sich die Schweiz verpflichten, einen im Ausland gefällten Entscheid im Zu-sammenhang mit einem Strassenverkehrsdelikt in einem

1 AndreAs von ArnAuld, Völkerrecht, 2. A., Heidelberg 2014, N 315 f.

2 Nicht Gegenstand dieses Aufsatzes sind die nationalen und in-ternationalen Zustellungsmodalitäten der im Ausland verfügten Strassenverkehrsmassnahmen und -sanktionen. Hierfür wird auf den Aufsatz von MArkus kern, Zustellung und Vollstreckung ausländischer Verkehrsbussen in der Schweiz, in: René Schaffhau-ser (Hrsg.), Jahrbuch zum Strassenverkehrsrecht 2014, St. Gallen 2014, 151 ff., verwiesen.

Des articles de presse attirent régulièrement l’attention sur un phéno-mène connu : De nombreux conducteurs de véhicules à moteur domici-liés en Suisse aiment conduire à une vitesse excessive sur les autoroutes à l’étranger. Ce faisant, ils mettent non seulement leur vie en danger, mais aussi celle des autres usagers de la route. Selon une opinion lar-gement répandue, les citoyens suisses n’auraient toutefois pas à subir, dans leur pays d’origine, les conséquences d’un important excès de vitesse commis à l’étranger. On peut se demander s’il s’agit là d’une croyance populaire justifiée ou juste d’un mythe.

Fabia SpieSS

FAbiA spiess, MLaw, Advokatin, Schweizerische Treuhandge-sellschaft AG (STG), Basel und Dozentin Schweizerisches Grenz-wachtkorps.

Die Autorin dankt Herrn Dr. iur. robert Weyeneth für seine wertvollen Hinweise.

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F a b i a S p i e s s

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A. Schweizerisches System der Ahndung von Strassenverkehrsdelikten

Fällt ein strafbares Lenkerverhalten nicht unter den Bus-senkatalog der Ordnungsbussenverordnung und kann somit nicht im vereinfachten Ordnungsbussenverfahren erledigt werden, kommt es zu einem Strafverfahren.6 In diesem wird der Täter unter Umständen zu einer Busse, einer Geldstrafe oder einer Freiheitsstrafe wegen Ver-letzung der Strassenverkehrsregeln verurteilt. Im Ad-ministrativverfahren können zusätzlich Administrativ-massnahmen verhängt werden, wie beispielsweise der Führerausweisentzug zu Warn- oder Sicherungszwecken, ein Fahrverbot7 oder die Zuweisung zum Verkehrsunter-richt.8

Ein im Administrativverfahren verfügter Ausweisent-zug im Wohnsitzstaat bedeutet de facto auch einen inter-nationalen Entzug der Fahrerlaubnis9, weil der Fahrzeug-lenker auch im Ausland verpflichtet ist, einen gültigen Führerausweis mit sich zu führen.10

B. Erstes Verfahren: Strafverfahren

Nach schweizerischer Auffassung stellt gemäss der Be-stimmung von Art. 100 Ziff. 1 SVG eine – ob vorsätzlich

6 Art. 1 Ordnungsbussengesetz vom 24. Juni 1970 (OBG, SR 741.03), Art. 2 lit. d OBG und Art. 1 i.V.m. Anhang 1 Ordnungs-bussenverordnung vom 4. März 1996 (OBV, SR. 741.031). Gegen-stand eines Ordnungsbussenverfahrens können grundsätzlich nur Übertretungen sein, welche in der Bussenliste der OBV aufgelis-tet sind und der Gesamtbussenbetrag CHF 300 nicht übersteigen (Art. 1 Abs. 2 OBG). Wird der Täter mit einer Ordnungsbusse ge-mäss Art. 1 OBG gebüsst und bezahlt er die Busse nicht innerhalb von dreissig Tagen gemäss Art. 5 Abs. 1 OBG, so wird gegen ihn gemäss Art. 5 Abs. 3 OBG das ordentliche Strafverfahren eingelei-tet. Die Ausführungen zum Strafverfahren gelten daher für Hand-lungen, welche aus schweizerischer Sicht unter das OBG fallen, sinngemäss.

7 Durch ein Fahrverbot kann das Radfahren oder das Führen von Tierfuhrwerken untersagt werden (Art. 19 Abs. 2–4 und 21 SVG; Art. 7 lit. e ADMAS-Register-Verordnung).

8 Vgl. Art. 104b Abs. 3 SVG; Gundhild Godenzi/JAnA hrAbek, Zur Rechtsnatur des Führerausweisentzuges zu Warnzwecken, in: René Schaffhauser (Hrsg.), Jahrbuch zum Strassenverkehrs-recht 2007, St. Gallen 2007, 187 f.; bernhArd rütsche/denise Weber, Theorie und Praxis des Führerausweisentzugs, in: Thomas Probst/Franz Werro (Hrsg.), Strassenverkehrsrechts-Tagung 14.–15. Juni 2012, Bern 2012, 148.

9 thoMAs scherrer, Administrativrechtliche Folgen von «Aus-landstaten», in: René Schaffhauser (Hrsg.), Jahrbuch zum Strassen-verkehrsrecht 2003, St. Gallen 2003, 233 f.

10 In der Schweiz regelt Art. 95 Abs. 1 lit. a SVG die Strafbarkeit für das Fahren eines Motorfahrzeugs trotz entzogenen Führerauswei-ses und sieht eine Strafdrohung von Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder Geldstrafe vor.

ersten Schritt anzuerkennen und in einem zweiten Schritt zu vollstrecken.3 Sind die Voraussetzungen für eine An-erkennung erfüllt und wird darum der ausländische Ent-scheid im Zusammenhang mit einem Strassenverkehrsde-likt in der Schweiz vollstreckt, stellt sich die Frage nach dem einzuschlagenden Rechtsweg für den Betroffenen, wenn dieser eine Überprüfung wünscht.

II. Nationale Rechtsgrundlagen

Das schweizerische System sieht für die Ahndung von Strassenverkehrsdelikten zwei Verfahren vor: Das Ad-ministrativverfahren und das Strafverfahren.4 Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung findet zunächst das Strafverfahren statt und anschliessend das von einer Verwaltungsbehörde durchgeführte Administrativver-fahren.5 Soll nun ein im Ausland erfolgter Entscheid im Zusammenhang mit einem Strassenverkehrsdelikt in der Schweiz anerkannt und vollstreckt werden, muss darum stets entschieden werden, ob die Umsetzung der Ent-scheidung im Rahmen eines Straf- und/oder Administra-tivmassnahmenverfahrens erfolgt. Je nach anzuwenden-dem Verfahren bestehen andere Rechtsgrundlagen für eine allfällige Anerkennung und Vollstreckung sowie den Rechtsschutz.

3 Die Verfolgung ausländischer Strassenverkehrsdelikte in der Schweiz setzt zunächst die Information darüber voraus, dass sol-che Delikte überhaupt begangen wurden. Bis heute bestehen nur vereinzelt staatsvertragliche Informationsaustauschpflichten zwi-schen der Schweiz und anderen Staaten (Botschaft des Bundesrats zur Änderung des Strassenverkehrsgesetzes [Führerausweisent-zug nach Widerhandlung im Ausland] vom 28. September 2007, 7622 f.). Infolgedessen wurde Art. 106a Abs. 3 Strassenverkehrs-gesetz vom 19. Dezember 1958 (SVG, SR 741.01) erlassen, der die Kompetenz des Bundesrats schafft, mit ausländischen Staaten Ver-träge über den gegenseitigen Austausch von Fahrzeughalter-, Fahr-berechtigungs- und Motorfahrzeugdaten sowie über die Vollstre-ckung von Geldstrafen oder Bussen bei Widerhandlungen gegen Strassenverkehrsvorschriften abzuschliessen. Der Informations-austausch bildet die Vorstufe der Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheide und ist nicht Gegenstand dieses Beitrags.

4 silvAn FAhrni/steFAn heiMGArtner, Strafrechtliche und ver-waltungsrechtliche Sanktionen bei Geschwindigkeitsüberschrei-tungen nach neuem Recht, Anwaltsrevue 2007, 7. Neben diesen beiden Verfahren ist es möglich, dass der Fahrzeuglenker sich auch zivilrechtlich verantworten muss. In einem Zivilverfahren wird ge-prüft, ob der Schädiger (bzw. seine Motorhaftpflichtversicherung) zur Ersatzleistung des entstandenen Schadens gemäss Art. 58 ff. SVG verpflichtet wird.

5 BGer 1C_331/2014 vom 28. August 2014 E. 4.3; BGE 119 Ib 158 E. 2c. Im Administrativverfahren ist die Behörde grundsätzlich an den vom Strafrichter festgestellten Sachverhalt gebunden.

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Anerkennung und Vol l s t reckung von aus ländischen St rassenverkehrsmassnahmen

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Fällen gestellt werden, in denen sich der Tatverdächtige nicht der ausländischen Strafgewalt unterzieht, beispiels-weise durch unentschuldigtes Fernbleiben von der Ge-richtsverhandlung.17

Bei der strafrechtlichen Beurteilung wendet die über-nehmende Strafverfolgungsbehörde gemäss Art. 101 Abs. 2 SVG schweizerische Strafbestimmungen an, ver-hängt jedoch keine Freiheitsstrafe, wenn das Recht des Begehungsortes keine solche androht (Grundsatz der lex mitior).

In diesem Verfahren der stellvertretenden Strafrechts-pflege wird in Fällen mit klar erstelltem Sachverhalt, wie er bei Geschwindigkeitsübertretungen vorliegt, lediglich der im Strafübernahmeersuchen geschilderte Sachver-halt übernommen. Zusätzliche Beweismittelerhebungen könnten nur rechtshilfeweise erfolgen und erscheinen nicht effizient.18

2. Rechtsschutz bei anerkannten ausländi­schen Entscheiden zu Strassenverkehrs­sanktionen

Wurde der Betroffene auf dem Weg der stellvertreten-den Strafrechtspflege von einem Schweizer Gericht nach schweizerischem Recht zu einer Sanktion verurteilt (Art. 101 SVG) und möchte sich gegen den Entscheid zur Wehr setzen, stellt sich die Frage nach dem einzuschla-genden Rechtsweg.

Nach schweizerischem Recht handelt es sich bei den in Art. 90 ff. SVG normierten Vergehenstatbeständen um Straftaten, welche in einem Strafverfahren nach der schweizerischen Strafprozessordnung19 beurteilt werden. Zuständig ist gemäss Art. 32 Abs. 1 StPO grundsätzlich die jeweilige Strafverfolgungsbehörde am Wohnsitz oder dem gewöhnlichen Aufenthalt des Täters.20

einer europäischen Vollstreckungsgemeinschaft beim Vollzug von Sanktionen und Massnahmen aufgrund von Strassenverkehrsdelik-ten, AJP/PJA 2000, 531.

17 GiGer (Fn 14), Art. 101 N 3.18 Vgl. heiMGArtner (Fn 16), Art. 101 N 2, 10, 19; peter popp/

tornike keshelAvA, in: Marcel Alexander Niggli/Hans Wipräch-tiger (Hrsg.), Basler Kommentar StGB, 3. A., Basel 2013, N 30 der Vorbemerkungen zu Art. 3.

19 Gemäss Art. 1 Abs. 1 StPO (Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 [StPO; SR 312.0]) hat die Schweizerische Strafprozessordnung grundsätzlich für alle Straftaten Geltung und damit auch für die Beurteilung für Vergehen nach dem SVG ( peter strAub/thoMAs Welert, in: Marcel Alexander Niggli/Marianne Heer/Hans Wiprächtiger [Hrsg.], Basler Kommentar StPO, Basel 2011, Art. 1 N 1).

20 Vgl. Empfehlungen der Schweizerischen Staatsanwälte-Konferenz zur Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit (abrufbar unter http://www.ksbs-caps.ch/pages_d/empfehlungen_d.htm) zur Vermeidung

oder fahrlässig11 begangene – Zuwiderhandlung gegen das Strassenverkehrsgesetz ein Strafdelikt dar.12 Ob ein Verhalten als Straftat zu qualifizieren ist, bestimmt sich nach den ab Art. 90 ff. SVG normierten Strafbestimmun-gen des Strassenverkehrsgesetzes.

1. Verfahren der Anerkennung und Voll­streckung ausländischer Entscheide über Strassenverkehrssanktionen: Art. 101 SVG

Weist ein Delikt aufgrund des ausländischen Tatorts eine internationale Komponente auf, sind zunächst einschlä-gige völkerrechtliche Vereinbarungen zum Verfahren der Anerkennung und Vollstreckung zu konsultieren. Ist kein völkerrechtlicher Vertrag anwendbar, so normiert Art. 101 SVG die stellvertretende Strafverfolgung durch die Schweiz. Diese Bestimmung13 sieht eine schweizeri-sche Strafverfolgung vor für alle in der Schweiz wohnhaf-ten Täter, welche eine sowohl aus schweizerischer14 als auch aus ausländischer Optik zu strafende Tat im Ausland verübt haben und sich in der Schweiz aufhalten.15 Damit die Schweiz das Verfahren übernimmt, muss ein Straf-übernahmeersuchen durch die zuständige ausländische Behörde gestellt werden. Ein solches Ersuchen erfolgt in der Praxis selten.16 Es dürfte jedoch insbesondere in jenen

11 Die Bestimmung sieht vor, dass sämtliche Widerhandlungen gegen das Strassenverkehrsgesetz auch fahrlässig begangen werden kön-nen, ausser das Gesetz sieht eine Ausnahme vor.

12 FAhrni/heiMGArtner (Fn 4), 7.13 Zur ratio der Bestimmung siehe BGE 133 II 331 E. 5.2.14 Die rechtliche Qualifikation der aus Schweizer Sicht erforderli-

chen Verkehrsregelverletzung beurteilt sich nach schweizerischem Recht und zum Zeitpunkt der Begehung (hAns GiGer, SVG Kom-mentar, 8. A., Zürich 2014, Art. 101 N 2; BGE 89 IV 113 E. I.1b).

15 In der Schweiz wohnhafte Schweizer Bürger werden aufgrund des Auslieferungsverbots von Art. 25 BV und Art. 32 IRSG nicht ausgeliefert (vgl. stephAn breitenMoser, in: Bernhard Ehren-zeller/Benjamin Schindler/Rainer J. Schweizer/Klaus A. Vallen-der [Hrsg.], Die Schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, 3. A., Zürich/St. Gallen 2014, Art. 25 N 2 ff.). Für Ausländer mit Wohnsitz oder Aufenthalt in der Schweiz kann demgegenüber eine Auslieferung erfolgen, denn sämtliche Ver-gehenstatbestände des SVG (Art. 90 Abs. 2 und 3, 91 Abs. 2, 91a Abs. 1, 92 Abs. 2, 93 Abs. 1, 94 Abs. 1, 95 Abs. 1, 96 Abs. 2 Abs. 3 und 97 Abs. 1 SVG) stellen gemäss Art. 35 Bundesgesetz über in-ternationale Rechtshilfe in Strafsachen vom 20. März 1981 (IRSG, SR 351.1) auslieferungsfähige Delikte dar, da sie mit einer Frei-heitsstrafe von über einem Jahr geahndet werden können. In die-sen Fällen führt der ausländische Staat ein eigenes Verfahren, in welchem der im Strafübernahmeersuchen geschilderte Sachverhalt übernommen werden kann. Gegen die Verfolgung und Beurteilung des Strassenverkehrsdelikts im Ausland besteht in der Schweiz kein Rechtsschutz.

16 Vgl. steFAn heiMGArtner, in: Marcel Alexander Niggli/Thomas Probst/Bernhard Waldmann (Hrsg.), Basler Kommentar SVG, Ba-sel 2014, Art. 101 N 2; rené schAFFhAuser, Auf dem Weg zu

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F a b i a S p i e s s

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Anordnung von Warnungsentzügen in der Schweiz nach Verkehrsdelikten im Ausland eine ausreichende rechtli-che Grundlage gebe. Eine solche bestand nach Ansicht des Gerichts nach damaligem Recht nicht. Um diese im Schrifttum bereits anerkannte Lücke24 zu schliessen, hat der Gesetzgeber Art. 16cbis SVG erlassen.25 Diese Be-stimmung schafft die Rechtsgrundlage dafür, dass nach einer im Ausland rechtskräftig verfügten Aberkennung des Führerausweises, dieser anschliessend von Schweizer Behörden entzogen werden kann. Voraussetzungen hier-für sind, dass im Ausland ein Fahrverbot verfügt wurde (Abs. 1 lit. a). Des Weiteren muss es sich beim fragli-chen Verhalten um eine aus schweizerischer Sicht26 mit-telschwere oder schwere Widerhandlung im Sinne von Art. 16b oder Art. 16c SVG27 handeln.28 Bei der festzu-legenden Entzugsdauer wird der Internationalität der De-liktsbegehung Rechnung getragen, indem die kantonalen Behörden verpflichtet werden, die Auswirkungen des ausländischen Fahrverbots auf den Betroffenen angemes-sen zu berücksichtigen. Dies geschieht, indem bei Erst-tätern die in der Schweiz verfügte Entzugsdauer die im Ausland verfügte Entzugsdauer nicht überschreiten darf (Art. 16cbis Abs. 2 SVG). So wird es möglich, dass bei der Anordnung der inländischen Administrativmassnahme die in den Artikeln 16b und 16c SVG vorgeschriebene Mindestentzugsdauer von einem beziehungsweise drei Monaten unterschritten wird.29 So entschied das Bundes-gericht unlängst, im Fall eines Lenkers mit Wohnsitz in Zug, welcher in Deutschland die Höchstgeschwindigkeit mehrmals um über 60 km/h überschritt, den Führeraus-weis in der Schweiz für höchstens zwei Monate zu ent-ziehen. Aus schweizerischer Sicht lag eine schwere Wi-derhandlung vor, welche eine Mindestentzugsdauer von

24 rené schAFFhAuser, Zum Führerausweisentzug in der Schweiz nach Verkehrsdelikten im Ausland, SJZ 1982, 69, 73, welcher eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage für den Administrativentzug in der Schweiz nach ausländischen Strassenverkehrsdelikten for-derte.

25 AS 2008 3939.26 Zur Aberkennung ausländischer Ausweise in der Schweiz vgl. auch

Art. 45 Abs. 1 Verordnung über die Zulassung von Personen und Fahrzeugen zum Strassenverkehr vom 27. Oktober 1976 (VZV, SR 741.51).

27 Die Bestimmungen von Art. 16b und Art. 16c SVG definieren mit-telschwere und schwere Verkehrsregelverletzungen durch die Nor-mierung von Katalogen.

28 philippe WeissenberGer, Kommentar zum Strassenverkehrs-gesetz (SVG) und Ordnungsbussengesetz (OBG), 2. A., Zürich/St. Gallen 2015, Art. 1 N 2. Für den Sicherungsentzug sowie Füh-rerausweisentzüge i.S.v. Art. 16 Abs. 1 SVG braucht es gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung keine spezielle gesetzliche Grundlage im internationalen Verhältnis (BGE 133 II 331 E. 9.1).

29 Botschaft Änderung SVG (FN 3), 7622 f.

Die Ahndung des Vergehens kann entweder im Straf-befehlsverfahren (Art. 352 ff. StPO) oder im ordentlichen Strafverfahren (Art. 328 ff. StPO) erfolgen. Das Rechts-mittel gegen den Strafbefehl ist in einem ersten Schritt die durch den Betroffenen zu begründende Einsprache (Art. 354 StPO). Hier gilt es die nicht erstreckbare zehn-tägige Einsprachefrist einzuhalten, wenn der Betroffe-ne verhindern will, dass der Strafbefehl gemäss Art. 354 Abs. 4 StPO zum rechtskräftigen Urteil wird. Erfolgt eine Einsprache, ist die Staatsanwaltschaft zu der Abnahme jener Beweise verpflichtet, welche zur Beurteilung der durch den Betroffenen vorgebrachten Einwände benötigt werden.21 Durch die zwingende Beweisabnahme wird si-chergestellt, dass der Betroffene sich zum Sachverhalt so-wie zur rechtlichen Beurteilung seines Verhaltens äussern kann.

Falls die Staatsanwaltschaft an ihrem Strafbefehl fest-hält, kommt es zu einem ordentlichen Verfahren vor dem erstinstanzlichen Strafgericht. Der weitere Verfahrensweg sieht die Berufung gegen den Entscheid des Strafgerichts gemäss Art. 356 Abs. 2 StPO i.V.m. Art. 398 Abs. 1 StPO vor.22 Das kantonal zweitinstanzliche Strafgericht als Be-rufungsinstanz verfügt über eine umfassende Prüfungs-kognition gemäss Art. 398 Abs. 2 StPO. Das kantonal letztinstanzliche Urteil kann bei Vorliegen der Vorausset-zungen nach Art. 78 ff. BGG mit Beschwerde in Strafsa-chen an das Bundesgericht weiter gezogen werden.

C. Zweites Verfahren: Administrativ­verfahren

1. Verfahren der Anerkennung und Voll­streckung ausländischer Entscheide über Strassenverkehrsmassnahmen: Art. 16cbis SVG

Im Jahr 2010 befasste sich das Bundesgericht im Ent-scheid BGE 133 II 33123 mit der Frage, ob es für die

von innerstaatlichen Zuständigkeitskonflikten unter den Strafver-folgungsbehörden.

21 Art. 355 Abs. 1 StPO. Der Beschuldigte könnte sich beispielswei-se auf Notstand berufen mit der Begründung eines medizinischen Notfalls (gebärende Partnerin, Transport eines Schwerverletzten).

22 Wird von Beginn an das ordentliche Verfahren eingeschlagen, ist auch hier die Berufung gemäss Art. 398 StPO das Rechtsmittel. Sollte die erste Instanz nach Ansicht des Betroffenen nicht alle für die Urteilsfindung benötigten Beweise abgenommen haben, besteht im Rahmen von Art. 389 Abs. 2 StPO die Möglichkeit der Beweis-ergänzung vor der Rechtsmittelinstanz.

23 Für die Urteilsbesprechung vgl. rené schAFFhAuser, Der War-nungsentzug des Führerausweises nach Auslandtaten verschwindet ... und erscheint gleich wieder, forumpenale 1/2008, 55–60.

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Anerkennung und Vol l s t reckung von aus ländischen St rassenverkehrsmassnahmen

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ander durchgeführten Verfahren bewirken demnach nicht eine doppelte Verurteilung in derselben Sache, sondern ermöglichen erst eine umfassende rechtliche Beurteilung und Ahndung des Strassenverkehrsdelikts.34 In einem an-deren Entscheid des Bundesgerichts führt dieses aus, dass wenn durch ein Verhalten mehrere in echter Idealkonkur-renz oder Realkonkurrenz stehende Tatbestände verwirk-licht werden, auch mehrere Sanktionierungsansprüche entstehen. Diese verschiedenen Sanktionierungsansprü-che können in verschiedenen Verfahren verfolgt werden.35 Der Führerausweisentzug in einem Verwaltungsverfahren hindert demnach die Verhängung einer Geldstrafe in ei-nem Strafverfahren nicht.36

Diese Begründungen des Bundesgerichts erklären jedoch nur das Nebeneinanderbestehen von Straf- und Administrativverfahren innerhalb der Schweiz. Offen bleibt, ob die Durchführung von zwei Administrativver-fahren in derselben Sache im Ausland und anschliessend in der Schweiz das Verbot der Doppelbestrafung verletzt. Hierzu stellte das Bundesgericht ohne weitere Begrün-dung wiederholt fest, dass der Führerausweisentzug zwar strafähnlichen Charakter aufweise, jedoch der präventive und erzieherische Zweck der Massnahme im Vordergrund stehe. Daher handle es sich beim Administrativverfahren um eine von der Strafsanktion unabhängige Verwaltungs-sanktion. Die Belastung des Fahrzeuglenkers mit zwei Sanktionen für ein und dasselbe Verhalten verletze somit den Grundsatz ne bis in idem nicht.37

Fraglich ist jedoch, ob die durch das Bundesgericht vorgenommene materielle Zuordnung des Führerausweis-entzugs gemäss Art. 16 ff. SVG38 zum Verwaltungsrecht zutreffend ist. In der Literatur wird nämlich die Ansicht vertreten, dass der Führerausweisentzug durchaus pöna-len Charakter aufweise und somit materiell-rechtlich eher dem (Verwaltungs-)Strafrecht anstatt dem Verwaltungs-recht zuzuordnen sei. Dies wird u.a. damit begründet, dass durch den Warnentzug primär schuldhaftes Verhalten des Betroffenen sanktioniert und nur sekundär der rechtmäs-sige Zustand wiederhergestellt werden soll. Diese Zweck-richtung der Massnahme sei viel eher dem Straf- als dem Verwaltungsrecht zuzuordnen. Auch werde der Betrof-fene regelmässig einen Führerausweisentzug als gleich bestrafend empfinden wie die daneben ausgesprochene

34 BGE 125 II 402 E. 1a; BGE 128 II 133 E. 3b; BGE 137 I 363 E. 2.4.35 BGE 122 I 257, 266.36 JürG-beAt AckerMAnn/steFAn ebensperGer, Der EMRK-

Grundsatz «ne bis in idem» – Identität der Tat oder Identität der Strafnorm, AJP/PJA 1999, 834.

37 BGE 125 II 402 E. 1a; BGE 128 II 133 E. 3b; BGE 137 I 363 E. 2.4.38 Gemeint ist der Entzug zu Warn- und nicht zu Sicherungszwecken.

drei Monaten gemäss Art. 16c Abs. 2 lit. a SVG zur Folge gehabt hätte. Grund für die Reduktion war, dass das Re-gierungspräsidium Karlsruhe ein Fahrverbot für lediglich zwei Monate verfügte und es sich beim Betroffenen um einen Ersttäter handelte. Somit war die schweizerische Behörde verpflichtet, keine strengere Wertung vorzuneh-men als die ausländische. Auch wenn sie nach hiesigen Massstäben ein längeres Fahrverbot für angemessen hal-ten würde, ist ihr Ermessensspielraum bei der Höhe des Fahrverbots nach oben beschränkt.30

Die Bestimmung von Art. 16cbis SVG führt zu einem zweiten Verfahren in der Schweiz. Die zuständige kanto-nale Behörde legt den ausländischen Sachverhalt zugrun-de und beurteilt diesen in einem Verwaltungsverfahren.31

2. Exkurs: Verletzung von «ne bis in idem» durch Art. 16cbis SVG?

Der in der Schweiz ausgesprochene Führerausweisentzug besteht neben dem ausländischen Entscheid. Diese Be-lastung mit zwei Sanktionen (ausländischer und schwei-zerischer Führerausweisentzug) für dasselbe Verhalten entsteht, weil das im Strafrecht geltende Verbot der Dop-pelbestrafung (ne bis in idem)32 gemäss umstrittener bun-desgerichtlicher Rechtsprechung33 im Administrativmass-nahmenverfahren nicht gilt. Begründet wird diese Ansicht einerseits damit, dass der Strafrichter im schweizerischen System der Ahndung von Strassenverkehrsdelikten keine Kompetenz habe, den Führerausweis zu entziehen. Über diese Kompetenz verfüge nur die Verwaltungsbehörde. Somit könne der Strafrichter nicht alle Folgen des straf-baren Verhaltens eines Lenkers beurteilen. Erst durch das Zusammenwirken mit der Verwaltungsbehörde könne der Sachverhalt in seiner Gesamtheit unter allen rechtlichen Gesichtspunkten beurteilt werden. Die beiden nachein-

30 Vgl. BGer 1C_538/2014 vom 9. Juni 2015 E. 2.4, 2.6.31 Zu der neuen Rechtsprechung vgl. BGer 1C_456/2012 vom 15.Fe-

bruar 2013; AndreAs A. roth, Entwicklungen im Strassenver-kehrsrecht, SJZ 2013, 234.

32 Art. 11 StPO [nur innerstaatlich]; Art. 54 Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirt-schaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französi-schen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen vom 19. Juni 1990 (SDÜ), ABl. L 239 vom 22. September 2000 [Schengen-weit]; Art. 4 Abs. 1 Pro-tokoll Nr. 7 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (SR 0.101.07) [nur innerstaatlich].

33 Vgl. BGE 123 II 97 E. 2c; BGE 128 II 133 E. 3b; rütsche/ Weber (Fn 8), 174. A.A. schAFFhAuser (Fn 24), 69 ff.; Godenzi/ hrAbek (Fn 8), 211 f.; tobiAs JAAG, Kapitel 23, Sanktionen, in: Giovanni Biaggini/Isabelle Häner/Urs Saxer/Markus Schott (Hrsg.), Fachhandbuch Verwaltungsrecht, Zürich 2015, N 23.75 ff.

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F a b i a S p i e s s

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kehr nicht zwei Verfahren in zwei verschiedenen Staaten auslösen würde.

3. Rechtsschutz nach einer Anerkennung von ausländischen Administrativmassnahmen i.S.v. Art. 16cbis SVG

Das Verfahren des Führerausweisentzugs nach Art. 16cbis SVG sowie auch das Rechtsmittelverfahren vor den kan-tonalen Verwaltungsbehörden und Gerichten richten sich nach kantonalem Recht (Art. 106 Abs. 2 SVG). Die Mindestanforderungen an die kantonalen Verfahren sind in Art. 22 ff. SVG geregelt, wo auch auf die allgemei-nen Bestimmungen der Bundesrechtspflege für das Be-schwerdeverfahren verwiesen wird (Art. 24 Abs. 1 SVG). Dabei haben die Kantone die Rechtsweggarantie nach Art. 29a BV45 zu beachten. Daraus ergibt sich, dass das Handeln der Verwaltungsbehörden in einem Verfahren vor einer unabhängigen gerichtlichen Instanz überprüfbar sein muss. Diese ist nicht nur verpflichtet, die mit einer Streitigkeit verbundenen Rechtsfragen zu prüfen, sondern auch in vollumfänglicher Weise den zugrunde liegenden Sachverhalt.46 Diese Mindestgarantien ermöglichen es dem Beschuldigten, im kantonalen Verwaltungsverfah-ren seine Sicht des Sachverhalts und der rechtlichen Be-urteilung einzubringen. Die gerichtliche Behörde hat die vorgebrachten Rügen mit voller Kognition zu überprü-fen. Der kantonal letztinstanzliche Entscheid betreffend den im Administrativverfahren erfolgten Führerauswei-sentzug kann mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gemäss Art. 82 lit. a BGG angefochten werden.47

III. Internationale Rechtsgrundlagen

Fraglich ist ob und wie eine im Ausland verfügte Aber-kennung der Fahrberechtigung, eine rechtskräftige Busse oder Geldstrafe in der Schweiz anerkannt und vollstreckt werden kann, denn nur so entfaltet sie für den Betroffe-nen klar spürbare Rechtswirkungen. Bekanntermassen gilt eine im Ausland ausgesprochene Aberkennung der

45 Die Rechtsweggarantie gemäss Art. 29a BV sieht vor, dass jede Person bei Rechtsstreitigkeiten Anspruch auf Beurteilung durch eine richterliche Behörde hat.

46 AndreAs kley, in: Bernhard Ehrenzeller/Benjamin Schindler/Rainer J. Schweizer/Klaus A. Vallender (Hrsg.), Die Schweize-rische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, 3. A., Zürich/St. Gallen 2014, Art. 29a N 4.

47 BGer 1C_3/2008 vom 18. Juli 2007; WeissenberGer (Fn 28), Art. 23 N 1 ff. und Art. 24 N 3.

strafrechtliche Sanktion.39 Erweist sich somit die wahre Natur40 des Führerausweisentzugs als eine strafrechtliche, so muss dies die Anwendung – zumindest elementarer – Verfahrensgarantien des Strafrechts zur Folge haben. In der Literatur wird denn auch explizit die Anwendung der Unschuldsvermutung gemäss Art. 32 Abs. 1 BV und 6 Abs. 2 EMRK41, des aus dieser abgeleiteten Rechts auf Aussageverweigerung (Verbot des Zwangs zur Selbstbe-lastung, nemo tenetur)42 und des Verbots der Doppelbe-strafung (ne bis in idem)43 gefordert.

Der in der Literatur vertretenen Ansicht kann inso-weit gefolgt werden, als dass sie auf die Wirkung des Führerausweisentzugs für den Betroffenen abstellt, dem tatsächlichen Charakter dieser Administrativmassnahme Rechnung trägt und sich so im Einklang mit der Recht-sprechung des EGMR44 befindet. Würde der im Adminis-trativverfahren ausgesprochene Führerausweisentzug als (verwaltungs-)strafrechtliche Sanktion behandelt, könnte den elementarsten strafprozessualen Grundsätzen wie ne bis in idem zum Durchbruch verholfen werden. Dies hätte zur Folge, dass ein strafbares Verhalten im Strassenver-

39 JAAG (Fn 33), N 23.72 f., 23.80.40 Vgl. zweites «Engel-Kriterium» gemäss EGMR, Urteil vom 8. Juni

1976, Engel, Serie A/22, EuGRZ 1976, 232 Ziff. 82; BGE 135 I 313 E. 2.2; JAAG (Fn 33), N 29.31. Die «Engel-Kriterien» dienen zur Feststellung, ob eine «strafrechtliche Anklage» im Sinne von Art. 6 EMRK vorliegt und die betreffende Sanktion somit unab-hängig von der Qualifikation durch das nationale Recht strafrecht-lichen Charakter aufweist. Vgl. sébAstiAn FAnti und cédric Mizel, Ne bis in idem: exit Zolotoukhine et vive Boman! in AJP/PJA 5/2015 762 ff.

41 JAAG (Fn 33), N 23.91. Der Autor scheint im Fazit seines Aufsat-zes noch ein wenig weiter zu gehen, indem er für das Verfahren zur Auferlegung verwaltungsstrafrechtlicher Sanktionen im Generel-len «ähnliche Anforderungen wie im Strafrecht» nicht ausschliesst (N 23.96).

42 JereMiAs FellMAnn/luziA vetterli, «Nemo tenetur» light bei strafähnlichen Verwaltungssanktionen?, forumpenale 2015, 46; sAbine Gless, Nemo tenetur se ipsum accusare und verwaltungs-rechtliche Auskunftspflichten: Konflikt und Lösungsansätze am Beispiel der Schweizer Finanzmarktaufsicht, in: Christian Fahl/Eckhart Müller/Helmut Satzger/Sabine Swoboda (Hrsg.), Fest-schrift für Werner Beulke zum 70. Geburtstag: [ein menschenge-rechtes Strafrecht als Lebensaufgabe], Heidelberg 2015, 733 f.

43 Siehe FN 31. Vgl. MArcel AlexAnder niGGli/christoF riedo, Verwaltungsstrafrecht, Teil 1: Ein Märchen, eine Lösung, ein Pro-blem und ein Beispiel, in: Isabelle Häner/Bernhard Waldmann (Hrsg.), Verwaltungsstrafrecht und sanktionierendes Verwaltungs-recht, Zürich 2010, 41 ff.; MArcel AlexAnder niGGli/steFAn MAeder, Was schützt eigentlich Strafrecht (und schützt es über-haupt etwas?), AJP/PJA 2011, 452; briGitte tAG, in: Marcel Ale-xander Niggli/Marianne Heer/Hans Wiprächtiger (Hrsg.), Basler Kommentar StPO, 2. A., Basel 2014, Art. 11 N 19.

44 «Engel-Kriterien» gemäss EGMR, Urteil vom 8. Juni 1976, Engel, Serie A/22, EuGRZ 1976, 232 Ziff. 82.

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Anerkennung und Vol l s t reckung von aus ländischen St rassenverkehrsmassnahmen

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2. Schweiz – Deutschland

Der Schweizerisch-Deutsche Polizeivertrag52 sieht in Kapitel VI die Unterstützung bei der Durchsetzung von rechtskräftigen Bussen vor. Die dazu notwendigen Rechtsgrundlagen sind allerdings bis dato noch nicht in Kraft getreten.53 Folglich besteht aufgrund dieses Über-einkommens noch keine direkte Anerkennung und Voll-streckung von entsprechenden Entscheidungen.

3. Schweiz – Liechtenstein

Das ab dem 1. August 2015 geltende Abkommen über den Strassenverkehr zwischen der Schweiz und dem Fürsten-tum Liechtenstein54 ersetzt55 den im Jahr 1977 in Form eines Notenaustauschs abgeschlossenen schweizerisch-liechtensteinischen Vertrag über die Führer- und Fahr-zeugausweise und die Verwaltungsmassnahmen.56 Das alte Recht sah noch einen einheitlichen Rechtsraum zwi-schen den beiden Ländern für den Führerausweisentzug vor indem Liechtenstein gewissermassen wie ein weite-rer Kanton behandelt wurde.57 Beging unter altem Recht ein in der Schweiz ansässiger Motorfahrzeuglenker im Fürstentum Liechtenstein ein zum Ausweisentzug führen-des Verkehrsdelikt, so galt die entsprechende Verfügung

52 Vertrag zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Bundesrepublik Deutschland über die grenzüberschreitende polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit vom 27. April 1999 (SR 0.360.136.1).

53 Art. 50 Abs. 1 des Vertrags; philippe WeissenberGer, «Via sicu-ra»: Wichtigste Neuerungen und Anwendungsprobleme, in: René Schaffhauser (Hrsg.), Jahrbuch zum Strassenverkehrsrecht 2012, 436. Gemäss schriftlicher Auskunft des Bundesamts für Strassen ASTRA vom 15. September 2015 war der deutsche Vertragspartner mit der Inkraftsetzung des Kapitels VI nicht mehr einverstanden und daher wurde der Vertrag ohne das genannte Kapitel in Kraft gesetzt. Eine Inkraftsetzung ist derzeit nicht geplant.

54 Abkommen über den Strassenverkehr zwischen der Schweizeri-schen Eidgenossenschaft und dem Fürstentum Liechtenstein vom 18. Juni 2015 (SR 0.741.531.951.4).

55 Der liechtensteinische Staatsgerichtshof entschied im September 2014, dass der bis dahin geltende Notenaustausch keine ausrei-chende gesetzliche Grundlage für eine derart einschneidende Mass-nahme wie einen Führerausweisentzug darstelle. Diesem Erforder-nis wird nun das neue Strassenverkehrsabkommen zwischen der Schweiz und Liechtenstein gerecht, weil dieses – im Vergleich zum Notenaustausch – vom liechtensteinischen Landtag als Legislative genehmigt wurde und somit für Liechtenstein auch innerstaatlich verbindlich wird (StGH 2014/029, Entscheidung vom 2. Sep-tember 2014 E. 4.3.4); vgl. Tagesanzeiger vom 15. Oktober 2014 [«Schnellfahren ohne Ausweisentzug»]).

56 Notenaustausch zwischen der Schweiz und dem Fürstentum Liech-tenstein über die gegenseitige Anerkennung der Führer- und Fahr-zeugausweise und die Verwaltungsmassnahmen vom 15. Dezem-ber 1977 (0.741.531.951.4).

57 scherrer (Fn 9), 238.

Fahrberechtigung, Busse oder Geldstrafe wegen einer Verkehrsregelverletzung aufgrund des Territorialitäts-prinzips nur im Tatortstaat. Aberkennt beispielsweise eine ausländische Behörde einem schweizerischen Einwohner nach einer klaren Geschwindigkeitsübertretung die Fahr-berechtigung auf ihrem Hoheitsgebiet, kann sie zwar den Führerausweis vorerst abnehmen, sie verfügt jedoch in der Regel nicht über die Kompetenz den schweizerischen Führerausweis dauernd in ihrem Gewahrsam zu behalten. Daher kann der Lenker beim Verlassen des Landes seinen Führerausweis zurückfordern und entgeht dadurch dem faktischen Entzug.48 Im Weiteren werden sich wohl einige Lenker fragen, ob sie eine im Ausland rechtskräftig ver-fügte Busse oder Geldstrafe nach ihrer Rückkehr in die Schweiz begleichen sollten. Im Grundsatz gilt, dass wenn ein ausländischer Staat Vollstreckungshilfe bei der Durch-setzung seiner inländischen Strassenverkehrssanktionen und -massnahmen durch die Schweiz wünscht, er gehal-ten ist, internationale Vereinbarungen abzuschliessen. Fraglich ist, welche bestehenden völkerrechtlichen Ver-träge eine wirksame Vollstreckungshilfe gewährleisten.49

A. Bilaterale Abkommen

1. Schweiz – Österreich

Der Schweizerisch-Österreichische Amtshilfevertrag in Strassenverkehrsangelegenheiten aus dem Jahr 197950 regelt die gegenseitige Amtshilfe in Verwaltungsangele-genheiten auf dem Gebiet des Strassenverkehrswesens (Art. 1 Abs. 1). Er enthält keine Norm, welche eine un-mittelbare Anerkennung und Vollstreckung eines österrei-chischen Entscheids über Strassenverkehrsmassnahmen statuiert.51

48 rütsche/Weber (Fn 8), 166 f. Siehe unter III.B.2. Wiener Über-einkommen über den Strassenverkehr.

49 Zwischen der Schweiz und weiteren Staaten bestehen zwar bi- und multilaterale Auslieferungs- und Rechtshilfeabkommen (z.B. Euro-päisches Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 20. April 1959, SR 0.351.1 und Europäisches Auslieferungsüber-einkommen vom 13. Dezember 1957, SR 0.353.1), jedoch erfassen diese nicht die Anerkennung und Vollstreckung von Verkehrsbus-sen.

50 Vertrag zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Republik Österreich über die wechselseitige Amtshilfe in Stras-senverkehrs-(Kraftfahr-)angelegenheiten vom 23. Mai 1979 (SR 0.741.531.916.3).

51 Für das Verständnis des Anerkennungs- und Vollstreckungsmecha-nismus vgl. Art. 5 und 7 des Vertrags.

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kehrsdelikte erfolgen werden.63 Erhält die schweizerische Behörde Kenntnis von einem in Liechtenstein verfügten Führerausweisentzug, kann sie ein eigenes Verfahren nach Art. 16cbis SVG durchführen.64

Offen bleibt, welche Konsequenzen der strafrechtlich relevante Teil des Lenkerverhaltens in der Schweiz hat. Der Bestimmung von Art. 25 i.V.m. Ziff. 1 des Protokolls im Anhang des Abkommens ist zu entnehmen, dass in der Schweiz die Motorfahrzeugkontrolle oder das Strassen-verkehrsamt des Wohnsitzkantons entscheidzuständig ist. Strafbehörden werden von der Zuständigkeitsregelung somit implizit ausgeklammert. Für den Entscheid der Strafbehörde besteht daher keine rechtliche Grundlage im Abkommen. Mangels einer anderen völkerrechtlichen Vereinbarung richten sich die Voraussetzungen der Straf-verfolgung nach den allgemeinen innerstaatlichen Rege-lungen von Art. 101 SVG.65 Damit ein Lenkerverhalten strafrechtlich beurteilt werden kann, ist die liechtenstei-nische Behörde gehalten, ein Strafübernahmeersuchen zu stellen. Übernehmen die schweizerischen Behörden die Verfolgung, richten sich Verfahren und Rechtsschutz nach der schweizerischen StPO.

4. Schweiz – Frankreich

Das Abkommen zwischen der Schweiz und Frankreich über die Justiz-, Polizei und Zollzusammenarbeit66 stellt – soweit ersichtlich – das einzige Abkommen dar, welches unter dem Titel VIII («Zuwiderhandlungen gegen Stras-senverkehrsvorschriften») die Pflicht zur Unterstützung des jeweils anderen Vertragsstaats bei der Durchsetzung rechtskräftiger Bussen und Geldstrafen im Zusammen-hang mit Strassenverkehrsdelikten normiert.67 Die Ver-tragsstaaten verzichten auf die Stellung eines auf diesem Abkommen basierenden Ersuchens, wenn die verhängte Geldbusse bzw. -strafe entweder mit einer Freiheitsstrafe

63 Mündliche Auskunft Strassenverkehrsamt St. Gallen vom 24. Sep-tember 2015. Die Polizeirapporte dienen zur Erstellung des auslän-dischen Sachverhalts.

64 Siehe unter II. Nationale Rechtsgrundlagen.65 Siehe unter II. Nationale Rechtsgrundlagen.66 Abkommen zwischen dem Schweizerischen Bundesrat und der Re-

gierung der Französischen Republik über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Justiz-, Polizei- und Zollsachen vom 9. Okto-ber 2007 (SR 0.360.349.1).

67 Vgl. Rechtsgrundlagen in Sachen Polizeikooperation in Strassen-verkehrsdelikten des EJPD (abrufbar unter http://www.fedpol. admin.ch/content/fedpol/de/home/dokumentation/haeufig_ gestelltefragen/uebertretungen_vonstrassenverkehrsvorschriften/bussen.faq_3.html); WeissenberGer (FN 53), 436. Vgl. Neue Zür-cher Zeitung vom 7. Juli 2015 («Begrenzte Strafe für Verkehrsde-likt im Ausland»).

gemäss Ziff. 311 des Notenaustausches unmittelbar auch in der Schweiz. Es musste keine Anerkennung durch die Schweiz erfolgen, denn die liechtensteinische Behörde trug den Entzug eigenständig in das schweizerische Ad-ministrativmassnahmen-Register (ADMAS) ein.58 Das neue Recht sorgt für eine Entflechtung der Verfahren. Das Fürstentum Liechtenstein wird wieder als eigenständiger Staat behandelt, indem Strassenverkehrsdelikte wie ge-wöhnliche Auslandstaten behandelt werden. Dies bedeu-tet, dass wenn ein in der Schweiz wohnhafter Lenker in Liechtenstein eine Widerhandlung gegen die Strassenver-kehrsvorschriften begeht, die liechtensteinischen Behör-den gemäss Art. 5 des Abkommens nach innerstaatlichem Recht (Art. 42 VZV FL59) über den Führerausweisentzug entscheiden. Liegen die Entzugsvoraussetzungen nach liechtensteinischem Recht vor, so wird der schweizeri-sche Führerausweis in Liechtenstein entzogen (Art. 45 Abs. 1 Verkehrszulassungsverordnung Fürstentum Liech-tenstein). Verfahren und Rechtsschutz richten sich nach liechtensteinischem Recht.

Dem Abkommen ist keine Verpflichtung der liechten-steinischen Behörden zu entnehmen, den in ihrem Land erfolgten Führerausweisentzug den schweizerischen Behörden zu melden. Allenfalls liesse sich eine solche Mitteilungspflicht aus Art. 2 und Art. 6 Ziff. 260 des Euro-päischen Übereinkommens über die internationalen Wir-kungen des Entzugs des Führerausweises für Motorfahr-zeuge vom 3. Juni 197661 entnehmen. Bis anhin bestand eine rege Meldepraxis von Strassenverkehrsdelikten zwi-schen Liechtenstein und der Schweiz.62 Zwar sieht das neue Recht keine Meldepflicht mehr vor, jedoch ist davon auszugehen, dass aus Liechtenstein weiterhin Meldungen in Form von liechtensteinischen Polizeirapporten über von schweizerischen Lenkern begangene Strassenver-

58 Art. 12 Abs. 1 ADMAS-Register-Verordnung.59 LR 741.51.60 Gemäss Art. 2 teilt die Vertragspartei, welche den Entzug ange-

ordnet hat, dies unverzüglich der Vertragspartei, welche den Füh-rerausweis erteilt hat, sowie der Vertragspartei mit, in deren Ho-heitsgebiet der Täter seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Dieser Mitteilung ist gemäss Art. 6 Ziff. 2 eine beglaubigte Abschrift der Entzugsverfügung sowie eine Sachverhaltsdarstellung beizufügen.

61 SR 0.741.16.62 Unter altem Recht konnte die liechtensteinische Behörde direkt

Einträge in ADMAS vornehmen, weil der in Liechtenstein verfüg-te Führerausweisentzug auch in der Schweiz galt (Art. 12 Abs. 1 ADMAS-Register-Verordnung). Des Weiteren bestand eine Ver-pflichtung der liechtensteinischen Behörde in der Schweiz einen Führerausweisentzug zu beantragen, wenn sie Kenntnis von einer zum Führerausweisentzug führenden Verkehrsregelverletzung auf liechtensteinischem Boden erhielt (Ziffer 321 Notenaustausch).

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Anerkennung und Vol l s t reckung von aus ländischen St rassenverkehrsmassnahmen

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ckung von Straftaten oder dem Schuldbetreibungs- und Konkursgesetz bei der Vollstreckung von Bussenforde-rungen.73 Die Bestimmung von Art. 49 über die Vollstre-ckung gibt jedoch keinen Aufschluss darüber, wie der Betroffene sich hätte zur Wehr setzten können, bevor der Entscheid in der Schweiz vollstreckbar geworden ist.

Frankreich ist EMRK-Vertragsstaat und sein Verfah-ren hat somit den aus dem Gemeinschaftsrecht der EU fliessenden Anspruch auf rechtliches Gehör74 zu wahren. Aus diesem folgt, dass die französischen Behörden den Betroffenen über ein hängiges Verfahren zu informieren haben. Weiter muss der Rechtsinhaber die Möglichkeit zur Stellungnahem erhalten. Dies beinhaltet das Recht, sich zu allen erheblichen Tat- und Rechtsfragen äussern zu können und Beweise anzubieten. Weiter muss es dem Betroffenen ermöglicht werden, sich zu den Ermittlungs-ergebnissen der französischen Behörden äussern zu kön-nen um diese gegebenenfalls zu widerlegen.75

Es liegt somit im Ermessen des Betroffenen sich am französischen Verfahren zu beteiligen und den damit ver-bundenen Gerichtszugang wahrzunehmen. Dieser Verfah-rensablauf ist mit der Bestimmung von Art. 6 EMRK76, die ein Recht auf ein faires, zügiges und öffentliches Verfahren vor einer gerichtlichen Behörde vorsieht, ver-einbar. Wenn der Betroffene Einsprache erhebt, wäre es ihm innert Frist möglich, ein Rechtsmittel zu ergreifen und den erstinstanzlichen Entscheid vor der französischen Rechtsmittelinstanz mit voller Kognition überprüfen zu lassen. Da der Entscheid von einer gerichtlichen Behör-de in Frankreich erlassen wurde, genügt dies der Rechts-weggarantie von Art. 29a BV77 und dem Recht auf wirk-same Beschwerde bei Verletzung von EMRK-Garantien nach Art. 13 EMRK.78 Werden die genannten bundes- und völkerrechtlichen Minimalgarantien durch das französi-sche Verfahren gewahrt, besteht keine Notwendigkeit der Durchführung eines Verfahrens in der Schweiz zur inhalt-

73 WeissenberGer (Fn 53), 436.74 Das rechtliche Gehör stellt einen fundamentalen Grundsatz des Ge-

meinschaftsrechts dar (vgl. thoMAs von dAnWitz, Europäisches Verwaltungsrecht, Berlin 2008, 357 f.; EuGH, Rs. 32/62, Slg. 1963, 107 – Maurice Alvis).

75 Vgl. ulrich kArpenstein/FrAnz c. MAyer, Kommentar Kon-vention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, 2. A., München 2015, Art. 6, N 100; Jochen Abr. FroWein/WolFGAnG peukert, Kommentar Europäische Menschenrechts-konvention, 3. A., Kehl am Rhein 2009, Art. 6, N 142.

76 FroWein/peukert (Fn 75), Art. 6, N 58, 89, 121.77 robert Weyeneth/stephAn breitenMoser, Zur Vollstreckung

von ausländischen Verkehrsbussen durch schweizerische Inkasso-firmen, Jusletter vom 18. Juli 2011, FN 10.

78 FroWein/peukert (Fn 75), Art. 13 N 1 ff.

kombiniert ist oder die zugrunde liegende Strassenver-kehrszuwiderhandlung mit Straftaten aus anderen Rechts-bereichen zusammentrifft. So sollen die Einheitlichkeit des Vollstreckungsverfahrens garantiert und Kompetenz-überschreitungen vermieden werden.68

Der Anerkennungs- und Vollstreckungsmechanismus wird in Gange gesetzt, wenn ein Schweizer Einwohner in Frankreich eine der Zuwiderhandlungen, wie sie im «code de la route» definiert werden69, begeht. Die Zuwi-derhandlung wird durch das zuständige französische Ge-richt oder Verwaltungsbehörde festgestellt und eine Sank-tion dafür verhängt. Sobald der französische Entscheid in Rechtskraft erwachsen ist, stellt Frankreich ein Ersuchen um Vollstreckung an die Schweiz (Art. 47 ff. des Ver-trags). Solche Ersuchen sind in der Praxis selten.70 Wird jedoch ein Gesuch gestellt, wird in Frankreich auf Voll-streckungsmassnahmen verzichtet, bis die Schweiz dieses ablehnt oder mitteilt, dass die Vollstreckung nicht mög-lich sei.71 Art. 47 Ziff. 1 normiert die Voraussetzungen, unter welchen der ergangene französische Entscheid von den zuständigen schweizerischen Behörden anerkannt und unmittelbar in Schweizer Franken vollstreckt wird (Art. 49 Ziff. 1)72: Die verhängte Sanktion beträgt min-destens 70 Euro oder 100 Franken (lit. a), das Ersuchen beschränkt sich auf die Einforderung eines Geldbetrags (lit. b), der Entscheid ist nach dem Recht der ersuchen-den Vertragspartei vollstreckbar und nicht verjährt (lit. c) und der Entscheid betrifft eine natürliche Person, die nach dem Recht des vollstreckenden Staates aufgrund ihres Al-ters und der Vorfälle, wegen deren der Entscheid getrof-fen wurde, strafrechtlich belangt werden kann (lit. d).

Die Vollstreckung eines rechtskräftigen Entscheids richtet sich nach dem Recht der ersuchten Vertragspar-tei (Art. 49 Ziff. 2) und somit für die Schweiz nach der Schweizerischen Strafprozessordnung bei der Vollstre-

68 Botschaft zum Abkommen mit der Regierung der Französischen Republik über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Jus-tiz-, Polizei- und Zollsachen vom 7. Dezember 2007, BBl 2008 264.

69 2. Spiegelstrich von Art. 44 des Vertrags.70 Telefonische Auskunft Bundesamt für Polizei (fedpol) vom

30. September 2015. Fedpol war ausschliesslich zuständig für die Ausarbeitung des Staatsvertrages zwischen Frankreich und der Schweiz. Innerhalb der Schweiz sind die einzelnen Kantone Adres-saten für den Empfang von französischen Gesuchen.

71 Botschaft Polizeivertrag Schweiz – Frankreich (FN 68), 264.72 Der Erlös aus der Vollstreckung und der Betrag der im Entscheid

festgesetzten Kosten gehen an die Schweiz als ersuchte Vertrags-partei (Art. 50). Dadurch soll ein Anreiz für die schweizerischen Behörden zur Vollstreckung geschaffen werden. Allerdings stellt sich hierbei die Frage nach der finanziellen Motivation der franzö-sischen Behörden zur Stellung eines Ersuchens.

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B. Multinationale Übereinkommen

1. Europäisches Übereinkommen über die internationalen Wirkungen des Entzugs des Führerausweises für Motorfahrzeuge

Das von der Schweiz ratifizierte Europäische Überein-kommen über die internationalen Wirkungen des Ent-zugs des Führerausweises für Motorfahrzeuge vom 3. Juni 197682 normiert lediglich eine Mitteilungspflicht über einen Führerausweisentzug (Art. 2) und keine Vollstreckung(shilfe).

2. Wiener Übereinkommen über den Strassenverkehr

Gemäss dem auch durch die Schweiz ratifizierten Wiener Übereinkommen über den Strassenverkehr vom 8. No-vember 196883 können die Vertragsparteien einen Len-ker, der in ihrem Hoheitsgebiet eine nach innerstaatli-chem Recht beurteilte Zuwiderhandlung begeht, die den Führerausweisentzug zur Folge haben kann, das Recht aberkennen, in ihrem Hoheitsgebiet seinen nationalen oder internationalen Führerausweis zu verwenden. Die aberkennende Behörde kann den Ausweis bis zur Aus-reise des Lenkers bei sich behalten (Art. 42 Ziff. 1 lit. a). Die sehr grundsätzlich formulierte Bestimmung von Art. 42 Ziff. 1 lit. b sieht weiter die Möglichkeit vor, dass der ausländische Staat, der schweizerischen Führeraus-weisausstellungsbehörde Meldung von der Aberkennung der Fahrberechtigung auf seinem Territorium machen kann. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um eine eigent-liche Meldepflicht.84 Da das Übereinkommen das Ver-fahren der Behörden des Ausstellungsstaats nicht regelt, können diese nach ihren nationalen Bestimmungen straf-rechtliche Sanktionen und Administrativmassnahmen aussprechen. Der Rechtsschutz richtet sich ebenfalls nach dem jeweiligen innerstaatlichen Recht.

In Ergänzung zum Wiener Übereinkommen über den Strassenverkehr, welches nur den Bereich der Füh-rerausweisentzüge, nicht aber die grenzüberschreitende Vollstreckung von Bussen und Geldstrafen im Zusam-menhang mit Strassenverkehrsdelikten regelt, wurde die Bestimmung von Art. 106a Abs. 3 SVG85 erlassen. Sie

82 Siehe FN 61.83 Übereinkommen über den Strassenverkehr vom 8. November 1968

(SR 0.741.10). Dieses Übereinkommen ist zurzeit in 67 Staaten in Kraft, darunter befinden sich alle Nachbarstaaten der Schweiz.

84 Botschaft Änderung SVG (FN 3), 7621.85 Botschaft des Bundesrats zu Via sicura, Handlungsprogramm des

Bundes für mehr Sicherheit im Strassenverkehr vom 20. Oktober 2010, BBl 2010 8515, 8586; Botschaft des Bundesrats zum Na-

lichen Überprüfung des französischen Entscheids. Daher ist es sachgemäss, einen rechtskräftigen Entscheid aus Frankreich in der Schweiz unmittelbar und ohne inhaltli-che Nachprüfung zu vollstrecken.

Fraglich ist, welche Möglichkeiten dem Betroffen offen stehen, sollte das Verfahren in Frankreich grundle-gende rechtsstaatliche Mängel aufweisen, wie beispiels-weise die Verweigerung des rechtlichen Gehörs oder den Ver stoss gegen das Verbot der Doppelbestrafung. Die Verweigerung der Vollstreckungshilfe ist gemäss Art. 47 Ziff. 2 des Vertrags nur dann zulässig, wenn deren Leis-tung der Schweiz unmöglich ist oder einer der Verweige-rungsgründe gemäss Art. 48 vorliegt.

Widerspricht der französische Entscheid dem Grund-satz ne bis in idem, weil der Betroffene für das fragliche Delikt den offenen Bussenbetrag beispielsweise bereits beglichen hat und Frankreich dennoch in der Schweiz vollstrecken möchte, kann die Schweiz den Ablehnungs-grund für die Vollstreckungshilfe gemäss Art. 48 Ziff. 1 lit. b79 geltend machen.

Für die Verletzung des rechtlichen Gehörs im franzö-sischen Verfahren wurde im Vertrag kein Verweigerungs-grund vorgesehen. Denkbar ist jedoch, dass der Betrof-fene eine solche Gehörsverletzung beim Bundesamt für Strassen80 glaubhaft macht und die Schweiz daher keine Vollstreckungshilfe leisten möchte. Zur Begründung der Verweigerung ihrer Vollstreckungshilfe könnte sie die Verletzung des rechtlichen Gehörs als einen für sie ver-bindlichen fundamentalen Grundsatz des Gemeinschafts-rechts vorbringen.81

5. Zwischenfazit

Die gegenwärtig bestehenden bilateralen Verträge der Schweiz sehen nur im Verhältnis zu Frankreich eine di-rekte Vollstreckungshilfe von ausländischen Entscheiden im Zusammenhang mit Strassenverkehrsdelikten vor. Die vereinbarte Vollstreckung beruht auf einer Anerkennung der im jeweiligen Vertragsstaat ausgesprochenen Mass-nahmen.

79 Gemäss Wortlaut von Art. 48 Ziff. 1 lit. b kann die Erledigung des Ersuchens um Vollstreckung verweigert werden, wenn die Erle-digung des Ersuchens gegen den Grundsatz «ne bis in idem» ver-stösst.

80 Zuständige Behörde in der Schweiz gemäss Art. 1 Ziff. 1 des Ver-trags.

81 Siehe FN 74.

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Anerkennung und Vol l s t reckung von aus ländischen St rassenverkehrsmassnahmen

AJP/PJA 11/2015

Es besteht aus der Zeit vor dem Erlass von Art. 106a SVG ein Abkommen der Schweiz mit Frank-reich im Bereich der Anerkennung und Vollstreckung von Geldstrafen und Bussen im Zusammenhang mit Stras-senverkehrsdelikten.87 Dieses Abkommen regelt den ein-zuschlagenden Rechtsweg jedoch lückenhaft. Aus der Sicht des Rechtsschutzes der Betroffenen erscheint dieses Manko nicht sachgerecht, weil unklar ist, wie gegen den erfolgten ausländischen Entscheid weiter vorgegangen werden kann.

Die Meinung, die Folgen selbst einer erheblichen Geschwindigkeitsübertretung im Ausland bekomme der Schweizer Bürger in seinem Heimatland nicht zu spüren, erweist sich aufgrund der derzeitigen Rechtslage als eine Volksweisheit mit wahrem Kern. Dem Bundesrat wurde jedoch im Bereich der grenzüberschreitenden Vollstre-ckung von Bussen und Geldstrafen eine wirkungsvolle neue Kompetenz zum Abschluss völkerrechtlicher Ver-träge in die Hand gegeben. Nutzt er künftig diesen Spiel-raum und entscheidet sich dabei für einen funktionieren-den Anerkennungs- und Vollstreckungsmechanismus88, so kann sich die erwähnte Volksweisheit schnell in ein Am-menmärchen verwandeln.

V. Ausblick

Auf der Suche nach einem gangbaren Anerkennungs- und Vollstreckungsmechanismus von Entscheiden im Zusam-menhang mit Strassenverkehrsdelikten treffen zwei wi-derstreitende Interessen aufeinander: Auf der einen Seite steht eine immens grosse Anzahl an Verkehrsbussen ei-ner – gemessen am dafür eingesetzten Verwaltungsauf-wand – eher geringen Bussenhöhe im Einzelfall gegen-über. Um diesen Interessen Rechnung zu tragen, muss man sich fragen, ob ein geplanter Vollstreckungsmecha-nismus nicht mehr kostet, als dass er Einnahmen garan-tiert.89

Könnte sich die Schweiz mit anderen Staaten auf ei-nen Durchsetzungsmechanismus verständigen, welcher

87 Daneben wurde im revidierten Vertrag zwischen der Schweizeri-schen Eidgenossenschaft, der Republik Österreich und dem Für-stentum Liechtenstein über die grenzüberschreitende Zusammen-arbeit der Sicherheits- und Zollbehörden vom 27. April 1999 (SR 0.360.163.1) ein vereinfachtes Vollstreckungsregime vereinbart, indem die Möglichkeit zur Schaffung von gemeinsamen Zentren für die Polizei- und Zollzusammenarbeit in Grenznähe normiert wurde. Die Ratifizierung ist jedoch noch ausstehend (BBl 2014 2913).

88 Siehe unter V. Ausblick.89 kern (Fn 2), 154.

räumt dem Gesamtbundesrat die Kompetenz ein, direkt und ohne weitere innerstaatliche Genehmigung, mit aus-ländischen Staaten Verträge über die Vollstreckung von Geldstrafen oder Bussen bei Widerhandlungen gegen Strassenverkehrsvorschriften abzuschliessen. Obwohl der Bundesrat im Jahre 2010 ankündigte, mit «den wichtigs-ten Staaten» Vereinbarungen über die Vollstreckungshilfe bei Verkehrsbussen abschliessen zu wollen, sind seither für die Schweiz in diesem Bereich noch keine völker-rechtlichen Verträge in Kraft getreten.86

3. Zwischenfazit

Die beiden einschlägigen und für die Schweiz geltenden multilateralen Übereinkommen ermöglichen keine un-mittelbare Anerkennung und Vollstreckung von auslän-dischen Entscheiden im Zusammenhang mit Strassenver-kehrsdelikten in der Schweiz. Vielmehr beschränken sie die Zusammenarbeit auf eine blosse Mitteilungspflicht über die Aberkennung der Fahrberechtigung und überlas-sen es dem Wohnsitzstaat, ob und wie er ein im Ausland begangenes Strassenverkehrsdelikt ahndet. Im Bereich der grenzüberschreitenden Vollstreckung(shilfe) von Bus-sen und Geldstrafen im Zusammenhang mit Strassenver-kehrsdelikten besteht eine wirkungsvolle, jedoch noch ungenutzte Kompetenz des Bundesrates zum Abschluss völkerrechtlicher Verträge.

IV. Fazit

Es bestehen in Bezug auf die Anerkennung und Vollstre-ckung von ausländischen Strassenverkehrsmassnahmen und -sanktionen für die Schweiz nur wenige internatio-nale Verträge, welche einen Durchsetzungsmechanismus normieren. Als Reaktion auf diese Unzulänglichkeiten wurde zumindest für den Bereich der grenzüberschrei-tenden Vollstreckung von Bussen und Geldstrafen Art. 106a SVG erlassen. Die aus ihm fliessende Kompe-tenz des Bundesrats zum Abschluss neuer völkerrechtli-cher Verträge auf diesem Gebiet hat dieser bis dato jedoch noch nicht ausgeschöpft.

tionalstrassenabgabegesetz vom 30. Januar 2008, BBl 2008 1353; Botschaft Änderung SVG (FN 3), 7620; scherrer (Fn 9), 256 ff. Die Norm trat am 1. Januar 2013 in Kraft.

86 WeissenberGer (Fn 28), Art. 106bis N 5; BBl 2010 8447, 8446. Gemäss schriftlicher Auskunft des Bundesamts für Strassen ASTRA vom 18. September 2015 nutzte der Bundesrat seine neue Kompetenz noch nicht, weil zurzeit innerstaatlich prioritärere Pro-jekte verfolgt werden und zudem noch keine Anfragen von allfälli-gen Vertragspartnern vorliegen.

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F a b i a S p i e s s

AJP/PJA 11/2015

die effektive Vollstreckung für Bagatellfälle deutlich er-leichtert würde.

Bei der Entscheidung, ob die Schaffung eines direkten Durchsetzungsmechanismus von ausländischen Entschei-den im Zusammenhang mit Strassenverkehrsdelikten in der Schweiz sinnvoll ist, müssen m.E. auch spezial- und generalpräventive Überlegungen in die Waagschale ge-worfen werden: Bis anhin suchen in der Schweiz ansäs-sige Motorfahrzeuglenker mitunter gezielt ausländische Autobahnen auf, um die Leistungsgrenzen ihrer Fahrzeu-ge auszureizen. Durch ihr Verhalten gefährden sie sich und andere Verkehrsteilnehmende. Bestünde ein effektiver Durchsetzungsmechanismus, könnte dieser eine ähnliche oder gleiche präventive Wirkung wie das in der Schweiz bestehende Massnahmen- und Sanktionensystem entfal-ten. Bei der Schaffung eines solchen Durchsetzungsme-chanismus müssten m.E. aufgrund des Legalitätsprinzips und des Betroffenenschutzes in die entsprechenden lan-des- und völkervertraglichen Rechtsgrundlagen klare Re-gelungen über die für den Erlass zuständige Behörde, das auf den Entscheid anwendbare Verfahren und den einzu-schlagenden Rechtsmittelweg Eingang finden.

die Anforderungen eines solchen «Massengeschäfts» mit vertretbarem Aufwand bewältigt, wäre dieses Negativar-gument entkräftet.

Bei der Ermittlung eines ausgleichherstellenden Voll-streckungsmechanismus lohnt sich der Blick über den Tellerrand und auf den Rahmenbeschluss 2005/214/JI der Europäischen Union (EU) über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geld-strafen und Geldbussen90: Ausländische rechtskräftige Entscheidungen von einer nicht-gerichtlichen91 oder ge-richtlichen Behörde über die Zahlung einer Geldstrafe oder Geldbusse müssen ohne Prüfung der beidseitigen Strafbarkeit in einem anderen EU-Mitgliedstaat voll-streckt werden, wenn es sich dabei um eine Katalogtat handelt (Art. 4 i.V.m. Anhang Rahmenbeschluss). Des Weiteren darf kein Ausschlussgrund wie beispielsweise das Nichterreichen des Mindeststrafbetrags von 70 Euro (Art. 7 Rahmenbeschluss) vorliegen. In dem vom Rah-menbeschluss normierten Vollstreckungssystem ist es un-erheblich, ob die zu vollziehende Sanktion aus innerstaat-licher Sicht verwaltungsrechtlicher oder strafrechtlicher Natur ist.

Zu begrüssen ist die im Rahmenbeschluss normierte Hürde des Mindestbetrags der zu vollstreckenden Bussen. Diese Regelung ermöglicht die Ausklammerung von Ba-gatellfällen aus dem Anwendungsbereich und hilft, den Kosten-Nutzen-Aufwand für die Ahndung eines ausländi-schen Strassenverkehrsdelikts in eine bessere Balance zu bringen. Allerdings erscheinen 70 Euro m.E. als eine zu geringe Grenze. Diese vermag den Verwaltungsaufwand im Einzelfall wohl nur ansatzweise auszugleichen. Weiter standardisiert das mit «Bescheinigung» betitelte Formular im Anhang des Rahmenbeschlusses die Anerkennungs-modalitäten und reduziert den Verwaltungsaufwand im Einzelfall.

Bei der Schaffung neuer Vollstreckungsmechanismen in künftigen bilateralen Abkommen könnte sogar noch weiter gegangen werden: Eine Erweiterung könnte darin bestehen, dass die ausländische Behörde für die Behand-lung von kleineren Fällen (z.B. bei Bussen bis zu einem gewissen Geldbetrag) mit einer direkten Eintragungs-kompetenz in das ADMAS ausgestattet würde. Dies hätte zur Folge, dass bis zu diesem Geldbetrag ein einheitlicher Rechtsraum zwischen den Nachbarstaaten geschaffen und

90 Rahmenbeschluss 2005/214/JI, ABl. L 76 vom 22. März 2005, 16 ff.

91 Eine nicht-gerichtliche Behörde ist nur dann entscheidbefugt, wenn die Überprüfungsmöglichkeit durch eine gerichtliche Behörde be-steht (Art. 1 Abs. 1 lit. a Rahmenbeschluss).