Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und...

57
Leitung: Prof. Dr. Gangolf Hübinger Wissenschaftliche Mitarbeit: Dr. Barbara Picht Max Spohn, Ewa Dąbrowska, Esther Chen DEUTSCH-POLNISCHE WISSENSCHAFTSSTIFTUNG POLSKO-NIEMIECKA FUNDACJA NA RZECZ NAUKI Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts- kulturen (1890 – 1970) Forschungsprojekt – Abschlußbericht

Transcript of Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und...

Page 1: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

Leitung: Prof. Dr. Gangolf HübingerWissenschaftliche Mitarbeit:Dr. Barbara PichtMax Spohn, Ewa Dąbrowska, Esther Chen

DEUTSCH-POLNISCHEWISSENSCHAFTSSTIFTUNG

POLSKO-NIEMIECKAFUNDACJA NA RZECZ NAUKI

Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts-kulturen (1890 – 1970)Forschungsprojekt – Abschlußbericht

Page 2: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

1

Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschaftskulturen (1890 – 1970)

Forschungsprojekt an der Europa-Universität Viadrinagefördert von der Deutsch-Polnischen Wissenschaftsstiftung DPWS

Leitung: Prof. Dr. Gangolf HübingerWissenschaftliche Mitarbeit: Dr. Barbara PichtMax Spohn, Ewa Dąbrowska, Esther Chen

Page 3: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

2

Inhaltsverzeichnis

Abschlußbericht ………................................................................…............……………………………….………. S. 6

Vier leitende Fragen ………………………….........................................................................………..…….……. S. 7

Erprobung der Forschungsfragen im Rahmen zweier deutsch-polnischer Workshops, am Beispiel des polnischen Soziologen Florian Znaniecki, der polnischen Historiker Oskar Halecki und Jan Karol Kochanowski sowie am Beispiel polnischer Zeitschriften als Medien der Wissenschaftskommunikation ………………………………………………………………..…... S. 7

Buchprojekt „Wissenschaften zwischen den Fronten des Kalten Krieges (1945 – 1970)“ von Barbara Picht ………………………………………................................................................................…….. S. 9

Dissertationsprojekt „Stefan Czarnowski als ‚Klassiker’ der europäischen Sozial- undKulturwissenschaften“ von Max Spohn ………………....................................................................…… S. 11

Internationale Tagung „Europäische Wissenschaftskulturen und politische Ordnungen in der Moderne (1890–1970)“ am Historischen Kolleg München .............................................. S. 13

Deutsch-polnischer Workshop an der Nikolaus Kopernikus Universität Toruń ....………..…… S. 14

Kooperation mit der neu gegründeten Zeitschrift „Rocznik Historii Socjologii“(Jahrbuch für Soziologiegeschichte) …................................................................………………….…...... S. 15

Deutsch-polnische Tagung „Der Erste Weltkrieg unter dem Gesichtspunkt der deutsch-polnischen Beziehungen“ in Trygłow (Trieglaff) …….................................….….…… S. 15

Internationale Tagung „Die Hauptfaktoren und Grundzäsuren des deutschpolnischenKulturtransfers im 19. und 20. Jahrhundert” an der Universität Wrocław ...........…………….… S. 15

Kolloquiumsvortrag „Polen und die ‚polnische Frage’ in Max WebersSozialtheorie“ von Marta Bucholc ….................................................................…………………………….. S. 16

Page 4: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

5

Dokumente …………………………………………………...............................................................................……. S. 17

1 Chen, Esther: Oskar Halecki, der Europa-Historiker ……......................................................… S. 17

2 Dąbrowska, Ewa : Der Warschauer Historiker Jan Karol Kochanowski ………..………...…… S. 24

3 Hübinger, Gangolf; Picht, Barbara; Dąbrowska, Ewa: Geschichtskulturen und Wissenschaftspolitik. Die Internationalen Historikerkongresse vor dem Ersten Weltkrieg …….......................... S. 30

4 Dąbrowska, Ewa: Bericht zur Auswertung polnischer Zeitschriften als Medien der Wissenschaftskommunikation …………...........................................................................…… S. 45

5 Picht, Barbara: Klassiker der Kulturwissenschaften im Kalten Krieg …............................. S. 48

6 Spohn, Max: Polen und Europa im Werk von Stefan Czarnowski. Neue Impulse für die Erforschung der Geschichte der polnischen Soziologie …….......… S. 58

7 Hübinger, Gangolf: Sozialwissenschaftliche Avantgarden. Das „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ (1904 – 1933) …………...................... S. 70

8 Hübinger, Gangolf: „Mitteleuropa“ und Polen. Deutsche Ordnungsvorstellungen 1915 – 1917 ……….............................................………….…….. S. 85

9 Mai 2009 Poznán, Uni-On Okt. 2009, S. 12………........................................…………………..…...... S. 96

10 Feb. 2010 Frankfurt/Oder, Uni-On April 2010, S. 17………….......................……………………....…. S. 97

11 Mai 2011 München, http://hsozkult.geschichte.huberlin.de/tagungsberichte/id=3768 &count=46&recno=5&sort=datum&order=down&search=wissenschaftskultur ....... S. 98

12 Dez. 2011 Preis des polnischen Botschafters, http://www.cbh.pan.pl/index.php? option=com_content&view=article&id=228&Itemid=205&lang=de ……..........……....…. S. 104

13 Mai 2012 Toruń, Uni-On Okt. 2012, S. 30 ….............................................………………..……….……. S. 106

14 Bibliographie der projektbezogenen Publikationen …..................................................……… S. 107

Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschaftskulturen (1890 – 1970)

Forschungsprojekt an der Europa-Universität Viadrinagefördert von der Deutsch-Polnischen Wissenschaftsstiftung DPWS

An der Europa-Universität Viadrina wurde unter Leitung von Prof. Dr. Gangolf Hübinger das For-schungsprojekt „Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschaftskulturen“ durchgeführt, das die Deutsch-Polnische Wissenschaftsstiftung DPWS in einem ersten Vergabeverfahren für den Zeitraum vom 01.01.2009 bis 31.03.2010 und mit einer Folgebewilligung bis zum 31.12.2012 weiter gefördert hat. Kooperationspartner waren Prof. Dr. Andrzej Przyłębski von der Philosophischen Fakultät der Adam-Mickiewicz-Universität Poznań, die Bayerische Akademie der Wissenschaften in Mün-chen, das Historische Kolleg München, Dr. habil. Małgorzata Klentak-Zabłocka und Dr. habil. Maria Gierlak vom Institut für Germanistik der Nikolaus Kopernikus Universität Toruń und Prof. Dr. Włodzimierz Wincławski vom Institut für Soziologie der Nikolaus Kopernikus Universität Toruń. Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA. Der vorliegende Bericht stellt die Projektfragen, -themen und -ergebnisse vor. Der Abschluß-bericht verweist dabei auf die im ausführlichen Dokumentationsteil enthaltenen Aufsätze, Tagungs- und Presseberichte und auf die Bibliographie der projektbezogenen Publikationen. Mit dieser Dokumentation stellt das Projektteam die Ergebnisse seiner Arbeit für die weiter-führende Forschung zur Verfügung. Eine digitale Version desselben Berichtes ist, erweitert um die im Rahmen des Projektes erstellte Gesamtbibliographie zum Forschungsthema, einzusehen unter http://www.kuwi.europa-uni.de/de/lehrstuhl/kg/kulturneu/index.html.

Page 5: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

6 7

Abschlußbericht

Ins Zentrum der historisch arbeitenden Kulturwissenschaften rückt immer stärker die gesell-schaftliche Produktion von Wissen und der dynamische Prozeß seiner internationalen Zirkulation. Als eine der folgenreichsten Interventionen der jüngeren Wissenschaftsgeschichte gilt, dass die Beziehungen zwischen Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft auf reziproke Weise verstanden und untersucht werden müssen. Hohe Plausibilität besitzt deshalb die These, die Geschichte des modernen Europa und der europäischen Integration sei stärker auch als „neue Wissenschafts-geschichte“ zu erschließen. Das Projekt „Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschaftskulturen“ leistet hierzu einen Forschungsbeitrag. Unter besonderer Berücksichtigung der polnischen, französischen und deutschen Verflechtungen wissenschaftlichen Wissens arbeitet es strukturelle Muster dieses Prozesses (kognitiver Gehalt und Kulturbedeutung wissenschaftlichen Wissens, mediale Zirkulation, kommunikative Netzwerke, institutionelle Ordnungen, kulturelle Einbindung und Konflikte) für den Zeitraum von um 1900 bis etwa 1970 heraus und demonstriert sie zugleich an signifikanten empirischen Fallbeispielen. Der Akzent liegt damit auf den Kultur- und Sozialwis-senschaften und ihrer Bedeutung für die „Selbstkonstruktion“ Europas in der „Hochmoderne“ (Ulrich Herbert). Es geht darum, „eine Dimension des Europäischen zu gewinnen, die die Geschichtswissen-schaft nicht einfach postulieren kann, die sie sich vielmehr erarbeiten muss. Dies kann in der Tat dadurch besonders gut geschehen, dass man sich mit Übertragungen, Lernvorgängen, Kulturimporten, dem Fremden im Eigenen, usw., beschäftigt. Muss die Komparatistik aus der Logik ihres Frageansatzes heraus das Augenmerk auf Unterschiede lenken, um dann erst Gemein-samkeiten feststellen zu können, so tendiert die Transferanalyse dahin, mit dem Gemeinsamen zu beginnen und von dort dessen unterschiedliche Ursprünge zu erschließen. Sie repräsentiert damit gewissermaßen eine höhere Integrationsstufe europäischer Bewusstseinsbildung.“1

1 Osterhammel, Jürgen (2003): Transferanalyse und Vergleich im Fernverhältnis. In: Kaelble, Hartmut; Schriewer, Jürgen (Hg.): Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt/M.: Campus, S. 439-466, hier S. 440.

Vier leitende Fragen

In einem ersten Schritt wurde ein konzeptionell-methodischer Analyserahmen für die Wissen-schafts-Transferforschung entwickelt. Die wichtigsten Kriterien, die für den Vergleich und die Verflechtung europäischer Wissenschaftskulturen maßgeblich sind, wurden in vier leitenden Fragen formuliert, die analytisch unterschieden sind, aber in einem Wirkungszusammenhang stehen: 1. In welchen „Denkstilen“ (Ludwik Fleck) bewegen sich wissenschaftliche Akteure und bilden sich intellektuelle Netzwerke (transnationale Kooperation und Konkurrenz)? 2. Welche Wissensordnungen sind erkennbar, in denen sich unterschiedliche Kultur- traditionen niederschlagen (z.B. Zeit- und Zivilisationsdiagnosen)? 3. In welchen Medien und Institutionen verstetigen sich Wissenschaftskulturen und zirkuliert Wissen (wissenschaftliche und kulturpolitische Zeitschriften / Forschungs- institutionen)? 4. Wie verläuft der dynamische Prozess von Aneignung und Abwehr fremder Wissens- bestände in die eigene Wissenschaftskultur (Transfer- und Verflechtungsprozesse)?

Erprobung der Forschungsfragen im Rahmen zweier deutsch-polnischer Workshops, am Beispiel des polnischen Soziologen Florian Znaniecki, der polnischen Historiker Oskar Halecki und Jan Karol Kochanowski und anhand polnischer Zeitschriften als Medien der Wissenschaftskom-munikation

In einem zweiten Schritt wurden diese Analysedimensionen der modernen Wissenschaftsfor-schung auf spezifische Fallbeispiele der europäischen Konstellationen des 20. Jahrhunderts angewandt. Den Diskussionsrahmen dafür bildeten zwei deutsch-polnische Workshops der Europa-Universität Viadrina und der Adam-Mickiewicz-Universität Poznań im Mai 2009 und Februar 2010 (s. Dokument 9 u. 10). Thema waren signifikante Texte zur Zivilisationsanaylse aus der europäischen Zwischen- und Nachkriegszeit. Im Sinne des Projekts wurde nach per-sönlichen und nationalkulturellen Eigenarten, aber auch nach der internationalen Zirkulation von Zivilisationsideen und von kulturellem Wissen gefragt. In den anschließenden Gesprächen unter den teilnehmenden auswärtigen Spezialisten wurden Fragestellung, Methode und Ziele des Projektes als vielfach anschlußfähig und erkenntnisfördernd beurteilt. Die polnischen Positionen und die Rolle der polnischen intellektuellen Akteure im Wissen-schaftstranfer wurden ein Schwerpunkt der Projektarbeit an der Europa-Universität Viadrina. Dabei standen der Soziologe Florian Znaniecki und die Historiker Oskar Halecki (s. Dokument 1)

Page 6: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

8 9

und Jan Karol Kochanowski (s. Dokument 2) im Zentrum der Recherchen. Untersucht wurden ihre Einbindung in internationale wissenschaftliche Strukturen, ihre Auslandserfahrung und ihre Werke im Hinblick darauf, inwieweit sie auf zeitgenössische wissenschaftliche Methoden zurückgriffen bzw. von anderen Wissenschaftlern entwickelte Konzepte benutzten. Informatio-nen, Quellen und Sekundärliteratur zu internationalen Kongressen und internationalen wissen-schaftlichen Organisationen der Zwischen- und Vorkriegszeit wurden gesammelt, darunter zum Internationalen Ausschuß für geistige Zusammenarbeit, also zur Organisation de Coopération Intellectuelle, die beim Völkerbund angesiedelt war, und in der Oskar Halecki Polen vertrat. Die Kategorien Denkstil, intellektuelle Akteure und ihre Netzwerke, Wissensordnungen und Wissenstransfer wurden am Beispiel Znanieckis, Haleckis und Kochanowskis paradigmatisch angewandt und haben sich in der Analyse bewährt. Die Bedeutung der internationalen Historikerkongresse als Orte des Wissenstransfers wurde am Beispiel Haleckis augenfällig. Gangolf Hübinger, Barbara Picht und Ewa Dąbrowska haben zu diesem Thema unter dem Titel „Cultures historiques et politique scientifique. Les congrès internationaux des historiens avant la Première guerre mondiale“ einen gemeinsamen Aufsatz geschrieben, der 2010 in der „Revue Germanique Internationale“ als ein Teilergebnis des DPWS-Projektes veröffentlicht wurde (s. Dokument 3). Durch die Forschungen zu Znaniecki, Halecki, Kochanowski und zum institutionellen Rahmen der polnischen Soziologie, Ökonomie und Geschichtswissenschaft wurde die Aufmerksamkeit der Projektmitarbeiter und -mitarbeiterinnen auf die Bedeutung der sozialwissenschaftlichen, ökonomischen und historischen Zeitschriften im Polen der Zwischenkriegszeit gelenkt. Sie erweisen sich als eine äußerst ergiebige, weitgehend unausgewertete Quelle für die Zivilisa-tions- und Wissenschaftsreflexion und für den Wissenstransfer dieser Zeit (s. Dokument 4). Hier sind zu nennen: Przegląd socjologiczny (Soziologische Rundschau), Nauka polska (Polni-sche Wissenschaft), Organon, die Roczniki dziejów społecznych i gospodarczych (Jahrbücher für Wirtschafts- und Sozialgeschichte), Ruch prawniczy, economiczny i socjologiczny (Die juristische, ökonomische und soziologische Bewegung), sowie die vom Soziologen Stefan Czarnowski von 1912-1913 in Warschau herausgegebene politisch-kulturelle Zeitschrift Tygodnik polski (Polnische Wochenschrift). Auf diese Weise wurde das Panorama der polnischen Wissenschaftslandschaft erweitert um so wichtige Akteure wie den Herausgeber des Przegląd socjologiczny, Rektor der Universität Łódz und Entwickler der „autobiografischen Methode“ Józef Chałasiński (1904-1979), den Wirt-schafts- und Sozialhistoriker Franciszek Bujak (1875-1953), den Historiker Marceli Handelsman (1882 – 1945), den Ökonomen und Sozialwissenschaftler Leopold Caro (1869-1939), den Theater-soziologen Aleksander Hertz (1895-1983) und den Ökonomen und Soziologen, Leiter des Instytut gospodarstwa społecznego (Institut für Sozialwirtschaft), Ludwik Krzywicki (1859-1941).

Buchprojekt „Wissenschaften zwischen den Fronten des Kalten Krieges (1945 – 1970)“von Barbara Picht

Barbara Picht widmete sich im Rahmen der Projektarbeit den europäischen Neuordnungen nach 1945 und hier der vergleichenden Frage, in welchen Denkstilen die Kulturwissenschaften mit ihren intellektuellen Avantgarden in beiden Lagern des Kalten Krieges diese krisenhaften Neuordnungen begleitet haben. Ihr Ziel ist eine Buchpublikation zum Thema „Wissenschaften zwischen den Fronten des Kalten Krieges (1945-1970)“ (Arbeitstitel). Die europäische Situation nach 1945 unterschied sich von der in den USA und der UdSSR. Notwendig war hier, den jeweiligen nationalen wie europäischen „Ort“ zu bestimmen, an dem sich die europäischen Gesellschaften sahen und den sie im Ost-West-Spannungsfeld konkur-rierender Vorstellungen von politischer und gesellschaftlicher Ordnung (kultur-) historisch zu legitimieren versuchten. Nicht das in den Dienst der Politik gestellte Expertenwissen rückt damit in den Blick, sondern Entstehen und Wirkungskraft historischer Selbstdeutungen, mit denen Kultur- und Sozialwissenschaften eigenmotiviert zur Gestaltung Europas nach 1945 beizutragen beanspruchten. In diesen Aushandlungsprozessen spielten auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs Fragen nach der Interpretation der (jüngsten) Geschichte eine wichtige Rolle, nach der (Neu-) Bewertung der sozialen und politischen Ordnungen, wie sie bisher galten oder neu zu etablieren waren, und nach den damit verbundenen nationalen, europäischen oder sich international verstehen-den Identitätskonstruktionen. Die Geschichts- und Literaturwissenschaften hatten an diesen Debatten regen Anteil. Mit der Betrachtung dieser Disziplinen wählt Barbara Picht einen kulturwissenschaftlichen Ansatz, der einen seiner Schwerpunkte auf Literatur und Geschichte als zentralen Orten der (nationalen) Selbstauslegung legt und fragt, wie Wissensbestände der europäischen Literaturen zu einem Argument wurden in den kulturhistorischen Konzepten, mit denen Wissenschaftler die Machtkonstellationen des Kalten Krieges zu unterwandern oder auch zu verfestigen suchten. Je nach nationaler Perspektive und je nach politischem Ziel wurden dabei dieselben literarischen Entwürfe als Argumente für durchaus unterschiedliche, wenn nicht entgegengesetzte Modelle der europäischen Ordnung im Systemkonflikt der Nachkriegszeit angeführt. Orientiert an den projektleitenden Fragen, ist die Monographie in vier Teilen konzipiert: Auf der Ebene der Akteure forscht Barbara Picht zu je zwei Persönlichkeiten aus Frankreich, aus den beiden Deutschlands und aus Polen, die an den wissenschaftlichen Aushandlungsprozessen nach 1945 einen wichtigen Anteil hatten: Fernand Braudel und Robert Minder in Frankreich, Werner Conze und Ernst Robert Curtius in der BRD, Walter Markov und Werner Krauss in der DDR und Oskar Halecki und Czesław Miłosz in Polen. Die Exilperspektive Haleckis und Miłoszs

Page 7: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

10 11

ermöglicht es dabei, offen oppositionelle Haltungen gegenüber dem kommunistischen System mit einzubeziehen. Barbara Picht vergleicht die wichtigsten Nachkriegswerke dieser Akteure unter besonderer Berücksichtigung der nationalen und Europakonzeptionen, die sie mit diesen Werken in die Nachkriegsdebatten einbrachten. So entwarfen beispielsweise Halecki und Curtius beide ein Europa-Konzept der langen Dauer, wobei sie damit jeweils andere politische Ziele verfolgten. Dabei ist bemerkenswert, daß Halecki die lange Dauer eines von ihm definierten europäischen Jahrtausends aus der amerikanischen Exilperspektive als abgeschlossen betrachtet2, während Curtius zumindest in den unmittelbaren Nachkriegsjahren die unveränderte Wirkungskraft dieses Ordnungsmodells auch angesichts der signifikanten politischen Veränderungen in Europa nicht bezweifelt3. Im zweiten Teil der Monographie werden die „gemeinsamen“ (europäischen) Wissensbestände untersucht, auf welche die Autoren in diesen Werken Bezug nehmen. Sie verbanden mit die-sen Bezugnahmen durchaus unterschiedliche wissenschaftliche und/oder politische Ziele, die herausgearbeitet werden. Die Kulturtheorie Arnold Toynbees ist ein Beispiel für einen solchen „gemeinsamen“ Wissensbestand (s. dazu ausführlich Dokument 5). Im dritten Teil werden Beispiele des Wissens(chafts)transfers anhand der wichtigsten wissen-schaftlichen und/oder kulturpolitischen Zeitschriften untersucht, die von den Akteuren genutzt wurden. Um die zugehörigen Fragen beantworten zu können, werden bislang unerschlossene Quellenbestände ausgewertet: Die umfangreichen Herausgeberkorrespondenzen der Zeitschrif-ten „Merkur“ und „Sinn und Form“ im Deutschen Literaturarchiv Marbach, die Korrespondenz aus dem Nachlass Oskar Haleckis am Polish Institute of Arts and Sciences in America (PIASA) in New York; Korrespondenz aus dem Nachlass von Czesław Miłosz im Archiv der „Beinecke Rare Book and Manuscript Library“ der Yale University, darunter beispielsweise der Briefwechsel mit der polnischen Exilzeitschrift „Kultura“ und ihrem Herausgeber Jerzy Giedroyc. Die Auswertung dieser Archivmaterialien ermöglicht weiteren Aufschluß über die Rolle polni-scher Wissenschaftler im Exil und über ihre Bedeutung für die Eröffnung institutioneller Wege für den europäischen und transatlantischen Wissenschaftstransfer. Der vierte und abschließende Teil der Monographie untersucht das politische Engagement der Akteure und den darin zum Ausdruck kommenden Zusammenhang von Wissensordnungen und politischen Ordnungen. Zum politischen Engagement werden dabei nicht allein ein solch ganz direkter „Einsatz“ an den Fronten des Kalten Krieges gezählt wie Conzes Rede über „Grundlagen und Ziele der sowjetischen Politik“ vor dem 6. Bundesparteitag der CDU im April 1956 oder Miłosz

2 Halecki, Oskar (1966): Das europäische Jahrtausend. (The Millennium of Europe (1963) [dt.]). Salzburg: Otto Müller.3 Curtius, Ernst Robert (1948): Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern: Francke.

Tätigkeit in Polens diplomatischem Dienst von 1945 bis 1949. Auch wenn Markov das von Lamp-recht gegründete „Institut für Kultur- und Universalgeschichte“ an der Universität Leipzig unter seiner Rektorenschaft in andere „theoretische und ideologische Bahnen“ zu führen entschlossen ist, ohne dabei dessen universales Geschichtsverständnis aufgeben zu wollen4, oder wenn Minder eine „intellektuelle Deutschlandpolitik“ betreibt durch seine Reden vor der „Mainzer Akademie für Wissenschaften und Literatur“ und der Darmstädter „Akademie für Sprache und Dichtung“5, dann wird dies als Politik mit den Mitteln der Wissenschaft verstanden und in die vergleichende Analyse einbezogen. Die Verzahnung mit den anderen im Projekt untersuchten Themen und Zeiträumen ergibt sich dabei unter anderem dadurch, daß sich Transfer nach 1945 nicht allein räumlich vollzog, sondern auch zeitlich, da die Wissenschaftstraditionen vor 1933 zum Ausgangspunkt der Nach-kriegskonzeptionen gemacht und zugleich kritisch hinterfragt wurden.

Dissertationsprojekt „Stefan Czarnowski als ‚Klassiker’ der europäischen Sozial- und Kulturwissenschaften“ von Max Spohn

Parallel zur Projektmitarbeit schrieb Max Spohn seine Masterarbeit über den polnischen So-ziologen und Kulturhistoriker Stefan Zygmunt Czarnowski (1879-1937), die als Baustein einer Wissensgeschichte der Verflechtung zwischen polnischer, deutscher und französischer Wis-senschaftskultur konzipiert war. Ihr Gegenstand diente als Fallbeispiel für die vielfachen, durch Bildungsmigrationen bedingten Transferprozesse in den Sozial- und Kulturwissenschaften „um 1900“ und in der Zwischenkriegszeit. Die Masterarbeit wurde bei der Verleihung des „Wissen-schaftlichen Förderpreises des Botschafters der Republik Polen“ im Dezember 2011 mit dem Son-derpreis der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit ausgezeichnet (s. Dokument 12). Mit seinem Promotionsprojekt untersucht Max Spohn den wichtigsten Vermittler der fran-zösischen Soziologie in der Tradition Émile Durkheims und den Mitbegründer der polnischen humanistischen Soziologie (s. Dokument 6).6 Dieser trat durch eine intensive publizistische Tätigkeit als wissenschaftlicher Modernisierungsagent des historischen und sozialen Denkens

4 Markov, Walter (1989): Zwiesprache mit dem Jahrhundert. Dokumentiert von Thomas Grimm. Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag, S. 193.5 Kwaschik, Anne (2008): Auf der Suche nach der deutschen Mentalität. Der Kulturhistoriker und Essayist Robert Minder. Göttingen: Wallstein, S. 158.6 Szacki, Jerzy (1972): „Socjolog, polihistor.“ Kultura. 26. Marzec. Szacki, Jerzy (1995): Sto lat socjologii polskiej. Od Supińskiego do Szczepańskiego.Warszawa: Wydawn. Naukowe PWN.

Page 8: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

12 13

in Polen auf und prägte als Professor für Soziologie und Kulturgeschichte das intellektuelle Milieu Warschaus bis zu seinem Tod 1937. Der Überlieferungsprozess von Stefan Czarnowski verlief durch die Zäsuren des Zweiten Weltkriegs und der Sowjetisierung Polens hingegen diskontinuierlich. Erst nach 1989 setzte ein Erfahrungswandel ein und war ein ungehinderter Aushandlungsprozess über die Frage, wer als nationaler „Klassiker“ der polnischen Soziologie gelten soll, möglich. Die Vergewisserung eigener kultureller Traditionen ging nun einher mit einem erneuerten Interesse für die Geschichte der polnischen Soziologie sowie der Forderung, polnische Strömungen und Akteure in den europäischen Kanon der Wissenschaftsgeschichte einzufügen – eine Diskussion, die sich aber weiterhin größtenteils auf den nationalkulturellen Rahmen beschränkte.7 Die analogen Erkenntnisinteressen zwischen soziologiegeschichtlichen Forschungen in Polen und den im Rahmen von Europa, Global- und Verflechtungsgeschichte verstärkt erforschten Wissenstransfers geben den Anlass, einen in Deutschland weitestgehend unbekannten Gegenstand der polnischen Wissensgeschichte weiter zu erforschen, denn Stefan Czarnowski war auch ein „kultureller Grenzgänger“, der als ostmitteleuropäischer Akteur eine generationsspezifische Erfahrung von Migration und Exil durchlebte.8

Nach ersten Studien in Leipzig bei Wilhelm Wundt und Karl Lamprecht ging Czarnowski nach Berlin, wo er Vorlesungen von Georg Simmel hörte. Deutschland war um die Jahrhundertwende geprägt vom „Nationalitätenkampf“, auch im akademischen Feld: Aufgrund der Teilnahme an einer Demonstration gegen die anti-polnischen Aussagen des Historikers Theodor Schiemann und der Mitgliedschaft in polnischen Studentenverbänden wurde Czarnowski verhaftet und des Landes verwiesen. 1902 zog es ihn daher in den „sicheren Hafen“ der polnischen Intelli-genz im Exil, nach Paris. Dort hörte er Vorlesungen vom soeben an die Sorbonne berufenen Durkheim. 1911 wurde er zum ersten polnischen élève diplomé der École Pratique des Hautes Études. Nach dem Ersten Weltkrieg – Czarnowski arbeitete ab 1914 als Militärdozent in den Polnischen Legionen und kämpfte von 1920-21 im Polnisch-Sowjetischen Krieg – setzte er sich ein für den Aufbau wissenschaftlicher Institutionen der II. Polnischen Republik. In dieser Zeit hielt er den Kontakt zu französischen Kollegen. Er war tätig an internationalen Institutionen sowie Teilnehmer an internationalen Wissenschaftskongressen. Die Rolle von Stefan Czarnow-ski als Wissensvermittler und wissenschaftlicher Modernisierungsagent wurde bisher nicht systematisch untersucht. Es fehlt eine Untersuchung, die verschiedene historiographische

7 Mucha, Janusz (2009): „Sociology in Central and Eastern Europe or East European Sociology: Historical and Present“. In: Sociológia. Slovak Sociological Review. 41,6. S. 507-525.8 Karady, Victor (2004): „Student mobility and Western Universities: Patterns of unequal Exchange in the European Academic Market”. In: Charle, Christophe/ Schriewer, Jürgen/ Wagner, Peter (Hg.) Transnational intellectual networks. Frankfurt am Main: Campus, S.375. Micińska, Magdalena (2008): Inteligencja na rozdrożach. 1863 - 1918. Warszawa: PTN.

Perspektiven unter einer wissensgeschichtlichen Fragestellung zusammenführt und dabei polnische, deutsche, französische sowie englische Quellen bzw. Sekundärliteratur auswertet. Max Spohn erstellte auf einer ersten Forschungsreise nach Paris im Nationalarchiv und Rek-toratsarchiv der Sorbonne Forschungsanfragen zum Verbleib sämtlicher Universitätsakten sowie dossiers scolaires, die Hinweise auf die Studienzeit von Stefan Czarnowski enthalten. Zwar wurden keine Aktenbestände aus der ersten Phase der École pratique (bis 1947) an die Zweigstelle des Nationalarchivs in Fontainebleau überstellt, dennoch liessen sich vor Ort in Kooperation mit den Archivaren erste Kopien und eine detaillierte fiche de recherche mit einer Liste von Aktenbeständen erstellen, die einer systematischen Auswertung zur Person Stefan Czarnowski zugeführt werden müssen und ab Frühjahr 2013 in Pierrefitte sur Seine (Paris) zugänglich sein werden. Nach einer Projektvorstellung mit dem Präsidenten der Association Institut Littéraire, Wojciech Sikora, konnte Max Spohn auf dieser Reise auch mit dem Archivar Leszek Czarnecki das Archiv der Exilzeitschrift „Kultura“ begehen, Einsicht in die umfangreichen Dokumentenbestände nehmen (darunter eine Sammlung seltener Zeitungen aus der Zwischenkriegszeit), sowie die Korrespon-denz zwischen Jerzy Giedroyc und Czesław Miłosz besichtigen und Kopien anfertigen. So konnten durch die Pariser Forschungsreise neue Quellenbestände sowohl für das Czarnowski-Projekt als auch für Barbara Pichts Buchprojekt über die europäischen Wissenschaftsverflechtungen zur Zeit des Kalten Krieges zugänglich gemacht werden.

Internationale Tagung „Europäische Wissenschaftskulturen und politische Ordnungenin der Moderne (1890–1970)“ am Historischen Kolleg München

Im Mai 2011 lud Prof. Hübinger als Fellow am Historischen Kolleg München eine Gruppe aus-gewiesener Fachleute aus Polen, Frankreich und Deutschland zu einer Tagung zum Thema „Europäische Wissenschaftskulturen und politische Ordnungen in der Moderne (1890-1970)“ ein. In drei Sektionen wurde dort der gesamte Untersuchungszeitraum von 1890 bis 1970 an-hand der im Rahmen des Projekts erarbeiteten konzeptionell-methodischen Analysekriterien beleuchtet. Sichtbar wurde in den Vorträgen die Bedeutung einzelner Mittlerfiguren für den Wissenschaftstransfer, so beispielsweise Émile Durkheims für die sozialwissenschaftliche For-schung in Frankreich und Deutschland oder Zygmunt Łempickis für den deutsch-polnischen Kulturtransfer der Zwischenkriegszeit. Auch das Analysekriterium „Denkstandorte“ erwies sich als fruchtbar, wie beispielsweise der Vortrag über die Wissens- und Erfahrungsräume polnischer Naturwissenschaftler in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigte. Anhand des europäischen Sozialdarwinismus wurde das internationale Verflechtungspotential eines Wissenschaftskon-zepts analysiert, und das Beispiel Max Webers machte die Bedeutung politischer Umbruch- und

Page 9: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

14 15

Krisenzeiten für die Übersetzung und Einbindung dieses „Klassikers“ in die jeweilige nationale Wissenschaftskultur eindrucksvoll sichtbar (s. Dokument 11). Ein erfreulicher Konferenzertrag war zudem die Vertiefung der Zusammenarbeit mit der Nikolaus Kopernikus Universität Toruń. Die Georg-Simmel-Forscherin Dr. Monika Tokarzewska hatte bereits an dem von uns durchgeführten deutsch-polnischen Workshop vom Februar 2010 teilgenommen. Für die Münchener Konferenz konnten wir außerdem von der Universität Ústí nad Labem Prof. Dr. Karol Sauerland und die Germanistin Dr. habil. Maria Gierlak gewinnen. Die für die Projektfragen einschlägigen Ergebnisse ihrer Vorträge veranlaßten uns dazu, die Möglich-keit einer Kooperation der Europa-Universität Viadrina mit der Nikolaus Kopernikus Universität anzusprechen. Es folgte eine Einladung an die Universität Toruń, der wir im Oktober 2011 folgten. Vor Studierenden und Wissenschaftlern stellten wir dort das Projekt vor und verabredeten in der Folge die Durchführung eines gemeinsamen polnisch-deutschen Workshops für den Mai 2012. Der Besuch in Toruń diente außerdem der Kontaktaufnahme mit dem polnischen Soziologen Prof. Dr. Włodzimierz Wincławski, dem Herausgeber der neu gegründeten Zeitschrift Rocznik historii socjologii (Jahrbuch für Soziologiegeschichte).

Deutsch-polnischer Workshop an der Nikolaus Kopernikus Universität Toruń

Im Mai 2012 führten wir einen dritten deutsch-polnischen Workshop in Kooperation mit der Nikolaus Kopernikus Universität Toruń durch. Der Schwerpunkt lag nun auf den Transferbe-wegungen in den europäischen Literaturwissenschaften. Vorbereitet war der Workshop von Seiten der Europa-Universität Viadrina durch ein Projektseminar zum Thema „Europäische Wissenschaftskulturen in der Moderne“, in dem Prof. Hübinger und Dr. Picht mit den Studie-renden Vergleichsmöglichkeiten nationaler Wissenschaftskulturen in Europa methodisch und an Beispielen erarbeiteten. Europäische Zirkulationen von Wissensbeständen wurden auf dem Workshop in Toruń dann an Beispielen deutsch-polnischer Wissenschaftskommunikationen um die Jahrhundertwende, in der Zwischenkriegszeit und im Kalten Krieg vorgestellt und diskutiert (s. Dokument 13). Max Spohn, MA, referierte über den polnischen Soziologen Stefan Czarnowski (s. Dokument 6), Dr. Picht über Klassiker der Kulturwissenschaften im Kalten Krieg am Beispiel Arnold Toynbees und seiner Bedeutung für die Kulturgeschichtsschreibung von Fernand Braudel, Ernst Robert Curtius, Oskar Halecki und Werner Krauss (s. Dokument 5).

Kooperation mit der neu gegründeten Zeitschrift „Rocznik Historii Socjologii“(Jahrbuch für Soziologiegeschichte)

Mit Prof. Wincławski war bei unserem Besuch in Toruń im Oktober 2011 eine Zusammenarbeit vereinbart worden. Auf seine Empfehlung hin referierte die Doktorandin Marzena Kowalska von der Nikolaus Kopernikus Universität auf dem Thorner Workshop über polnische soziologische Zeitschriften der Vor- und Zwischenkriegszeit. Prof. Wincławski vereinbarte außerdem mit Prof. Hübinger und Max Spohn Beiträge für die von ihm neu gegründete Zeitschrift „Rocznik Historii Socjologii“ (Jahrbuch für Soziologiegeschichte) (s. Dokument 6 u. 7).

Deutsch-polnische Tagung „Der Erste Weltkrieg unter dem Gesichtspunkt der deutsch-polnischen Beziehungen“ in Trygłow (Trieglaff)

Im westpommerschen Trygłow (Trieglaff), das durch den dort geborenen Historiker Rudolf von Thadden zu einem Ort der deutsch-polnischen Versöhnung gestaltet worden ist, fand vom 13.-15. September 2012 eine Tagung in Kooperation mit der Univerität Stettin statt zum Thema: „Der Erste Weltkrieg unter dem Gesichtspunkt der deutsch-polnischen Beziehungen“. Diese Tagung bot einen Anwendungsfall für die Forschungsfragen des Projektes. Gangolf Hübinger referierte dort unter Fragestellungen des DPWS-Projektes zum Thema: „’Mitteleuropa’ und Polen. Deut-sche Ordnungsvorstellungen 1915-1917“. Im Ersten Weltkrieg wurde „Mitteleuropa“ zu einem politischen Leitbegriff, der die Spannung zwischen imperialem und nationalem Ordnungsdenken anzeigt und ein wichtiges Kriegsziel des Deutschen Reiches benannte. Und wer „Mitteleuropa“ sagte, mußte zur „Polenfrage“ Stellung nehmen. Der Beitrag zeigt auf, wie sich hier neben der Reichsleitung unter Kanzler Bethmann Hollweg und der Obersten Heeresleitung insbesondere nationalökonomische und sozialwissenschaftliche Experten engagierten. Als Foren wirkten der renommierte Verein für Sozialpolitik mit Gustav Schmoller oder der Arbeitsausschuß für Mitteleuropa mit Ernst Jäckh. Max Weber meldete sich in beiden Vereinigungen zu Wort (s. Dokument 8).

Internationale Tagung „Die Hauptfaktoren und Grundzäsuren des deutsch-polnischenKulturtransfers im 19. und 20. Jahrhundert” an der Universität Wrocław

Im Oktober 2012 nahm Barbara Picht auf Einladung der Universität Wrocław an der Internatio-nalen Tagung „Die Hauptfaktoren und Grundzäsuren des deutsch-polnischen Kulturtransfers im 19. und 20. Jahrhundert (Uwarunkowania i kluczowe cezury polsko-niemieckiego transferu

Page 10: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

16 17

kulturowego w XIX i XX wieku)” teil. Diese Tagung wurde ihrerseits von der DPWS gefördert. In der gemeinsamen Diskussion verzahnten sich so zwei DPWS-Projekte zu den Fragen nach Kul-tur- und Wissenstransfer auf ausgesprochen gewinnbringende Weise. Die Debatten in Wrocław zeigten die Relevanz und Tragfähigkeit der im Projekt „Europäische Wissenschaftskulturen“ erarbeiteten methodischen wie inhaltlichen Ergebnisse.

Kolloquiumsvortrag Marta Bucholc

Am 27.11.2012 wird Frau Ass. Prof. Dr. Marta Bucholc an der Europa-Universität Viadrina einen Kolloquiumsvortrag zu einem Themenaspekt der Projektarbeit halten unter dem Titel „Polen und die ‚polnische Frage’ in Max Webers Sozialtheorie“. Marta Bucholc vom Soziologischen Institut der Universität Warschau ist im akademischen Jahr 2012/13 Fellow am Käte Hamburger Kolleg „’Recht als Kultur’. Internationales Kolleg für Geisteswissenschaftliche Forschung“ in Bonn. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählen Theorien der Rationalisierung und des Kapitalismus, die Wissenssoziologie nach Karl Mannheim und die Bedeutung Max Webers für die polnischen Sozialwissenschaften. Sie ist darüber hinaus als Redakteurin mehrerer humanwissenschaftlicher Zeitschriften tätig. Auf der Internationalen Konferenz „Max Weber in der Welt“ im Juli 2012 in Bonn hielt sie einen viel beachteten Vortrag zum Thema „Die Reaktion polnischer Intellektueller auf Max Webers Polenschriften“. Durch ihren Vortrag und in der Diskussion setzen wir mit Frau Bucholc das Gespräch mit (aus-wärtigen) Spezialisten fort, mit denen wir seit Projektbeginn unsere Fragestellungen, Methoden und Ziele diskutiert haben.

Dokument 1

Esther Chen

Oskar Halecki, der Europa-Historiker

Dem Prozess internationaler Wissenschaftszirkulation soll im Rahmen des Projekts „Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschaftskulturen“ am Beispiel des polnischen Historikers Oskar Halecki nachgegangen werden. Halecki, einer der wichtigsten Europa-Historiker des 20. Jahrhunderts1, ist dabei nicht nur in seiner Funktion als Wissenschaftler, sondern auch als politi-scher Akteur zu untersuchen. Er trat immer wieder als Gründer von Institutionen und personellen Netzwerken in Erscheinung.

Transfer des Begriffs „Ostmitteleuropa“ / „East Central Europe“ von Europa in die USAIn Polen machte Halecki sich zunächst als einer der führenden Mittelalter- und Neuzeithistoriker der Zwischenkriegszeit einen Namen. Seine Forschungen auf dem Gebiet der Jagiellonen-Zeit in Polen und der Geschichte der polnischen Union mit Litauen wurden insofern wegweisend für seine weitere wissenschaftliche und politische Arbeit, als er den dort so zentralen Gedanken einer Verbindung von nationaler Selbstbestimmung und internationaler Föderation (Jagiellonische Union, 1385-1795) auf sein Europa-Konzept übertrug. Haleckis Perspektive auf die Geschichte Europas ist eine polnisch-katholische2. Eine zentrale Rolle spielt darin das Ostmitteleuropakonzept, das in der Zwischenkriegszeit unter den „kleinen“ Völkern dieses Teils von Europa zirkulierte und dazu genutzt wurde, sich einen neuen Platz im europäischen Feld zu erobern. Wie Halecki kämpften auch andere Historiker der nach dem Ers-ten Weltkrieg unabhängig gewordenen Staaten Ostmitteleuropas um eine neue Anerkennung ihrer Länder und deren Geschichte3 und näherten sich den Problemen der Region häufig über das Nationale. So ging es vor allem um die Grenzen jener Region und, im Zusammenhang damit, um eine Abkehr vom Panslawismus.

1 Sein Stellenwert für die europäische Geschichtsschreibung ist nicht zuletzt an Veranstaltungen wie den nach ihm benannten Vorlesungen des GWZO der Universität Leipzig abzulesen.2 Vgl. Duchhardt, Heinz; Morawiec, Małgorzata; Schmale, Wolfgang, et al. (Hg.): Europa-Historiker. Ein biographi- sches Handbuch, Band 1, Göttingen 2006, S. 233: „Haleckis Weg zur europäischen Geschichte führte eben von der Geschichte Polens über die Ostmitteleuropas.“3 Vgl. Miller, Aleksej: Die Erfindung der Konzepte Mittel- und Osteuropa. In: Kaser, Karl u.a. (Hg.): Europa und die Grenzen im Kopf (Enzyklopädie des europäischen Ostens; 11). Klagenfurt 2003, S. 144 ff.

Page 11: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

18 19

Auf dem 5. und 6. Weltkongress der Historiker (Brüssel 1923 und Oslo 1928) stellte Halecki die Frage nach den Unterschieden zwischen den beiden Zivilisationen im westlichen und im östli-chen Teil Osteuropas und präsentierte seine Überlegungen zur begrifflichen Unterscheidung des Kontinents in West- und Osteuropa. Dabei wehrte er sich gegen eine geopolitische Zuschreibung der ostmitteleuropäischen Länder zur Geschichte Russlands. Eine der wichtigsten wissenschaftlichen Transferleistungen Haleckis ist sein Anstoß für eine Revision der europäischen Geschichte in den USA. Oskar Halecki kam zunächst mit einem Stipendium der Kosciuszko Foundation 1938 zu einer Vortragsreise an 25 Colleges und Universitäten in die USA. 1940 emigrierte er ganz in die Verei-nigten Staaten und blieb dort bis zu seinem Tod 1973. 1944 bis 1961 hatte er eine Professur für Osteuropäische Geschichte an der Fordham University inne und lehrte von 1954 bis 1962 am Institut für Ost- und Mitteleuropa an der Columbia University. Darüber hinaus lehrte er am Vassar College, an der Katholischen Universität in Montreal und ab 1950 am Europakolleg in Brüssel. Nachdem er 1940 nach New York gekommen war, veröffentlichte Halecki die Artikel „East Cenral Europe in the Postwar Organization“ (1943) und „The Historical Role of Central Eastern Europe“ (1944) in der einflussreichen Zeitschrift „The Annals of the American Academy of Political and Social Science“ und entwickelte für den angelsächsischen Sprachraum den Terminus „East Central Europe“4. In seinem Buch „Limits and Divisions of European History“ von 1950 entwi-ckelt er das Konzept und den Begriff weiter (Halecki unterscheidet hier zwischen „West Central Europe,“ womit er Deutschland und Österreich meint, und „East Central Europe“, womit er den Raum zwischen Deutschland und Russland bezeichnet). Die Begriffe etablierten sich nach und nach in der angelsächsischen Welt, nicht zuletzt durch Haleckis Werke „Borderlands of Western Civilization“ und „A History of East Central Europe“. Halecki äußerte in zahlreichen Zeitschriftenartikeln, unter anderem in der in den vierziger Jahren in den USA erschienenen „New Europe“, seine Überzeugung von der Wichtigkeit födera-tiver Strukturen für die Region Ostmitteleuropa. Später erschienene wichtige Werke zu diesem Thema, wie etwa „Eastern and Western Europe in the Middle Ages“ von Geoffrey Barraclough aus dem Jahr 1970, sind nicht zuletzt auf Haleckis Einfluss zurückzuführen. Ein Schüler Haleckis, der aus Warschau stammende Zbigniew Brzeziński, prägte als Co-Vorsit-zender des „Council on Foreign Relations“ und als Carters Sicherheitsberater die US-amerikanische Ostpolitik. Er war ein entschiedener Verfechter der Entspannungspolitik und war dafür, durch eine Unterscheidung zwischen Ostmitteleuropa und Osteuropa den „Ostblock“ aufzubrechen.

4 Angeregt unter anderem durch Jan Rutkowski, der den Begriff (Ost-)Mitteleuropa erstmals 1928 in Oslo auf dem Historikerkongress nutzte, und Emerich Lukinich und seine 1935 in Budapest gegründete Zeitschrift „Archivum Europae Centro-Orientalis“.

Weitere Schüler Haleckis sind Stanisław Herbst, später Professor für Geschichte an der Uni-versität Warschau, Stefan Maria Kuczyński, später Professor für Geschichte in Łódź und an der Universität Śląski, Władysław Tomkiewicz, seit 1947 Professor für Geschichte an der Universität Warschau und seit 1951 Mitglied der PAU in Krakau, Józef Jasnowski, Professor für Geschichte in Poznań, ab 1955 dortiger Dekan der philosophisch-historischen Fakultät, 1973-76 Vizepräsident der „Association Européenne d’Histoire Contemporaine“. Neben Halecki waren es vor allem der Ungar Oszkár Jászi und der Österreicher Robert A. Kann, die eine intensive Auseinandersetzung mit der Geschichte des Habsburgerreichs in den USA beeinflussten. Mit seiner Unterscheidung zwischen westlicher und orthodoxer Kirche und der daraus ab-geleiteten Abgrenzung Ostmitteleuropas von Osteuropa und mit seinem darauf gründenden Ostmitteleuropa-Begriff schuf Oskar Halecki die Grundlagen für die Entwicklung des Konzepts einer „Geschichtsregion“: „Obwohl von universalem Zuschnitt ist das Konzept der Geschichts-region in einer internationalen Historikerdiskussion zunächst über ‚Slawentum’, dann über ‚Osteuropa’ in der Zwischenkriegszeit entwickelt worden. Maßgeblich beteiligt hieran waren polnischerseits Oskar Halecki und Marceli Handelsman sowie tschechoslowakischerseits Jaroslav Bidlo und Josef Pfitzner. Im US-amerikanischen Nachkriegsexil baute Halecki seine Überlegungen dann zu einem ganz Europa einschließenden Modell aus. [...] Parallel zur Wirkung Haleckischen Denkens in der neuen Bundesrepublik entwickelten seine Ideen auch im sowjetischen Machtbe-reich subkutane Wirkung: In Ungarn griffen Jeno Szucs, Domokos Kosáry und Emil Niederhauser, in Polen Jerzy Kłoczowski und Henryk Samsonowicz Haleckis ‚Ostmitteleuropa’-Konzeption auf. Im Kern geht es dabei um das Herauspräparieren von strukturellen Faktoren, die über längere Zeiträume, in der Regel mehrere Jahrhunderte hinweg prägend sind. [...] Jürgen Osterhammel [hat] in einer aktuellen Forschungsübersicht zu sieben historiografischen ‚Europamodellen’ ein ‚Modell der Kulturräume’ aufgeführt und darin unter explizitem Verweis auf Halecki und Szucs auch das ‚Modell der Geschichtsregion’ subsumiert. Desgleichen spricht Hannes Siegrist in einem ähnlichen Überblicksartikel über ‚Vergleich und Transfer’ von ‚Geschichtsräumen’ als zentralen Untersuchungsobjekten vergleichender historischer Forschung – neben ‚Kulturen’, ‚Gesellschaf-ten’ und ‚Entwicklungspfaden’. Und der Ethnologe Christian Giordano hat den Analyserahmen ‚Geschichtsregion’ in historisch-sozialanthropologischer Perspektive auf ganz Europa – also auch auf Nord-, West- und Südeuropa – ausgeweitet. Vor allem aber Kockas zitiertes Postulat – das die Überschrift zu einem Aufsatz bildet, der diese Herausforderung tatsächlich annimmt –, belegt, dass sich ein Kreis geschlossen hat: Das in der Zwischenkriegszeit am konkreten ost-mitteleuropäischen Entwicklungspfad entwickelte universalhistorische Untersuchungsdesign

Page 12: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

20 21

der ‚Geschichtsregion’ ist ein Dreivierteljahrhundert später durch Vermittlung der historischen Osteuropaforschung in der ‚allgemeinen’ Geschichtswissenschaft angekommen.“5

Halecki im Dialog mit anderen Europa-HistorikernOskar Halecki kommt aus der stark konfessionell (katholisch) definierten polnischen Wissen-schaftskultur, was sich in seinen Forschungen und nicht zuletzt in seinem Europa-Begriff deutlich niederschlägt. Ebenso wie Halecki betont Christopher Dawson den Stellenwert der katholischen Kirche für den Aufstieg der europäischen Kultur. Dawson schrieb das Vorwort zu Haleckis Werk „The Limits and Divisions of European History“ und bemerkt dort, dass die Arbeit Haleckis eine sehr vielseitige Definition und Analyse von Europa bietet, sowohl im territorialen als auch im historischen Sinne. Die Anregung zur Niederschrift dieser Arbeit schöpfte Halecki aus den großen Umbrüchen seiner Zeit und dem Bewusstsein, dass „nach dem Kriege 1939-1945 [...] unser Geschlecht einen Übergang von einer historischen Epoche in eine andere durchlebt.“ Diese zu Ende gehende Epoche bezeichnete er als Scheitelpunkt des „Europäischen Jahrhunderts“, das sich öffnende Jahrhundert als „Atlantisches Jahrhundert“. In dem Bewusstsein eines Abschlusses einer Epoche, „in welcher Europa das Zentrum der Welt gewesen ist, sowohl in allgemeinzivilisatorischem als auch streng politischem Sinne“, verfasste Halecki mit „The Limits and Divisions of European History“ eine Zivilisationskritik. Im Gegensatz zu Oswald Spengler, Maurice Muret und Gon-zague de Reynold vertrat er darin einen gemäßigten Optimismus: Auch im Falle eines teilweisen oder zeitweiligen Verfalls der europäischen Zivilisation besitze die Tradition der europäischen Kultur, so Halecki, alle Chancen des Überdauerns und der zivilisatorischen Umgestaltung. Oskar Halecki war ein entschiedener Kritiker des historischen Materialismus und stellt im Vorwort zu seinem Werk „Das europäische Jahrtausend“ die Frage, „ob nicht die christliche Geschichtsinterpretation und die Betonung des religiösen, rein geistigen Elements in der Ent-wicklung der Menschheit die beste Antwort auf die Behauptung des historischen Materialismus sind.“6 Weiter heißt es: „Diese Schlussfolgerung ist im übrigen eng verbunden mit wichtigen Strömungen in der zeitgenössischen Geschichtsschreibung.“7 Halecki stellt sein Werk hier ausdrücklich in den Kontext der Schriften Arnold Toynbees8 und Gonzague de Reynolds, die, so Halecki, „in den letzterschienenen Bänden [gemeint sind hier: Toynbees „A Study of History“,

5 Troebst, Stefan: Region und Epoche statt Raum und Zeit - „Ostmitteleuropa“ als prototypische geschichts- regionale Konzeption, in: H-Soz-u-Kult, 29.05.2006, http://hsozkult.geschichte.huberlin. de/forum/2006-05-001 (letzter Zugriff: 15.11.2012).6 Halecki, Oskar: Das europäische Jahrtausend. Salzburg 1966, S. 10.7 Ebd.8 In Anlehnung an Arnold J. Toynbee und Samuel Hazzard Cross erkannte Halecki außerdem im Mongoleneinfall das endgültige Ausscheiden Russlands aus dem Verbund europäischer Staaten.

Bd. 7, Oxford 1954 sowie sein Werk „A Historian’s Approach to Religion“, London 1956 sowie de Reynolds „Le Toit chrétien“, Paris 1957, also der letzte Band von de Reynolds Werk „La Formation de l’Europe“] dieser Werke die grundlegende und entscheidende Bedeutung der Religion für das Studium der allgemeinen Geschichte und des Werdens Europas betont haben.“9

Zwei weitere Werke, die für Halecki von großer Bedeutung sind, stammen von zwei katholi-schen Philosophen: Jacques Maritains „On the Philosophy of History“, New York 1957 und P.M.C. d’Arcys „The Meaning and Matter of History – A Christian View“, New York 1959. Sie beweisen, so Halecki, „die Möglichkeit einer katholischen Geschichtsphilosophie, die den Bedürfnissen unserer Zeit voll angepasst werden kann.“10

In seinem Werk „The Limits and Divisions of European History“ kritisiert Halecki allerdings de Reynolds Unterscheidung zwischen West- und Osteuropa heftig: de Reynolds konstruiere, so Halecki, eine europäische „Zweiklassengesellschaft“: eine westliche, zivilisierte und eine östliche, unzivilisierte, von denen nur die erste tatsächlich europäisch sei. Auch an Toynbees Aufteilung in die orthodoxen Gesellschaften in Südosteuropa und Russland einerseits und die westeuropä-ischen Gesellschaften andererseits kritisiert Halecki die geopolitische Argumentation, auf der sie basiert.

Wissenschaftliche und politische NetzwerkeSowohl in Europa, als auch ab 1940 in den USA war Oskar Halecki an der Gründung zahlreicher Organisationen und intellektueller sowie politischer Netzwerke beteiligt. Dabei lagen die Schwer-punkte auf intellektuellem Austausch und, nach seiner Emigration in die Vereinigten Staaten, auf politischer Lobby-Arbeit vor allem für die polnische Exilregierung. Haleckis erste politische Aufgabe war der Auftrag, als Experte für die polnische Kommissionan den Verhandlungen zum Versailler Friedensvertrag teilzunehmen.

9 Halecki, Oskar: Das europäische Jahrtausend. Salzburg 1966, S. 10.10 Ebd.

Page 13: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

22 23

Von 1922 bis 1924 war Halecki Sekretär der „Kommission für internationale geistige Zusammenarbeit“11 und anschließend Mitglied in deren „Unterkommission für Universitäten“ neben A. de Castro, R. A. Millikan, G. Murray, G. de Reynold, V. Kellogg, T. Odhner, R. Thamin und F. von Gottl-Ottlilienfeld. Diese Mitgliedschaft in einem der bedeutendsten intellektuellen Netz-werke Europas brachte Halecki in persönlichen Kontakt mit Wissenschaftlern wie dem bekannten Wirtschaftshistoriker Alfons Dopsch (in dessen Festschrift zum 70. Geburtstag Halecki neben Historikern wie Johan Huizinga veröffentlichte12), Charles Diehl, Pierre Renouvin, Henri Pirenne, Francesco Ruffini, Arnold J. Toynbee, Heinrich Felix Schmid und Robert Howard Lord.

11 1922 wurde die „Commission Internationale de Coopération Intellectuelle“ (dt.: Kommission für internationalegeistige Zusammenarbeit (KIGZ)) mit Sitz in Genf gegründet; zu den 16 Mitgliedern gehörten unter anderen: Albert Einstein, Henri Bergson, Marie Curie, Gonzague de Reynold, Johan Huizinga. Die internationale Organi-sation diente der Förderung wissenschaftlichen und intellektuellen Austauschs. Das „Institut für internationale geistige Zusammenarbeit“ (IIGZ; 1924-1946) (frz.: „Institut international de coopération intellectuelle“) wurde als ständiges Exekutivorgan der weiterhin bestehenden KIGZ gegründet (Sitz: Paris) und vor allem von Frank-reich unterstützt, das auch den überwiegenden Teil des Personals stellte und 80 Prozent der Kosten des Insti-tuts trug. Das KIGZ war ein Vorgänger der UNESCO und dem Völkerbund angegliedert. Auch die ersten beiden Generaldirektoren des Instituts, Julien Luchaire (bis 1930) und Henri Bonnet (ab 1930), waren Franzosen. Wie die UNESCO auch kooperierte das IIGZ bzw. die KIGZ mit nationalen Organisationen, die die Zusammenarbeit mit der Zentrale organisierten, so z. B. die „Deutsche Kommission für geistige Zusammenarbeit“; Präsident dieser Kommission war der Physiker Max Planck. Auch Fritz Haber, Thomas Mann und Albert Einstein waren Mitglieder der Kommission. Im Januar 1930 wurde die Gründung von sechs Unterkommissionen beschlossen, u.a. für die Beziehungen der Uni-versitäten untereinander, deren Leiter Halecki von 1925 bis 1926 war. 1923 wurde beschlossen, dass jedes Mitglied des Völkerbundes eine „Nationale Kommission zur geistigen Zusammenarbeit“ gründen sollte (frz.: „Commission Nationale de Coopération intellectuelle“). Es wurden regelmäßige Konferenzen organisiert, so 1932 in Frankfurt/M., 1933 in Madrid und Paris, 1934 in Venedig, 1935 in Nizza, 1936 in Budapest und in Buenos-Aires. Teilnehmer dieser Konferenzen waren unter anderen: Karel Capek, Thomas Mann, Gilbert Murray, Joseph Strzygowski, Hélène Vaca-resco, Paul Valéry, Jules Romains, Julien Benda, Edvard Benès, Henri Bonnet, Henri Focillon, Aldous Huxley, Geor-ges Duhamel, Daniel Baud-Bovy, Edouard le Corbusier, Hans Tietze, Béla Bartók, Stefan Zweig, Franz Werfel u.a. Eine spezielle Publikationsform der Commission waren Briefwechsel, die zu einem bestimmten Thema ange-regt wurden. So erschien unter dem Titel „Pourquoi la guerre?“ 1933 ein Briefwechsel zwischen Albert Einstein und Sigmund Freud, 1934 unter dem Titel „L’esprit, l’éthique et la guerre“ Briefe von Johann Bojer, Johan Huizin-ga, Aldous Huxley, André Maurois und Robert Waelder.Hauptaufgaben des IIGZ waren Fragen des Urheberrechts und geistigen Eigentums sowie von Übersetzungen, der Statistik im Kulturberreich und der „moralischen Abrüstung“, d.h. das IIGZ sollte komplementär zum Völ-kerbund wirken, dessen Hauptaufgabe die Friedenssicherung durch politische Maßnahmen wie etwa Abrüs-tung und Streitschlichtung war, indem es die Friedensbereitschaft der Völker durch erzieherische und kulturelle Maßnahmen stärkte. Dies sollte vor allem dadurch geschehen, dass der Unterrichtsstoff in Schulbüchern weni-ger chauvinistisch und im Geiste der Völkerverständigung geschrieben werden sollte. Auch strebte das IIGZ die friedliche Nutzung von Radio und Kino an, organisierte Sommerkurse für Jugendliche beim Völkerbund in Genf und andere Bildungsmaßnahmen zum besseren Verständnis des Völkerbunds.

12 S. Halecki, Oskar: Kulturgeschichte und Geschichtsphilosophie. In: Bognetti, Gian Piero u.a.: Wirtschaft und Kultur.Festschrift zum 70. Geburtstag von Alfons Dopsch, Baden b. Wien/ Leipzig 1938, S. 684-696. In seinem Aufsatz zur Geschichtsphilosophie beruft sich Halecki auf „zwei philosophische Autoritäten [...], eine deutsche und eine polnische. Im Oktober 1918 hielt E. Troeltsch einen bedeutsamen Vortrag, der gewissermaßen zum Ausgangs-punkte seines bald darauf veröffentlichten Werkes über den „Historismus und seine Probleme“ wurde und der unter dem unmittelbaren Eindrucke der weltgeschichtlichen Ereignisse jener Tage ein neues Programm ge-schichtsphilosophischer Forschung aufstellte. [...] Und genau dreizehn Jahre später, im Oktober 1931, kam ein anderer Vortrag, den P. Konstantin Michalski [...] an der Jagellonischen Universität zu Krakau hielt, auf ganz ähnliche Fragen zurück.“ (Ebda, S. 685.)

1939 war Oskar Halecki Mitbegründer und erster Rektor der polnischen Exil-Universität „Polski Uniwersytet na Obczyznie“ (PUNO) in den Räumen der Polnischen Bibliothek in Paris. Nach dem Einmarsch der Deutschen wurde die Universität nach London verlegt, wo sie noch heute besteht.13 Nach seiner Ankunft in den USA gründete Oskar Halecki im Dezember 1940 mit Jan Kucharzew-ski, Wacław Lednicki, Bronisław Malinowski, Wojciech Świętosławski und Rafael Taubenschlag, al-les Mitglieder der „Polska Akademia Umiejętności“ (PAU) in Krakau, die „Kosciuszko Association of Polish Scholars in America“. Sie hatte die Aufgabe, in Amerika Aufklärung über die Lage Polens zu leisten, sowie die kulturellen Beziehungen zwischen Polen und Amerika zu vertiefen. Oskar Hale-cki wurde zum Präsidenten dieser Organisation gewählt. Schon im Mai 1942 wurde sie durch die wesentlich stärkere Organisation, das „Polish Institute of Arts and Sciences in America“ (PIASA)14 ersetzt, das fortan als Außenposten der PAU in Krakau betrachtet wurde. Bronisław Malinowski, Professor für Anthropologie in Yale, wurde der erste Präsident, Oskar Halecki Geschäftsführer. Halecki pflegte intensive Verbindungen zu den Kreisen amerikanisch-katholischer Historiker und es war kein Zufall, dass er an einer katholischen Universität (Fordham University) einen Lehrstuhl innehatte. Ab 1956 war er außerdem Präsident der „American Catholic Historical As-sociation“ und arbeitete eng mit der „American Catholic Historical Review“ zusammen. Haleckis Einfluss in den USA ist auch an führenden amerikanischen akademischen Zeitschriften sichtbar: Seit 1947 ist er Mitherausgeber der „Slavic and East European Review“ (später „Slavic Review“), seit 1950 Mitherausgeber des „Journal of Central European Affairs“. Weitere Zeitschriften, deren Herausgeber bzw. Mitherausgeber Halecki war, sind „Teki Histo-ryczne“ in London (unter der Redaktionsleitung unter anderen von Marian Kukiel15 und Tadeusz Sulimirski16), „La Voix de Varsovie, Revue de l’Europe Centrale et Orientale“ in Paris, „Czas“, „Polen. Wochenzeitschrift für polnische Interessen“ und „Miesięcznik Heraldyczny“. Darüber hinaus veröffentlichte Oskar Halecki in zahlreichen renommierten amerikanischen und europäischen wissenschaftlichen Zeitschriften17. Neben den bereits genannten Institutionen war Halecki Mitglied der „Towarzystwo Naukowe“ in Lwów, des „Instituto per l`Europa Orientale“ in Rom, der „Internationalen Diplomatischen Akade-mie“ in Paris und des „Centre International de Synthèse Historique“ in Paris. Er pflegte außerdem Ver-bindungen zum 1950 gegründeten „Mid-European Studies Center of the Free Europe Committee“, in dessen Reihe „East-Central Europe under the Communists“ Halecki den Band „Poland“ herausgab.

13 Für nähere Angaben siehe: Judycki, Zbigniew: Słownik biograficzny pracowników naukowych PUNO. Londyn 2008.14 Im Archiv des PIASA befindet sich auch der Nachlass Haleckis: Sammlung Nr.050 Oskar Halecki Papers.15 Polnischer Historiker und General, 1939-1940 Kriegsminister der Polnischen Exilregierung in London, 1945-1973 Professor für Geschichte an der PUNO, 1946-1970 Direktor des Polnischen Historischen Instituts in London.16 Polnischer Historiker und Archäologe, 1941 Generalsekretär im Bildungsministerium der Polnischen Exilregierung, 1958 Professur an der University of London.17 Vgl. dazu die Gesamtbibliographie des Projektes.

Page 14: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

24 25

Dokument 2

Ewa Dąbrowska

Der Warschauer Historiker Jan Karol Kochanowski

Polnische Sozial- und Geschichtswissenschaften mussten sich im Zusammenhang mit der Wie-derentstehung des polnischen Staates 1918 neu definieren und neu erfinden. Diesen Prozess zu verfolgen versprach einen Erkenntnisgewinn im Hinblick auf den Wissenstransfer, d.h. über die Aneignung wissenschaftlicher Methoden und Ideen aus dem Westen und ihren Einsatz zur Erforschung der modernen polnischen Gesellschaft. Die polnische Wissenschaft ist dabei nicht aus dem Nichts entstanden, sondern setzte Traditi-onen fort, die im Königreich Polen und insbesondere im autonomen Galizien entwickelt worden waren. Drei Universitätsstädte waren für die polnischen Geschichts- und Sozialwissenschaften besonders prägend: Kraków, Lwów und Warszawa. Darüber hinaus war eine Reihe polnischer Forscher im Exil tätig. Viele von ihnen kamen nach der Gründung Polens zurück und gestalteten das öffentliche Leben im neuen Staat mit. Janina Markiewicz-Lagneau, Autorin einer Monogra-phie über polnische Sozialwissenschaften in der Zwischenkriegszeit, sieht in der polnischen Exiltradition eine kosmopolitische Ausrichtung der polnischen Wissenschaftler begründet, die in die Zwischenkriegszeit und zum Teil darüber hinaus fortdauerte.1 Die europaweite und trans-atlantische Vernetzung vieler polnischer Forscher ist als ein weiterer Grund anzusehen, warum die Transferforschung im polnischen Kontext besonders ertragreich zu sein versprach. Im Fokus unserer Recherchen stand auch deswegen die Zwischenkriegszeit, um die Mitwirkung der polnischen Sozial- und Geisteswissenschaftler an der Gestaltung des öffentlichen Lebens sowie an der Wirtschafts- und Sozialpolitik des neu entstandenen Staates untersuchen zu kön-nen. Die zwanziger und dreißiger Jahre erwiesen sich für unsere Fragestellungen tatsächlich als bedeutsam, jedoch stellten sich die Jahrzehnte, die der politischen Souveränität Polens un-mittelbar vorausgingen, als wahrer Höhepunkt der Debatte über die Gestaltung der polnischen Nationalkultur und eben auch der Wissenschaftskultur heraus. Besonders aktiv beteiligten sich an der genannten Debatte Historiker, was mit der Bedeutung der Geschichte für die Konstitu-ierung einer Nation zu erklären ist. Anita Krystyna Shelton weist darauf hin, dass der Status der

1 Janina Markiewicz-Lagneau, La formation d‘une pensée sociologique. La société polonaise de l‘entre-deux- guerres, Paris 1982.

polnischen Historiker in der geteilten polnischen Gesellschaft mit dem der deutschen Historiker in der deutschen Gesellschaft jener Zeit vergleichbar war, also sehr hoch ausfiel.2 Zu den größten Kontroversen jener Zeit zählte die Frage nach den Ursachen der Teilungen Polens im 18. Jahrhundert. Das bis zum Ende der 1890er Jahre dominante Narrativ, das von der sogenannten Krakauer Schule vertreten wurde und die Schuld am Verfall des polnischen Staates hauptsächlich dem Adel zuschrieb, wurde aus geschichtspolitischen Überlegungen zunehmend in Frage gestellt. Die Krakauer Schule war ein Positivistenkreis, wie es Marceli Handelsman, ein polnischer, hauptsächlich zu Napoleon arbeitender Historiker jener Zeit, bezeichnete.3 Ihr Wis-senschaftsstil zog die Analyse der Verallgemeinerung vor, Quellen, Präzision und Gründlichkeit den großen, doch oft vagen theoretischen Systemen sowie die Gelehrsamkeit der Synthese. Diese wissenschaftlichen Methoden hatten polnische Historiker in den berühmten deutschen Seminaren erlernt. Auf diese Weise sei ein deutsches Element der polnischen Wissenschaft gleichsam inplantiert worden, so Handelsman. Verstärkt wurden internationale Einflüsse in Krakau und Lemberg durch polnische Absolventen der deutschen, französischen und Schweizer Universitäten, die nach ihrem Studium im Ausland an die polnischen Universitäten zurückkehr-ten. Handelsman betont, dass diese ausländischen und insbesondere deutschen Einflüsse durch die streng wissenschaftliche Orientierung der polnischen Historiker möglich waren, die jegliche politische Motivierung ihrer Disziplin ablehnten. Daher empfanden sie den Methodentransfer aus Deutschland nicht als Germanisierung ihrer Wissenschaftskultur, sondern als Übernahme von objektiven Kriterien und Methoden, die sie als kulturübergreifend und unpolitisch einordneten. Um die Jahrhundertwende verstärkte sich der Einfluss anderer, stärker soziologisch gefärbter und theoretischer Strömungen innerhalb der polnischen Geschichtswissenschaft. Der Wissen-stransfer fing auch hier in bedeutendem Maße in deutschen historischen Seminaren an. Ein halbes Jahr bis zu mehreren Jahren an einer deutschen Universität zu verbringen, war damals ein obligatorischer Punkt im Lebenslauf für viele polnische Historiker und Sozialwissenschaftler. Besonders beliebt war Leipzig, wo unter anderem der kontroverse Historiker Karl Lamprecht lehrte, dessen Werke einen Methodenstreit in Deutschland auslösten. Im Kontext der politischen Veränderungen jener Zeit wurde hingegen eine andere Interpretati-on der polnischen Geschichte diskursprägend. Die politische Funktion der Geschichtswissenschaft wurde erneut genutzt, um nationale Gefühle in der polnischen Öffentlichkeit wiederzubeleben. An den Teilungen Polens trugen demnach ausschließlich Polens Nachbarstaaten: Preußen,

2 Anita Krystyna Shelton, The democratic idea in polish history and historiography: Franciszek Bujak (1875-1953), New York 1989.3 Marceli Handelsman, Les études d‘histoire polonaise et les tendances actuelles de la pensée historique en Pologne, Revue de synthese historique 39 (13), 1925, S.67.

Page 15: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

26 27

russisches Zarenreich und Habsburger Monarchie die Schuld, die den durch etliche Kriege er-schütterten und institutionell schwachen polnischen Staat in drei Schritten komplett annektiert hatten. Die Propagierung dieser zwar plausiblen, aber einseitigen Erzählung diente dazu, den polnischen Nationalstaat zu legitimieren, dessen Wiedergründung während des Krieges in greifbare Nähe rückte. Es ist wichtig, diesen historischen Hintergrund zu betonen, um zwei im Folgenden zu erzählende, miteinander verwobene, Transfergeschichten zu verstehen. Sie werden in den Kontext der Neuerfindung der polnischen Wissenschaftskultur gestellt. Während der Arbeit an unserem Aufsatz über internationale Historikerkongresse vor dem Ersten Weltkrieg stießen wir auf Jan Karol Kochanowski, der 1903 in Rom sowie 1913 in London die polnische, zu dem Zeitpunkt staatenlose Geschichtswissenschaft vertrat. Genauso aktiv nahm er auch an den internationalen Soziologenkongressen von 1906, 1907 und 1912 teil. Studiert hatte er in Krakau, Breslau und am Deutschen Historischen Institut in Rom. Danach forschte er in War-schau und leitete über viele Jahre hinweg „Przegląd Historyczny” (Geschichtsrundschau). Schon beim ersten Blick in seine Werke lag die Vermutung nahe, dass sich Kochanowski vom deutschen Historiker Karl Lamprecht hatte inspirieren lassen – ein Eindruck, den die von Jan Kaczyński vor-genommene systematische Auswertung der von Kochanowski zitierten Werke bestätigt.4 Karl Lamprecht ist der am meisten zitierte Autor bei Kochanowski, es folgen: Gumplowicz, Taine, LeBon und Bergson. Diese Zusammenstellung der Namen vermittelt bereits eine ziemlich gute Vorstellung, wovon Kochanowskis Werk handeln mag: Essentialisierung der nationalen Kultur, Konstruktion des Gegensatzes zwischen dem Individuum und der Masse, Völkerpsychologie und sozialpsychologische Entwicklungsgesetze – dies sind die Hauptmotive seines Werkes. Die kon-krete Ausarbeitung der einzelnen Elemente mag aus der heutigen Perspektive etwas schockieren, z.B. wenn er den idealtypischen Polen als äußerst individualistisch geprägten „Arier“ darstellt, der gleichzeitig ein südländischer Typ ist und deswegen mit seinen nördlichen Nachbarn, dem Preußen und dem Russen im ewigen Konflikt stehen muss. Diese Bezeichnungen entstammen der von ihm entwickelten Typologie, die soziale Nordvölker den individualistischen Südvölkern gegenüberstellt und die kaum nachvollziehbar ist, genauso wenig wie die Idee, dass die Polen zu den Südvölkern zählen sollen. Was Kochanowskis Rezeption von Karl Lamprecht angeht, war es angesichts der sichtbaren Parallelen zwischen den beiden Historikern erstaunlich, in der Monographie über Lamprecht, die von Luise Schorn-Schütte verfasst wurde, zu lesen, dass Kochanowski zu den schärfsten Kritikern Lamprechts gehört habe. Die Biographin stützt sich zwar dabei indes nur auf eine Quelle5. Doch

4 Jan Kaczyński, Studia z historii idei w Polsce: Edward Abramowski i Jan Kochanowski, Olsztyn 1989.5 S. Luise Schorn-Schütte, Karl Lamprecht. Kulturgeschichtsschreibung zwischen Wissenschaft und Politik (Bayerische Akademie der Wissenschaften / Historische Kommission: Schriftenreihe; 22), Göttingen 1984, S. 335.

einmal angenommen, dies träfe zu, so ließe sich die negative Korrelation in eine positive Bezie-hungsgeschichte wenden: das Beispiel eines durchaus gelungenen Ideentransfers, in dessen Zuge der Einfluss ausübende Autor nicht gewürdigt, sondern theoretisch fundiert abgelehnt wird. Karl Lamprecht beeinflusste aber nicht nur Kochanowski, sondern wurde ganz im Gegenteil an den polnischen Universitäten sehr breit rezipiert. Es gehörte geradezu zum guten Ton, in Leipzig bei ihm studiert zu haben. Das tat unter anderem auch der polnische Wirtschafts- und Sozialhistoriker Franciszek Bujak, der ebenfalls in den Fokus unserer Recherchen geriet. Er war ein Pionier der polnischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, hatte drei Lehrstühle inne, zunächst in Warschau, dann in Lemberg und zum Schluss in Krakau und gründete 1931 die einflussreiche Zeitschrift „Annalen der Wirtschafts- und Sozialgeschichte“, die in mancher Hinsicht, z.B. in der Preisgeschichte, ebenso innovativ wie die französische Annales-Schule war, was FerdinandBraudel selbst während seines Auftritts in Warschau 1967 würdigte.6

Über Franciszek Bujak schreibt Luise Schorn-Schütte, dass er zwar bei Lamprecht studiert habe, jedoch wenig von ihm beeinflusst worden sei7. Ein Blick in seine Werke weckt jedoch Zweifel an dieser Einschätzung. So verstand Bujak Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte, ganz so wie es auch Lamprecht tat. Beide waren der Meinung, dass das wirtschaftliche Leben selbstverständlich ein Teil der menschlichen Kultur sei, und Bujak trat mit dieser Begründung für die Erforschung der Wirtschaftsgeschichte Polens und für die Institutionalisierung der Dis-ziplin an polnischen Universitäten ein. Der ökonomische Faktor sei bis dahin in der polnischen Forschung vernachlässigt worden, seine Einbeziehung aber notwendig, um die Entwicklung moderner Gesellschaften wie auch vormoderner Entwicklungen zu verstehen, so seine – hier stark verkürzte – Argumentation. Insofern lag es nahe, dass sich Bujaks wirtschaftsgeschichtliche For-schung auch von Gustav Schmoller, Werner Sombart und William Cunningham inspirieren ließ.8 Was andere Ähnlichkeiten mit Lamprechts Werk angeht, begrüßte Bujak den evolutorischen Ansatz in den soziologisch inspirierten Geschichtswissenschaften und glaubte an universelle Gesetze in der Geschichte, die es auszuarbeiten gelte.9 So scheinen in Bujaks Werk die Lehren von Lamprecht auch dort durch, wo er sie nicht explizit benennt. Es ist das besonders Anspruchsvolle am Transferansatz, dass sich der Prozess der Aneignung fremder Kulturinhalte nicht immer expli-zit nachverfolgen lässt und äußere Spuren ihrer Rezeption oder Ablehnung täuschen können. Eine Verbindung besteht auch zwischen Kochanowski und Bujak. Der strenger wissenschaftli-cher Methode treue Bujak meinte, die polnische Öffentlichkeit vor der, übrigens sehr populären,

6 Anita Krystyna Shelton, The democratic idea in polish history and historiography, S. 200.7 S. Schorn-Schütte, Karl Lamprecht, S. 331, Anm. 196.8 Franciszek Bujak, Studia historyczne i społeczne, Warszawa 1924, S.31.9 Franciszek Bujak, Studia historyczne i społeczne, Warszawa 1924.

Page 16: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

28 29

unwissenschaftlichen Historiosophie Kochanowskis warnen zu müssen. Um zu zeigen, welch unerwarteten Lauf Ideen manchmal nehmen, lohnt es sich, Bujaks Kritik an Kochanowskis Werken in den Blick zu nehmen. 1917 und 1920, im Kontext der sukzessive wieder hergestellten polnischen Souveränität, gab Kochanowski zwei bezeichnende Werke heraus: „Postęp Ludzkości Jako Wyraz Praw Psychicznych Rozwoju” (Fortschritt der Menschheit als Ausdruck der psycholo-gischen Entwicklungsgesetze) und „Polska w Świetle Psychiki Własnej i Obcej” (Polen im Lichte eigener und fremder Psychologie). Daran kritisiert Bujak zunächst die mangelnde Wissenschaftlichkeit von Kochanowskis Werk. Kochanowski verweise kaum auf andere Werke, seine Bibliographie sei höchst beschränkt. Ein origineller Ansatz und ein paar soziologische Ideen reichten indes für eine fundierte geschichts-wissenschaftliche Arbeit nicht aus, so Bujak. Doch damit nicht genug: Kochanowskis Ideen hält Bujak für regelrecht gefährlich. Die Wahrheit sei relativ, jede Nation habe ihre individuelle Wahrheit zu erzählen. Da die Polen „das Maximum des europäischen Wesens“, des optimisti-schen Individualismus in sich vereinten, hatte Kochanowski konstatiert, seien sie besonders dazu befugt, in der Wissenschaft tätig zu sein. Bujak entgegnet, dass eine solche Hervorhebung der polnischen Eigenarten sehr leicht zur Selbstisolierung führe. Die Polen hätten die Teilungen als Nation überstanden, weil sie mit anderen Nationen kooperiert und von anderen gelernt hätten, nicht weil sie in Selbstverherrlichung verfallen seien. Zum Schluss verweist Bujak auf eine Ideenparallelität zwischen Kochanowski und dem deut-schen Autor Heinrich Wolf, der 1910 sein Buch „Angewandte Geschichte“ herausgegeben hatte. Beide propagierten die Überlegenheit der jeweils eigenen Nation, traten dafür ein, dass die nationale Eigenart zu pflegen sei, und predigten, dass es keine größere Ungleichheit gebe als diejenige zwischen den Menschen. Schon Zeitgenossen wie Bujak fielen also solche Überschnei-dungen und vergleichbare Übernahmen ethnifizierender Deutungsmuster auf. Dies drückte sich auch in Kochanowskis Beiträgen zur Debatte über die polnische Wissen-schaftskultur aus, an der er sehr aktiv teilnahm. In mehreren Beiträgen zu „Nauka Polska“, einer wissenschaftstheoretischen Zeitschrift, vertrat er die Meinung, dass Polen einen eigenen Wissenschaftsstil entwickeln und pflegen müsse. Da sich die Polen psychologisch von anderen Völkern unterschieden, sei ihre wissenschaftliche Schöpfung notwendigerweise anders als jene anderer Wissenschaft betreibender Nationen, so Kochanowski. Daher ermutigte er polnische For-scher, nicht den französischen, englischen oder gar deutschen Wissenschaftsstil nachzuahmen, sondern einen originellen Beitrag zur Weltwissenschaft zu leisten. Er behauptete, dass Polen durch seine mitteleuropäische Lage sich dazu besonders eigne, Zentrum der Erforschung der Völkerpsychologie zu werden. Durch ihre mannigfaltige und komplizierte historische Erfahrung hätten Polen die Möglichkeit, sowohl west- als auch osteuropäische Völker gründlich kennen-zulernen und sollten ihren komparativen Vorteil nutzen, um sich in den Geisteswissenschaften zu profilieren. Dass die Polen sich besonders dazu eigneten, brillante Geisteswissenschaftler zu

werden, daran hatte Kochanowski keinen Zweifel. Die deutsche Wissenschaft hielt er für allzu materialistisch, durch den Staat korrumpiert und in diesem gar aufgegangen, ohne Gefühl für Psychologie, insbesondere für die Völkerpsychologie.10 Ganz im Gegenteil dazu zeige die indivi-dualistische polnische Seele ein feines Gespür für Psychologie. Auffällig an dieser Beschreibung ist, dass Kochanowski an eine nationale Wissenschaftskultur glaubte, die die geistige Essenz einer Nation sei. Vielleicht sollten wir diese zugespitzte Formu-lierung zum Anlass nehmen, den Begriff Wissenschaftskultur in Frage zu stellen, weil er oft die Existenz der nationalen Wissenschaftskultur bereits impliziert. Schon die Gegenüberstellung der radikal unterschiedlichen Positionen von Kochanowski und Bujak zeigt jedoch, dass es keine ein-heitliche polnische Wissenschaftskultur in der Zwischenkriegszeit gab und dass entsprechende Behauptungen ihrerseits auf das obskure Terrain der Völkerpsychologie zu führen drohen. Nichtsdestotrotz ist der Versuch, im Polen der Zwischenkriegszeit eine nationale Wissen-schaftskultur zu begründen, für uns seinerseits ein legitimer Gegenstand historischen Interes-ses. Selbst wenn wir Kochanowskis Stellung als extrem wahrnehmen und seine Historiosophie schon unter den Zeitgenossen hartnäckige Kritiker fand, darunter eben Franciszek Bujak, war er keinesfalls ein Außenseiter. Ganz im Gegenteil trafen seine Ideen durchaus den Nerv der Zeit. Diese Beobachtung zu historisieren, bedeutet zugleich, dass wir die Bedeutung des Nationalen in unserer nach Transnationalität strebenden historischen Forschung zumindest als Gegenstand nicht vernachlässigen sollten.

10 J.K. Kochanowski, Kilka słów w sprawie nauki narodowej, Nauka Polska II 1919, S. 446.

Page 17: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

30 31

Dokument 3

Gangolf Hübinger, Barbara Picht, Ewa Dąbrowska

Geschichtskulturen und Wissenschaftspolitik.Die Internationalen Historikerkongresse vor dem Ersten Weltkrieg

Der Berliner Theologieprofessor Adolf von Harnack begrüßte die Idee, 1908 den Internationalen Kongreß für Historische Wissenschaften1 in Berlin zu veranstalten. Er sah darin eine kulturelleBesonderheit, denn « die Wissenschaft der Geschichte stiftet auch zwischen getrennten Geistern eine Konkordie ».2

Unter diesem Vorzeichen einer internationalen « Konkordie » hat der deutsche Historiker und ehemalige Präsident des Comité International des Sciences Historiques Karl Dietrich Erdmann die einschlägige Geschichte der Internationalen Historikerkongresse verfaßt. Ökumene der Historiker ist die umfassende und quellenintensive Studie überschrieben, in der Erdmann die Stationen der Internationalen Historikerkongresse von Den Haag (1898) bis Madrid (1990) unter drei As-pekten nachzeichnet. Er schreibt die Geschichte der Institution mit dem 1926 gebildeten Comité International des Sciences Historiques, das auch heute noch existiert und den 21. Internationalen Historikerkongreß 2010 in Amsterdam ausrichtet. Er prüft die dortigen Historikerdebatten auf ihre politischen Voraussetzungen und Absichten. Und er thematisiert die Fähigkeit der Histo-riker, im internationalen Austausch den Blick für neue Methoden und neue Forschungsgebiete zu schärfen3.

1 Dieser Beitrag ist Teil unseres Forschungsprojektes « Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts- kulturen », das von der Deutsch-Polnischen Wissenschaftsstiftung gefördert wird. Die französische Fassung erschien unter dem Titel « Cultures historiques et politique scientifique. Les congrès internationaux des histo- riens avant la Première Guerre mondiale », in: La fabrique internationale de la science. Les congrès scientifiques de 1865 à 1945 (= Revue Germanique Internationale 10/2010), S. 175-191.2 Adolf Harnack, « Der vierte Internationale Kongreß für historische Wissenschaften zu Berlin (6.-12. August 1908) », in: Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik (IWfWKuT) 2, 1908, (p. 514-518), p. 514f, zu Berlin 1908 s. unten.3 Karl Dietrich Erdmann, Die Ökumene der Historiker. Geschichte der Internationalen Historikerkongresse und des Comité International des Sciences Historiques, Göttingen; Vandenhoeck & Ruprecht, 1987, p. 5; eine detaillierte Übersicht zu den Teilnehmern aus einzelnen Ländern und den Mitgliedern des Comités im Anhang, p. 449-480. Eine Übersetzung mit einem Epilog bis 2000 erschien: Karl Dietrich Erdmann, Jürgen Kocka, Wolfgang J. Mommsen, Agnes Blänsdorf, Towards a global community of historians: the International Historical Congresses and the International Committee of Historical Sciences 1898-2000, New York, Berghahn Books, 2005. Inzwischen haben sich die Vorstellungen einer historischen Internationale als „Ökumene“ zu einem beliebten Topos entwi- ckelt. Vgl. Ulrich Pfleil (éd.), Die Rückkehr der deutschen Geschichtswissenschaft in die « Ökumene der Historiker ». Ein wissenschaftsgeschichtlicher Ansatz, Pariser Historische Studien, Tome 89, München, Oldenburg, 2008.

Eine internationale Historikerökumene hatten sich bereits Adolf von Harnack und seine Zeitgenossen gewünscht. Was allerdings die Geschichtswissenschaft um 1900 betrifft, so ist im spannungsreichen Zeitalter von Internationalisisierung und Imperialismus ihre politische und kulturelle Sonderlage mit « Konkordie » oder « Ökumene » nur unzureichend beschrieben. Auf internationalen Kongressen werden die Vortragenden in hervorgehobener Weise als Re-präsentanten der Geschichtskultur ihrer jeweiligen Länder wahrgenommen4. Die Geschichts-wissenschaften standen deshalb in allen Ländern unter besonderer Beachtung staatlicher Wissenschaftspolitik. Und immer wieder brachten die Kongresse die Spannungen zum Ausdruck zwischen der Rechtfertigung nationaler Gedächtnisorte und der grenzüberschreitenden Forde-rung nach internationalen Forschungsstandards. Dieser Zusammenhang von Geschichtskultur und Wissenschaftspolitik ist Gegenstand unseres Beitrages. Unter der Fragestellung, welche Bedeutung haben die Internationalen Historikerkon-gresse vor dem Ersten Weltkrieg - 1900 in Paris, 1903 in Rom, 1908 in Berlin und 1913 in London – als Orte des kulturellen Transfers, stehen deshalb im Folgenden die charakteristischen Spannungen im Zentrum, in denen sich die ‚Geschichte’ sowohl in der politischen Kultur der Epoche als auch im Gefüge der Wissenschaften vom Menschen befand. Im 19. Jahrhundert zählte die ‚Geschichte’ zu den mächtigsten der Humanwissenschaften, und auch in der Gründungsphase der Interna-tionalen Historikerkongresse wirkte sie als ein Leitmedium, in dem Staaten und Gesellschaften sich über ihre eigenen Ordnungen und Probleme aufklären wollten. Auf zumindest drei Ebenen ist damit ein nachhaltiger und durchaus konstruktiver Historikerstreit programmiert, der sich an den Internationalen Historikerkongressen hervorragend ablesen lässt. Erstens: Historiker stehen immer in der prekären Situation, sich zu den politischen Ordnun-gen, deren Genese und Struktur sie beschreiben, ein Urteil zu bilden. In der Regel trägt jede Geschichtsschreibung legitimierende oder kritische Züge. Geschichtsdeutung im öffentlichen Raum, dafür sind die Historikerkongresse ein guter Beleg , « est, en dernier ressort, une lutte pour le pouvoir symbolique et culturel »5. Zweitens: In den Kontroversen vor dem Ersten Weltkrieg um die angemessene Darstellung der Vergangenheit für die Gegenwart diente die ‚Nation‘ unangefochten als oberster Bezugspunkt für

4 Geschichtskultur meint « die Gesamtheit aller Formen, in denen Geschichtswissen in einer Gesellschaft präsent ist » (Wolfgang Hardtwig, Geschichtskultur und Wissenschaft, München, DTV, 1990, ders., Artikel « Geschichts- kultur », in: Stefan Jordan (éd.), Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart, Reclam, 2002, (p. 112-115), p. 112), also nicht nur die quellenkritische Tatsachenermittlung, sondern auch die Verteidigung der Gedächtnisorte einer Gemeinschaft oder ihrer Gründungsmythen.5 Die Bedeutung der Intellektuellen für die Machtkämpfe um « biens symboliques », zu denen auch die Deutungs- hoheit über die Vergangenheit gehört, beschreibt Christophe Charle, Les Intellectuels en Europe au XIXe Siècle, Paris, Seuil, 1996, p. 18 et 25.

Page 18: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

32 33

die gedankliche Ordnung historischer Wirklichkeit6. Aus der Perspektive des nationalen Machtstaa-tes, der unvollendeten oder der wieder herzustellenden Nation widmeten sich die Historiker um 1900 der « Vernetzung und Verdichtung der Welt ». Sie erfanden nationale Traditionen, rechtfer-tigten koloniale Ansprüche oder demonstrierten die Vorbildlichkeit der europäischen Zivilisation7. Drittens: Vor allem die Industrienationen unterlagen um 1900 einem beschleunigten Erfah-rungswandel8. Zunehmende Internationalisierung und ‚neuer Nationalismus‘ sind zwei Seiten derselben ‚Mondalisation‘9. Was hat das für Auswirkungen auf die Begegnung von Historikern aus unterschiedlichen Wissenschaftskulturen und politischen Kontexten? Inwieweit sind die Experten für die Vermittlung der Vergangenheit in die Gegenwart in dieser Hinsicht zu einer gesteigerten Selbstbeobachtung fähig? Als Orte des internationalen Austausches sind die His-torikerkongresse gut geeignet, Antworten auf diese Fragen zu suchen. Nicht zufällig war es die Gesellschaft für Diplomatiegeschichte, die die Anregung zu den inter-nationalen Historikerkongressen gab, wie sie seit 1898 stattfinden. Die diplomatische Kunst wird geübt zwischen den Nationen. Im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Politik sollten die Kongresse nach dem Wunsch ihres Begründers René de Maulde-La Clavière dabei ausdrücklich stattfinden10. Die Zusammenkunft in Den Haag 1898 wurde nur als Vorspiel betrachtet. Der erste ‚rich-tige‘ Internationale Kongreß der Historischen Wissenschaften fand in Verbindung mit der Weltausstellung 1900 in Paris statt. Weltausstellungen boten vor dem Ersten Weltkrieg ideale Bedingungen, um eine « Verknüpfung von Wissenschaft, Gesellschaft und Technik » im Geist des zivilisatorischen Fortschritts zu inszenieren11. Was mögen die angereisten Geschichtsexperten empfunden haben, sollten sie mit dem Boot die Seine herunter das Ausstellungsgelände passiert haben? Die Pavillons präsentierten sich ihnen auf engstem Raum in deutlich abgegrenzter Ikonologie des nationalen Historismus: das

6 Vgl. Dieter Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München, Beck, 2000; Dieter Langewiesche, Reich, Nation, Föderation. Deutschland und Europa, München, Beck, 2008.7 Vgl. Michael Mann (éd.), Globale Geschichtsschreibung um 1900, Periplus. Jahrbuch für außereuropäische Geschichte 18, 2008.8 Die Konsequenzen für das Aufschreiben, Fortschreiben und Umschreiben von Geschichte beschreibt eindring- lich Reinhart Koselleck, « Erfahrungswandel und Methodenwechsel. Eine anthropologische Skizze », in: Reinhart Koselleck, Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2000, p. 27-77.9 Zu den Aspekten des kulturellen Transfers vgl. David Blackbourn, « Das Kaiserreich transnational. Eine Skizze », in: Sebastian Conrad et Jürgen Osterhammel (éd.), Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871-1914, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 2004, p. 302-324.10 S. Karl Dietrich Erdmann, op. cit., p. 18f.11 Eckhardt Fuchs, « Wissenschaft, Kongressbewegung und Weltausstellungen: Zu den Anfängen der Wissenschafts- internationale vor dem Ersten Weltkrieg », in: Gerald Diesener et Matthias Middell (éd.), Historikertage im Ver- gleich, Comparativ 6, Leipzig, Leipziger Univ.-Verl., 1996, (p. 156-177), p. 157. Der Historikerkongreß war nur einer von über zweihundert Internationalen Kongressen, die rund um die Pariser Weltausstellung im Jahr der Jahr- hundertwende veranstaltet wurden.

Deutsche Kaiserreich gotisch, England « Jacobean Style », Italien im Gewand der Renaissance, Spanien maurisch, die USA mit einem Nachbau des klassizistischen Kapitols. Das stand in schärfstem Kontrast zu den modernsten Maschinen und technischen Erzeugnissen, die hinter diesen Fassaden gezeigt wurden12. Der Historikerkongreß selbst tagte im ehrwürdigen Collège de France13. Die Regie lag politisch wie wissenschaftlich ganz in französischer Hand. Und der Glanz der Weltausstellung stärkte das Selbstbewusstsein der französischen Historiker, sich als Avantgarde der internationalen Forschung zu zeigen. Nur dieser Aspekt sei hier betont14. Ganz geschickt signalisierte die Kongreßleitung die neue Marschrichtung bereits im Titel : « Congrès International d´Histoire Comparée ». Wobei schon in den Kongreß-Annalen verkürzt nur vom « Congrès d´Histoire Comparée » die Rede war15. Eine Vergleichende Methode auf reiner Faktenbasis, das war die anspruchsvolle Devise, die im Grunde heute noch so modern klingt wie beim Aufbruch ins 20. Jahrundert. Der Methodenstreit, der sich an dieser Devise eher indirekt entzündete, war primär ein innerfranzösischer. In seiner Eröffnungsrede verkün-dete der Vorsitzende der 1. Sektion « Histoire Générale et Diplomatique », Henry Houssaye, « La méthode historique a été renouvellée »16. Sie sei erneuert gegenüber der literarischen Geschichtsschreibung in Frankreich und mehr noch gegenüber der philosophisch-spekulativen Geschichtsschreibung in Deutschland. Wodurch? « Des faits, des faits, des faits qui portent en eux-memes leur enseignement et leur philosophie »17. Das war im wissenschaftlichen Denkstil von Auguste Comte viel radikaler gedacht, als es in der deutschen Wissenschaftskultur Ranke mit seiner Mahnung, « die nackte Wahrheit » zu berichten, je gemeint hatte. Die zentrale Kritik am reinen Faktenpositivismus artikulierte sich allerdings weniger auf dem Kongress selbst als im programmatischen Vorwort einer neuen Zeitschrift, die am Rande des Kongresses gegründet wurde, in Henri Berrs « Revue de Synthese Historique »18. Berr rief zu einer zweifachen Synthese auf, der zwischen den analytischen Generalisten und den empirischen Spezialisten der Disziplin ‚Geschichte‘ und der zwischen den Disziplinen. Die Einladung, international und interdisziplinär zu arbeiten, erging in erster Linie an die Vertreter einer empirischen Psychologie und an die neue soziologische Schule Emile Durkheims.

12 Philipp Blom, Der taumelnde Kontinent. Europa 1900-1914, München, Hanser, 2008, p. 23, mit Photographie.13 Auch hier war die Spannung zwischen demonstrativer Traditionspflege und einem Aufbruch zu neuen metho- dischen Standards mit Händen zu greifen.14 Eine ausführliche Darstellung bei Karl Dietrich Erdmann, op. cit., p. 26-37.15 Annales Internationales d´Histoire (AIH). Congrès de Paris 1900, Paris, Congrès d‘Histoire Comparée, 1900.16 Ibid., p. 5.17 Ibid., p. 6.18 « Le collectionneur de faits n´est pas plus estimable que le collectionneur de timbre-postes ou de coquillages », Henri Berr, « Sur notre programme », in: Revue de Synthese Historique (RSH) 1, 1900, (p. 1-8), p. 5.

Page 19: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

34 35

Interessant für einen Ideen-Transfer erschien Berr hierzu der ‚Positivistenzirkel‘ im sächsi-schen Leipzig mit dem Völkerspychologen Wilhelm Wundt, dem Chemiker Wilhelm Ostwald, dem Geographen Friedrich Ratzel, dem Nationalökonomen Karl Bücher und dem Historiker Karl Lamprecht.19 Wundts « psychologie des peuples » weise in die richtige Richtung. « La Völkerkunde, la Kulturgeschichte », so wie sie in Deutschland betrieben werden, seien konzeptionell noch « vague », die Nation als ihr Gegenstand sei « trop vaste ». Was die « neue Geschichte » benötige, seien « des études de psychologie provinciale »20. Im Einklang mit dem Kongress-Motto wurde hier die Idee geboren, nicht Nationen, sondern Regionen zu vergleichen, eine Idee, auf der später die weltweite Erfolgsgeschichte der « Annales » beruhte. Trotz erster Ansätze hierzu21 zeigte sich auf dem Pariser Kongreß noch das symbolische Kon-strukt der ‚Nation‘ als übermächtig22. Wie stark im Jahr 1900 in Paris theoretische Probleme mit Fragen nationaler Identitätsbildung verknüpft wurden, zeigt die Debatte, die der rumänische Historiker Xenopol auslöste. Xenopol entwickelte in seinem Vortrag eine gewagte These zur Nationalgeschichte Rumä-niens23 : er behauptete eine ethnische Kontinuität zwischen den Bewohnern der römischen Provinz Dakien und der rumänischen Nation. Dabei übersprang er argumentativ mit Hilfe von Hypothesenbildung einige Jahrhunderte. Ihm wurde daraufhin von dem ungarischen Historiker Maurice Darvaï vorgeworfen, auf die Hauptquelle der ‚historischen Wahrheit‘, d.h. auf überlie-ferte Dokumente, verzichtet zu haben, und das zu einem zweifelhaften politischen Zweck24.

19 Roger Chickering, « Das Leipziger ‚Positivisten-Kränzchen‘ um die Jahrhundertwende », in: Gangolf Hübinger, Rüdiger vom Bruch et Friedrich Wilhelm Graf (éd.), Kultur und Kulturwissenschaften, Tome 2: Idealismus und Positivismus, Stuttgart, Steiner, 1997, p. 227-245.20 Ibid., p. 2.21 Einen ersten Eindruck vermittelt bereits die 3. Sektion des Pariser Kongresses: AIH. Congrès de Paris 1900. 3e Section: Histoire Comparée de l´Economie Sociale, Paris, Congrès d‘Histoire Comparée, 1902.22 Diesen Eindruck vermittelt auch der kurze Bericht der Historischen Vierteljahrschrift (HV) 4, 1901, p. 155f. Henri Berr zog daraus den sicherlich richtigen Schluß, als Pionier für einen erfolgreichen Kulturtransfer der Wissen- schaften nicht die ‚Geschichte‘ ganz generell anzusehen. Besser sei es, eine « section d´histoire des sciences » zu gründen, da alle Nationen mit dem Problem der « diffusion des sciences » konfrontiert seien. (Vgl. Michel Blay, « Henri Berr et l‘histoire des sciences », in: Agnès Biard, Dominique Bourel et Eric Brian (éd.), Henri Berr et la Culture du XXe Siècle. Histoire, science et philosophie, Revue de synthèse 117, Paris, Centre international de synthèse, 1997, (p. 121-138), p. 133.) In diesem Sinne kam es in der Zwischenkriegszeit zu einer Verbindung des Internationa- len Historikerkongresses in Oslo 1928 mit der 1929 in Paris begründeten Congrès International d‘Histoire des Sciences.23 S. dazu auch Karl Dietrich Erdmann, op. cit., p. 32f.24 Beide Historiker betrachteten dabei die Wahrheitssuche als ultimatives Ziel der Geschichtsschreibung. Vgl. Alexandru Dimitrie Xenopol, « L‘hypothèse dans l‘histoire », in: AIH. Congrès de Paris 1900. Le Section: Histoire Générale et Diplomatique, Paris, Congrès d‘Histoire Comparée, 1900, (p. 39-50), p. 48 ; Maurice Darvaï, « La Hongrie et ses premiers vassaux roumains », in: AIH, (p. 107-118), p. 109. Durch die von Karl Lamprecht übernomme Essen- tialisierung der Rasse und des natürlichen Milieus als Determinanten des (national)historischen Prozesses fühlte sich Xenopol offenkundig von der geschichtswissenschaftlichen Auflage befreit, quellenkritisch vorzugehen, zu- mal ihm keine die rumänische Geschichte im Mittelalter dokumentierenden Quellen vorlagen (Vgl. Alexandru Dimitrie Xenopol, Les principes fondamentaux de l‘histoire, Paris, E. Leroux, 1899, p. 72).

Den fundamentalen Zusammenhang von Geschichtsschreibung und Politik bestritt Xenopols Kritiker Darvaï dagegen nicht, er zeigte sich nur verwundert, dass Xenopol nationale (in diesem Falle ungarische) Empfindlichkeiten so unbedenklich verletzte25. Ein Einwand, der seinerseits verwundern kann: Als ob auf einem internationalen Historikerkongress aufgrund der Konkurrenz der Nationalgeschichten und der politisch oft heiklen Bedeutung der zu erforschenden Sujets nur diplomatische Aussagen zu erwarten wären26. Das Gegenteil war der Fall. Das Kongressforum wurde von den Teilnehmern genutzt, um sich mit ihrer Nationalhistorie zu profilieren. In Paris bemühten sich insbesondere die Vertreter der« Randvölker », die Aufmerksamkeit auf ihre Nationen zu lenken27. Allein schon die zahlreiche Präsenz der Vertreter der ‚kleinen Völker’ setzte ein Zeichen. Auch durch die Vielzahl ihrer Beiträge traten sie aus dem Schatten der ‚großen Nationen’. Die mittel- und südosteuropäischen Kontroversen um die Nationsbildung machten einen beträchtlichen Teil der Kongresssektion « Histoire générale et diplomatique » aus. Dabei beherrschten die osteuro-päischen Nachzügler auf der geschichtswissenschaftlichen Szene die Spielregeln der nationalen Geschichtsschreibung gut. Am Beispiel Xenopols ist zu sehen, wie selbstverständlich die moderne Nationenperspektive in die vormoderne Vergangenheit zurückprojiziert wurde. Nur indem er die Nationenbildung als eine allgemeingültig notwendige historische Entwicklung ansah, konnte er in methodisch angreifbarer Weise die vereinzelten Zeugnisse historischen Geschehens so betrachten, als seien sie der nationalhistorischen Logik zwangsläufig unterworfen28. Auch der drei Jahre später in Rom abgehaltene Kongreß bot ein Beispiel für das Unruhepo-tential des Wissenschaftlichen im politischen Feld29. 1903 kam es im Vorfeld des Kongresses zu heftigen Auseinandersetzungen um Person und wissenschaftliche Thesen des italienischen Althistorikers Ettore Pais30. Pais hatte von 1881 bis 1883 in Berlin studiert und war von Momm-

25 Vgl. Maurice Darvaï, « La Hongrie », p. 108.26 Darvaï ist dabei nicht der einzige, der eine solche normative Interpretation der Historikerzusammenkünfte an den Tag legt. Auch in anderen Kontexten wird die vermeintliche Harmonie, die die Historikerkongresse begleiten soll, hin und wieder hervorgehoben. Vgl. z.B. Adolf Harnack, « Der vierte Internationale Kongreß », p. 514; Adol- phus William Ward, « Closing Remarks », in: James Bryce, Presidential Address, London, 1913, (p. 19-28), p. 28; American Historical Review (AHR) 18, 1913, (p. 679-691), p. 682.27 Vgl. Ernst Troeltsch, « Der Krieg und die Internationalität der geistigen Kultur », IWfWKuT 9, 1914, (p. 51-58), p. 51.28 Xenopol empfahl für die Geschichtswissenschaft das logische Mittel der « Inferenz », die darin besteht, aus einer einzelnen Beobachtung oder Tatsache und einer allgemeinen Tatsache eine Schlussfolgerung zu ziehen. Offenkundig begriff er die Nationenbildung als die Tatsache der zweiten Kategorie, die ihn zu ‚logischen’ Rück- schlüssen führte. Vgl. Alexandru Dimitrie Xenopol, « L‘Inférence en histoire », in: RSH 20, 1911, p. 256-268.29 Nicht um des Streites willen verdienen diese Konfrontationen Beachtung, sondern weil sich in ihnen der Einfluss politischer und gesellschaftlicher Kräfte auf die Selbstdefinition von Wissenschaften beispielhaft manifestiert. Dass es darüber zum Streit kam, liegt an dem selbstbewussten Anspruch von Geschichtswissenschaftlern, ihrer- seits die Eigenwahrnehmung sowohl der historischen Disziplin als auch die von Nationen zu prägen und, wo es not tut, zu korrigieren.30 Ausführlich dargestellt bei Karl Dietrich Erdmann, op. cit., p. 38ff.

Page 20: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

36 37

sen zur Mitarbeit am Corpus Inscriptionum Latinarum herangezogen worden31. Bei Mommsen studiert zu haben, das kam den damaligen Gepflogenheiten nach so etwas wie einem daraus resultierenden Anspruch auf einen Lehrstuhl für Römische Geschichte gleich32. Pais vertrat, bei seinen Studien in Berlin in der quellenkritischen Methode geschult, eine andere Auffassung von der Frühgeschichte Roms als viele seiner Kollegen. Er stimmte Mommsen zu, der die Entstehung Roms nicht auf eine Gründung durch Romulus 753 v. Christus, sondern auf die allmähliche Zuwanderung von Italikern im erst fünften Jahrhundert vor Christi Geburt datierte. Entzaubert war damit der Gründungsmythos der Stadt, empört die meisten der Italiener unter den Altertumswissenschaftlern. Es entbrannte ein jahrelanger Streit. Das unfreundliche Wort von der allemannischen Hyperkritik machte die Runde33. Schon hier wurde nicht allein um eine wissenschaftliche These gestritten, sondern um Recht oder Anmaßung der Deutschen, an das italienische Selbstverständnis zu rühren. Dass Pais, dem vorgeworfen wurde, nicht die italienischen Interessen zu vertreten34, dem Organisationskomitee des für 1902 in Rom anberaumten Internationalen Historikerkongresses angehörte, erschien seinen Gegnern unerträglich. Ihnen stand die internationale Zusammenkunft der Wissenschaftler in der Ewigen Stadt vor Augen. Sie gönnten Pais auf dieser Bühne keinen Erfolg und seinen wissenschaftlichen Thesen dort kein Echo. Das Herannahen des Historikerkon-gresses führte so dazu, dass sich der Streit um eigentlich wissenschaftliche Standpunkte weiter politisierte. Pais’ Gegner erreichten schließlich, dass der Kongress, für den die Einladungen bereits ergangen waren, tatsächlich abgesagt und erst im darauffolgenden Jahr abgehalten wurde, und Pais von seinem Amt als Mitglied des vorbereitenden Komitees zurücktrat. Ein erfolgreicher und anerkannter Wissenschaftstransfer: der der Mommseschen Methode, geriet also an seine Grenzen oder doch zumindest in die Kritik, weil er in Konflikt geriet mit dem italienischen historischen Selbstverständnis. Die Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik, 1907 mit dem selbst erteilten Auftrag gegründet, die « alte Kulturaufgabe Deutschlands » wahrzunehmen, zwischen den Nationen der Welt zu vermitteln, ließ es sich nicht nehmen, noch einmal auf den vier Jahre

31 Zu Pais’ Berliner Studienjahren s. auch «Gli Anni Berlinesi di Ettore Pais nella Corrispondenza con Girolamo Vitelli». In: Annali della Scuola Normale Superiore di Pisa. Classe di Lettere e Filosofia 12 (2), 1982, p. 589-602.32 Leandro Polverini, « L’Impero Romano − antico e moderno », in: Beat Näf, Antike und Altertumswissenschaft in der Zeit von Faschismus und Nationalsozialismus; Cambridge, Mandelbachtal, 2001, (p. 145-163), p. 147. Pais lernte in Deutschland nicht nur von Mommsen, sondern kam auch mit Emil Hübner, Carl Robert, Adolph Kirch- hoff, Heinrich Kiepert, Hermann Diels und Gustav Droysen ins wissenschaftliche Gespräch (s. «Gli Anni Berlinesi», p. 589).33 S. IWfWKuT 1, 1907, p. 291.34 S. dazu auch IWfWKuT 1, 1907, p. 293.

zuvor durchgeführten Kongress und den deutsch-italienischen Streit zurückzukommen35. In-zwischen hätten archäologische Funde das spätere Gründungsdatum bestätigt36. Diesen Blick zurück – nicht im Zorn, aber auch nicht ohne Triumph – verbindet die Zeitschrift mit einem Blick nach vorn, in das Jahr 1908, in dem der nächste Internationale Historikerkongress, diesmal in Berlin, stattfinden soll. Berlin erscheint dem amerikanischen Mediävisten Charles H. Haskins, der für die American Historical Review von dem Kongress berichtet, als der denkbar größte Gegensatz zu Rom, jeden-falls in den Augen eines Historikers. Dort die alt-ehrwürdige Stadt, die zusammen mit Athen zum Synonym für die klassische Antike wurde, hier das unruhige Berlin, dessen Geschichte kurz, dessen Bauten modern und wo die Auflagen des Baedeker kurzlebig waren37. Wenn auch nicht als ein historisches Wahrzeichen, galt Berlin gleichwohl als ein symbolischer Ort. Berlin, das waren Mommsen, Ranke und Niebuhr, Berlin, das war die Friedrich-Wilhelms-Universität und die Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften. Die geladenen Gäste fanden sich an einem für die Historiographie bedeutsamen Ort ein. Das hinderte nicht, dass ein Teil der Berliner Historiker von den Kongressplänen nicht begeistert war und sogar versuchte, ihnen entgegenzuwirken. Sie protestierten dagegen, den nächsten Kongress im Jahr 1908 in Berlin abzuhalten, mit einer Eingabe an das preußische Kultusminis-terium. Dabei beriefen sie sich auf die Geschichtswissenschaft selbst. Die Historie sei, sehe man vom Altertum ab, von politischen und nationalen Gegensätzen zu stark beeinflusst, als dass ein gemeinsamer Boden für die internationale Verständigung vorausgesetzt werden könne38. Die Unterzeichner39 versprachen sich nicht viel von der geplanten internationalen Zusammen-

35 Den Geist der Zeitschrift drückt besonders ein Artikel von Hugo Münsterberg aus, der seit 1893 als Professor für experimentelle Psychologie an der Harvard University lehrte und auf der Weltausstellung in St. Louis 1904 den wissenschaftlichen Kongress organisierte, an dem mit Adolf Harnack, Max Weber, Ernst Troeltsch und Karl Lamprecht führende deutsche Gelehrte teilnahmen: « Die internationalen Kulturbeziehungen und das nationale Bewusstsein », in: IWfWKuT 5, 1911, p. 399-412.36 S. IWfWKuT 1, 1908, p. 291-294. Als Gründungsjahr der Stadt wird heute 650 v. Chr. angegeben;s. Art. «Roma» in: Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike, München, DTV, 1979 u. Art. «Rom», in: Lexikon der Alten Welt, Zürich, München, Artemis-Verlag, 1990.37 S. hierzu und zum Folgenden Charles H. Haskins, « The International Historical Congress at Berlin », in: AHR 14, 1908, p. 1-8.38 S. Eingabe an den Minister f. geistliche, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten vom 31.7.1903, zitiert nach Karl Dietrich Erdmann, op. cit., p. 66f.39 Die Eingabe wurde unterzeichnet von Theodor Mommsen, Otto Hirschfeld, Max Lenz, Dietrich Schäfer, Hans Delbrück, Reinhold Koser, Eduard Meyer, Michael Tangl und Otto Hintze ; s. Karl Dietrich Erdmann, op. cit., p. 67.

Page 21: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

38 39

kunft und verwiesen dafür auch auf die Erfahrungen mit den Kongressen in Den Haag und Paris. Selbst der Kongress in Rom habe nicht den erhofften wissenschaftlichen Ertrag erbracht40. Rüdiger vom Bruch hat diesen Vorgang interpretiert als die Opposition einer zwar « repu-tierlichen, aber nicht eben bahnbrechenden Fachhistorie » gegen innovativ-selbstbewusste Vertreter der historischen Kulturwissenschaft, die mit dem « aufstrebenden, auf Weltpolitik drängenden und um Weltgeltung bemühten Kaiserreich » Schritt halten wollten41. Vertreter dieses Vorwärtsstrebens waren die Kongreßbefürworter Adolf von Harnack, Otto von Gierke und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf, die sich nur 24 Tage vor ihren Kollegen an eben dasselbe Ministerium wandten, um dort für den geplanten Kongress zu werben42. Es ging aber um mehr als um methodische Innovation auf der einen, Festhalten am Bewährten auf der anderen Seite. Harnack vor allem argumentierte in seiner Kongressbefürwortung auf einer ganz anderen Ebene als seine widerstrebenden Kollegen. Es ist – nicht zufällig – wieder die Internationale Wochenschrift, die in ihrem zweiten Jahrgang seine Ankündigung des Berliner Internationalen Kongresses für historische Wissenschaften abdruckt. Diese Wochenschrift war begründet worden von Friedrich Althoff, dem wichtigsten Kulturpolitiker des Kaiserreiches. Nicht erst in seiner Amtszeit wurden Wissenschaft und Bildung zunehmend als ‚vierte Produktivkraft‘ neben Boden, Kapital und Arbeit entdeckt43. Seit der Reichsgründung betrieb man im Zuge des Strebens nach Kulturausstrahlung, nach kultureller Selbstinterpretation und auch kultureller Expansion etwas, dem erst Harnack 1900 einen Namen gab: Wissenschaftspolitik44. Harnack war mit Althoff der Meinung, daß eine engere Vernetzung der wissenschaftlichen,wirtschaftlichen und politischen Interessen erreicht werden müsse45: Wissenschaft sei ein ge-

40 Um diesen wissenschaftlichen Ertrag wird es Theodor Mommsen vor allem gegangen sein, der nur zwei Jahre zuvor in Paris als Delegierter der Berliner Akademie am ersten internationalen Kongreß der großen Akademien teilgenommen hatte, dessen Zustandekommen ihm ein großes Anliegen gewesen war (s. Stefan Rebenich, Theodor Mommsen. Eine Biographie, München, Beck, 2002, p. 142). Es kann also aus seiner Unterschrift unter die Berliner Eingabe keinesfalls geschlossen werden, dass er sich internationaler Wissenschaftskooperation auf in- stitutioneller Ebene grundsätzlich verweigerte. Entscheidend war für ihn der wissenschaftliche Nutzen.41 Rüdiger vom Bruch, Björn Hofmeister et Hans-Christoph Liess, Gelehrtenpolitik, Sozialwissenschaften und aka- demische Diskurse in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart, Franz Steiner, 2006, p. 169.42 S. Karl Dietrich Erdmann, op. cit., p. 65.43 Bernhard vom Brocke, « Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Kaiserreich. Vorgeschichte, Gründung und Ent- wicklung bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges », in: Rudolf Vierhaus et Bernhard vom Brocke (éd.), Forschung im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft. Geschichte und Struktur der Kaiser-Wilhelm-/Max- Planck-Gesellschaft, Stuttgart, DVA, 1990, (p. 17-162), p. 20.44 S. Bernhard vom Brocke, « Internationale Wissenschaftsbeziehungen und die Anfänge einer deutschen auswär- tigen Kulturpolitik: Der Professorenaustausch mit Nordamerika », in: Ders. (éd.): Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftspolitik im Industriezeitalter. Das „System Althoff“ in historischer Perspektive, Hildesheim, Lax, 1991, (p. 185-242), p. 185 et 187.45 S. Rudolf Vierhaus, « Im Großbetrieb der Wissenschaft. Adolf von Harnack als Wissenschaftsorganisator und Wissenschaftspolitiker », in: Kurt Nowak et Otto Gerhard Oexle (éd.): Adolf von Harnack. Theologe, Historiker, Wissenschaftspolitiker, Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Tome 161, Göttingen, Van- denhoeck & Ruprecht, 2001, (p. 419-441), p. 428.

meinsames Gut, « eine Weltfuge, deren erste Sätze vor Jahrtausenden komponiert worden sind, in der die Stimmen immer neu eintretender Völker sich zur Geltung gebracht haben und die alle auftauchenden Dissonanzen schließlich zur Konsonanz zu zwingen die Kraft besitzt »46. Es ging um internationale Verständigung und Friedenssicherung einerseits – und der Wissen-schaft wurde dabei nicht eben wenig zugetraut, wenn sie alle internationalen Dissonanzen zu einer großen, gemeinsamen Konsonanz zwingen sollte – und um die Stellung des Deutschen Reiches im Wettbewerb der nationalen Wissenschaften andererseits47. Der Berliner Kongress war nicht von Harnack oder Althoff angeregt, aber von beiden begrüßt worden. Er fügte sich ideal ein in die von ihnen beförderte und betriebene Universitäts- und Bildungspolitik48. Geschichte war nach Harnacks Auffassung nicht nur der allgemeinste, sondern auch der gemeinschaftlichste Gesichtspunkt, unter dem man sich über Fächer- und Nationen-grenzen hinweg zusammenfinden könne. Denn hier entstünde durch internationales Zusam-menwirken etwas, das zwar die tiefsten Erkenntnisse nicht umfasse und auch die Werturteile frei lasse, aber dennoch ein Besitz von höchstem Wert sei: die Zusammenstellung gesicherter geschichtlicher Tatsachen49. Dass auch gesicherte Tatsachen die Geschichtswissenschaft nicht vor Zwist und das inter-nationale Konzert nicht vor Misstönen feien, hätte ihn der Streit um das Gründungsdatum Roms lehren können50. Es war aber im Berlin des Jahres 1907 ganz fraglos, welchem der beiden Historiker-Gesuche Althoff, auf dessen Schreibtisch sie landeten, stattgeben würde. Und so tagten die Historiker im August 1908 in Berlin, mit politischem Segen sozusagen. Ihre Mitarbeit haben die Protestler schließlich nicht verweigert und auch das aus politischem Grund: Wenn ihnen auch der wissenschaftliche Nutzen nicht ausreichend gegeben schien51, wollten sie einen politischen Schaden, wie ihn die Absage des Kongresses womöglich hätte anrichten können, doch in jedem Fall vermeiden52.

46 S. Adolf von Harnack, « Der vierte Internationale Kongreß », in: IWfWKuT 2 1908, (p. 513-520), p. 513f.47 S. Rudolf Vierhaus, « Im Großbetrieb der Wissenschaft », p. 430.48 Der von Althoff initiierte deutsch-amerikanische Professorenaustausch, konzipiert wiederum im Bemühen um Friedenssicherung und Völkerverständigung einerseits und um ein selbstbewusstes Ausstrahlen Deutschlands ins Ausland andererseits, war auch Teil der großen Strategie; s. Bernhard vom Brocke, « Internationale Wissen- schaftsbeziehungen ».49 S. Adolf von Harnack, « Der vierte Internationale Kongreß », in: IWfWKuT 2 1908, (p. 513-520), p. 515.50 Über den Zweifel an einem quasi automatisch glücklichen Zusammengehen von historischem gesicherten Wissen und Internationalität hinaus ist zu fragen, wie die Geschichtswissenschaft beschaffen sein muss, wenn sie als Teil einer «alte[n] Kulturaufgabe Deutschlands» verstanden wird, zwischen den Nationen der Welt zu vermitteln, und wenn sie zugleich zusammen mit der Wehrkraft den zweiten sicheren Pfeiler bilden soll, der die Größe Deutschlands trage.51 S. dazu auch Dietrich Schäfer, Mein Leben, Berlin, Leipzig, Koehler, 1926, p. 163: «Geschichte ist keine Wissen- schaft, die über Erleichterung der Forschungsbedingungen hinaus durch internationalen Betrieb wesentlich gefördert werden kann. Nationale Überzeugungen werden immer bestimmend für ihre Auffassung sein».52 S. dazu auch Karl Dietrich Erdmann, op. cit., p. 67f.

Page 22: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

40 41

Da die Auswahl der Orte für die Internationalen Historikerkongresse eine symbolische Macht-ordnung in der Wissenschaft und Politik widerspiegelte, war nach Berlin London an der Reihe. Obwohl dem « britischen Individualismus » keine große Organisationskunst zugetraut wurde53 und die britischen Historiker einen « Dilettanten »-Ruf hatten,54 war London in vieler Hinsicht eine perfekte Kulisse für den institutionalisierten Historikertreff. Die Gastgeber gestalteten das wissenschaftliche Programm aber nicht ohne wissenschaftspolitische und politische tout court Überlegungen. So kam der Kolonial- sowie Seekriegsgeschichte eine besondere Bedeutung zu, die als eine, trotz einiger auf dem Kongress vorgestellten Pionierarbeiten, gravierende Forschungs-lücke kommuniziert wurde55. Der Kongress war insgesamt aber alles andere als ein ‚rule Britannia‘ mit historischen Mitteln. Er führte die Fachdebatten um eine vergleichende Geschichtsforschung auf hohem Niveau fort. Unter der Leitung des russischen Rechtshistorikers Paul Vinogradoff machte die Sektion zur historischen Rechtsvergleichung den Transfer juristischer Lehren und Institutionen explizit zu ihrem Thema: « There are streams of doctrines and institutional facts which pas through the ages and cross national boudaries from one historical formation to another. These constitute what may be called the current of cultural tradition […]. The continuity of culture and comparative jurisprudence produce the atmosphere of what might have been called International Law, had not the term been appropriated to our uses »56. In dieser Erwartung an eine Internationalisierung des Rechtswesens leitete Vinogradoff die Sektion ein57. Unterschwellig beherrschte den Londoner Kongreß noch ein anderes Thema. Der Zusam-menhang von menschlicher Evolution, moderner Zivilisation und staatlichen Konflikten wurde immer wieder angesprochen, und Charles Darwin war zuweilen ein unsichtbarer Gast. Was Karl Lamprecht in seinem Vortrag über « die jüngsten geistigen Strömungen in Deutschland » genau gesagt hat, ist nicht überliefert. Seine Beobachtungen zum nervösen Zeitalter der « Reizsamkeit

53 « The International Congress of Historical Studies, Held at London », in: AHR 18, 1913, (p. 679-691), p. 682.54 Wilamowitz-Moellendorffs Grußwort auf dem Londoner Kongress, zitiert nach Karl Dietrich Erdmann, op. cit., p. 95.55 « The Navy has had such an important influence on the development of England‘s national life that it may well cause surprise to find that […] our historians paid little attention to it », John K. Laughton, « Historians and naval history », in: Naval and Military Essays, London, Oxford Univ. Press; 1913, (p. 3-23), p. 3. Vgl. Historische Zeitschrift (HZ) 15, 1913, (p. 464-468), p. 466. Der Verweis auf die unzureichende Behandlung dieses Themenfeldes in der Geschichtswissenschaft konnte aber nicht über das ‚Nebenziel‘ der Programmsektion hinwegtäuschen, die ruhmreiche englische Seekriegsgeschichte den angereisten Gästen vor Augen zu führen.56 Vinogradoff hatte aus Protest gegen die Zensur 1901 seine Professur in Moskau niedergelegt und einen Ruf an die juristische Fakultät in Oxford angenommen.57 Paul Vinogradoff (éd.), Essays in Legal History. Read before the International Congress of Historical Studies Held in London in 1913, London, Oxford Univ. Press, 1913, p. 4.

» dürften nicht nur « skurril » gewesen sein58. Was Lamprecht 1913 als « neue Kulturgeschichte » propagierte und didaktisch an Schulen und Hochschulen verankern wollte, war ein evolutio-nistischer Zugang zur Weltgeschichte, wie er angelsächsischen Historikern nicht ungewöhnlich klang: « Die Jugend interessiert sich heute für organische Zusammenhänge, für entwicklungs-geschichtliches Denken, für zusammenfassende Massenerscheinungen ». Das verbindet sie « mit einem lebhaften Hunger nach der Erweiterung des geschichtlichen Horizonts hinein in das Gesamtgebiet mindestens der europäischen Geschichte und der Expansion der europäischen Völker über die Welt, sehr häufig auch mit dem Bedürfnis einer Kenntnis niederer Kulturen auf dem Wege des Studiums der Völkerkunde »59. Ein Evolutionsdenken, welches Urgeschichte und Antike in gesetzmäßigem Verlauf mit derGegenwart verband, Völker und Rassen unterschied und Stufen fort- und rückschrittlicherZivilisation erkannte, war in der britischen und amerikanischen Geschichtskultur weniger un-üblich als unter deutschen Historikern. Kein Geringerer gab davon eine Probe als James Bryce, zu diesem Zeitpunkt britischer Botschafter in den USA60. Bryce übermittelte eine eindringliche Botschaft zu den kosmopolitischen Aufgaben des Historikers61. Die große Herausforderung sah er in der doppelten Erweiterung des Arbeitsfeldes gegenüber einer politischen Ereignis- und Institutionengeschichte62. Er warb für « the importance of the economic factor in national development, and to the juster perception of what may be gained from a study of the psychology of races and peoples in the successive stages of their growth ». Den aufmerksamen Hörern wird nicht entgangen sein, dass Bryce auf dieser Grundlage drei unterschiedliche Prozesse von transnationaler, ja universaler Bedeutung den Historikern zur exakten Erschließung mit ihren archäologischen, ethnographischen, sozialökonomischen und kulturanalytischen Werkzeugen ans Herz legte. Das war zum einen die Entstehung und Vielfalt ethnischer und politischer Gemeinschaften : « No historical problem is more obscure than the

58 So Erdmann in seinem ansonsten treffenden Bericht des Londoner Kongresses, Karl Dietrich Erdmann, op. cit., p. 94.59 Karl Lamprecht: « Neue Kulturgeschichte », in: David Sarason (éd.): Das Jahr 1913. Ein Gesamtbild der Kulturent- wicklung, Leipzig, Teubner, 1913, (p. 449-464), p. 449f.60 Bryce, der bis 1907 Zivilrecht in Oxford lehrte, reüssierte als Geschichtsschreiber mit dem frühen Werk The Holy Roman Empire. Auf die politische Soziologie sehr anregend wirkte seine dreibändige Studie The American Commonwealth, in der er unter anderem das Zusammenwirken von demokratischer Herrschaft und Parteien- system untersuchte. Vgl. James Bryce, The Holy Roman Empire, Oxford, 1864, stark erweitert London, 1870; James Bryce, The American Commonwealth, New York, 1888.61 In Rom war Bryce zum Vizepräsidenten gewählt worden, aber auf dem Londoner Kongress konnte er nicht per- sönlich erscheinen und musste seine Eröffnungsrede verlesen lassen. Diese Aufgabe übernahm der Präsident der British Academy und Organisator des Kongresses, Adolphus William Ward.62 Zu Bryce´s Geschichtsdenken siehe ausführlich Thomas Kleinknecht, Imperiale und internationale Ordnung. Eine Untersuchung zum anglo-amerikanischen Gelehrtenliberalismus am Beispiel von James Bryce (1838-1922), Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1985, bes. p. 22-58 ; ferner John T. Seaman, A Citizen of the World. The Life of James Bryce, London, Tauris, 2006.

Page 23: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

42 43

processes by which races have been differentiated from one another »63. Dieser Blickwechsel gegenüber dem Primat der ‚großen Mächte‘ war den an Herbert Spencer oder an Charles Darwin geschulten Historikern inzwischen vertraut. Weniger vertraut war ihnen die These, die Bryce zur Demokratie in fortgeschrittenen Industrienationen vertrat, so wie er sie in der Nachfolge von Alexis de Tocqueville in den USA studiert hatte: « Nor ought it to be forgotten that with the transfer of power in some countries to the Many from the Few there has come a quickened interest in the condition in former days of those whom Carlyle called the dumb populations”64. Überformt sieht Bryce diese Entwicklungstendenzen von einem mächtigen Prozeß, für den um 1900 das Wort ‚Mondalisation‘ noch nicht erfunden war: « The world is becoming one in an all-together new sense ». In der Sache war das Problem bereits voll begriffen : « The money markets are affected simultanously. Each Great Power, be it European, Asiatic, or American, is in close contact with all the others »65. Bryce sprach in der Doppelrolle des Historikers und Staatsman-nes, der von der Leistung der westlichen Zivilisation überzeugt war, wenn er die internationale Historikergemeinde zur universalgeschichtlichen Perspektive ermunterte : « World History is tending to become One History »66. In London 1913 waren deutsche Historiker zahlreich angereist und setzten starke inhaltliche Akzente. Auch die russische Delegation zog die Aufmerksamkeit der Historikergemeinschaft auf sich67. Am Kongress nahm aber auch eine Anzahl von Nationen teil, die in der Kongressberichter-stattung ‚unsichtbar’ geblieben sind. Die Revue Historique erwähnte den polnischen Historiker Jan Karol Kochanowski, der über Polen und die westlichen Länder im Mittelalter referierte, bereits in Rom anwesend war und ebenfalls die Internationalen Soziologenkongresse besuchte. Die Historische Zeitschrift, die Historische Vierteljahrschrift und die American Historical Review hielten die polnische Delegation nicht für erwähnenswert.68 Alle vier berichteten allerdings vom eindrucksvollen rumänischen Historiker Nicolae Jorga. Es ist schwierig zu beurteilen, inwieweit Jorgas Vortrag Les bases nécessaires d‘une nouvelle histoire du moyen âge bereits während des

63 James Bryce, Presidential Address, p. 15.64 Ibid., p. 12.65 Ibid., p. 16 et 17.66 Ibid., p. 17.67 Vgl. Revue Historique 13, 1913, p. 216-218; J.M. O‘Sullivan et M.T. Hayden, « The Congress of Historical Studies », in: Studies: An Irish Quarterly Review 2, 1913, p. 92-102 ; Kwartalnik Historyczny (KH) 27, 1913, p. 188-189.68 Vgl. RH 13, 1913, p. 216-218, HZ 15, 1913, p. 464-468, HV 16, 1913, AHR 18, 1913, p. 679-691. Zum Teil lag das daran, dass viele Vertreter der mittelosteuropäischen Nationen nicht als solche erkannt wurden, weil sie zur russi- schen oder österreichischen Delegation gehörten. Die englische Literaturzeitschrift Athenaeum sprach hinge- gen allgemein von reichlich repräsentierten « Slaven », The Athenaeum 4460, 1913, p. 436. Bezeichnenderweise macht eine irische akademische Zeitschrift auf die polnischen Beiträge aufmerksam. Vgl. Studies 2, 1913, p. 92-102. Wie im Lemberger Kwartalnik Historyczny nachzulesen ist, waren es mindestens sieben Vorträge, die fast alle einen Bezug zur polnischen Geschichte aufwiesen, KH 27, 1913, p. 188-189.

Kongresses als innovativ empfunden wurde69. Jorga trug mit seinem Vortrag zur zeitgenössischen Debatte über die Synthese als eine geschichtswissenschaftliche Methode bei. Das Mittel der Synthese diente nach seiner Auffassung dem Ziel, auf den ‚Geschichtsbedarf’ der gegenwärtigen Menschen zu antworten, d.h. Signifikanz des historischen Geschehens für die heutige Gesell-schaft auszuarbeiten70. Er hielt es für legitim, Erkenntnisse anderer Studien zu diesem Zweck in einer Synthese zusammenzufassen und nicht immer direkt auf Quellen zurückzugreifen71. Entsprechend dieser Forderung sei auch die Geschichte des Mittelalters im Zeichen der Gegen-wart neu aufzufassen. Jorga konstatierte die für seine Epoche charakteristische Tendenz, das mittelalterliche Europa in die « ethnographischen » territorialen Einheiten zu zerstückeln, die dem modernen nationalen Raster entsprachen, und dabei die gemeinsamen Entwicklungen zu übersehen oder zu unterschätzen72. Eine innovative und dem Zeitgeist angemessene Geschichte des Mittelalters würde hingegen eine Synthese dieser Periode anstreben, in der die gemeinsame, durch das römische Erbe und das Christentum geprägte Kultur Europas deutlich sichtbar sei. Jorga wählt als Grundmuster seiner Geschichtsschreibung historisch weit gefasste Narrative, mit deren Hilfe Rumäniens Platz in der europäischen Kulturgeschichte angedeutet wird. Aufgrund der mit der Kategorie des Nationalen nicht ohne weiteres zu erschließenden Geschichte Mittel- und Südosteuropas wäre es zwar für ihn sowieso kaum möglich gewesen, eine ‚idealtypische’ rumänische Nationalgeschichte zu schreiben. Möglicherweise verhalf ihm aber diese Erkenntnis zur Idee, Rumäniens Nationalkultur und -geschichte als eng verflochten mit der Kultur und Ge-schichte Europas darzustellen und dabei sowohl den nationalen Kern, Jorgas « Seele der Nation », als auch fremde Einflüsse zu würdigen73. Der Londoner Kongress war für Jorga auch Anlass zur Begegnung mit Karl Lamprecht, von dem er seit seinem Promotionsstudium in Leipzig inspiriert war74. Jorga begrüßte Lamprechts Streben, « nicht die Wahrheit der Tatsachen [zu] erfahren, sondern die Wahrheit in den Tatsa-

69 Jorga ist in London mit zwei Beiträgen aufgetreten, vgl. Nicolae Iorga, Les bases nécessaires d‘une nouvelle histoire du moyen âge. La survivance byzantine dans les pays roumains, deux communications, faites 1913 à Londres, Bucarest, Ministère de l‘instruction publique, 1913. Les bases ist als wirkungsvoller einzuschätzen. Die Rezension in American History Review, in der Jorgas Vortrag als nicht überzeugend abgetan wurde, relativiert allerdings die Ausstrahlungskraft von Jorgas Gedanken. AHR 18, 1913, p. 685f. Erdmann würdigt hingegen Jorgas ganzheitlichen Beitrag zu Internationalen Historikerkongressen (an denen sich Jorga auch nach dem Ersten Weltkrieg regelmäßig beteiligte) und betont die Originalität seiner nicht unumstrittenen Gedanken (vgl. William O. Oldson, The Historical and Nationalistic Thought of Nicolae Iorga, East European Quarterly, New York, Boulder, 1973).70 Nicolae Iorga, Les bases, p. 5.71 Ibid., p. 7.72 Ibid., p. 10.73 Vgl. Eugen Stanescu, « Le cadre européen de la culture roumaine dans la vision historique de Nicolas Iorga », in: D.M. Pippidi, Nicolas Iorga l’homme et l’oevre, Bukarest, Éditions de l’Académie de la République socialiste de Roumanie, 1972, p. 333-344.74 Nicolae Jorga, Schriften und Briefe, Bukarest, Kriterion Verlag, 1978, p. 172.

Page 24: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

44 45

chen »75. Da die beiden Historiker ein solches normatives Geschichtsverständnis teilten, durfte Jorga für Lamprechts Reihe Allgemeine Staatengeschichte den Beitrag Geschichte Rumäniens und anschließend den zur Geschichte des Osmanischen Reiches verfassen. Überhaupt schien es, dass während des Londoner Kongresses Lamprechts Ruhm für viele nicht deutsche Historiker noch nicht abgeklungen war, da auch der Rezensent der American Historical Review an die Begegnung mit Lamprecht als « more than a mere pleasure » zurückdachte.76 Die Geschichtswissenschaften zeigten auf den internationalen Historikerkongressen ihr doppeltes Gesicht. Sie konnten zur gemeinsamen Arbeit an den Synthesen internationaler Forschung aufrufen und damit zur « Konkordie » beitragen. Sie konnten aber auch die natio-nalen Geschichtsbilder gegeneinander in Stellung bringen. Vorahnungen hatte es schon in den Londoner Gesprächen von 1913 gegeben. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf berichtet darüber in seinen « Erinnerungen »: « Mit uns Deutschen verkehrten besonders die Russen und nahmen die Aufforderung an, dass 1918 der Kongreß in Petersburg gehalten werden sollte. Zu mir sagte einer von ihnen: ‹bis dahin haben wir einen Krieg gehabt, aber dann ist wieder alles in Ordnung.› »77 Ganz in Ordnung kam es so schnell nicht. Der erste Nachkriegskongreß fand 1923 in Brüssel statt, die deutschen Historiker wurden erst wieder 1928 nach Oslo eingeladen.

75 Ibid., p. 170.76 AHR 18, 1913, p. 682.77 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Erinnerungen 1848-1914, Leipzig, Koehler Verlag, 1928, p. 311f.

Dokument 4

Ewa Dąbrowska

Bericht zur Auswertung polnischer Zeitschriften als Medien der Wissenschaftskommunikation

Anhand der Monographie „Polskie czasopisma naukowe w latach 1918-1939”1 (Polnische wis-senschaftliche Zeitschriften in den Jahren 1918-1939) von Grażyna Wrona wurde der polnische Zeitschriftenmarkt in der Zwischenkriegszeit in den für das Projekt relevanten Disziplinen (Soziologie, Ökonomie, Staatswissenschaften, Wissenschaftsforschung) rekonstruiert. Beson-ders wertvoll zeigten sich neben den bereits früher bekannten und untersuchten „Przegląd Socjologiczny“ (Soziologische Rundschau, 1930 in Poznań von Florian Znaniecki gegründet) und „Ruch prawniczy, ekonomiczny i socjologiczny“ (Die juristische, ökonomische und soziologische Bewegung, 1921 als „Ruch prawniczy i ekonomiczny“ in Poznań gegründet, 1925 umbenannt und um die soziologische Komponente ergänzt), die folgenden Titel: - „Nauka Polska. Jej potrzeby, organizacja i rozwój” (Polnische Wissenschaft. Ihre Bedürfnisse, Organisation und Entwicklung, seit 1918 von Kasa im. Mianowskiego, Mianowskis Institut für die Förderung der polnischen Wissenschaft, herausgegeben), - sein fremdsprachiges Gegenstück „Organon. International Review devoted to the science of Science“ (es wurden lediglich zwei Exemplare veröffentlicht, im Jahre 1936 und 1938), - „Roczniki dziejów społecznych i gospodarczych” (Annales polonaises d’histoire sociale et économique), ein wirtschafts- und sozialhistorisches Medium, das auch soziologische und ökonomische Werke im großen Umfang rezensierte. Herausgegeben wurde es vom Lember- ger Prof. Dr. Franciszek Bujak und Prof. Dr. Jan Rutkowski aus Poznań. - „Studia ekonomiczne“ (Ökonomische Studien, seit 1935 von Prof. Dr. Adam Heydel heraus- gegeben, von der Rockefeller Foundation mit gefördert), eine englischsprachige Zeitschrift im ökonomischen Bereich, - die bereits um die Jahrhundertwende gegründete Krakauer „Czasopismo prawniczo- ekonomiczne“ (Die juristisch-ökonomische Zeitschrift) und Warschauer „Ekonomista“ (Der Ökonom),

1 Wrona, Grażyna, Polskie czasopisma naukowe w latach 1918-1939, Kraków: Wydawnictwo Naukowe Akademii Pedagogicznej 2005.

Page 25: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

46 47

- die auf Französisch redigierte, von Ludwik Krzywicki gegründete „Viribus Unitis“ (seit 1921), die die Ökonomie der mittel- und osteuropäischen Länder sowie ihre wirtschaftliche Bezie- hungen untereinander thematisierte. Die Sichtung der polnischen sozialwissenschaftlichen Zeitschriften aus der untersuchten Pe-riode legt die Präzisierung der Schwerpunkte im Rahmen des Projektes nahe. In den Blickpunkt gelangt der starke Fokus der polnischen Wissenschaft auf die interdisziplinäre Wissenschafts-forschung, d.h. „nauka o nauce“ (wörtlich Wissenschaftswissenschaft). Nicht nur werden deut-sche, französische und englischsprachige Werke im Bereich der Wissenschaftssoziologie und Wissenschaftstheorie massiv rezipiert (unter anderem Werke von Karl Mannheim, Robert K. Merton, Max Scheler, Ernst Grünwald2), internationale Debatten zur Stellung der Wissenschaft in der modernen Welt und zur voranschreitenden Verwissenschaftlichung des sozialen Lebens3 wiedergegeben und weitergeführt, sondern es findet auch eine genuine Debatte über die polnische Wissenschaft, „ihre Bedürfnisse, Organisation und Entwicklung“ statt. Nicht zuletzt wird über den Wissenschaftstransfer aus Deutschland, Frankreich, England und den Vereinigten Staaten reflektiert4 und die aus der Perspektive des Jahres 1918 längst fällige Verbesserung der internationalen Vernetzung der polnischen Wissenschaft vorgenommen.5 Die erstrebte Profes-sionalisierung der polnischen Wissenschaft tritt aber sichtlich erst in der Mitte der 1930er Jahre ein, als die Entscheidung für die Übersetzung der polnischen wissenschaftlichen Beiträge ins Englische und Französische reif wurde und einige Zeitschriften für internationales Publikum entstanden sind. Auch bei polnischsprachigen Titel ist zu der Zeit eine qualitative Wende zu verzeichnen. Wiederholt wird auch über die Eigenart der nationalen Wissenschaft debattiert. Die nationale Strategie für die polnische Wissenschaft sollte demnach darin bestehen, dass die Ergebnisse der deutschen, französischen, englischen und amerikanischen Forschung zwar rezipiert werden müssen, aber daraus sollen lediglich Impulse für die originelle Entwicklung der polnischen Wis-senschaft geschöpft werden. Die Beitragsverfasser sahen den damaligen Stand der polnischen Wissenschaft oft kritisch an und plädierten einerseits für die verstärkte staatliche Förderung,

2 Vgl. Chałasiński, J., Ernst Grünwald, Das Problem der Soziologie des Wissens, in: Nauka Polska XX/1935, S. 331 f.; Suchodolski, B., Max Scheler, Die Wissensformen und die Gesellschaft. Probleme einer Soziologie des Wissens, in: Nauka Polska XI/1929, S.379-381; Ossowska, M., Robert K. Merton, The sociology of knowledge, in: Organon 1938, S. 287; Mannheim, Karl, Socjologia wiedzy, in: Przegląd Socjologiczny 1937 (1-2), S. 56-101.3 Vgl. Unaukowienie życia społecznego (La rationalisation scientifique de la vie sociale), in: Nauka Polska XIV/1931, S. 278-283.4 Vgl. Konopczyński, Władysław, Nauka polska na terenie międzynarodowym (La science polonaise sur le terrain international), in: Nauka Polska III/1920, S. 197-203.5 Vgl. Siedlecki, Michał, Nauka polska na terenie międzynarodowym (La science polonaise sur le terrain interna- tional), in: Nauka Polska III/1920, S. 188-197.

anderseits für die Entstehung der kritischen Wissenschaftskultur, die sich bis 1918 unzureichend entwickelt hätte.6

Die in den polnischen Zeitschriften vielfach vorgenommene Erörterung der Bedeutung der Wissenschaft für das moderne Leben kann in den Kontext des bereits im Rahmen des Projektes untersuchten Zivilisationsdiskurses gestellt werden, zumal die „Verwissenschaftlichung des Sozi-alen“ als essentielles Merkmal der modernen Zivilisation galt.7 Die Untersuchung des zeitgenös-sischen wissenschaftlichen Diskurses über die wahrgenommene soziale Rolle der Wissenschaft scheint für das Projekt von großem Interesse zu sein. Eine besondere Herausforderung stellt die Verwendung der wissenschaftlichen Texte als historische Quellen dar, zumal das theoretische Instrumentarium für die Wissenschaftsforschung zum großen Teil in der untersuchten Epoche entstanden ist (Merton, Scheler). Gleichzeitig reflektierten die zeitgenössischen Forscher bereits über Probleme, die uns heute beschäftigen, und die wir historisch zu untersuchen anstreben, wie der Wissenschaftstransfer oder die soziale Dimension der Wissenschaft. Diese fortgeschrittene Reflexivität der zeitgenössischen Forscher historisch zu erfassen, stellt eine wichtige Aufgabe für unser Projekt dar. Auch sonstige Bereiche der zeitgenössischen Soziologie außer der Wissenschaftssoziologie eignen sich zur Untersuchung des Wissenschaftstransfers zwischen Deutschland, Frankreich und Polen. Schwerpunkte einer solchen Untersuchung müssen erst gesetzt werden. Das program-matische Vorhaben aus dem Jahre 1918, eine Umorientierung der polnischen Wissenschaft weg von den „zentralen Staaten“ hin zu Frankreich und England, durchzusetzen,8 kann anhand von gewählten thematischen Beispielen mit der tatsächlicheingetretenen Wissenschaftspraxis verglichen werden. Genauso interessant für das Projekt kann die Verfolgung des Ideentransfers im Bereichder Ökonomie werden. Insbesondere lässt sich der Transfer der wirtschaftsliberalen Doktrinenanhand des zugänglichen Quellenmaterials gut rekonstruieren.

6 Vgl. „Jeżeli wymagamy od rządu zasiłków materialnych i chcemy by rzad nie kontrolował nas, musimy wytworzyć autokontrolę i zmuszać do pracy tych, którzy mają ku temu środki a pracować nie chcą. Poza tym powinniśmy się przyzwyczaić do innej dyskusji, do możności dyskusji naukowej pomiędzy sobą. Dotąd w nauce naszej zdawało się, że jakakolwiek krytyka była uważana za obrazę osobistą.”, Kommentar von Prof. W. Broniewski zum Referat von Władysław Kopczyński, Nauka polska na terenie międzynarodowym (La science polonaise sur le terrain international), in: Nauka Polska III/1920, S. 205.7 Vgl. Raphael, Lutz, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforde- rung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 165-193.8 Frankreich und England wurden dabei von Michał Siedlecki als „eigentliche Ideenschöpfer“ bezeichnet, wohin- gegen Deutschland in seiner Einschätzung lediglich „Organisatoren der Forschung“ hervorbrachte. Vgl. Siedlecki, Nauka Polska, S. 191.

Page 26: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

48 49

Dokument 5

Barbara Picht

Klassiker der Kulturwissenschaften im Kalten Krieg

Von fünf Autoren wird in meinem Vortrag die Rede sein1. Vier von ihnen sind selbst zwar viel-leicht nicht Klassiker, aber doch prägende Figuren ihres Fachs geworden. Der fünfte, das ist der eigentliche Klassiker, auf den sie sich alle beziehen. Doch zunächst zu den vieren: In der französischen Geschichtswissenschaft wurde es unruhig mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Das Fach schien obsolet geworden zu sein, vor allem in den Augen mancher Sozialwissenschaftler. Auch in Deutschland und England wurde Unruhe geschürt gegen ein Geschichtsverständnis, das beinahe alles beiseite ließ, was menschliches Leben ausmacht und was das Geschick von Gesellschaften bestimmt, das nur die politischen Ereignisse gelten ließ und als geschichtsbildende Kraft beschrieb. Hilfe holten sich die französischen Unzufriedenen in Deutschland, und so gesehen beginnt die europäische Transfergeschichte, von der ich erzählen will, schon um die Jahrhundertwende. In Deutschland stritt einer für eine Kulturgeschichtsschreibung, die den Ausschau haltenden Franzosen vielversprechend schien. Und es erschien eine Zeitschrift, in deren erster Nummer auch er schon vertreten war. Die Zeitschrift wurde 1893 als „Zeitschrift für Social- und Wirth-schaftsgeschichte“ gegründet und später unter dem Titel „Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“2 bekannt. Der besagte Autor der ersten Stunde war Karl Lamprecht3. Die Franzosen, die ihn sich zum Vorbild nahmen, sollten Erfolg haben mit ihrem Import. Ihre Zeitschrift, nach dem Vorbild der Vierteljahrschrift konzipiert, hieß „Annales“, und dieser Name sollte bald zum Synonym werden für die Bewegung, die sie in die französische Geschichtswis-senschaft brachten. 1929 erschien das erste Heft der „Annales“, und es waren zunächst Marc Bloch und Lucien Febvre, die die Bewegung anführten. In dieser ersten Phase kann man sich ihr Unternehmen als eine Art Guerillakrieg gegen die traditionelle Geschichtsschreibung vorstellen4.

1 Vortrag, gehalten auf dem dt.-poln. Workshop „Europäische Wissenschaftskulturen in der Moderne (1890- 1970)“ an der Nikolaus Kopernikus Universität Toruń am 24. Mai 2012; die Vortragsfassung wurde beibehalten.2 Ab 1903 unter diesem Titel veröffentlicht.3 Lamprecht, Karl: Zum Verständnis der wirthschaftlichen und socialen Wandlungen in Deutschland vom 14. zum 16. Jahrhundert. In: Zeitschrift für Social- und Wirthschaftsgeschichte, 1. Bd. (1893), H. 1, S. 191-263.4 Burke, Peter: Offene Geschichte. Die Schule der Annales, Berlin: Wagenbach 1991, S. 8.

Die zweite Phase führte in ruhigere Gewässer. Über das Mittelmeer angeschifft kam im tat-sächlichen und übertragenen Sinne der Historiker Fernand Braudel. Braudel hatte als Lehrer im damals französisch beherrschten Algerien gearbeitet und dort den Plan für sein Buch über die Mittelmeerwelt zur Zeit Philipps II. von Spanien gefaßt. Dieses Buch schrieb Braudel dann zu gro-ßen Teilen in deutscher Kriegsgefangenschaft. Und er nutzte – auch das eine Transfergeschichte – ausgiebig die deutsche wissenschaftliche Literatur, die ihm über die Universitätsbibliothek Mainz auch im Gefangenenlager zur Verfügung stand5. 1947 wird sein Text an der Sorbonne als Habilitationsschrift angenommen, 1949 erscheint die Buchfassung. Braudels Habilitationsschrift ist so etwas wie eine Gründungsschrift der zweiten Phase der Annales-Bewegung geworden, die von 1945 bis etwa 1968 währte. Diese zweite Phase ist kein Guerillakrieg mehr, jetzt übernehmen die einstigen Rebellen sehr erfolgreich die Macht im französischen Historikerstaat6, und Braudel führt sie dabei an. Zur selben Zeit wie Braudels Buch, also in der unmittelbaren Nachkriegszeit, erscheint auch in Deutschland ein Werk, das langen Nachhall haben sollte. Sein Erscheinen wird 1946 angekündigt in der Zeitschrift „Die Wandlung“, gleich in ihrem ersten Jahrgang. „Die Wandlung“ ist keine Zeitschrift, die, wie die „Annales“, schon vor dem Krieg erschienen war. „Die Wandlung“ ist die erste Zeitschrift, der die amerikanische Militärbehörde im besiegten Deutschland eine Lizenz erteilte, und ihr Name ist Programm. Der sich hier zu Wort meldet, um sein Buch anzukündigen, ist zwar nicht gerade ein Guerilla-kämpfer. Aber wenn ich den Denkstil beschreiben soll, der für ihn wichtig war, dann war auch dies ein Denken, das gegen das Wissenschaftsverständnis des ausgehenden 19. Jahrhunderts einiges einzuwenden hatte. Ernst Robert Curtius verstand sich selbst zwar eher als Einzeldenker denn als Teil einer Bewegung. Doch zumindest seine Kritiker sehen das anders. Sie ordnen ihn jener wissenschaftskritischen Bewegung zu, die seit der Jahrhundertwende dem Positivismus als Selbstzweck nicht huldigen mochte, die die Wissenschaft in den Dienst nahm für etwas sehr viel Größeres: für den Menschen als lebendiges, schauendes, liebendes, glaubendes, schöpferisches Wesen. Wer so wie Curtius über die dienende Rolle der Wissenschaften dachte, und hier spätestens hebt die Kritik an, der billigt wahres Schöpfertum meist nur Wenigen, nur den Großen der Literatur, Kunst und Geschichte und nicht selten auch, man denke an Stefan George, sich selbst zu. Georges Anspruch erhob Curtius nicht für sich. Und sein Ziel war es auch nicht, analog zu Braudels Nachkriegskarriere die Macht im deutschen Romanistenstaat zu erringen. Aber Einfluß wollte er nehmen, auf sein Fach und auf Deutschland nach Hitler.

5 Hannemann, Laura: Der entfesselte Geist. Die französischen Lageruniversitäten im Zweiten Weltkrieg. In: Francia, Jg. 33 (2006), H. 3, S. 95–120, hier S. 107.6 Burke: Offene Geschichte, S. 8.

Page 27: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

50 51

Ein Mittel dieser Einflußnahme war sein Buch über „Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter“. Ein Kollege von Curtius legte als erstes Buch nach dem Krieg kein literaturwissenschaftliches Werk vor, sondern einen Roman. Er hatte ihn, wie Braudel sein Mittelmeerbuch, in Gefangen-schaft geschrieben. Es verwundert natürlich nicht, daß die Denkzusammenhänge dieser Bücher, die in den frühesten Nachkriegsjahren erschienen, weiter zurückreichen als bis 1945. Im Zucht-haus Plötzensee, schreibt Werner Krauss, wollte er mit dem Roman „PLN. Die Passionen der halykonischen Seele“ die Erfahrung Deutschland für seinen Teil bewältigen7. Es war die Erfahrung eines Romanisten, dessen marxistische Überzeugung ihn zu einem anderen Verständnis von Wissenschaft und Politik kommen ließ als Curtius oder auch als Braudel. Diese Überzeugung hatte ihn zum Widerstand gegen das nationalsozialistische Deutschland und, nach einem knapp abgewehrten Todesurteil, ins Zuchthaus geführt. Wie Krauss sich die Rolle der Wissenschaft nach 1945 dachte, machte er mit einem Zeitschriften-aufsatz öffentlich, den er 1950 in der Zeitschrift „Sinn und Form“ drucken ließ. „Sinn und Form“, das ist die legendär gewordene Zeitschrift unter der Herausgeberschaft von Peter Huchel, die als „geheimes Journal“ der Nation und zugleich als ungeliebtes, weil nur geduldetes Aushängeschild der SED-Kulturpolitik galt8. Mit dieser Zeitschrift wollte die DDR nach außen ihre Weltoffenheit de-monstrieren, hier war mancher Artikel manchen Autors möglich, der in anderen DDR-Medien nicht gedruckt worden wäre. Zugleich, und das gilt gewiß auch für den Text von Werner Krauss, wurde gerade deshalb diese Zeitschrift für Botschaften genutzt, die in durchaus kritischem Sinn gen Wes-ten gerichtet waren. Krauss hatte sich ganz bewußt für das sozialistische Deutschland entschieden und dort für die Universität Leipzig. Ihm gefiel nicht, wie rasch im Westen nach Kriegsende alte Verhältnisse konsolidiert wurden9. Was er in seinem „Sinn und Form“-Artikel als Aufgabe der Lite-raturwissenschaft beschreibt, hätte außerdem auch wenig Erfolg gehabt in der Bundesrepublik. Der vierte im Bunde erlebte das Kriegsende in den USA. Seine Arbeit als Historiker stand aber im Dienst eines anderen Landes. Diesen Dienst hatte er spätestens 1918 angetreten, als er in der Rolle des Experten mit der polnischen Delegation zur Pariser Friedenskonferenz reiste. Oskar Halecki gehört zu denjenigen polnischen Historiographen, der sich in der Zwischenkriegszeit mit dem Jagiellonenreich beschäftigten, also – die polnischen Kolleginnen und Kollegen wer-den dieser Erläuterung nicht bedürfen und mögen sie mir nachsehen – also mit dem polnisch-

7 S. Vorbemerkung zu Krauss, Werner: PLN. Die Passionen der halykonischen Seele. Frankfurt/M.: Klostermann 1946, S. 7.8 S. Schoor, Uwe: Das geheime Journal der Nation. Die Zeitschrift „Sinn und Form“, Chefredakteur: Peter Huchel, 1949 - 1962. Berlin u.a.: Lang 1992 u. Braun, Matthias: Die Literaturzeitschrift „Sinn und Form“. Ein ungeliebtes Aushängeschild der SED-Kulturpolitik (Analysen und Dokumente, 26). Bremen: Ed. Temmen 2004.9 S. Krauss, Werner: Briefe 1922 bis 1976, hg. v. Peter Jehle (Analecta Romanica, 65), Frankfurt/M.: Klostermann 2002, S. 10.

litauischen Staatsgebilde im 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts, in dem Polen, Litauen und Ruthenen zusammenlebten, in den Augen Haleckis und anderer Befürworter konfliktfrei, mit konfessioneller Toleranz, verfassungsrechtlicher Harmonie und adliger Demokratie (sprich, einer Wahlmonarchie). Halecki sah in dieser jagiellonischen Union gar ein geeignetes Vorbild für den sich 1920 neu begründenden Völkerbund10. Auf eine allgemeinere Ebene gehoben, ging es Halecki in seiner wissenschaftlichen wie poli-tisch umtriebigen Arbeit um den Ort Polens in Europa und um die in seinen Augen notwendige Abgrenzung zu Rußland. Zumindest in seinen frühen Schriften hatte Polen und darüber hinaus Ostmitteleuropa nicht weniger als die Aufgabe, ein „Schutzwall der Christenheit“ zu werden und ein „Grenzbollwerk europäischer Kultur“, wie er 1916 schreibt11. Seine Wehrhaftigkeit sollte dieses Grenzbollwerk gegenüber dem russisch-orthodoxen Osten entfalten, und der Westen sollte die Bedeutsamkeit Polens für Europa und seine Kultur erkennen und nutzen. Weil diese Auffassung und die damit verbundenen Bedenken gut passten zu der Sorge um eine Bedrohung des Abendlandes, wie sie in Westdeutschland nach Hitler und dort auch von katholischer Seite gehegt wurde, weckte Haleckis Nachkriegsschrift „Europa. Grenzen und Gliederung seiner Geschichte“ dort lebhaftes Interesse12. Diese vier Autoren: Fernand Braudel, Ernst Robert Curtius, Werner Krauss und Oskar Halecki beanspruchten für sich und ihre Wissenschaften, zur Gestaltung Europas nach 1945 beizutragen. Welchen Einfluß wollte jeder von ihnen nehmen? Und wie begründet er ihn? Es ist in den vier kur-zen Skizzen vielleicht ja schon sichtbar geworden, daß sie durchaus unterschiedlich dachten, un-terschiedlichen Wissenschaftskulturen angehörten, unterschiedliche politische Ziele verfolgten. Staunen kann hervorrufen – und beim Transferforscher auch ein wenig heimliche Freude – daß es einen Autor gibt, auf den sie in ihren Selbsterklärungen zur Wissenschaft nach 1945 alle Bezug nehmen. Er ist der angekündigte Klassiker und sein Denken ist ebenfalls eng verbunden mit einem Krieg, allerdings mit dem Ersten Weltkrieg. Der Zweite Weltkrieg stellte offensichtlich die Kulturwissenschaften wieder vor die Frage, die sich auch Arnold Toynbee gestellt hatte. Sie stellte sich vielleicht nicht einmal neu, sondern war

10 S. Bömelburg, Hans-Jürgen (2007): Zwischen imperialer Geschichte und Ostmitteleuropa als Geschichtsregion: Oskar Halecki und die polnische ‚jagiellonische Idee’. In: Hadler, Frank; Mesenhöller, Mathias (Hg.): Vergangene Größe und Ohnmacht in Ostmitteleuropa. Repräsentationen imperialer Erfahrung in der Historiographie seit 1918 = Lost greatness and past oppression in East Central Europe: representations of the imperial experience in historiography since 1918 (Geschichtswissenschaft und Geschichtskultur im 20. Jahrhundert, 8). Leipzig: Akad. Verl.-Anst. 2007, S. 99-130, hier S. 110.11 Zitiert nach Bömelburg: Zwischen, S. 112. Zur Bedeutung dieser ursprünglich päpstlichen Doktrin des „antemurale christianitatis“ s. auch Jaworski, Rudolf: Polnische Helden – europäische Taten: Sobieski – Kościuszko – Piłsudski, in: Le Rider, Jacques u.a. (Hg.): Transnationale Gedächtnisorte in Zentraleuropa (Gedächtnis – Erinnerung – Identität, 1). Innsbruck u.a.: Studien-Verlag 2002, S. 13-30, hier S. 14.12 S. dazu Bömelburg: Zwischen, S. 121.

Page 28: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

52 53

dieselbe geblieben und durch den zweiten Krieg nur noch dringlicher geworden: Wie kommt es zu der großen Krise der Gegenwart, warum scheint die Welt, zumindest die europäische, aus den Fugen, was geht hier zu Ende, warum kommt unsere Kultur und Zivilisation nicht dagegen an? Toynbees Antwort füllt 12 Bände, die mit dem Titel „A Study of History“ zwischen 1934 und 1961 in London erschienen. Gleich in der Einleitung zu seinem Buch „Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter“ nimmt Ernst Robert Curtius auf Toynbee Bezug. Er stellt seinen Lesern dessen Denken kurz vor, und da Curtius derjenige der vier Autoren ist, der die wenigste Kritik an Toynbee übt, kann ich diese Zusammenfassung zitieren, um sowohl in gröbsten Zügen die zentrale These Toynbees als auch Curtius’ Interesse daran vorzustellen: „Der erste Weltkrieg hatte die Krisis der europäischen Kultur offenbar gemacht. Wie entstehen, wachsen, verfallen Kulturen und die sie tragenden Geschichtskörper? Nur eine exakt vorgehende, vergleichende Morphologie der Kulturen kann hoffen, diese Frage zu beantworten. Es war der Engländer Arnold J. Toynbee, der diese Aufgabe ergriff. Seine Historik kann für alle Geschichtswis-senschaften eine Grundlagenrevision und eine Horizonterweiterung bedeuten, die ihre Analogie in der Atomphysik hat. Sie unterscheidet sich von allen früheren Geschichtsphilosophien durch die Breite der Anschauung und durch einen Empirismus, der bester englischer Tradition entspricht. […] Was sind die letzten Ganzheiten des Geschichtsverlaufs, die der Historiker visieren muß, um verstehbare Sinngebilde (intelligible fields of study) zu gewinnen? Es sind nicht Staaten, sondern umfassendere Geschichtskörper, die Toynbee ‚Gesellschaften’ (societies) nennt und die wir als Kul-turen bezeichnen können. Wie viele gibt es? Einundzwanzig, nicht mehr und nicht weniger. Eine sehr kleine Zahl also, die aber doch Vergleiche ermöglicht. Jeder dieser Geschichtskörper wird durch seine physische und historische Umwelt und durch seine innere Entwicklung vor Probleme gestellt, an denen er sich zu bewähren hat. Es sind Prüfungen, in denen er wächst oder versagt. Ob und wie er sie beantwortet, entscheidet über sein Schicksal. […] Die Lebenskurven der Kulturen [denen, das ergänze ich hier, Phasen von Jugend, Blütezeit, Alter und Tod zugeschrieben werden] sind bei Toynbee nicht wie bei Spengler einem fatalistischen Ablaufgesetz unterworfen. Zwar sind ihre Ablaufformen einander analog [eben Jugend, Blütezeit usw.], aber jede Kultur ist einzigartig, weil sie Wahlfreiheit zwischen verschiedenen Verhaltensweisen hat. Die einzelnen Kulturbewegungen können voneinander unabhängig sein (zum Beispiel Maya-Kultur und Altkreta), können aber auch durch ein Generationsverhältnis derart verbunden sein, daß die eine die Tochterkultur der anderen ist. In diesem Verhältnis stehen Antike und Abendland, aber auch altsyrische und arabische Kultur usw. […] Innerhalb jeder Kultur gibt es führende Minderheiten, die durch Anziehung und Aus-strahlung die Mehrheiten zum Mitgehen bewegen. Erlahmt in jenen die schöpferische Vitalität, so verlieren sie ihre magische Macht über die unschöpferischen Massen. Die schöpferische Minderheit ist dann nur noch eine herrschende Minderheit. Das führt […] zur Entstehung eines inneren und äußeren Proletariats und somit zum Verlust der sozialen Einheit.

Von der Fülle und der Leuchtkraft des Toynbeeschen Werkes können die herausgehobenen Ein-zelheiten nicht den entferntesten Begriff geben; noch weniger von der gedanklichen Strenge des Aufbaus und der genau kontrollierten Darbietung des Stoffes. Ich fühle diese Bedenken. Aber ich kann ihnen nur entgegenhalten, daß es besser ist, einen wenn auch unzulänglichen Hinweis auf die größte historische Denkleistung unserer Tage zu geben, als sie mit Schweigen zu übergehen. […] Toynbees Werk bedeutet eine […] Prüfung für die heutige Geschichtswissenschaft.“13

Das sah Fernand Braudel durchaus anders. Als er 1959 für die „Encyclopédie française“ for-mulieren soll, was die Kulturgeschichte zur Kenntnis der Gegenwart und damit notwendig der Zukunft beitragen kann, widmet er von dem Platz, der ihm zur Verfügung steht, immerhin knapp ein Fünftel Toynbees Werk14. „Ich gestehe, daß ich die gut verständlichen Bücher, die gewandten Plädoyers, die klugen An-spielungen Arnold Toynbees teilweise mit regelrechter Begeisterung gelesen und wiedergelesen habe. Ich liebe seine kalkulierte Umständlichkeit, die Kunst, mit der er, koste es, was es wolle, ein System aufbaut und verficht, das im übrigen reichlich kapriziös ist. […] [Toynbee] erscheinen nur 21 […] Zivilisationen, alle langlebig und von ziemlich großer Ausdehnung, dieses Titels würdig, darunter fünf heute lebende: der Ferne Osten, Indien, die orthodoxe Christenheit, der Islam, das Abendland. Um ein solch mageres Kontingent zusammenzustellen, mußten viele potentielle Anwärter zurückgewiesen werden: die einen aufgrund ungenügender Langlebigkeit, die anderen aufgrund mangelhafter Originalität und wieder andere, weil sie offensichtlich scheiterten. […] Die abendländische Zivilisation, heute zwar noch am Leben, ‚geht in die Knie’ […], erschöpft ihre Kräfte seit über einem Jahrhundert offensichtlich in nicht mehr abreißenden Schwierigkeiten. Fragt sich nun, ob sie durch ein Universalreich einen Aufschub erhalten wird. Allerdings müßte es diesmal ein wirkliches Weltreich sein, das von den Russen oder den Amerikanern auf freundliche Weise oder gewaltsam eingeführt würde.“15

So charakterisiert Braudel ironisch Toynbees wichtigste These. Und was meint Halecki? Er nennt Toynbees Werk zusammen mit Gonzague de Reynolds „Formation de l’Europe“ eines der beiden hervorragenden Werke, von denen sein Europa-Buch entscheidende Anregung empfangen habe16. „In beiden Werken hat die zeitliche und räumliche Gliederung der Geschichte einschließlich des Problems der Grenzen Europas und seines Aufbaus die gebührende Aufmerksamkeit gefunden.

13 Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern: Francke 1948, S. 12 ff.14 Gerechnet anhand der deutschen Übersetzung, s. Braudel, Fernand: Die Kulturgeschichte: Die Vergangenheit erklärt die Gegenwart. In: Ders.: Schriften zur Geschichte. Bd. 1: Gesellschaften und Zeitstrukturen. Stuttgart: Klett-Cotta 1992, S. 240-293.15 Braudel: Kulturgeschichte, S. 256, 261 u. 265.16 Halecki, Oskar: Europa. Grenzen und Gliederung seiner Geschichte. (The Limits and Divisions of European History (1950) [dt.]). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1957, S. XIV.

Page 29: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

54 55

[…] Die Ansichten eines polnischen Historikers, der jetzt in Amerika lebt, können [aber] vielleicht in mancher Hinsicht die eines Engländers und eines Schweizers, die beide in Europa geblieben sind, ergänzen“17. Und Krauss? Mit ihm können wir schon den nächsten Reigen beginnen, der uns zeigen soll, warum wer von ihnen Toynbees Denken wie für sich nützt. Denn Krauss beschreibt, warum Curtius von Toynbees „A Study of History“ fasziniert ist – fasziniert sein müsse: „Bei Toynbee war vieles zu finden. Zunächst die einundzwanzig Kultur- und Gesellschaftskreise, mit denen das Kartenspiel der Weltgeschichte immer wieder gemischt wird. Sodann in jedem Kul-turkreis die Drohung des Verlöschens der Suggestionskraft bei ihrer vorbildhaften Elite, womit die ‚verproletarisierte’ Gesellschaft den Kulturtod erleidet. Vor Tische las man es ähnlich bei Spengler. […] In jedem Kulturkreis wirkt ein Gesetz, ein Auftrag zu seiner Erfüllung. Der ‚abendländische Kulturkreis’ ist damit von neuem in seine bedrohliche Vollzugskraft gesetzt, und jede Entscheidung wird statthaft, wenn sie nur im Sinne des eigenen Gesetzes entscheidet. Doch diese gefährliche Spitze wird umgebogen durch eine sanfte Transzendenz, verhüllt sich in einen milden, christlichen Hauch: er bildet das Klima, in dem sich die Restauration der zweiten Nachkriegsepoche befestigt. [Hier beginnt Kraussens Kritik an Toynbee und damit auch an Curtius:] Ist das Bekenntnis zu ei-nem abgegrenzten Humanismus noch humanistisch? Kann der Verzicht auf die Gemeinschaft des menschlichen Schicksals sich mit der Entscheidung für den Humanismus vereinen? Wird nicht die wirkliche Kette der Menschengeschichte durch jeden geschichtlichen Pluralismus zerbrochen?“18

Tatsächlich will Ernst Robert Curtius durch sein Nachkriegsbuch die abendländische Kultur sozusagen aktivieren. Das große und gelehrte Buch zeigt einen sehr speziellen, weil sehr detail-lierte Kenntnisse erfordernden Weg, die Geschichte der europäischen Literatur so zu lesen, daß dabei Kontinuitäten sichtbar werden, vom frühesten Mittelalter an bis zum beginnenden 19. Jahrhundert oder anders gesagt von Homer bis Goethe. Diese Literatur bildet nach Curtius eine europäische Sinneinheit und mit ihr einher geht die große Sinneinheit der europäischen Kultur im selben Zeitraum. Dieser Literatur billigt er zeitlose Gegenwart zu, wie er es nennt, sie kann in der jeweiligen Gegenwart stets mit wirksam sein. Was da wirksam wird, sind vor allem die Bilder und Motive, die durch die Jahrhunderte immer wieder auftauchen in verwandelter Gestalt, Curtius nennt sie Topoi. Spätestens jetzt wird verständlich, warum er sein Buch Aby Warburg widmet. Dessen Suche nach den Bildmotiven und ihrem Weg auf den Wanderstraßen der Kultur

17 Halecki: Europa, S. XV.18 Krauss, Werner: Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag. In: Sinn und Form, Jg. 2 (1950), S. 65–126. Hier zitiert nach Krauss, Werner: Das wissenschaftliche Werk. Bd. 1: Literaturtheorie, Philosophie und Politik. 2. Aufl., hg. v. Manfred Naumann, Berlin: Aufbau-Verl. [u.a.] 1987, S. 7-61, hier S. 50 f.

von der Antike bis in die Gegenwart wurde weit mehr noch als Stefan Georges Nachdenken über große Gestalten für Curtius zur Inspiration. Warum Toynbee? Er bestärkt Curtius in seinem Verständnis von der zu mobilisierenden Kraft einer Kultur, mit welcher sie ihr eigenes Überleben ermöglichen kann. Toynbee nennt diese Möglichkeit das Challenge-and-Response-Prinzip. Wenn man sich auf die Sinneinheit der europäischen Literatur besinnt, ist ein Denken in den historisch völlig unhaltbaren Kategorien der Nazis ebensowenig möglich wie nach 1945 der Versuch, sich im Kalten Krieg entweder dem amerikanischen Westen oder dem sowjetischen Osten zuschlagen zu lassen. Deutschland habe in Europa nach der Katastrophe des Nationalsozialismus einen dritten Weg zu gehen. In Curtius’ Augen entspricht allein das der Eigenlogik der abendländischen Kultur und nur aus ihrer eigenen Logik heraus kann sie weiter bestehen, die Krisen überstehen und neue Kraft entwickeln. Gegen die Besitzansprüche eines sowjetischen Ostens wehrt sich auch Halecki. Nur beginnt für ihn der feindliche Osten weit östlicher als für Curtius. Warum kann Halecki für die polnischen Interessen, wie er sie versteht und nur vom Exil aus vertreten kann, Toynbee gebrauchen? Nutzbar machen läßt sich für seine Historiographie Toynbees Auffassung, daß eine Zivilisation ein aus sich selbst verständlicher Bereich der Forschung sein müsse. Betont man, wie Halecki, die Zugehörigkeit der Region Ostmitteleuropa zu Europa, gewinnt die polnische Geschichte die starken Verbindungslinien zu Gesamteuropa zurück, auf die es Halecki ankommt. Es ist dann Teil des historisch aus sich selbst verständlichen, und das heißt ja zugleich nicht in einen West- und Ostteil zu zertrennenden übernationalen Verbundes Europa. Polen und darüber hinaus Ostmitteleuropa können dann nicht mehr als ein Stiefkind europäischer Geschichte übersehen werden, was Halecki der westeuropäisch fixierten Geschichtsschreibung vorwirft. Auch Toynbee, und hier grenzt er sich von ihm ab, setzt Europa in Haleckis Augen zu sehr mit einem westlich verstandenen Abendland gleich. Einig ist er mit ihm, wenn es um die bedeutsame Rolle der Religionen für die einzelnen Zivilisa-tionen geht. Nach Toynbee entstehen religiöse Überzeugungen in Zeiten der Krise und Auflösung einst stabiler Gesellschaften. Sie sind damit einerseits ein Bindeglied zwischen untergehenden und neu entstehenden Zivilisationen, andererseits haben sie eine stabilisierende Kraft, die der destruktiven Seite der menschlichen Natur entgegen wirkt, durch die Zivilisationen in ihrem Fortbestand bedroht werden können. Dies ist für Halecki ein zu funktionalistisches Religionsver-ständnis. Die christliche Offenbarungsreligion kann und will er nicht als ein letztlich für irdische Ziele zweckgebundenes und menschengemachtes Erzeugnis verstehen. Außerdem werde die besondere Bedeutung des Christentums für die europäische Zivilisation auf diesem, also auf Toynbees Weg, ebenfalls nicht erkannt. Warum interessiert sich Braudel für Toynbee, den er doch kritisch, manchmal beinahe spöttelnd liest? Er zeigt am Beispiel Toynbees, was nach seiner Auffassung zu vermeiden ist, wenn man Kulturgeschichte schreibt. Kulturen seien nicht als ein Wesen oder ein Organismus zu denken,

Page 30: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

56 57

der geboren wird, heranwächst, blüht und dann stirbt. Sie seien außerdem, das betont Braudel nachdrücklich, eben kein aus sich heraus verständlicher Forschungsgegenstand, keine Inseln im Ozean. Braudel betont die nicht-Abgrenzbarkeit von Kulturen. Er würde auch die engherzigen Listen Spenglers und Toynbees verwerfen, denen so viele Kulturen zum Opfer fallen. Und plädiert dafür, kleinere Untersuchungseinheiten zu wählen und die Möglichkeiten der Mikrogeschichte zu nutzen. Als zu groß gewählt beurteilt Braudel dabei und im Unterschied zu Curtius oder Halecki auch den Untersuchungsgegenstand Abendland beziehungsweise abendländische Kultur. Ausgehend von kleinsten kulturellen Einheiten seien die Mikroelemente der Kultur, wie Braudel es nennt, zu beobachten. Sie faszinieren ihn wegen ihrer unaufhörlichen Wanderung zwischen den Kulturen. Durch diese Fähigkeit zur Zirkulation unterscheiden sich nach Braudel die kulturellen von den sozialen Phänomenen. Und wo ihr Zirkulieren gehemmt wird, wo also Transferstaus oder Transferverweigerung zu beobachten sind, gerade da zeigt die verweigern-de Kultur zugleich sich selbst in ihrer Eigenart besonders deutlich. „Die von Toynbee so wenig berücksichtigten Phänomene der ‚Diffusion’ sind in meinen Augen“, schreibt Braudel, „sogar einer der besten Prüfsteine für die Vitalität und Originalität einer Kultur.“19

An dieser These gemessen, zeigt sich Braudels Wissenschaftskultur gerade darin in ihrer Ei-genart besonders deutlich, daß sie sich auch Toynbees Betonung der überragenden Bedeutung der Kulturgeschichte verweigert. Braudel will Kulturgeschichtsschreibung gekoppelt sehen an Soziologie, Anthropologie, Wirtschaftswissenschaft, an jeden einzelnen großen Sektor der Hu-manwissenschaften20. Deswegen übersetzt er Toynbees „societies“ auch nicht mit Zivilisationen, sondern mit Kultur. Kultur und Zivilisation aber seien nicht getrennt zu denken. Es gebe keine Kultur ohne starkes politisches, soziales und wirtschaftliches Gerüst, das ihr sozusagen ihren materiellen Körper gebe. Und das auf das Immaterielle der Kulturen seinerseits einwirke. In diesem letzten Punkt hätte Werner Krauss Braudel sicher zugestimmt. Es ist natürlich nur bedingt verwunderlich, daß er als maxistischer Wissenschaftler Geschichte anders schreibt und versteht als Toynbee oder auch Curtius, auch als Halecki. Krauss’ wichtigste Kritikpunkte an Toynbees Werk habe ich bereits genannt: Weder eine Reduktion auf 21 Kultur- und Gesell-schaftskreise kann er dulden, noch die Vorstellung, daß Gesellschaften verproletarisieren und schließlich zugrunde gehen, werden sie nicht von schöpferischen und vorbildhaften Einzelnen geführt. Die historisch wirklich wichtigen Impulse kommen für Krauss aus der Gesellschaft, aus der Dynamik von Klassengegensätzen, die es gerade zu überwinden gilt. Interessanterweise aber stimmt er mit Curtius und Halecki und gegen Braudel in dem Streben überein, so etwas wie eine Einheit zu finden. Geht es Curtius und Halecki aus durchaus unterschiedlichen Gründen

19 Braudel: Kulturgeschichte, S. 275.20 Braudel: Kulturgeschichte, S. 278.

um die Einheit der europäischen Geschichte, sucht Krauss eine Einheit von individuellem und gesellschaftlichem Leben zu denken und zu erreichen. Interessanterweise, und damit will ich schließen, kombinieren darüberhinaus alle vier ihre jeweiligen nationalen, wissenschaftlichen und politischen Perspektiven und Interessen mit einem Ziel, über das sie sich merkwürdig einig sind. Jeder von ihnen schreibt das auch explizit, ich lese es nicht hinein. Dieses Ziel ist, mit den Mitteln der Kulturgeschichtsschreibung dazu beizutragen, Werte zu etablieren oder zu erhalten. Halecki nennt dieses Ziel ethischen Fortschritt, Braudel, Curtius und Krauss nennen es Humanismus oder neuen Humanismus. Toynbees „A Study of History“ war für sie ein Interpretationsvorschlag von Geschichte, an dem sie auch prüften, auf welchen Wegen dieses Ziel zu erreichen sei. Und sie kamen, wie gesehen, dabei zu durchausunterschiedlichen Ergebnissen.

Page 31: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

58 59

Dokument 6

Max Spohn

Polen und Europa im Werk von Stefan Czarnowski.Neue Impulse für die Erforschung der Geschichte der polnischen Soziologie

Die Autoren des 2011 erstmals erschienenen Jahrbuchs für Soziologiegeschichte (Rocznik historii socjologii1) haben sich das Ziel gesetzt, die historische Erforschung der polnischen Soziologie neu zu beleben, durch theoretische wie methodische Instrumente zu professionalisieren und die Soziologiegeschichte mit Begrifflichkeiten der Wissenschaftsgeschichte nach Kuhn zu ver-einen.2 Diese Bemühungen, einen „kontextualistischen“ Rahmen für die Soziologiegeschichte zu schaffen, gewinnen Schub durch geschichtstheoretische und methodische Innovationen der letzten Jahre und sie eröffnen neue Forschungsfelder. Zum einen findet die Entstehung der Dis-ziplin Soziologie aus europa- bzw. globalgeschichtlicher Perspektive in einer bestimmten Phase der Entwicklung moderner Gesellschaften statt. Die Epoche von ca. 1890 bis 1970 wird mitunter als „Hochmoderne“ beschrieben, die sich von früheren Epochen der Moderne unterscheidet. Das quantitative Wachstum von Basisprozessen der Modernisierung bedingt eine qualitative Veränderung in der Erfahrung der Moderne.3 Der Erfahrungsraum von ostmitteleuropäischen Soziologen in dieser Zeit, ihre Bemühungen und Ansätze, diese Moderne wissenschaftlich zu begreifen, sind in der deutschen Debatte ein unterbelichtetes Feld. Zweitens ist die polnische Soziologie aufgrund des hohen Grades an Transfer- und Rezeptionsprozessen insbesondere „um 1900“ und in der Zwischenkriegszeit als Objekt der Verflechtungsgeschichte gut geeignet.4 Als dritter Bezugspunkt sind wissensgeschichtliche Ansätze zu nennen. Mit Wissensgeschichte wird ein Ansatz beschrieben, in dem – ähnlich den Zielsetzungen des „Jahrbuchs“ – Theorie und Kon-text sich gegenseitig bedingen und in dem die kulturellen, sozialen und ökonomischen Aspekte

1 Das Jahrbuch wird herausgegeben als Gemeinschaftsunternehmen der Polnischen Soziologischen Gesellschaft (PTS) in Warschau und des Instituts für Soziologie der Nikolaus Kopernikus Universität in Toruń. Es erscheint im Epigram Verlag mit Sitz in Bydgoszcz (Bromberg). Die polnische Übersetzung des vorliegenden Beitrags soll in einem der nächsten Hefte des Jahrbuchs veröffentlicht werden.2 Julita Pieńkosz; Łukasz M. Dominiak: „Kondycja historii socjologii w Polsce“. Rocznik historii socjologii. Vol. 1, 2011, S. 9-26.3 Ulrich Herbert: „Europe in High Modernity. Reflections on a Theory of the 20th Century“, in: Journal of Modern European History 5/1, 2007, S. 5-21.4 Zur polnischen Diskussion siehe Mirosław Chałubiński: Recepcja światowej socjologii w Polsce. Rocznik Lubuski. T. 34, 2008. Die deutsche Debatte um Transfergeschichte fasst Philipp Ther zusammen:„Comparisons, Cultural Transfers and the Study of Networks“. In: Heinz-Gerhard Haupt, Jürgen Kocka: Comparative and Transnational History. Central European approaches and new perspectives. Berghahn Books, New York 2011.

der Wissensproduktion berücksichtigt werden. Der hier verwendete Wissensbegriff lässt sich weder auf einen wissenssoziologischen Gehalt, noch auf eine ausschließlich textimmanente Dimension der Dialogizität reduzieren. Der Akzent liegt auf der Untersuchung des dynami-schen Prozesses internationaler Wissenszirkulation und -produktion. Diese, nicht zuletzt auf begriffsgeschichtlichen Ansätzen (Skinner/Pocock/Koselleck) fußende Intervention der jüngeren Wissenschaftsgeschichte verdeutlicht, dass die Beziehungen zwischen Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft auf reziproke Weise verstanden und untersucht werden müssen, und sich Fragen nach dem kognitiven Gehalt und der Kulturbedeutung wissenschaftlichen Wissens, der Art und Weise medialer Zirkulation, nach den kommunikativen Netzwerken, institutionellen Ordnungen sowie der kulturellen Einbindung und den Konflikten des Wissenstransfers stellen. So kann „eine Dimension des Europäischen (gewonnen werden), die die Geschichtswissenschaft nicht einfach postulieren kann, die sie sich vielmehr erarbeiten muss“.5

Die Biographie von Stefan Czarnowski verdeutlicht den Prozess des europäischen Wissen-stransfers in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Mitbegründer der humanistischen Soziologie ist im deutschen, französischen und englischen Kontext wenig bekannt, aber auch in Polen gilt er bisweilen als „unterschätzter“ bzw. nicht ausreichend erforschter Denker.6 Ei-nige Veröffentlichungen der letzten Jahre haben diesen Zustand in Polen verbessert, und auch in Deutschland gibt es seit 2012 die erste Übersetzung einer geschichtstheoretischen Skizze.7 Im folgenden Beitrag soll untersucht werden, wie Stefan Czarnowski soziologische Konzepte nutzt, um bestimmte Modelle von Polen und Europa zu legitimieren. Der Wandel seiner poli-tischen Orientierung vom „aufmüpfigen“ (niepokorny) Idealisten über den staatsbürgerlichen Nationalisten zum „republikanischen Internationalisten“ und Fürsprecher einer europäischen Freihandelsunion vollzieht sich im Wechselspiel mit einem wissenschaftlichen Ansatz, der Polen im Rahmen übergreifender, transnationaler bzw. universeller Prozesse verortet. Dabei wird die Rolle von Stefan Czarnowski als Wissensvermittler und (selbst erklärter) Modernisierungsagent der polnischen Wissenschaftskultur sichtbar.

5 Jürgen Osterhammel (2003): „Transferanalyse und Vergleich im Fernverhältnis“. In: Kaelble, Hartmut; Schriewer, Jürgen (Hg.): Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt/M.: Campus, S. 439-466, hier S. 440; s. a. Philipp Sarasin: „Was ist Wissensgeschichte?“ In: Internatio- nales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL). Band 36, Heft 1, 2011, S. 159-172.6 Elżbieta Tarkowska: „Niedocenione dzieło Stefana Czarnowskiego“. In: Mucha, Janusz/Wincławski, Włodzimierz (Hg.): Klasyczna socjologia polska i jej współczesna recepcja. Toruń: Wydawn. Uniwersytetu Mikołaja Kopernika, 2006, S. 113-134. Nałeçz, Tomasz: „Jeden z pokolenia niepokornych.“ In: Jabłonowski, Marek (Hg.): Stefan Czar- nowski z perspektywy siedemdziesięciolecia. Warszawa: Oficyna Wydawnicza ASPRA-JR, 2008, S. 47-66.7 Robert Traba, Peter Oliver Loew (Hg.): Erinnerung auf Polnisch. Texte zu Theorie und Praxis des sozialen Ge- dächtnisses. Deutsch-Polnische Erinnerungsorte Band 5, Ferdinand Schoningh 2012.

Page 32: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

60 61

Die nationale Problematik Polens in der frühen Wissenschaft und PublizistikStefan Czarnowski wurde während seiner Studienzeit im Deutschen Kaiserreich mit dem „Na-tionalitätenkampf“ konfrontiert. Nach der Deutschen Reichseinigung von 1871 verschärfte sich die Minderheitenpolitik insgesamt, gegenüber Polen aber in besonderer Weise. Zwischen 1872 und 1908 wurden schrittweise Gesetzes- und Repressionsmaßnahmen erlassen, um den terri-torialen Anspruch auf die Ostprovinzen des Reichs zu untermauern. Die politische Beteiligung von Polen war über die Entsendung von Reichstagsabgeordneten in die Polenclubs prinzipiell möglich, die Aktivität polnischer Institutionen wurde jedoch bekämpft und die Verwendung der polnischen Sprache an Schulen verboten. So wich die frühere Völkerfrühlings-Empathie des national-liberalen Lagers während der „Polenbegeisterung“ durch den Wandel zum National-konservatismus zunehmend einem integralen Nationalismus, der sich gegen alle inneren wie äußeren „Reichsfeinde“ wandte. Die „Polenfrage“ war einer der zentralen Symbolkomplexe, um den sich dieser integrale Nationalismus entfaltete.8

Der Nationalitätenkampf fand auch auf akademischem Felde statt. Großen Unmut zog unter polnischen Studenten Theodor Schiemann, Professor für osteuropäische Geschichte an der Berliner Universität, auf sich. 1902 erschien Deutschland und die Große Politik, ein politisches Tagebuch der Jahre 1896-1902, in dem weltpolitische und lokale Ereignisse in publizistischen Skizzen aufgearbeitet wurden.9 Schiemann nahm darin Stellung zum „Kampf um Boden“, be-klagte die „Aggression“ des „polnischen Elementes“ und bezeichnete die Teilungen Polens als „historisch gerechtfertigt“.10 Diese Äußerungen zogen auch den Zorn von Stefan Czarnowski auf sich. Er beteiligte sich an einer Demonstration, wurde verhaftet und auf Anordnung vom 16. März 1902 „ohne Recht auf Rückkehr“ des Landes verwiesen.11 So wurde ein potentielles In-teraktionsfeld zwischen deutscher und polnischer Wissenschaftskultur beendet. Fortan äußert sich Czarnowski ablehnend und gibt eher stereotype Beschreibungen von deutscher Philosophie und Wissenschaft ab, etwa wenn er ihre Genealogie auf den Nenner „Kant“ und „metaphysische Spekulation“ reduziert. Einzig Georg Simmel scheint einen bleibenden Eindruck hinterlassen zu haben, wenn er diesen als den „skeptischen Schöngeist“ beschreibt, der ihm mit Ausführungen über „die Entstehung geistiger Werte und die Beziehung zwischen geistiger Entwicklung und körperlicher Arbeit unter den gesellschaftlichen Bedingungen der Moderne“ imponiert habe, als Urheber der „formalen“ Soziologie jedoch zwischenmenschliche „Formen völlig unhistorisch und unabhängig von ihren sozialen Gegenständen betrachtet habe.“12

8 Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1918. München: Beck 1992, S. 263.9 Theodor Schiemann: Deutschland und die Große Politik anno 1901. Berlin: Verlag Georg Reimer 1902.10 Ebd. S. 383; S. 403.11 Marek Jabłonowski: „Lata w mudurze“. In: Stefan Czarnowski z perspektywy… S. 25.12 Stefan Czarnowski: „Powstanie nowej kultury“. In: Dzieła. Tom I. 1956, S.74, Anm. 23.

Im Herbst 1902 zog Czarnowski nach Paris. Dort hört er Vorlesungen von Émile Durkheim und wird Assistent von Henri Hubert und Marcel Mauss an der École Pratique des Hautes Étu-des. Durkheim war zu dieser Zeit der „Gründer“ der französischen, positivistischen „Schule“ der Soziologie und eine wichtige wissenschaftspolitische Instanz der III. Republik. Zusammen mit seinem Neffen Marcel Mauss sowie dem Religionshistoriker und Archäologen Henri Hubert bil-dete er den redaktionellen Kern der 1898 gegründeten Année sociologique. Diese versammelte viele ehemalige agregés der École Normal Supérieure und erzielte eine Wirkung weit über die Grenzen Frankreichs hinaus. Zwischen Mauss und Hubert, die sich 1896 an der École Pratique kennenlernen, entwickelt sich eine enge Kooperation. Sie gelten fortan, neben Robert Hertz, als wichtigste Religionssoziologen der Année-Gruppe.13 Czarnowski wurde in diese intellektuelle Kooperation eingebunden. Im Rahmen eines von Hubert gegebenen Seminars erwarb er 1911 den Titel eines élève diplomé mit einer Arbeit über den irischen Nationalhelden St. Patrick. Le culte des héros et ses conditions sociales. St. Patrick, héros nationale de l’Irlande wurde jedoch erst nach dem Ersten Weltkrieg als Teil der Traveaux de l’Année sociologique im Verlag Felix Alcan veröffentlicht.14 Dieses Werk verdeutlicht, wie Erkenntnisinteressen durch nationale Kontexte gebrochen werden. Die Einleitung von Hubert, in der die Thesen von Czarnowski diskutiert und erweitert werden, macht die Abhandlung zu einer Art Gemeinschaftswerk.15 Aber Hubert geht in langen Abschnitten vor allem auf die Natur der Heldenfigur ein und analysiert das Werk im Rahmen einer theoretischen Auseinandersetzung. Czarnowski hingegen greift das von Durkheim eher marginal behandelte Phänomen der „National-“ oder „Zivilisationshelden“16 auf und erwei-tert den Rahmen von Hubert auf die Ebene nationaler Symbolphänomene.17 St. Patrick wird so in seiner Funktion als Verkörperung einer über alle Clan-Grenzen entstehenden nationalen Einheit der Iren, als spiritueller Vorfahre aller Iren, untersucht. St. Patrick ist der Patron einer erfolgreichen nationalen Bewegung, die einem über Jahrhunderte gefestigten nationalen Bewusstsein ent-springt. Czarnowski definiert dabei drei Kategorien von Helden: die héros territoriaux et locaux,

13 Gemeinsam veröffentlichen sie Essai sur la fonction sociale du sacrifice (1899) und esquisse d’une théorie géné- rale de la magie (1904). Hubert und Mauss sind ab 1901 maîtres de conférences am Fachbereich sciences reli- gieuses der École. Philippe Besnard: „The Année sociologique Team”. In ders. (Hg.): The Sociological domain, the Durkheimians and the founding of French sociology. Cambridge University Press: New York 2009. S. 11-39.14 Stefan Czarnowski: Le culte des héros et ses conditions sociales. St. Patrick, héros nationale de l’Irlande. Paris: Felix Alcan 1919.15 Ebd. im „Avant-propos“: „M. Henri Hubert, dessen Schüler ich an der Ècole Pratique des Hautes Études war, hat alle Phasen der Vorbereitung und Ausarbeitung des Werkes beaufsichtigt und sich um die Details der Zusam- menstellung, des Stils und sogar des Drucks gekümmert. M. Marcel Mauss, ebenso mein Lehrer, hat mich als erster dazu gedrängt, die Ergebnisse meiner Arbeit zu veröffentlichen und hat weder mit Kritik, noch Ratschlä- gen gespart.“16 Émile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1983, S. 383.17 François Isambert: „At the frontier of folklore and sociology: Hubert, Hertz and Czarnowski, founders of a socio- logy of folk religion”. In: Besnard: The Sociological Domain… S. 163.

Page 33: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

62 63

die héros des états und die héros nationaux. St. Patrick ist ein Sonderfall der dritten Gruppe, der als konstitutiv für moderne Gesellschaften definierten Gruppe der Nationalhelden. Die „Nation“ wird als sozial „konstruiert“ und als ein konstitutives Element der Moderne definiert: „En général, c’est seulement aux temps modernes que commence la glorification des héros qui sont de purs héros nationaux, comme ceux d’Italie, des guerres pour l’indépendance allemande, des patriotes américains, polonais ou hongrois, tels que Körner, Bismarck, Garibaldi, Lincoln ou Kosciuszko. C’est que la formation des nations dans le sens actuel du mot est un phénomène récent. C’est seulement aux temps modernes, que surgit dans les masses la notion d’un lien, qui les unit et qui est qualitativement différent de l’État, des liens dynastiques, même des liens territoriaux ou linguistiques. Le lien qui unit les membres d’une nation peut trouver son expression dans la communauté de langue, comme c’est le cas pour les nationalités slaves actuelles, de territoire, comme en Suisse, ou bien de religion, comme chez les Juifs. Il ne s’y identifie pas en dernière analyse. Ce ne sont que des facteurs du développement national – encore faut-il qu’ils agissent longue temps pour transformer en nation un ensemble de groupes territoriaux ou familiaux. Le processus qui devait y aboutir ne commence dans la plupart des pays d’Europe que vers la fin du Moyen-âge et n’atteint son plein développement qu’à partir de la Révolution Française. L’Irlande a devancé sous ce rapport de plusieurs siècles le reste de l’Europe.“ 18

In diesem Abschnitt behandelte Czarnowski einen Sachverhalt, mit dem seine französischen Kollegen theoretische Schwierigkeiten hatten und dem sie sich eher unvollständig widmeten.19 Mit Irland wählte er einen Untersuchungsgegenstand, der in Warschauer Kreisen der Jahrhun-dertwende sehr populär war, aufgrund der russischen Zensur hingegen nicht öffentlich verbreitet werden konnte.20 Er untersuchte mit Irland eine vom Katholizismus geprägte Nation, die sich im Konflikt um Irish home rule gegen die imperialen Bestrebungen Großbritanniens stellte und vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, wenn Czarnowski die irische Nation als fortschrittlichste in Europa bezeichnet, „dem Rest Europas um mehrere Jahrhunderte voraus“. Die Suche nach Modellen, die auf den polnischen Kontext anzuwenden sind, führt Czarnowski in der frühen Publizistik fort. Hier ist vor allem Frankreich ein politisches Vorbild, indem Durkhei-mianische Soziologie und republikanische Gesellschaftsphilosophie als Vehikel zur Erneuerung der polnischen Wissenschaftskultur und zum Modell eines künftigen polnischen Staates genutzt werden. In diesen Varianten sah er eine Parallele zur polnischen Aufklärung. Im Referat Filozofia

18 Le culte des héros… S. 325-326. Hervorhebung des Verfassers.19 Erst 1920 veröffentlicht Marcel Mauss einen Beitrag zum Thema der Nation als Teil eines größeren, letztlich nie vollendeten Projekts. Mauss et al.: „The Problem of Nationality“. In: Symposium 1920. S. 242.20 Ludwik Krzywicki (1938): „Przedmowa do kultury Stefana Czarnowskiego“. In: Nina Assorodobraj; Stanisław Ossowski: Dzieła. Tom. V. Warszawa: PWN 1956, S. 174.

społeczna w Polsce w końcu XVIII i początku XIX wieku (Gesellschaftsphilosophie in Polen am Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts)21, das er für den ersten Kongress der Vereinigten Polnischen Jugend (Zjednoczenie Młodzieży Polskiej / ZMP) verfasste, wird ein Vergleich zwischen den „Männern der Tat“ der polnischen Aufklärung und den „Helden“ der deutschen und französi-schen Aufklärung, Kant und Rousseau, durchgeführt. So kann er die polnische Geistesgeschichte als Tradition einer Grande Nation darstellen. In den Protagonisten Stanisław Staszic, Hugo Kołłątaj und Jan Śniadecki, während der Regentschaft von Stanisław August die philosophes der Reformfraktion, sieht Czarnowski den Ursprung der modernen polnischen Geisteskultur, die er als fortschrittlicher einschätzt als westliche Varianten. So habe in Polen schon ein „gesellschaft-liches“ Denken existiert, während im Westen ein „individualisierendes“ Denken vorherrschte. Im Gegensatz zur „spekulativen deutschen“ und „individualisierend-introspektiven französischen Schule“, habe in Polen eine „empirische“ Schule der Soziologie existiert: „Das Synthetisierende im soziologischen Denken ist ein eigenes zu unterscheidendes Merkmal der polnischen Schule vom Ende des 18. Jahrhunderts.“22 Diese polnische Variante soziologischer Forschung wird als historischer Vorläufer der anderen nationalen Varianten identifiziert: „… und wenn man irgendwo einen Gedanken findet, der schon einmal von Staszic, Kołłątaj oder Jan Śniadecki ausgedrückt wurde, dann muss man deren Ursprünge auf einem anderen Weg suchen. Dieser kam über die Vermittlung der französischen oder englischen Wissenschaft. Ihre Vertreter wissen häufig nicht, dass er schon älter ist und in einem anderen Zusammenhang durch die polnische Schule formuliert wurde.“23

Ein wesentliches Konzept ist hier der von Staszic verwendete Ausdruck istność moralna (mo-ralische Wesenheit), der mit der „moralischen Kraft der Nation“ gleichgesetzt wird: „Außerhalb der gesellschaftlichen Werte gibt es keine, sie sind nur Illusionen, die die Summe des mensch-lichen Unglücks vermehren. Der Wert der Nation ist ihre moralische Kraft, nicht die Anzahl der Menschen, denn nur eine starke und moralisch geeinte Nation ist im Stande sich den Gelüsten der Nachbarn zu widersetzen.“24 Damit wird auch eine Kritik an der Nationaldemokratischen Jugend Polens formuliert. Die Definition der Gesellschaft als „moralischer Wesenheit“ ist das Gegenteil von einem in der Narodowa Democracja (ND) durch Roman Dmowski oder Zygmunt Balicki propagierten Ideal des Staatsinteresses, das die völlige Abwesenheit moralischer Erwä-gungen in der Politik voraussetzte. Roman Dmowski hatte in seinem 1908 veröffentlichten Buch Niemcy, Rosja i kwestia polska (Deutschland, Russland und die polnische Frage) eine strategi-

21 Stefan Czarnowski (1903): „Filozofia społeczna w Polsce w końcu XVIII i początku XIX wieku“. In: Dzieła. Tom II, S. 9-38.22 Ebd. S. 35.23 „Filozofia społeczna…“, Dzieła. Tom II, S. 38.24 „Filozofia społeczna…“, Dzieła. Tom II, S. 31.

Page 34: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

64 65

sche Allianz mit Russland befürwortet. Im Sinne eines sozialdarwinistisch konzipierten Natio-nenkampfes und eines amoralischen Ausgleichs verschiedener Staatsinteressen attestierte er Preußen-Deutschland eine materielle Überlegenheit. Im Gegensatz zu den Deutschen, die eine erfolgreiche Germanisierungspolitik betrieben hätten, würden die Russen nicht in der Lage sein, Polen erfolgreich zu russifizieren.25

Aufgrund ideologischer Differenzen schloss sich Czarnowski einer Gruppe an, die sich die Fronda nannten.26 Diese waren Teil der Secesja (Sezession), die aus Protest gegen den russo-philen Kurs der ND entstanden war. Im Sommer 1911 zog Czarnowski nach Warschau und gab dort das politisch-kulturelle Presseorgan der Sezessionisten, den Tygodnik polski (Das Polnische Wochenblatt), als „Zeitschrift für Fragen des nationalen Lebens aus den Bereichen Politik, Gesellschaft, Wissenschaft, Literatur und Kunst“ heraus. Der Tygodnik erscheint als Medium zur Wissenspopularisierung durkheimianischen Denkens und ist demnach der Versuch, dieses Gedankengut direkt in den polnischen Sprachraum zu übertragen. Viele Beiträge vereinen his-torische Analyse und politische Handlungsempfehlung, die mit Elementen durkheimianischer Gesellschaftstheorie und republikanischer Gesellschaftsphilosophie begründet werden. Dabei wird vor allem Frankreich als politisches Ideal und Modell für den erfolgreichen Aufbau einer Nation genannt. In „Nationalismus“27 führt Czarnowski mit Bezug zur Dreyfus-Affäre eine Unter-scheidung zwischen Nationalismus und „gesundem Patriotismus“ ein. Nationalismus definiert er als eine Ideologie, die sich aus Hass auf andere Völker sowie „innere Feinde“ speist.28 Auf der anderen Seite stehe ein „gesunder Patriotismus“, dem die Zukunft Europas gehört: „Tatsächlich stellt der Nationalismus in Westeuropa keine Bewegung für die Zukunft dar, er ist nach ein paar Jahren Existenz überholt worden. Heute schon stirbt er in Frankreich komplett aus und das gerade in einer Zeit, in der das Land einen Weg der normalen nationalen Entwicklung beschreitet. Der Nationalismus wird dort durch einen gewöhnlichen, gesunden Patriotismus ersetzt. Wir sind der Meinung, dass dies uns genügen kann. Der Begriff des Patriotismus beinhaltet alles, was wesentlich für die nationale Bewegung ist.“29 Frankreich ist hier ein Prototyp der „normalen“ nationalen Entwicklung. In „Das moderne Frankreich“30 rühmt er all „das allgemeine Ideal der Menschheit, das seit Jahrhunderten das Leben prägt und das zu verteidigen die ausschließliche

Aufgabe des Volkes war… Das Fundament des französischen Patriotismus ist der Glauben an

25 Włodzimierz Borodziej: Geschichte Polens im 20. Jahrhundert. München: Beck 2010, S.70-73. Dmowski, Roman (1908): Niemcy, Rosja i kwestia polska. Towarzystwo Wydawnictwo: Lwów.26 Nina Assorodobraj: „Życie i dzieło Stefana Czarnowskiego”. In: Dzieła Tom V, S. 107.27 „Nacjonalizm“, Dzieła. Tom V, S. 14-17.28 „Nacjonalizm“, Dzieła. Tom V, S. 15.29 Ebd. S. 17.30 „Francja nowoczesna“, Dzieła. Tom V, S. 20-28.

die humanitäre Mission Frankreichs.“31

Darüber hinaus werden verschiedene Kontexte von imperialer Dominanz und Unterdrückung ethnischer Minderheiten in Europa untersucht. In „Albania semper vive“32 wird ein „Recht auf nationale Unabhängigkeit“ für die Albaner eingefordert, die sich gegen koloniale Bestrebungen Italiens und Österreich-Ungarns erwehren müssen.33 In „Über die Notwendigkeit des geistigen Lebens“34 werden geistige Ressourcen als das gesammelte Potential eines kollektiven Bewusst-seins, als sine qua non organischer nationaler Entwicklung definiert: „Die sichtbarsten Aspekte des nationalen Lebens sind Politik, Wirtschaft, Gesellschaft - die sichtbarsten, aber nicht die wirklichsten… Je reicher das ideelle Leben der Nation, umso wirksamer seine Politik.“35 Dies verdeutlicht er anhand des finnisch-russischen Konflikts: „In Finnland sehen wir schon seit Jahrzehnten ein ärmliches Land, das trotzdem seine eigene Kultur behauptet, das Universitäten besitzt, die mit den besten in Westeuropa konkurrieren können. Und das, obwohl der große Nachbar sie mit Leichtigkeit eines Tages vernichten könnte.“36 Für Polen diagnostiziert er einen Mangel an geistigen Ressourcen, die ein Mangel des kollektiven Bewusstseins bedeuten: „Die Tragödie der geteilten Länder ist vor allem eine des Geistes.“37

Die frühen Veröffentlichungen zeigen sein Interesse für die Entstehung nationaler Bewe-gungen in Kontexten von imperialer Dominanz. Unter Verwendung eines durkheimianischen Gesellschaftsbegriffs, der die Kategorie des Sozialen als Grundlage für individuelle und kollektive Wahrnehmungen ontologisiert, werden kollektive Ideale und das kollektive Bewusstsein als Voraussetzung einer erfolgreichen nationalen Bewegung definiert. Ebenso wird ein säkular-republikanischer Nationalstaatsethos zum Modell der nationalen Integration Polens. Als Legi-onär veröffentlichte Czarnowski unter dem Pseudonym „Niger“ Stellungnahmen, in denen er polnischen Soldaten „den Unterschied zwischen der demokratischen Republik Polen und dem terroristischen sowjetischen Regime Russland“38 erklärte und Polen zu einem „demokratischen und republikanischer Staat des westlichen Typs“39 erklärt und die Integration von ethnischen Minderheiten fordert.40 Er lehnt damit sowohl das Integrationsangebot des ab 1926 von der Sanacja-Regierung vertretenen autoritären Staatsnationalismus als auch den ethnisch-integralen

31 Ebd. S. 28.32 „Albania semper viva”. Dzieła. Tom V, S. 30-32.33 Ebd. S. 30.34 „O potrzebie życia duchowego“. Dzieła, Tom V. S. 11-13.35 Ebd. S. 11. Hervorhebung des Verfassers.36 „O potrzebie życia duchowego“. Dzieła, Tom V. S. 12.37 Ebd. S. 12.38 „Mniejszości narodowe…“, S. 284.39 Stefan Czarnowski: „Nie igrajcie z ogniem“. In: Jabłonowski, Marek (2008) (Hg.): Z perpektywy… Aneks Nr. 18, S. 281.40 Stefan Czarnowski: „Mniejszości narodowe w armii polskiej“. In: Jabłonowski, Marek (2008) (Hg.): Z perpektywy… Aneks Nr. 19, S. 285.

Page 35: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

66 67

Nationalismus der nationaldemokratischen Strömung ab.

Die Weltwirtschaftskrise als Wendepunkt in der Betrachtung der NationsproblematikCzarnowski vertrat auch in den Dreißigerjahren der II. Republik, als das politische Spektrum sich immer weiter zwischen autoritären und nationalistischen Fronten polarisierte, einen säkular-republikanischen Nationalstaatsethos und einen staatsbürgerlichen Nationalismus. Doch gehen mit der Weltwirtschaftskrise ein verändertes Erkenntnisinteresse und neue politische Ordnungs-modelle einher.41 Wurde die nationale Problematik bisher als Problem der Gemeinschaftsbildung verstanden, widmet er sich nun vermehrt der Einbindung Polens in übergeordnete Prozesse und transnationalen wie universellen sozialen Phänomenen. Eine wissenschaftstheoretische Positionierung äußert Czarnowski in einem Bericht zum VII. Internationalen Historikertag 1933 in Warschau. Er diagnostiziert ein „Interesse an historischer Synthese“ in der Wissenschaft, das sich in verschiedenen theoretischen Positionen manifestiere.42 Es stünden „indeterministische“ Ansätze der „Entwicklungssynthese“ und „deterministische“ Ansätze einer „systematischen Synthese“ gegenüber.43 Hierzu erklärt Czarnowski: „… vor allem diejenigen, die wir uns erlauben hier deterministisch oder historisch-soziologisch zu nennen, sind in einige Strömungen unterteilt. Auf der einen Seite stehen Marxisten, angefan-gen bei den Orthodoxen – auf dem Kongress vor allem durch sowjetische Gelehrte repräsentiert – und endend bei den Gemäßigten, von denen es ziemlich viele unter den Wirtschafts- und Sozial-historikern des Westens gibt. Auf der anderen Seite finden sich insbesondere unter französischen Historikern Schüler, die dem Einfluss der französischen soziologischen Schule unterliegen. Es unterscheidet sich ihr Ansatz des historischen Verstehens von einem materiellen dialektischen Prozess, und hat eine andere Eigenlogik. Daneben erwähnen wir eine dritte, dem Anschein nach ‚soziologisierende’ Gruppe, vor allem italienische, teilweise polnische und jüdische – die Geschichte als organischen Prozess begreifen, dessen Grundlage und gleichzeitiger Rahmen die ethnische Gruppe ist. Diese erscheint veränderlich, abhängig von der Zeit, ist aber fortwährend und in ihrem Wesen immer identisch. Im Grunde genommen sind diese Differenzierungen auf unterschiedliche philosophische und sogar metaphysische Positionen zurückzuführen: zum einen haben wir es mit der ‚umkehrenden’ Tradition des Marx’schen Hegelianismus zu tun, zum anderen mit einem Denken, das über Comte zu Descartes reicht, und zum dritten mit einem Standpunkt der von Fichte und seinen Anhängern herrührt…

41 Auch in Polen kommt es in den Jahren 1929-1931 zu starken Verwerfungen: Die Industrieproduktion halbiert sich, Geldwert und Preise brechen ein und die Arbeitslosigkeit schnellt auf etwa 40 Prozent. Borodziej: Geschichte Polens…, S. 176-177.42 „VII zjazd międzynarodowy nauk historycznych w Warszawie“. Dzieła. Tom V, S. 71.43 Ebd. S. 71

In den beiden erst genannten Fällen haben wir es mit dem eindeutigen Versuch zu tun, den historischen Wandel durch die Gesetzmäßigkeiten sozialer Phänomene mit nicht weniger Strenge zu erklären, wie die Naturgesetze durch Phänomene der Natur erklärt werden. Der Historiker dieser Richtung ist ‚Humanist’ nur insofern er sich mit Menschen beschäftigt. Er ist dies nicht im traditionellen Sinne, auch nicht in dem Sinne, wie bei zeitgenössischen deutschen idealistischen Philosophen gebräuchlich, noch im Sinne von z.B. Stanisław Brzozowski. Er versucht nicht, die Geschichte zu durchleben, noch sie wieder herzustellen, er versucht sie zu erklären. Er ist ein Naturwissenschaftler, ebenso gut wie der Geologe oder Genetiker, der ebenfalls Veränderungen studiert, die in der Zeit vorkommen.“44

Eine vierte Richtung stellt die „nationalistische Synthese“ der Geschichte dar, die Geschich-te als „Ausdruck des Lebens ethnischer Gruppen“ konzipiert. Diese ethnische Gruppe, im deutschen Fall „Rasse“, stehe dann als „unveränderlich“ und „autonom“ gegenüber einem „großen Drama“ der Geschichte.45 Diesen Ansatz lehnt Czarnowski ebenso ab wie schließ-lich pragmatische, die „eine mehr oder weniger große Anzahl unterschiedlicher Faktoren nennen, die sich in der Geschichte manifestieren“. Wer nicht nur „Chaos“ in dieser Art Ge-schichtsschreibung sehen will, der braucht „Synthese“.46 Während Historiker und Soziologen verschiedene Modelle der nationalen Synthese entwickelten, verwarf Czarnowski nationale Synthesen vor allem in Gestalt bestimmter Modelle der konservativen Historiographie und setze dagegen eine universelle Betrachtungsweise. So sind die unter dem Titel Kultura ver-öffentlichten Skizzen Teil einer universellen Synthese der menschlichen Kultur. Der darin enthaltene Vortrag La réaction catholique en Pologne à la fin du XVI-e et au début du XVII-e siècle (Die Gegenreformation in Polen am Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts), den Czarnowski auf dem Warschauer Historikertag hielt, ist ein Gegenmodell zum konserva-tiven Geschichtsentwurf eines Wacław Sobieski, der in einer Dzieje Polski (Geschichte Polens) argumentiert hatte, die katholische Kirche sei aufgrund der Bedrohung durch die Ottomanen als ein natürlicher Verbündeter des polnischen Adels aufgetreten, als christliche Vormauer. Der Religionsfrieden der Union von Brest sei durch ein Bedürfnis nach moralischer Einheit motiviert gewesen und in einem ethnisch heterogenen Polen habe sich der Katholizismus aufgrund seiner universellen Ausrichtung besser mit diesem Ziel vereinbaren lassen.47 Eine solche Perspektive, so Czarnowski, verfehle vor allem ökonomische Fakten. Vielmehr habe der Schwung, mit dem die Gegenreformation sich in Polen ausgebreitet hat, den ökonomischen

44 Ebd. S. 71.45 Ebd. S. 72.46 „VII zjazd międzynarodowy nauk historycznych w Warszawie“. Dzieła. Tom V, S. 72.47 „La réaction catholique... “, S. 292. Wacław Sobieski (1872-1935): Konservativer und mit der Nationaldemokratie assoziierter Historiker. Autor der dreibändigen Dzieje polski.

Page 36: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

68 69

Interessen der Adeligen entsprochen und sei zurückzuführen auf globale wirtschaftliche Entwicklungen.48 Die Weltwirtschaftskrise war für Czarnowski ab 1932 eine Krise des gesamten „Systems“,49 die zu einer unausweichlichen Konfrontation zwischen Faschismus und Kommunismus führen würde. Czarnowski vertrat aber keine revolutionäre Programmatik. Quellen zeigen ein Festhalten an den Leitlinien nationaler Integration und sozialer Reform. In den Worten seines Freundes, des Literaten Aleksander Wat, war Czarnowski ein „sehr engagierter Sympathisant [der Bewegung/Anm. MS], aber er rühmte sich unter anderem das zu sein, was vielleicht als linker Labour Anhän-ger einer unabhängigen englischen Partei bezeichnet werden könnte.“50 Die „Radikalisierung“ seiner politischen Positionen erscheint so als Spiegelung der sich radikalisierenden politischen Lage, der gegenüber Czarnowski nicht passiv bleiben wollte. Zwar beschrieb er die Weltwirtschaftkrise als Krise des „kapitalistischen Systems“, ihre Über-windung sah er aber nicht in der kommunistischen Revolution, sondern – entgegengesetzt – im Abbau nationalistischer Wirtschaftspraktiken und im Abschluss von Freihandelsabkommen um ein europäisches Gegengewicht zu den wachsenden Wirtschaftsmärkten in Asien und Amerika zu schaffen. In „Die Wirtschaftskrise und ihre Bekämpfung“51 analysiert Czarnowski die ökonomische Lage Europas nach dem I. Weltkrieg. Der Krieg habe das über 50 Jahre erarbeitete Kapital ver-nichtet und Europa von der führenden Position der Weltwirtschaft degradiert. In den ehemaligen Kolonien seien mächtige Konkurrenzmärkte entstanden, die keine Nachfrage an europäischen Produkten hätten. Mit den Vereinigten Staaten von Amerika sei „auf den finanziellen Ruinen Europas“52 eine Weltmacht entstanden, der Europa hoch verschuldet sei. Der Handelsnatio-nalismus könne Binnenstrukturen in sich entwickelnden Industrien stärken, in Europa führe er aber zur Unterbrechung normaler Handelsbeziehungen. Insbesondere Russland sei durch die Revolution und die „Monopolisierung des Außenhandels in der Hand der Regierung“ vom europäischen Handel abgeschnitten, was die Unterversorgung anderer Länder zur Folge habe und deren Industrialisierung erschwere.53 Zur Lösung der Wirtschaftskrise schlägt Czarnowski Maßnahmen auf nationaler und internationaler Ebene vor. Auf europäischer Ebene solle in einer „friedlichen Atmosphäre der Politik“ eine internationale Kreditbank langfristige Kredite

48 „Kultura religijna wiejskiego ludu polskiego“. Dzieła. Tom I, S. 88-107. „La réaction catholique en Pologne à la fin du XVI-e et au début XVII-e siècle“. La Pologne au VII-e congrès international des sciences historiques. Volume II. Societé polonaise d’histoire. Varsovie 1933, S. 287-310.49 “List otwarty”. Dzieła. Tom V, S. 51.50 Aleksander Wat (1990): Mój wiek. Warszawa, T.1, S. 220. Zit. Durch Tomasz Nałęcz (2008): „Jeden z pokolenia…“, S. 62.51 Stefan Czarnowski: „Kryzys gospodarczy i jego zwalczanie“. In: Ruch Ruch prawniczy, economiczny i socjologiczny 2 / 1931, S. 235-253.52 Ebd. S. 239.53 Stefan Czarnowski: „Kryzys gospodarczy…, S. 240.

an Länder zur Entwicklung der Industrie vergeben. Eine paneuropäische Freihandelszone solle frei zirkulierendes Kapital und eine Normalisierung der Handelsbeziehungen weltweit ermög-lichen. Landwirtschaftliche Produkte und Rohstoffe sollten einer internationalen Regulierung unterliegen, um die Versorgung mit diesen Gütern in ganz Europa zu ermöglichen. Reisefreiheit sei unerlässlich, um die Nachfrage an Arbeit zu befriedigen, und die Folgen von Arbeitslosigkeit sollten durch eine internationale Arbeitslosenversicherung abgemildert werden.54 In diesem Aufruf zeigt sich ein wissenschaftlich fundierter republikanischer Internationalismus, nicht aber ein „sozialistischer Kosmopolitismus“, wie es Marcel Mauss definierte. Diese Beiträge verdeutlichen, wie Stefan Czarnowski für die Unabhängigkeit Polens eintrat und wie er teilnahm an der „Aushandlung konkurrierender Nationsentwürfe“55 der polnischen Gesellschaft. Zugleich war er ein „kultureller Grenzgänger“, der eine für seine Generation typi-sche Erfahrung von Migration und Exil durchlebte. Aus dieser Zwischenstellung entwickelte er ein ausgeprägtes Bewusstsein für Polen in europäischen und globalen Zusammenhängen, das er produktiv für wissenschaftliche Entwürfe nutzte. Die darin formulierten wissenschaftlichen Fragestellungen stellte er ex- oder implizit in einen Zusammenhang mit den politischen Kon-texten und Problemen seiner Zeit. Dabei war Czarnowski kein Vertreter einer revolutionären Agenda, sondern wirtschaftstheoretisch am Programm des wissenschaftlichen Sozialismus von Émile Durkheim orientiert. Dieser hatte, in Abgrenzung zu kommunistischen Strömungen, die die Wirtschaft ganz unter staatliche Kontrolle bringen wollten, den Sozialismus als wirtschaftliche Aktivität definiert, die auf gesellschaftliche Ziele ausgerichtet sein müsse.56 Die Zusammenhänge, Einflüsse, Verarbeitungsmechanismen, sowie die nationalen und internationalen Kontexte des Werks von Stefan Czarnowski sind, so sollte dieser Beitrag verdeutlichen, vielschichtiger als es die abstrahierende Einordnung in eine wissenschaftliche Großkategorie nahe legt. Insbesondere seine Verbindungen nach Frankreich verdienen hier eine vertiefte Ausarbeitung.

54 Ebd. S. 247-248.55 Stephanie Zloch: Polnischer Nationalismus. Politik und Gesellschaft zwischen den beiden Weltkriegen. Böhlau 2010.56 Émile Durkheim, Marcel Mauss, Pierre Birnbaum: Le socialisme: sa définition, ses débuts, la doctrine saintsimo- nienne. Paris: Presses universitaires de France, 1992.

Page 37: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

70 71

Dokument 7

Gangolf Hübinger

Sozialwissenschaftliche Avantgarden. Das „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ (1904-1933)

Das „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ (AfSS) wurde 1904 von Edgar Jaffé, Werner Sombart und Max Weber neu gegründet und gilt als ein Pionier der internationalen Sozialfor-schung.1 In der angelsächsischen Forschung wird es gegenwärtig sogar zum bedeutendsten sozialwissenschaftlichen Journal des gesamten 20. Jahrhunderts erklärt.2 Neue Theorien und Methoden wurden erprobt, um die industriekapitalistische Durchdringung aller Lebensbereiche zu erörtern. Weltwirtschaft, Arbeit und Eigentum, Gewerkschaften und Frauenberufe, Religion und Ökonomie, der Antagonismus von Massendemokratisierung und Elitenbildung waren die Themen. Am Anfang des Jahrhunderts, so die These dieses Beitrages, besetzte diese Zeitschrift besonders intensiv das Problemfeld, das wir beim Übergang in das 21. Jahrhundert erneut abste-cken, nunmehr unter den Stichworten „Globalisierung“, „Arbeitsgesellschaft“, „Armut“, „Grenzen des Sozialstaates“ und neue Ungleichheiten durch soziale und kulturelle Polarisierungen. Das AfSS versammelte im Zuge seiner Neugründung von 1904 klangvolle Namen, die in den Sozial- und Kulturwissenschaften heute als „moderne Klassiker“ gelesen werden. Im Sommer 1903 verkaufte der sozialdemokratische Publizist und Sozialpolitiker Heinrich Braun sein „Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik. Zeitschrift zur Erforschung der gesellschaftlichen Zustände aller Länder“ (Heymann-Verlag) an den Nationalökonomen Edgar Jaffé. Jaffé gewann mit Werner Sombart und Max Weber zwei Mitherausgeber, die in dieser Durchbruchsphase der Verwissenschaftlichung aller Lebensordnungen für Innovation und in-tellektuellen Streit standen. Durch diese Namen ließ sich der noch um ein eigenständiges Profil als Wissenschaftsverlag ringende Paul Siebeck als Verleger gewinnen. Im Laufe der nächsten zwei Jahrzehnte traten Robert Michels, Joseph Alois Schumpeter und Alfred Weber zeitweilig in den Herausgeberkreis ein. Die redaktionelle Hauptlast lag bei Edgar Jaffé, aber auch Max Weber

1 Dem Aufsatz liegt ein Vortrag im Rahmen der Tagung „Anfang und Avantgarde“ der Forschergruppe „Anfänge der Moderne“ an der Universität München im Januar 2010 zugrunde. Die polnische Fassung dieses Aufsatzes wird unter dem Titel „Awangardy nauk społecznych. „Archiwum Nauk Społecznych i Polityki Społecznej“ [Archiv für Sozialgeschichte und Sozialpolitik] (1904-1933)” im zweiten Band des Jahrbuches „Rocznik Historii Socjolo- gii“ erscheinen.2 Peter Gosh: Max Weber, Werner Sombart and the „Archiv für Sozialwissenschaft”: the authorship of the `Geleitwort´ (1904), in: History of European Ideas 36 (2010), S. 71-100, hier S. 72.

engagierte sich in den ersten Jahren sehr. Ab 1909 sorgte der Ökonom und demokratische Sozia-list Emil Lederer für organisatorische Kontinuität der international breit abonnierten Zeitschrift. Im August 1933 stellte der Verlag die Zeitschrift ein, nachdem Emil Lederer und andere führende Mitarbeiter bereits emigriert und an der New School for Social Research in New York unterge-kommen waren. Deren 1934 begründete Zeitschrift „Social Research“ führte den Geist des AfSS fort, wir haben hier ein aufschlussreiches Beispiel für transatlantischen Wissenstransfer. Wie lässt sich am Beispiel des AfSS von „sozialwissenschaftlichen Avantgarden“ sprechen, im Kontrast zu den ästhetischen Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts? Es gibt markante Unterschiede, denn es geht um die eigenständige Erkenntnissphäre der Wissenschaft, nicht um die revolutionäre Einheit von Kunst, Wissenschaft, Politik und Leben.3 Das Wort „Archiv“ im neuen Titel von 1904 signalisiert die Verbindung von Geschichte und Gegenwart, nicht die avantgardistische Überwindung der Gegenwart durch die Manifeste der Zukunft. Es geht um Diagnosepotentiale der Durchdringung empirischer Wirklichkeit, nicht um Gewaltpotentiale zu deren Veränderung. Aber auch bei den Intellektuellen rund um das AfSS, die auf eine Ver-wissenschaftlichung aller sozialen Fragen drängen, gibt es ein ausgeprägtes Bewusstsein für „Anfänge“, für neue Muster gesellschaftlicher Selbstbeobachtung. Die vergleichende Geschichte europäischer Wissenschaftskulturen hat dem innovativen Charakter dieser Zeitschrift bislang erstaunlich wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Vier Ebenen lassen sich unterscheiden, auf denen Innovationen zu verzeichnen sind, welche die Zeitschrift in die charakteristischen Umbrüche der klassischen Moderne vor dem Ersten Weltkrieg rücken:4 ein neuer Herausgeberkreis, ein neuer Verlag, eine neue Programmatik, verbunden mit einem neuen Zeitschriftentitel, neue Perspektiven auf die thematischen Schwerpunkte. Zur Abgrenzung erscheint eine Bemerkung zum Avantgardebewusstsein in den europäischen Sozialwissenschaften im späten 19. Jahrhundert, also vor dieser Neugründung von 1903/04, erforderlich. Avantgarde war, zumindest im kontinentalen Europa, wer Sozialwissenschaft mit Sozialismus in revolutionärer Rhetorik verband. Am Anfang stand Karl Marx, wenn auch nur im deutschsprachigen Raum. In Frankreich waren es die Frühsozialisten, der Weg führte von Proud-hon zu Georges Sorel. In Großbritannien verweigerte die Fabian Society mit Beatrice und Sidney Webb ausdrücklich die Marxlektüre und las lieber Herbert Spencer oder die Historische Schule der deutschen Nationalökonomie mit Gustav Schmoller und Lujo Brentano. In Deutschland gründete 1888 der nationalökonomisch geschulte Publizist und Sozialpolitiker Heinrich Braun (1854-1927),

3 Vgl. Klaus von Beyme: Das Zeitalter der Avantgarden. Kunst und Gesellschaft 1905-1955, München 2005; sozial- wissenschaftliche Avantgarden werden hier, wie in der Literatur generell, nur ganz am Rande behandelt.4 Im Juni 1903 begannen die Gespräche über den Verkauf und die Zusammensetzung des neuen Herausgeber- kreises; der erste Band der „Neue Folge“ des AfSS erschien in der zweiten Januarwoche 1904, vgl. Anzeige des J.C.B. Mohr-Verlag im Börsenblatt Nr. 85 vom 14. April 1904, S. 3301.

Page 38: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

72 73

dem als Jude und Sozialist die Universitätskarriere gleich doppelt versperrt war, das „Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik“. Für orthodoxe Marxisten in den sozialistischen Parteien war schon der Titel eine Provokation. Braun wollte mit den Mitteln der freien Wissenschaft die Sozialreform forcieren, die Theorie an die empirischen Erfahrungen anbinden und Politikberatung betreiben. Brauns programmatische „Einführung“ bemühte keine revolutionäre Geschichtsphi-losophie. Sie forderte die „wissenschaftliche Untersuchung und Feststellung der gesellschaft-lichen Zustände“ rein vom empirischen „Standpunkt der Tatsachen“ aus. Eine sozialstatistisch vergleichende Analyse der „kapitalistischen Produktionsweise“ aller Länder, bezogen auf deren Sozialgesetze, zu diesem Zweck sollte mit seinem „Archiv“ eine „Stätte freier und nach allen Seiten hin unabhängiger Forschung geschaffen werden“.5 Dieses Einreißen der „chinesischen Mauer“ zwischen bürgerlicher Wissenschaft und proletarischem Klassenbewusstsein galt der Sozialdemokratischen Partei im Deutschen Kaiserreich, über deren Geist Karl Kautsky wachte, als Todsünde.6 Für junge sozialwissenschaftliche Intellektuelle dagegen wurde die neue Beziehung von Wissenschaft und (Sozial-)Politik immer attraktiver.

I. Neue HerausgeberIm Jahr 1903 zog es Heinrich Braun stärker zurück in die Politik. Er beteiligte sich erfolgreich am Reichstagswahlkampf und trug sich mit neuen Zeitschriftenplänen im Dienst der sozialdemo-kratischen Gesellschaftsreform. Zwangsläufig geriet er in zu große finanzielle Schwierigkeiten und musste das florierende „Archiv“ verkaufen. Als neue Herausgeber fanden sich Gelehrten-Intellektuelle zusammen, um deren avantgardistischen Spürsinn für relevante Durchdringung der sozialen Realität mit neuen theoretischen Konzepten es im folgenden geht. Mit Werner Sombart, Edgar Jaffé, Max Weber, später mit Robert Michels, führte das neue AfSS vor dem Weltkrieg kreative Randfiguren des akademischen Establishments im Kaiserreich zusammen, jeder auf seine eigene Art ein Außenseiter. Ihr Eigensinn war die Quelle für zahlreiche mehr oder weniger produktive Spannungen in der Entstehungsphase der deutschen Soziologie. Werner Sombart (1863-1941) war zu diesem Zeitpunkt immer noch Extraordinarius für Nati-onalökonomie in Breslau. Als ständiger Mitarbeiter sozialistischer Zeitschriften stand er trotz seiner eher linksbürgerlichen Haltung im Ruf, Marxist zu sein. Sombart pflegte engen Kontakt zu Heinrich Braun und lieferte dem „Braun´schen Archiv“ in den 1890er Jahren regelmäßig Bei-träge. In einem hellsichtigen Artikel von 1897 über „Socialwissenschaftliche Zeitschriften“ und

5 Heinrich Braun: Zur Einführung, in: Archiv für Soziale Gesetzgebung und Statistik. Vierteljahresschrift zur Erfor- schung der gesellschaftlichen Zustände aller Länder, 1 (1888), S. 1-6.6 Vgl. Ingrid Gilcher-Holtey: Intellektuelle in der sozialistischen Arbeiterbewegung: Karl Kautsky, Heinrich Braun und Robert Michels, in: Jürgen Rojahn u.a. (Hg.): Marxismus und Demokratie. Karl Kautskys Bedeutung in der sozialistischen Arbeiterbewegung, Frankfurt a.M. 1991, S. 373-390, hier S. 381.

ihre kulturgeschichtliche Bedeutung rühmte Sombart das Braun´sche „Archiv“ als Beleg dafür, dass Zeitschriften zum Leitmedium geworden seien. An ihnen lasse sich die Leistungskraft einer wissenschaftlichen Generation besser als an Büchern ablesen. Wissenschaftlich wie politisch stehe Braun mit seinem Archiv an der Spitze der fortschrittlichen Sozialreform mit dem Ziel einer Demokratisierung der Massen. Sombart artikulierte nicht ohne Selbstlob für seine Generation damit eine Absage an die Revolutionstheorien von Karl Marx und an den Kathedersozialismus eines Gustav Schmoller gleichermaßen.7

1902 eröffneten seine zwei Bände „der moderne Kapitalismus“ eine völlig neue Diskussion über den „spiritus capitalisticus“ als Schicksal der Moderne. 1903 vollzog er mit der Studie „Die deutsche Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert“ eine fortschrittsskeptische Kehre und schloss sich den Strömungen der um die Jahrhundertwende rasch anwachsenden Kulturkritik an. In dieser inneren Anspannung zwischen sozialem Reform- und Verfallsdenken übernahm Sombart die Herausgebertätigkeit im neuen AfSS und reklamierte anfänglich sogar eine programmatische Federführung. Er trieb die disziplinäre Verselbständigung der Soziologie an und war 1909 Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. 1920 trat er demonstrativ als Herausgeber des Archivs zurück, da ihm der linksdemokratische Kurs in der Gründungsphase der Weimarer Republik missfiel. Sombart radikalisierte im Gegenzug seine Ordnungsideen eines nationalistischen Antikapitalismus. Das macht ihn in der Forschung zu einem Typus der „konservativen Revolution“.8

Auch Avantgarden brauchen Geld. Sombart sorgte für die entscheidenden Kontakte zwischen Heinrich Braun und Edgar Jaffé (1866-1921), der sich gerade in Heidelberg für Nationalökonomie habilitierte. Jaffé entstammte einer wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie in Hamburg und erwarb das Archiv für 60.000 Mark. Der Vertrag, der am 23. August 1903 zwischen dem „Privatgelehrten Dr. Edgar Jaffé“ und dem Verlag J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) in Tübingen ge-schlossen wurde, regelte Jaffés verantwortliche Stellung: „Dr. Jaffé übernimmt die Redaktion des Archivs, er hat allein das Recht sich Mitredakteure, Mitherausgeber oder Stellvertreter zu wählen. Er bestimmt die Mitarbeiter sowie die Zusammensetzung des Inhaltes des Archivs.“9 Es wurde eine Lebensaufgabe, die er mit großer Hingabe bewältigte. In der Revolution von 1918, nach der Kriegsniederlage des Deutschen Reiches, erlangte Jaffé für kurze Zeit politische Prominenz, als er im November 1918 im Kabinett von Kurt Eisner bayerischer Finanzminister

7 Werner Sombart: Socialwissenschaftliche Zeitschriften, in: Beilage zur Allgemeinen Zeitung, München, Nr. 24 vom 30. Januar 1897.8 Nach wie vor grundlegend Friedrich Lenger: Werner Sombart 1863-1941. Eine Biographie, München 1994; vgl. ferner Rolf Peter Sieferle: Die Konservative Revolution. Fünf biographische Skizzen, Frankfurt a.M. 1995, zu Sombart S. 74-105.9 Staatsbibliothek zu Berlin, Nachlaß 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K 950.

Page 39: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

74 75

wurde. Bei der Amtsübergabe ein Jahr später erlitt er einen psychischen Zusammenbruch, der letztlich zu seinem Tod führte. Der Nachwelt ist Jaffé indes besser bekannt als Ehemann der in jeder Hinsicht emanzipierten Else Jaffé (geb. von Richthofen), die hin und wieder auch als „Frau Redakteurin“ des Archivs wirkte.10 Jaffé brachte als seinen Wunschherausgeber Max Weber, ebenfalls Nationalökonom, ins Spiel. Weber (1864-1920) schied nach seiner langen psychosomatischen Krankheit 1903 als öffentlich-ordentlicher Universitätsprofessor endgültig aus. Durch Jaffé erhielt er unverhofft die Chance, sich über das Archiv als Privatgelehrter neu im wissenschaftlichen Feld zu positionieren. Wie hinreichend bekannt, nutzte Weber die Chance gründlich und mit wachsender Streitlust. Das AfSS wurde das Forum, um seine Konzepte zu einer neuen „kulturwissenschaftlichen Logik“, zu religiösen Ideen in ihrer ökonomischen Relevanz wie in ihrem sozialen Niederschlag, oder zu agrar- und industriekapitalistischen Arbeitsbedingungen zu präsentieren.11 Weber setzte „seine“ Zeitschrift gezielt ein, um die historischen, anthropologischen und ökonomischen Paradigmen seiner Zeit zu attackieren. Der interessanteste Kopf, den er hier für Fragen der Herrschafts- und Parteientheorie an das AfSS binden konnte, zuerst als Autor, dann sogar als Mitherausgeber, war zweifellos Robert Michels. Robert Michels (1876-1936) hatte nach seiner Promotion als Mitglied der italienischen so-zialistischen Partei und eines Marburger syndikalistischen Zirkels keine Chance, sich an einer deutschen Universität zu habilitieren. Er wechselte deshalb nach Turin zu Achille Loria und schloß dort 1907 seine Habilitation ab. Weber war für das AfSS auf Michels gestoßen, als er während seiner eigenen Arbeit an den umfänglichen Artikeln zur Russischen Revolution von 1905 einen kompetenten Autor zur Behandlung der sozialistischen und anarchistischen Bewegungen suchte. Von 1906 bis 1915 lieferte Michels regelmäßig provozierende Aufsätze zur Parteiensoziologie. Darin entwickelte er seine gesinnungsradikalen Vorstellungen von syndikalistischer Politik im Dienste der unmittelbaren Demokratie. 1913 setzte Weber durch, Michels in den Herausgeberkreis des inzwischen international renommierten AfSS aufzunehmen. Mit seiner Spezialisierung auf dem Gebiet von Demokratisierung und Elitenbildung machte Michels eine europäische Karriere als politischer Soziologie. Er lehrte nach Stationen in Brüssel und Paris seit 1907 mit Unterbre-chungen bis 1928 in Turin. Hier unterhielt er eine enge Beziehung zu Vilfredo Pareto. 1923 trat Michels in den „Partito Nationale Fascista“ ein. Mussolini, die Heldenfigur vieler europäischer

10 Günther Roth, New York, hat mir wichtige Kapitel seines Buchmanuskriptes über Edgar und Else Jaffé mit auf- schlussreichen Briefquellen zur Verfügung gestellt, dafür danke ich ihm herzlich; vgl. vorab Günther Roth: Else von Richthofen, Edgar Jaffé und ihre Kinder im Kontext ihrer Zeit, in: Kay Waechter (Hg.): Grenzüberschreitende Diskurse. Festgabe für Hubert Treiber, Wiesbaden 2010, S. 301-319.11 Mit weiterführender Literatur Gangolf Hübinger: Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit. Eine Intellektuellen- geschichte, Göttingen 2006, bes. Kap. 5: Kapitalismus, Religion und Herrschaft. Max Webers „universalge- schichtliche Probleme“, S. 132–160.

Avantgarden, förderte ihn durch einen eigens eingerichteten Lehrstuhl an der Universität von Perugia, den Michels bis zu seinem Tod inne hatte.12

II. Neuer VerlegerAuch der Verleger Paul Siebeck ist ein wichtiger Akteur des Neustarts dieser bedeutenden sozial-wissenschaftlichen Zeitschrift. Paul Siebeck (1855-1920) ist in der europäischen Verlagsgeschichte berühmt, weil er nicht nur ein erfolgreicher Unternehmer war, sondern weil sein Verlag ein deut-liches kulturelles Profil besaß. Er erklärte sich bereit, das „Archiv“ zu übernehmen, nachdem er sicher war, dass sein Autor Max Weber eine führende Rolle spielen wird. In sensibler persönlicher Betreuung versammelte er in seinem Verlag eine intellektuelle Elite aus Theologen, Ökonomen und Soziologen. Er empfand es als sein Lebenswerk, „einer wissenschaftlichen Richtung durch Sammelbände, Lehrbuchreihen und Zeitschriften eine zusammenhängende Struktur zu geben“. Die Arbeit an Periodika und vielbändigen Handbüchern würdigte er als genau so wertvoll wie das Bücherschreiben selbst.13 Paul Siebeck repräsentiert einen Typus, den die Zeitgenossen als Kultur-verleger schätzten. In seiner Verlagspolitik waren es die Werte von Wissenschaft, Aufklärung und Liberalismus, durch die er kulturell wirken wollte. In der fünfbändigen Enzyklopädie „Religion in Geschichte und Gegenwart“ (1905-1913), einer Pionierleistung vergleichender theologischer und soziologischer Religionsgeschichte, kommt dieses Profil besonders markant zum Ausdruck. Um den medialen Wirkungsgrad des AfSS zu ermessen, ist ein kurzer Blick auf den Absatz erforderlich. Die Auflage betrug 1000 Exemplare, das lag leicht über dem Durchschnitt sozial-wissenschaftlicher Periodika. Hervorzuheben ist die breite internationale Distribution.

12 Zu Michels jetzt ausführlich Timm Genett: Der Fremde im Kriege. Zur politischen Theorie und Biographie von Robert Michels 1876 – 1936, Berlin 2008.13 Silke Knappenberger-Jans: Verlagspolitik und Wissenschaft. Der Verlag J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) im frühen 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2001, S. 20-23.

Page 40: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

76 77

31,2 | Sept. 1910 39,1 | Aug. 1914 46,3 | Feb. 1919 54,1 | Juli 1925

Auflage 1000 600 (?) 600 (?) 1000

Absatz Deutschland 420 357 410 569

Absatz Ausland 309 281 226 256

davon USA 20 25 7 14

davon England 3 2 - 1

davon Frankreich 12 10 - 5

davon Polen [10] [5] 8 6

davon Rußland 39 34 - 1

Gesamt 729 638 636 825

Die Übersicht kann an dieser Stelle nur der Illustration einer beachtlichen internationalen Wis-senszirkulation dienen.14

Titelblätter können allein für sich ein Stück Wissenschaftsgeschichte erzählen. Äußerst sorg-fältig haben Siebeck und die neuen Herausgeber den wissenschaftlichen Herausgeber- und Verlagswechsel 1904 auf dem Titelblatt dokumentiert. Einerseits musste der alte Leserstamm von der Kontinuität und Seriosität des Unternehmens überzeugt werden, um vor allem die Abonnements nicht zu verlieren. Andererseits musste hinreichend Neugier auf den künftigen Kurs einer aktuellen Zeitschrift des 20. Jahrhunderts geweckt werden. Man fand folgende in-formative Lösung:15

14 Die Zahlen aus: Archiv des Verlages Mohr Siebeck , Staatsbibliothek zu Berlin, Nachlaß 488.15 Sie weicht ab vom Werbeprospekt des Verlages, in dem der alte Titel dominiert: „Archiv für Soziale Gesetz- gebung und Statistik, Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“. Die drei neuen Herausgeber bekräftigen in diesem Prospekt, „keinerlei Änderung in dem allgemeinen Charakter, welcher dem Archiv seit seiner Entstehung eigentümlich war“, nämlich „Förderung der praktischen, sozialpolitischen Arbeit mit den Mitteln der Wissen- schaft“ vornehmen zu wollen. Die Zeitschrift sei damit kein Organ der „Volkswirtschaftslehre“ in ihrer ganzen Breite, sie konzentriere sich vielmehr „auf die Behandlung der sozialen Probleme“. Hier sehen die neuen Herausgeber dann doch den Bedarf an entscheidender Veränderung. Das Archiv erhalte nunmehr die Aufgabe, den „Gefahren“, welche die zunehmende fachdisziplinäre „Spezialisierung mit sich bringt, entgegenzuwirken durch eine entschiedene Betonung des Zusammenhanges unseres gesamten Wissens. Hierzu wird einerseits eine Vertiefung in der Art der Behandlung unserer Probleme nach der Seite ihrer prinzipiellen philosophischen und methodologischen Grundlagen hin unentbehrlich sein, soll anders unsre Arbeit nicht schließlich in ein Auf- speichern ungeordneten Materials und unzusammenhängender Einzelgedanken „ausmünden“. Damit ist nun doch gegenüber der Beteuerung, Brauns Kurs fortzusetzen, eine deutliche Verschiebung der Interessen ange- zeigt. Sie zielen auf eine Verknüpfung sozialwissenschaftlicher mit kulturwissenschaftlichen Fragestellungen und auf eine neue sozial- und kulturtheoretische Grundlegung.

Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Neue Folge des Archivs für Soziale Gesetzge-bung und Statistik, begründet von Heinrich Braun, herausgegeben von Werner Sombart, Professor in Breslau, Max Weber, Professor in Heidelberg und Edgar Jaffé in Heidelberg, XIX. Band (Der neuen Folge 1. Band) I. Heft, Tübingen und Leipzig Verlag von J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1904 Zusätzlich nannte der Verlag seine ausländischen Vertragsbuchhandlungen in Brüssel, Buda-pest, Christiana, Den Haag, Kopenhagen, London, New York, Paris, St. Petersburg, Rom, Stockholm, Wien und Zürich. Das Abonnement für einen Band von drei Heften betrug 16 Mark, das Einzelheft kostete 7 Mark.

III. Das „Geleitwort“. Ein Manifest des sozialwissenschaftlichen AufbruchsWelche Ideen und welche Inhalte sind es, die durch die internationalen sozialwissenschaftlichen Zentren zirkulieren? Wird die soziale Welt mit einem neuen Programm neu begriffen? Avantgar-den kommunizieren über Manifeste.16 Auch das neue AfSS hat sein Manifest, das „Geleitwort“. Es ist „der neuen Folge 1. Band“ vorangestellt und kollektiv mit „Die Herausgeber“ unterzeichnet.17 Hierzu hat vor kurzem der Religions- und Wissenschaftshistoriker Peter Gosh aus Oxford eine spannende Frage aufgeworfen: Wer hat das „Geleitwort“ maßgeblich verfasst und damit die Richtung der Zeitschrift fixiert: Werner Sombart oder Max Weber? Bekundet das „Geleitwort“ eine Verpflichtung, das „Archiv“ in der Tradition von Heinrich Brauns revisionistischer Sozialpo-litik zu belassen18, oder ist es ein Neustart-Manifest, für das primär Max Weber verantwortlich wäre? Für Gosh, wie zuvor für den Sombart-Biographen Friedrich Lenger ist die Sache klar: Als maßgeblicher Autor habe Sombart in Fortführung der Braun´schen Linie zu gelten. Weber habe nur Unwesentliches ergänzt.19

Ist es wirklich nur Unwesentliches? Es lohnt sich, die Gegenprobe zu machen und die Signale zu einer theoretischen Innovation aufzugreifen, denn die stammen dann logischerweise von der Hand Max Webers, und sie verweisen auf Wichtiges. Wenn Sombart den alten Kurs beibehal-ten wollte, lustlos, weil er inzwischen lieber kulturkritische Essays als sozialpolitische Berichte schreibt, dann finden wir in Weber den Motor, der dem AfSS für die gesteigerte wissenschaftliche Selbstbeobachtung der Moderne eine neue theoretische Basis verschafft und der Zeitschrift so

16 Wolfgang Asholt und Walter Fähnders (Hg.): „Die ganze Welt ist eine Manifestation“. Die europäische Avant- garde und ihre Manifeste, Darmstadt 1997.17 AfSS 19 (1904), S. I-VII. Bei den Übergabeverhandlungen mit Heinrich Braun war eine Fortführung der alten Bandzählung festgelegt worden.18 So wie Heinrich Braun in seinem „Abschiedswort“ vom Dezember 1903 die Leser über die „Zusage“ der neuen Herausgeber informierte, „das Archiv im alten Geist weiterzuführen“, AfGS 18 (1903), S. VI.19 Gosh bezieht sich auf einen Brief von Werner Sombart an Julie Braun-Vogelstein vom 5.4.1927, der auch Friedrich Lenger zu seiner dezidierten These veranlasst hatte, es sei Sombarts „im Namen der neuen Herausgeber verfasstes Geleitwort“ (Lenger, Sombart, S. 143): „Der Aufsatz ist von mir verfasst und von Max Weber nur in unwesentlichen Punkten ergänzt“, Gosh, S. 4, Anm. 17.

Page 41: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

78 79

in der europäischen Konkurrenz um 1900 eine Führungsrolle sichert. Zumindest vier Signale sendet das „Geleitwort“ in diesem Sinne. Erstens, das Archiv ändert das, was es die „spezifischen Gesichtspunkte“ nennt, also die er-kenntnisleitende Perspektive. Nicht mehr die Arbeiterfrage als Kern der Sozialen Frage soll im Zentrum stehen, das Blickfeld ist vielmehr kulturell entschieden zu erweitern: „Unsere Zeitschrift wird heute die historische und theoretische Erkenntnis der allgemeinen Kulturbedeutung der kapitalistischen Entwicklung als dasjenige wissenschaftliche Problem ansehen müssen, in de-ren Dienst sie steht.“20 Die methodische Konsequenz liegt in der Doppelseitigkeit der Analyse: wie sind Kulturerscheinungen ökonomisch bedingt, wie werden sie ökonomisch relevant? Das erfordert zweitens eine neue interdisziplinäre Zusammenarbeit, namentlich mit der Staats- und Rechtslehre, mit der noch gar nicht an den Universitäten gelehrten Soziologie und sozialanth-ropologisch mit „Grenzfragen zwischen Biologie und Sozialwissenschaften“.21 Gegenüber den alten europäischen Journalen mit ihren „Stoffsammlungen“ ist damit drittens vor allem eine – so wörtlich – „wichtige Aufgabe neu erwachsen“: „Dem Hunger nach sozialen Tatsachen, der noch vor einem halben Menschenalter die Besten erfüllte, ist mit dem Wiedererwachen des philoso-phischen Interesses überhaupt auch ein Hunger nach sozialen Theorien gefolgt“. Und „Hunger nach sozialen Theorien“ bedeutet primär eines, wieder wörtlich: „die Bildung klarer Begriffe“.22 Die „Bildung klarer Begriffe“ ist Max Webers ceterum censeo in allen Konflikten, die unter dem Namen „Werturteilsstreit“ in der frühen europäischen Soziologie zusammengefasst sind. Das Archiv zielte deshalb auf neue Weise viertens auf Absicherung strenger Wissenschaftlichkeit und wurde ein Forum für die aktuellen Debatten zu „Erkenntniskritik und Methodenlehre“, Max Weber verstand seine eigenen Aufsätze im AfSS deshalb in einem umfassenden Sinn als „kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik“. In diesen vier Punkten eines sozialwissenschaftlichen Neuansatzes – allgemeine Kulturbe-deutung des Kapitalismus, neue Interdisziplinarität, scharf typisierende Begriffsbildung, Me-thodologie der Kultur- und Sozialwissenschaften – soll das AfSS neuen Schwung erhalten und seinen Hunger nach sozialer Wirklichkeit unter Beweis stellen. Weber bündelt diese vier Punkte in seinem ersten großen Beitrag für das AfSS, dem viel interpretierten Aufsatz „Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“. Hier sind wichtige Aspekte, die das Ge-leitwort nur knapp anspricht, systematisch entfaltet. Das gilt insbesondere für Webers erkennt-nistheoretischen Kantianismus, der in der Formel von den „besonderten Gesichtspunkten“ zum Ausdruck kommt: Nur unter „spezifisch besonderten, untereinander vielfach heterogenen und

20 Geleitwort, S. V.21 Ebd.22 Ebd., S. VI.

disparaten Gesichtspunkten“ ist historisch-soziologische Erkenntnis möglich.23 Nicht weniger als 17 Mal erscheint der Begriff „Gesichtspunkte“ im Objektivitätsaufsatz, nicht umgangssprachlich, sondern immer in theoretischer Konzentration. Für Weber macht das die Essenz der Soziologie aus, „klare, scharfe begriffliche Feststellung der verschiedenen möglichen Gesichtspunkte ist der einzige Weg, der hier über die Unklarheit der Phrase hinausführt.“24

Die entscheidende Frage für das künftige Profil des AfSS ist natürlich, auf welche Themen richten sich die klaren sozialwissenschaftlichen Gesichtspunkte im frühen 20. Jahrhundert?

IV. Wirtschaft und Kultur. Der sozialwissenschaftliche Aufbruch um 1900Als oberstes Ziel kann der Versuch gelten, die Lebensbereiche „Wirtschaft“ und „Kultur“ in eine neue „gedankliche Ordnung der Probleme“ zu bringen. Das klingt einfach, bedeutete aber für die damaligen Standards Denkrevolution. Man kann sie ermessen, wenn man den „cultural turn“ der Humanwissenschaften in Amerika und Europa seit den 1980er Jahren heranzieht. Vieles ist im Zeichen des „cultural turn“ neu erforscht, aber das um 1900 aufgeworfene Problem der „Wech-selwirkungen“ (Georg Simmel) von Kultur und Wirtschaft wird nach wie vor als ein Desiderat bezeichnet.25 Insofern liefert das AfSS einen Überschuß an Problembewusstsein. Das lässt sich hier nicht systematisch entwickeln, ich konzentriere mich deshalb auf nur einen kurzen Exkurs zu der um 1900 so genannten „polnischen Frage“ und abschließend auf einen Vergleich der Pro-tagonisten vor dem Ersten Weltkrieg, weil mit Sombart, Weber und Michels drei repräsentative Typen eines sozialwissenschaftlichen Intellektuellen unterschieden werden können. „Polen“ und die „polnische Frage“ in den drei Teilungsgebieten waren im „Braun´schen Archiv“ zwischen 1888 und 1903 kein eigenes Thema. Das änderte sich unter den neuen Herausgebern, die ein besonderes Interesse an der Auseinandersetzung polnischer mit deutschen Autoren zeigten. Bereits im zweiten Band verfasste die Krakauer Nationalökonomin Zofia Daszynska-Golinska einen demographisch wie wirtschafts- und kulturhistorisch höchst aufschlussreichen Litera-turbericht über die Agrarverhältnisse in Galizien. Bemerkenswert erschien ihr die Verarmung der Kleinstädte, in denen sich kulturell nur die jüdische Bevölkerung behaupten kann und „in verhältnismäßig besseren Verhältnissen lebt als die einheimische christliche.“ Das korrigierte

23 Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen, 5. Auflage, 1982, S. 184 (WL).24 WL, S. 184, 212, vgl. besonders S. 50: Nur durch „Wertbeziehung“ (…) „in der individuell besonderten Wirklichkeit (…) Damit wird die Reflexion auf diese Beziehung zum entscheidenden Grund dieses historischen Interesses.“25 Vgl. den Forschungsbericht von Silvia Serena Tschopp: Die Neue Kulturgeschichte – Eine (Zwischen-)Bilanz, in: Historische Zeitschrift 289 (2009), S. 573-605, hier S. 602.

Page 42: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

80 81

manche im Deutschen Kaiserreich herrschende Vorurteile.26 Kein Buch jedoch dürfte die Kon-troversen so stimuliert haben wie die 1907 in erster und 1910 in veränderter zweiter Auflage erschienene Studie „Die Polenfrage“ des Nationalökonomen Ludwig Bernhard. Bernhard begann seine akademische Karriere 1904 an der Akademie in Posen, wurde 1906 nach Greifswald und 1907 nach Kiel berufen und lehrte ab 1909 an der Berliner Universität. Sein Buch widmete sich der Bevölkerungsentwicklung, dem polnischen Genossenschafts-, Kredit- und Bankwesen wie den politischen Oganisationen. Um 1900 erreichte der „Nationalitätenkampf“ vor allem um landwirtschaftlichen Grundbesitz einen Höhepunkt. Bernhards Buch hatte das Ziel, ihn durch Aufzeigen der Konfliktlinien und Kräfteverhältnisse zu entschärfen und letztlich eine Integrati-on in das deutsche Staats- und Wirtschaftsleben zu fördern.27 Die Herausgeber des AfSS taten etwas bislang Ungewöhnliches. Sie beauftragten den katholischen Prälaten und Sozialpolitiker Kazimierz Zimmermann mit einer kritischen Besprechung und rechtfertigten ihre Zeitschrif-tenpolitik in einer eigenen redaktionellen Anmerkung: „Es schien uns in mehrfacher Hinsicht wertvoll, bevor wir eine Besprechung des Bernhardschen Werkes aus deutscher Feder bringen, einer polnischen Stimme Gelegenheit zu geben, sich darüber vom polnischen Standpunkte aus zu äußern“. 28 Ein deutscher Beitrag wurde erst zur zweiten Auflage veröffentlicht, und er fiel aus der Feder des österreichischen Austromarxisten Otto Bauer noch kritischer aus als der polnische. Bernhard spräche „von dem polnischen ‚Gemeinwesen’ wie etwa der ununterrichtete Kleinbürger von der Börse, der gläubige Katholik vom Freimaurerorden oder der gläubige Freidenker vom Jesuitenorden redet“. Bernhard habe den modernen polnischen Nationsbildungsprozeß, die neue „aus Kleinbürgern, Bauern und Arbeitern zusammengesetzte Volksmasse“, wie sie sich inzwischen „bei allen Völkern des europäischen Kulturkreises“ in einem „Prozeß der Demokrati-sierung und der Vereinheitlichung des nationalen Kulturlebens“ nachhaltig formiere, überhaupt nicht begriffen.29 Das sind Kategorien einer neuartigen politischen Soziologie, wie sie das AfSS auszeichnete. Seit Ausbruch des Ersten Weltkriegs konnte und wollte das AfSS dieses Diskussi-onsniveau allerdings nicht mehr halten. In der ersten Kriegshälfte unterstützte es die deutsche Mitteleuropa-Politik. Nach der Kriegsniederlage kamen mit dem Historiker Hermann Oncken und dem Juristen Moritz Jaffé zwei Autoren zu Wort, die statt sozialwissenschaftlicher Analyse

26 Zofia Daszynska-Golinska: Neue Literatur über galizisches Agrarwesen, in: AfSS 20 (1905), S. 720-733, Zitate S. 733, S. 725. Im Weltkriegsjahrgang des AfSS 40 (1915) erschien von ihr der Beitrag „Die wirtschaftliche und politische Lage Polens bei Ausbruch des Krieges“, S. 691-724.27 Ludwig Bernhard: Das polnische Gemeinwesen im preußischen Staat. Die Polenfrage, Leipzig 1907; die zweite veränderte Auflage erschien unter dem Titel: Die Polenfrage. Das polnische Gemeinwesen im preußischen Staat, Leipzig 1910.28 Kazimierz Zimmermann: Literatur zur Ostmarkenfrage, in: AfSS 26 (1908), S. 521-533, die zitierte Anm. der Redaktion S. 521.29 Otto Bauer: Zur Polenfrage, in: AfSS 32 (1911), S. 191-197, Zitate S. 195f., S. 192.

in langen historischen Ableitungen deutsche Ansprüche auf die wieder zum polnischen Staat gehörige ehemalige preußische Provinz rechtfertigten.30 In der Gesamttendenz des AfSS, dessen Herausgeber Emil Lederer nach 1918 einen gemäßigten demokratischen Sozialismus propagierte, war das jedoch eine eher randständige Position. Wie überhaupt das AfSS die soziale Entwicklung der europäischen Staaten in recht unterschiedlicher Intensität beobachtete. Schweden etwa, immerhin ein Vorreiter moderner Sozialstaatlichkeit, das zudem mit Knut Wicksell über einen international renommierten Sozialökonomen verfügte, fand in keiner Weise eine angemessene Berücksichtigung. Die wissenschaftliche Beobachtung des globalisierten Kapitalismus erfolgte im AfSS unter durchaus asymmetrischen Gesichtspunkten. Aber das ist sicherlich das Schicksal jeder Fachzeitschrift. Nichtsdestweniger dürfte für die Gründungsgeschichte der europäischen Soziologie um 1900 das AfSS deshalb so bedeutsam sein, weil es so markante wie unterschiedliche Charaktere wie Werner Sombart, Max Weber oder Robert Michels zu einer wissenschaftlichen Arbeitsgemein-schaft zusammenführte. Darauf ist am Schluss noch einmal zurückzukommen. Werner Sombart wurde mit seiner Verantwortung für das AfSS ein gespaltener Mensch. Er musste die Wirtschaftskrisen, wie er sie als Ökonom systematisch dem Kapitalismus zurech-nete, mit den Kulturkrisen, die sein neuer Drang zu einer ästhetisch umfassenderen Weltsicht empfindet, in seinem Kopf zusammenbringen. Er bewältigte dies, ob schlüssig oder nicht, durch eine Trennung der Medien. Im AfSS schrieb er tapfer zur „Systematik der Wirtschaftskrisen“, so auch der Titel des allerersten Aufsatzes der neuen Folge.31 Sombart band auch den führenden russischen Krisentheoretiker Michail Tugan-Baranowski an die Zeitschrift. Auf der Tagesordnung stand die Leistungskraft der nationalökonomischen Theorien zur Diagnose von Stabilität oder „Zusammenbruch der kapitalistischen Wirtschaftsordnung“,32 - im Auf und Ab von globaler Finanzzirkulation und konjunktureller Überproduktion. Das zog sich als roter Faden bis 1933 durch die Zeitschrift. Sombarts persönlicher Akzent war noch ein anderer. Er war derjenige, der die revolutionären Ideen des westlichen Syndikalismus auf den deutschen Lesemarkt brachte, in ausführlichen Aufsätzen und vor allem Literaturberichten zu den syndikalistischen Bewegungen in Frankreich, Italien und den USA. Das macht seinen Hauptanteil am sozialwissenschaftlichen Avantgardediskurs aus. Für seine ästhetisch-kulturkritischen Ambitionen schuf er sich ein neues Organ. 1907 gründete er die Kulturzeitschrift „Morgen“, ein Zukunfts-Titel, mit dem er sich in die

30 Hermann Oncken: Zur polnischen Frage, in: AfSS 46 (1918/19), S.774-783; Moritz Jaffé: Wie kam die deutsche Ausbreitung nach Osten zum Stillstand? In: AfSS 59 (1928), S. 322-339.31 AfSS (19) 1904, S. 1-21.32 Michail Tugan-Barnowski: Der Zusammenbruch der kapitalistischen Wirtschaftsordnung im Licht der national- ökonomischen Theorien, AfSS 19 (1904), S. 273-306.

Page 43: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

82 83

Dekadenzklagen und Aufbruchsideen der Lebensreformbewegung einblendete.33 Einflussreicher wurde deshalb der Kurs Max Webers. Für Weber ist das „Archiv“ ein Jungbrunnen nach seiner mehrjährigen Krankheit. Viel zu lang geriet ihm der Aufsatz über „Die ‚Objektivität’ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Er-kenntnis“, den das „Geleitwort“ als den systematischen Beitrag zur theoretischen Neugründung angekündigt hatte.34 Eine prägnante Kulturtheorie soll die Originalität des Archivs gewährleis-ten, „den steten Wechsel der ‚Gesichtspunkte’ und die stete Neubestimmung der ‚Begriffe’ die verwendet werden“, müsse der Gelehrte zum Maßstab des Neuen in der Wissenschaft wählen.35 Empirisch setzte Weber in den Archiv-Nummern der folgenden zwei Jahre zwei persönliche Ak-zente. In der „Protestantischen Ethik und der ‚Geist’ des Kapitalismus“ entwickelt er ein Modell, „wie ‚Ideen’ in der Geschichte wirksam werden“ und in welchen „Weichenstellungen“ sie die europäischen Wirtschaftsinteressen gelenkt und ihre politischen Institutionen geformt haben.36 Der Theologe und Kulturphilosoph Ernst Troeltsch nahm diesen Faden auf und veröffentlichte im AfSS die erste Fassung seines großen Werkes über die „Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen“. Unmittelbar im Anschluß an die „Protestantische Ethik“ schrieb Weber für das AfSS seinen zeitdiagnostischen Großkommentar zur „bürgerlichen Demokratie in Russland“.37 Es war der Versuch, im Kräftefeld der Russischen Revolution von 1905 unter den Bedingungen des auch dort einziehenden „Hochkapitalismus“38 die Chancen einer demokratischen Herrschaftsordnung zu eruieren. Ernst Troeltsch hat in Weber einen „heroischen Positivisten“ gesehen, das trifft die Sache nicht ganz. Sozialwissenschaftliche Avantgarde à la Weber nimmt die Dauerspannung zwischen Wissenschaft und Leben, zwischen Beobachten und Handeln, zum Ausgangspunkt einer Ethik des Gelehrten-Intellektuellen. Eine Homogenisierung von wissenschaftlicher Beobachtung und politisch-praktischem Handeln war für Weber eher das Zeichen einer persönlichen Schwäche, die Grundspannungen der Moderne nicht aushalten zu können. Nach einer Homogenisierung suchte Zeit seines Lebens Robert Michels. Michels war sowohl mit Sombart als auch mit Weber eng befreundet und schulte sich an beiden. Von Sombart ließ er sich in seinem Habitus des revolutionären Idealisten bestärken. Er sah im Syndikalismus die Chancen der kulturellen Erneuerung Europas und hielt Georges Sorels Aufruf zur direkten Aktion und zum Generalstreik für wirkungsvoller als „kleinbürgerliche“ sozialdemokratische

33 Ausführlich dazu Lenger, Sombart, S. 153-162.34 AfSS 19 (1904), S. 22-87; hier zitiert nach WL, S. 146-214.35 WL, S. 161.36 AfSS 20 (1905), S. 1-54; 21 (1905), S. 1-110.37 Max Weber: Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Rußland, Beilage zu AfSS 22 (1906), S. 234-353; Russlands Übergang zum Scheinkonstitutionalismus, Beilage zu AfSS 23 (1906), S. 165-401.38 Max Weber-Gesamtausgabe (MWG) I/10, S. 270.

Parteitage. Von Webers sehr persönlichen und aggressiven Kommentaren zu seinen Aufsätzen im AfSS über sozialistische Bewegungen und ihre Parteiführer ließ er sich wieder verunsichern. Weber wünschte sich von Michels eine „Kulturgeschichte der proletarischen Bewegungen“, geschrieben mit dem Herzblut, welches die „Ethik des Streiks“ erklärlich macht, aber zugleich mit aller Distanz eines wissenschaftlichen Realitätssinnes.39 Er provoziert den Sozialisten Michels mit dem Kernsatz seiner eigenen politischen Anthropologie, „die Herrschaft des Menschen über den Menschen zu beseitigen [ist] eine Utopie“.40

Aus den AfSS-Aufsätzen und ihrer kritischen Beurteilung entstand Michels´ Begründung der modernen Parteiensoziologie in dem gut durchkomponierten Buch von 1911 unter dem Titel „Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchi-schen Tendenzen des Gruppenlebens“. Michels ließ in die erste Auflage die bemerkenswerte Widmung drucken: „Seinem lieben Freunde Max Weber in Heidelberg, dem Geraden, der, insofern er das Interesse der Wissenschaft erheischt, vor keiner Vivisektion zurückscheut, mit seelenver-wandtschaftlichem Gruße gewidmet.”41 Michels´ Herausgeberschaft im AfSS seit 1913, währte jedoch nicht lange. Sein italienischer Kulturpatriotismus veranlasste ihn beim Kriegseintritt Italiens 1915, die Herausgeberschaft niederzulegen. Natürlich bestand das AfSS aus wesentlich mehr als der Ideenzirkulation dieser drei; die ganze Garde der neuen Finanz-, Konjunktur- und Gewerkschaftstheoretiker ist vertreten. Auffällig ist der im „Geleitwort“ angekündigte kulturtheoretische und philosophische Zug, der neu hinzukam. Georg Simmel steuerte eine von Kant inspirierte „Soziologie der Armut“42 und eine „Soziologie der Weiblichkeit“43 bei. Im Ausklang der Revolution von 1919 ist Walter Benjamin mit einem Essay „Zur Kritik der Gewalt“ vertreten.44

Nach dem Ersten Weltkrieg geriet das AfSS in die Polarisierungen einer weltanschaulich und wissenschaftlich sehr heterogenen Landschaft. Zwischen Wien, Berlin, Leipzig, Heidelberg, Frank-furt am Main und Köln profilierten sich sozialwissenschaftliche Intellektuelle gegeneinander. Das betraf in erster Linie das Herzstück des AfSS, die Lebensbedingungen der industriellen Welt und die Kulturbedeutung des Kapitalismus zu erforschen. Das AfSS blieb im Prinzip dem Konzept verpflichtet, alle Sphären des menschlichen Lebens, Politik, Religion, soziale Gemeinschaften, Wissenschaft und Kunst, zu ihrer Bedingtheit durch die Ökonomie und zu ihrer Relevanz für

39 Brief Max Webers an Robert Michels vom 19. Februar 1909, MWG II/6, S. 60f.40 Brief Max Webers an Robert Michels vom 4. August 1908, MWG II/5, S. 616.41 Robert Michels: Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligar- chischen Tendenzen des Gruppenlebens. Leipzig 1911.42 AfSS 22 (1906), S. 1-30.43 AfSS 33 (1911), S. 1-36.44 AfSS 47 (1920/21), S. 809-832.

Page 44: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

84 85

die Ökonomie zu befragen.45 Karl Mannheim, der aus dem Budapester Intellektuellenmilieu nach Heidelberg wechselte, verankerte im AfSS die neue Disziplin der Wissenssoziologie. Hier erschienen mit dem „Historismus“ und mit „Das konservative Denken“ die Aufsätze, die ihn berühmt gemacht haben.46. Insgesamt verkörperte das AfSS in der Weimarer Republik mit Emil Lederer, Alfred Weber und Joseph Alois Schumpeter eine Institution des ökonomischen und soziologischen „Vernunftrepublikanismus“. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung hatte das Folgen. Der Verlag von J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) musste die Zeitschrift im August 1933 einstellen. Ganz ist die Geschichte der Zeitschrift damit noch nicht zu Ende. Alvin Johnson, der Direktor der New School for Social Research in New York, verfolgte die deutsche Emigration mit großer Aufmerksamkeit. Er machte Emil Lederer zum Dean der graduate faculty, und mehrere der Redakteure und Autoren des AfSS wurden nach 1933 an die New School berufen und schrieben in deren Zeitschrift „Social Research“. Der „Geist“ des „Archivs“ wurde durch diesen transatlan-tischen Transfer bewahrt.47

45 AfSS 51 (1925) enthält S. 1-93 ein Register zu den Bänden 1-50 (1888-1923). Auf das alphabetische Register folgt ein Sachregister, in dem sich die „Ordnung des Wissens“ in den folgenden Rubriken spiegelt: 1. Wissenschafts- lehre und Methodologie der Sozialwissenschaften; 2. Soziologie; 3. Sozialökonomische Theorie und Dogmen- geschichte; 4. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Biographien; 5. Bevölkerungswesen; 6. Statistik; 7. Allgemeine wirtschaftliche Zustandsschilderungen. Staat und Wirtschaft. Wirtschaftsrecht; 8. Agrarwesen. Agrargesetz- gebung. Landarbeiterfrage; 9. Gewerbe und Industrie. Privatwirtschaft. Arbeitswissenschaft; 10. Gewerberecht; 11. Binnenhandel. Handelsrecht. Verkehrswesen; 12. Außenhandel und Zollwesen; 13. Bank-Kredit- und Börsen- wesen; 14. Wirtschaftliche Interessenvertretung; 15. Allgemeine Sozialpolitik; 16. Soziale Gesetzgebung; 17. Arbeiterverhältnisse; 18. Arbeitsrecht und Tarifverträge; 19. Beamten- und Privatbeamtenverhältnisse. Mittel- standsfrage; 20. Arbeiterschutz und Gewerbehygiene; 21. Gewerbe- und Fabrikinspektion. Fabrikgesetzgebung; 22. Sozialversicherung; 23. Organisation der Arbeitgeber und Arbeitnehmer; 24. Arbeitskämpfe, Schieds- und Schlichtungswesen; 25. Arbeitslosigkeit. Arbeitsmarkt. Arbeitsnachweis; 26. Wohnungs- und Siedlungsfrage. Bodenfrage. Gesetzgebung; 27. Städtewesen und Kommunalpolitik; 28. Gesundheitswesen; 29. Frauenfrage, Sexualethik; 30. Jugendfürsorge. Armenwesen. Wohlfahrtspflege; 31. Unterrichts- und Bildungswesen; 32. Krimi- nologie und Strafrecht; 33. Zivilrecht; 34. Staats- und Verwaltungsrecht; 35. Politik und Geschichte; 36. Finanz- und Steuerwesen; 37. Krieg und Wirtschaft. Übergangswirtschaft; 38. Verschiedenes (darin: Geleitwort in AfSS 19); Nachrufe für Edgar Jaffé in AfSS 47, für Paul Siebeck und für Max Weber in AfSS 48). 46 Karl Mannheim: Historismus, AfSS 52.1 (1924), S. 1-60; Das konservative Denken. Soziologische Beiträge zum Werden des politischen Denkens in Deutschland, AfSS 57.1 (1927), S. 68-142 und 57.2, S. 470-495; Über das Wesen und die Bedeutung des wirtschaftlichen Erfolgsstrebens, AfSS 63.3 (1930), S.449-512.47 „It will include theory, political, social and economic; problems of social and political organization that are world wide in their general character though national in specific characteristics, such as class differentiation, milita- rism, the social movement; problems involving the independence of nations, like phenomena of prosperity and depression, prices and currency, movements of international trade and investment.” Alvin Johnson, Foreword, in: Social Research 1 (1934), S. 1f.

Dokument 8

Gangolf Hübinger

„Mitteleuropa“ und Polen. Deutsche Ordnungsvorstellungen 1915-1917

Drei Aspekte haben mich bewogen, das Thema „ Mitteleuropa und Polen“ für diese Tagung zum Ersten Weltkrieg zu wählen1. 1.) Nach 1989, beim Versuch, „Europa neu zu erfinden“, wie mein Kollege Karl Schlögel sagen würde, war „Mitteleuropa“ plötzlich in vieler Munde. Einflußreiche Intellektuelle von György Konrad bis Peter Glotz sahen in „Mitteleuropa“ das beste Modell, zwischen dem autokratischen Rußland und dem westlichen Kapitalismus einen eigenständigen Kulturraum kleiner föderativer Staaten zu errichten. Polen, die Tschechoslowakei und Ungarn waren als eine Art zivilgesell-schaftlicher Avantgarde gedacht, um jetzt den großen europäischen Traum von der Einheit in Vielfalt zu verwirklichen.2 Hier stellt sich die Frage, in welcher Tradition steht das Konzept von „Mitteleuropa“? Und das lenkt vor allem den Blick auf den Ersten Weltkrieg. 2.) Im Ersten Weltkrieg ist Mitteleuropa ein politischer Ordnungsbegriff, der vor allem eines anzeigt: Die Spannung zwischen imperialem und nationalem Ordnungsdenken. Wir denken heute im Ordnungsmodell der „Weltgesellschaft“ mit rivalisierenden Machtzentren: Ostasien, Nord- und Südamerika, und als mittlere Regionalmacht (noch): Europa. Die erste Phase einer solchen „Globalisierung“ ist die Zeit des Hochimperialismus vor dem Ersten Weltkrieg.3 In Reak-tion darauf wird „Mitteleuropa“ zu einem wichtigen Kriegsziel des Deutschen Reiches, und wer „Mitteleuropa“ sagt, muß immer auch „Polen“ sagen. Darüber ist zu sprechen. 3.) Wer sind die Wortführer der Mitteleuropa-Debatte und welche konkreten Ziele verfolgen sie im heftigen öffentlichen Streit, der um „Mitteleuropa“ zwischen 1914 und 1917 entbrennt? Mir kommt dazu immer die jüngste Euro-Krise in den Sinn. Die Politiker lavieren und fahren unsicher „auf Sicht“. Die Banker nutzen strategisch jede Chance, die Rendite zu steigern. Und am besten wissen es die Experten in den Forschungsinstituten, Think tanks und Beraterstäben. Es kommt mir wie ein déja vu vor: 1914/15 laviert die Reichsleitung unter Kanzler Bethmann Hollweg; die

1 Vortrag, gehalten auf der Tagung „Der Erste Weltkrieg unter dem Gesichtspunkt der deutsch-polnischen Bezie- hungen“ in Trygłow/Trieglaff vom 13.-15. September 2012; die Vortragsfassung wurde beibehalten.2 Gut dargestellt bei Rainer Schmidt: Die Wiedergeburt Europas. Politisches Denken jenseits von Ost und West, Berlin 2001.3 Lutz Raphael: Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa 1914-1945, München 2011, S. 46f; ferner Emily S. Rosenberg (Hg.): 1870-1945. Weltmärkte und Weltkriege, München 2012, (Geschichte der Welt, hg. von Akira Iriye und Jürgen Osterhammel, Bd. 5).

Page 45: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

86 87

Oberste Heeresleitung setzt die Maßstäbe für Annexionen und Kriegsbeute immer höher; aber am besten, wie Europa und die Welt – nach einem deutschen Sieg – neu zu gestalten ist, wissen die Experten in Wissenschaft und Publizistik. Was heute die Institute für Wirtschaftsforschung, das waren im Weltkrieg der Verein für Sozialpolitik mit Gustav Schmoller oder der Arbeitsaus-schuß für Mitteleuropa mit Ernst Jäckh. Meine kurze Geschichte zu Mitteleuropa – und wer im Weltkrieg Mitteleuropa-Konzepte ent-warf, mußte die Frage des dreigeteilten Polen lösen – besteht also aus einer Verbindung dieser drei Punkte: der transnationalen Idee eines mitteleuropäischen Machtzentrums, den deutschen Kriegszielen und der Art, wie wissenschaftliche Experten die Öffentlichkeit mobilisieren. Pläne für einen mitteleuropäischen Wirtschaftsverband zirkulierten, seitdem um 1900 die USA zur führenden Wirtschaftsmacht aufgestiegen war und panamerikanische Zoll- und Wäh-rungsideen ins Spiel gebracht hatten. Seitdem zweifelte das Deutsche Reich, auch Frankreich, ob der Nationalstaat als solcher der weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Konkurrenz genügen würde.4 Als dann 1914 aus dem dritten Balkan-Krieg, der auf Österreich-Ungarn und Serbien begrenzt bleiben sollte, der Erste Weltkrieg entstand, wurden die Mitteleuropa-Ideen konkret. Und von Beginn an zählt „Mitteleuropa“ zu den Kriegszielen des Deutschen Reiches. Ich möchte das auf den drei entscheidenden Ebenen kurz darstellen: der politischen Führung, also der Reichsleitung um Kanzler Bethmann Hollweg; der militärischen Führung, also Ober-Ost mit Erich Ludendorff; der Mobilisierung der Öffentlichkeit durch Publizistik und Expertengremien. Die neuere Forschung unterstreicht inzwischen: Niemand ist in den Weltkrieg „hineingeschlit-tert“, aber auch niemand hat ihn von langer Hand als Eroberungskrieg geplant. Aufgeschaukelt hat sich ein Gefüge aus Wettrüsten, imperialen Machtansprüchen, nationalistischem Presti-gedenken, vor allem eine Verbindung aus globalen Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen, in dem vor allem das Deutsche Kaiserreich keinen Schritt zurückweichen wollte. Es herrschte die Auffassung: Wenn schon ein Zweifrontenkrieg droht, dann müsse dieser Krieg lieber sofort als in zwei Jahren geführt werden, bevor Frankreich und Rußland noch stärker werden. Zu welchen Zielen die Deutschen den Krieg führen wollten, das macht nichts so klar wie das viel zitierte „Septemberprogramm“, ein kurzes Schriftstück der Reichskanzlei, datiert auf den 9. September 1914 mit dem Titel „Vorläufige Richtlinien über unsere Politik bei Friedensschluß“, - Unterschrift: Bethmann Hollweg.5

4 Vgl. als aufschlußreiche zeitgenössische Dokumentation Louis Bosc: Zollalliancen und Zollunionen in ihrer Be- deutung für die Handelspolitik der Vergangenheit und Zukunft, Berlin 1907 (französisches Original unter dem Titel „Unions Douanières et Projets d´Unions Douanières“, Paris 1904); Peter Theiner: Mitteleuropa-Pläne im Wilhelminischen Deutschland, in: Helmut Berding (Hg.): Wirtschaftliche und politische Integration in Europa im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1984, S. 128-148.5 Vgl. Christoph Roolf: Artikel „Septemberprogramm“, in: Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich und Irina Renz (Hg.): Enzykolopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 2003, S. 832f.

Dort ist Punkt 4 der für unser Thema entscheidende: „4. Es ist zu erreichen die Gründung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsverbandes durch gemeinsame Zollabmachungen, unter Ein-schluß von Frankreich, Belgien, Holland, Dänemark, Österreich-Ungarn, Polen und eventl. Italien, Schweden und Norwegen. Dieser Verband, wohl ohne gemeinsame konstitutionelle Spitze, unter äußerlicher Gleichberechtigung seiner Mitglieder, aber tatsächlich unter deutscher Führung, muß die wirtschaftliche Vorherrschaft Deutschlands über Mitteleuropa stabilisieren.“ Unendlich viel ist zu diesem Programm der deutschen Kriegsziele geschrieben worden. Das Septemberprogramm läßt sich annexionistisch als maßlosen deutschen Griff nach der Welt-macht deuten, wie es seit dem berühmten Buch von Fritz Fischer getan wird. Es läßt sich dann eine direkte Linie von einem Großraum Mitteleuropa, das von Deutschland wirtschaftlich und politisch beherrscht wird, zur nationalsozialistischen Europa-Vorstellung zu Beginn des Zweiten Weltkrieges ziehen. Kritiker Fritz Fischers wie der französische Weltkriegsspezialist Georges-Henri Soutou schauen dagegen stärker auf die zeitgenössischen Entscheidungszwänge. Das „Konzept ‚Mitteleuropa’“, so Soutou, „verstand sich vor allem als realistische Politik, mit der die gefährlichen Gedankenspiele des Kaisers und der Militärs eingedämmt werden sollten.“6

Kaiser Wilhelm II. und seine unberechenbaren Kriegsäußerungen lasse ich einmal beiseite. Umso wichtiger, um den Charakter der mitteleuropäischen Ordnungskonzepte mit Polen zu verstehen, ist die Politik des Militärs. Und hier die eigenmächtige Politik der „Oberbefehlshaber der gesamten deutschen Streitkräfte im Osten“, kurz Ober-Ost. Im Sommer 1915 hatten die Mittelmächte die russischen Armeen auf breiter Front geschlagen und Kongreßpolen erobert. Erich Ludendorff, die strategisch treibende Kraft, errichtete eine Militärverwaltung, quasi einen eigenen Militärstaat von der Memel bis zum Bug. Hier sollte die Grenze des Deutschen Reiches gezogen werden. Ein breiter Grenzstreifen sollte als Sicherheitszone zwischen Deutschem und Russischem Reich dienen. In letzter Zeit ist intensiv darüber geforscht worden, wie konsequent diese Regionen wirtschaftlich und durch Zwangsarbeit ausgebeutet worden sind.7

Polen als solches spielte in diesen machtpolitischen Expansionsplänen keine eigene Rolle. Ludendorffs Annexionskurs, der von den führenden Wirtschaftsverbänden und vom größten Agi-tationsverband, dem „Alldeutschen Verband“, gestützt wurde, stand allerdings in einem starken Gegensatz zu dem, was die Reichsleitung zur gleichen Zeit mit der Errichtung des Generalgou-vernements in Warschau bezweckte. Und in diesen Überlegungen wird das Ordnungskonzept

6 Georges-Henri Soutou: Die Kriegsziele des Deutschen Reiches, Frankreichs, Großbritanniens und der Vereinigten Staaten während des Ersten Weltkrieges: ein Vergleich, in: Wolfgang Michalka (Hg.): Der Erste Weltkrieg. Wir- kung, Wahrnehmung, Analyse, München 1994, S. 28-53, hier S.30f.7 Nach wie vor als Grundlage Werner Conze: Polnische Nation und deutsche Politik im Ersten Weltkrieg, Köln 1958; ferner Abba Strazhas: Deutsche Ostpolitik im Ersten Weltkrieg. Der Fall Ober Ost 1915-1917, Wiesbaden 1993; zuletzt Vejas Gabriel Liulevicius: Kriegsland im Osten. Eroberung, Kolonisierung und Militärherrschaft im Ersten Weltkrieg, Hamburg 2002.

Page 46: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

88 89

„Mitteleuropa“ wichtig. Genau genommen sind es drei sehr unterschiedliche Spielarten, um die zwischen dem Sommer 1915 und der so problematischen Proklamation eines „Königreichs Polen“ vom 5. November 1916 gestritten wurde, je nach Lage des Kriegsverlaufs. Als erste Reaktion auf die vollständige Eroberung Polens wurde die austropolnische Lösung ins Spiel gebracht. Die Wiener Regierung wünschte die Vereinigung Kongreßpolens, also des eroberten Russisch-Polens, mit dem galizischen Polen als einen eigenständigen Teilstaat. Eine eigene Regierung und ein eigener Landtag unter der österreichischen Kaiserkrone wurden in Aussicht gestellt, gleichberechtigt neben der ungarischen Monarchie. Nicht nur die Ungarn wa-ren wenig begeistert. In Preußen regte sich sofort Widerstand, in der Befürchtung, die polnische Bevölkerung der eigenen Teilungsgebiete würden sich anschließen und aus dem preußischen Staat ausscheren wollen. Reichskanzler Bethmann Hollweg selbst sah in der austropolnischen Lösung die „am wenigsten ungünstigste Lösung“, wie er dem Chef der Obersten Heeresleitung Erich von Falkenhayn am 11. September 1915 schrieb.8 Ein halbes Jahr lang zirkulierte in der deutschen Öffentlichkeit das Konzept, die Reichsleitung betreibe offensiv eine Angliederung Kongreßpolens an Österreich, um den Bündnispartner, der das mit Nachdruck zu einem seiner Kriegsziele machte, entgegenzukommen und das Bündnis der Mittelmächte zu stärken. Die Mehrheit der deutschen Kommentatoren sah allerdings keine Stärkung sondern eine Schwächung vor allem der Wirtschaftskraft der Mittelmächte. Hier kommt das zweite, das eigentliche Modell „Mitteleuropa“ ins Spiel, das in Büchern, Denkschriften, Konferenzen und Manifesten vorgetragen wird, um Druck auf die Reichsleitung auszuüben. Wenn schon Polen dem Habsburgerreich überlassen werde, dann müsse dieses ganze Reich fest in eine Zoll-, Wäh-rungs- und Verkehrsunion eingebunden werden, unter deutscher Kontrolle, versteht sich. Viel Schweiß ist vergossen worden, um durchzurechnen, wie ein solcher transnationaler Ver-bund mit einem starken Wirtschaftsgefälle überhaupt funktionieren kann, denn der deutsche Außenhandel mit Österreich betrug nur 4 %. Manches war großdeutsches Wunschdenken in der Erwartung eines raschen militärischen Sieges. Manches war aber auch kluges Abwägen von Institutionen und Interessen, so wie wir es später aus der Geschichte der Europäischen Union kennen. Ich nenne Ihnen die markantesten Positionen. Hier gab es eine große und eine kleine Vorstellung, wer alles zu Mitteleuropa gehören soll. Geradezu schwärmerisch wirbt Ernst Jäckh, ein kosmopolitischer Publizist und Vorsitzender der Deutsch-Türkischen Vereinigung für ein Mitteleuropa als natürlichen Organismus „von der Nordsee bis zum Mittelmeer, mit der bereits entschiedenen Bundesgenossenschaft der vier Staaten Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien und Türkei und mit der gleichfalls sich

8 Hier zitiert nach Wolfgang J. Mommsen: Max Weber und die deutsche Politik, Tübingen, 3. Aufl. 2004, S. 231.

entscheidenden Nachbarschaft von Griechenland und Rumänien. Dieses Mitteleuropa ist heute keine ‚Utopie’, mehr, sondern als politischer Vierbund bereits eine fertige Tatsache – die neue Einheit des alten Habsburgischen Reiches deutscher Nation und des alten Osmanischen Reichs türkischer Nation […]. Dieses Mitteleuropa – die neue Synthese der Thesis des alten Okzidents und der Antithesis des alten Orients.“ Das lange Zitat spricht für sich. Für den Idealisten Jäckh, der gleichzeitig in Berlin zusammen mit Paul Rohrbach die Zeitschrift „Das größere Deutsch-land“ herausgibt, ist „Mitteleuropa“ der Schlüssel für die „neue Weltpolitik“, die im Geiste der Völkergemeinschaft eine „neue Weltkultur“ herbeiführt.9

Mehr Einfluß auf die deutsche Öffentlichkeit als Jäckh gewinnt der liberale Reichstagsabge-ordnete Friedrich Naumann mit seinem mitreißenden Buch „Mitteleuropa“, das im Oktober 1915 erschien. Der charismatische Reformpolitiker konzentriert sich auf den Verbund mit Österreich-Ungarn. Und es gelingt ihm mit diesem Buch, die Debatte in den kommenden Monaten zu steuern. Das Buch endet mit einer Verheißung, - Naumann war vor seiner politischen Karriere protestantischer Pfarrer: „Mitteleuropa ist Kriegsfrucht. Zusammen haben wir im Kriegswirt-schaftsgefängnis gesessen, zusammen haben wir gekämpft, zusammen wollen wir leben.“ Der Weltkrieg schaffe überzeugendere politische Gemeinschaften als den Nationalstaat: „Wir kommen vom Krieg als Mitteleuropäer“.10

Gemeinsam mit Jäckh gründet Naumann im Februar 1916 einen „Arbeitsausschuß für Mit-teleuropa“, eine Interessenvereinigung aus Publizisten, Wissenschaftlern und Politikern, um in Berlin bei den Ministerien und der Reichsführung für ihre Idee zu werben. Parallel dazu beschließt der Verein für Sozialpolitik, das wichtigste Expertengremium zur wirtschaftswissenschaftlichen Politikberatung, seine Vorstandssitzung im April 1916 dem Thema „Die wirtschaftliche Annäherung zwischen dem Deutschen Reiche und seinen Verbündeten“ zu widmen. Dazu läßt er aus allen Bereichen – Agrarsektor, Schwerindustrie, Handel, Verkehr und Transport, Bankenwesen – die statistischen Daten auswerten und kommentieren und gießt reichlich Wasser in den Wein der Mitteleuropa-Enthusiasten. Der Leipziger Nationalökonom Franz Eulenburg trägt die Ergebnisse zusammen:

9 Ernst Jäckh: Werkbund und Mitteleuropa, Weimar 1916, S. 6f.10 Friedrich Naumann: Mitteleuropa, Berlin 1915, S. 262f.

Page 47: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

90 91

Deutsche

Einfuhr aus Ö. U. Ausfuhr nach Ö.U.

in Millionen Mark

1900 724 511

1901 693 492

1902 720 533

1903 755 531

1904 732 584

1905 773 595

1906 810 644

1907 812 717

1908 752 737

1909 754 764

1910 759 822

1911 739 918

1912 830 1035

1913 828 1105

„Die Einfuhr aus der Donaumonarchie hat seit dem Beginn dieses Jahrhunderts nur noch un-wesentlich zugenommen (…) Dagegen zeigt die deutsche Ausfuhr eine stetig aufsteigende Linie (…), die bisher eine Unterbrechung nicht erfahren hat. Bis zu dem neuen Jahrhundert wuchs die ö.-u. Einfuhr nach Deutschland schneller als die deutsche Ausfuhr dahin. Seitdem ist das Tempo der letzteren etwa siebenmal so rasch gewachsen.“11

Im Anschluß referieren Eulenburgs Kollegen über die Konsequenzen dieser Asymmetrie: Die deutsche Agrarwirtschaft werde sich gegen die Vereinheitlichung wenden und Schutzzölle ge-gen die österreichischen und insbesondere die ungarischen Landwirtschaftsprodukte fordern.

11 Franz Eulenburg: Die Stellung der deutschen Industrie zum wirtschaftlichen Zweibund, in: Heinrich Herkner (Hg.): Die wirtschaftliche Annäherung zwischen dem Deutschen Reiche und seinen Verbündeten, 2. Teil, Mün- chen 1916, S. 1-127, hier S. 17 (Schriften des Vereins für Sozialpolitik 155/2).

Und die junge österreichische Industrie werde sich gegen die viel billigeren deutschen Waren stemmen. Jetzt kommt das Erstaunliche. Trotz der offenen Aussprache darüber, wie sinnvoll „Mitteleuro-pa“ ökonomisch überhaupt ist, überwiegt die Haltung: es ist politisch gewollt. Und hier kommt Polen ins Spiel, auf das ich mich jetzt wieder konzentriere. Ich zitiere Ihnen die entscheidende Passage, mit der Gustav Schmoller als Vorsitzender des Vereins für Sozialpolitik im Sommer 1916 die drei Bände mit den Analysen und der stenographierten Aussprache der Öffentlichkeit übergibt: „Heute liegt die Sache so, daß die Bildung der großen handelspolitischen Weltreiche, Großbritannien, Rußland, Frankreich und der Vereinigten Staaten, nur in einem mitteleuropäi-schen, hauptsächlich deutsch-österreichischen Handelsreiche das nötige Gegengewicht finden kann, wenn Zentraleuropa nicht erdrückt werden soll. Dazu kommt, daß wir wahrscheinlich Polen und Belgien, bei aller sonstigen Selbständigkeit, die wir beiden Staaten lassen wollen, uns handelspolitisch angliedern müssen, wenn unsere Volkswirtschaft recht gedeihen soll.“12

Der Berliner Ordinarius Gustav Schmoller ist nicht irgendwer, er ist der einflußreichste Natio-nalökonom und Sozialpolitiker des Kaiserreichs. Was heißt nun mit Blick auf Polen „handelspoli-tisch angliedern“? Das kann sehr unterschiedlich geschehen zwischen Zwang und Zustimmung. Und übergreifend geht es um die entscheidende Alternative in den deutschen Kriegszieldebatten: Siegfrieden oder Verständigungsfrieden? Die Verfechter eines Siegfriedens, das sind die militärische Führung um Ludendorff oder die neue nationalistische Rechte, die sich in der Deutschen Vaterlandspartei versammelt und rasch auf über eine halbe Million Mitglieder anwächst. Ihre Formel heißt „Annexionen und Kontributi-onen“. Für dieses Ziel der Ressourcenausbeutung der annektierten Länder brauchen die Rechten letztlich keine mitteleuropäischen Ordnungsideen, es reichen Okkupation, Kollaboration und straffe Verwaltung. Die Verfechter von „Mitteleuropa“ dagegen wie Jäckh, Naumann, auch Schmoller, wollen einen Verständigungsfrieden. „Verständigungsfrieden“, wie der Name sagt, erfordert eine Dialogbe-reitschaft, aber zu welchen Konditionen? Die Politik kennt keinen herrschaftsfreien Dialog, das ist heute nicht der Fall und war es zur Zeit des Weltkrieges erst recht nicht. Zeittypisch ist der Merksatz, mit dem Gustav Schmoller sein zitiertes Votum für Mitteleuropa abschließt: „Das Völ-kerrecht und die Staatspraxis muß endlich einsehen, daß praktisch die ‚Souveränität’ der großen und der kleinen Staaten eine verschiedene sein kann und tatsächlich immer sein wird; es ist das der einzige Weg, auf dem die Souveränität der kleinen zu erhalten ist.“13 Im Klartext: es müsse

12 Gustav Schmoller: Vorrede zu: Die wirtschaftliche Annäherung zwischen dem Deutschen Reiche und seinen Verbündeten, 3. Teil, München 1916, S. VIII-XI, hier S. IX (Schriften des Vereins für Sozialpolitik 155/3).13 Ebd.

Page 48: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

92 93

im Interesse der kleinen Nationen wie Belgien oder Polen liegen, sich unter den wirtschaftlichen Schutz einer nationalen Großmacht zu stellen. So jedenfalls die vorherrschende Theorie in einer Zeit, als einerseits die Globalisierung übernationale Wirtschaftsräume erzwang, andererseits der Nationalstaat als einzige politische Gemeinschaft mit souveräner Entscheidungsmacht über Armut oder Wohlstand, Frieden oder Gewalt, Leben oder Tod angesehen wurde. Wie kann es unter solchen Bedingungen zu einem Dialog zwischen dem Deutschen Reich und Polen kommen? Gehen wir dazu noch einmal vom Arbeitsausschuß für Mitteleuropa aus. Diese Expertengruppe nimmt ihre Arbeit im Februar 1916 auf. Zu diesem Zeitpunkt sind zwei Dinge klar: Rußland wird trotz der militärischen Niederlagen keinen Separatfrieden mit den Mittel-mächten schließen. Das bedeutet, Österreich und das Deutsche Reich werden Kongreßpolen nicht auf den Gabentisch eines Friedensvertrages legen. Und zweitens: der zögerliche Reichskanzler Bethmann Hollweg läßt die austropolnische Lösung fallen. Die Teilnehmer der ersten Sitzung des Mitteleuropaausschusses müssen deshalb umdenken: ursprünglich war die „Polenfrage“, wie sie es nennen, nur eine Randfrage, so in Naumanns Mitteleuropabuch.14 Nunmehr wird sie von den kritischen Beobachtern der Kriegsentwicklung zur Schicksalsfrage für eine Neuordnung Europas erklärt. Wer hier am stärksten hervortritt und auf einen Dialog drängt, das ist der erst im Septem-ber 1915 aus dem militärischen Dienst15 entlassene Max Weber als Ökonom wie als politischer Querdenker. Ich wähle ihn deshalb, um das dritte Modell zu skizzieren. Weber wünscht sich eine Stellung in den politischen Beraterstäben der Regierung und möchte in direkten Kontakt zu den polnischen Politikern treten: „Ich werde doch sehen, polnisch zu lernen – wenn der Kopf es tut, was ich nicht weiß – und dann Verbindung mit den Polen suchen.“ Es sei nötig, den „rabiaten Interessenten“ gegenzusteuern, „Sering [gemeint ist der Berliner Nationalökonom Max Sering als Berater des Kriegsministeriums für Ostfragen] kolonisiert (in Gedanken) Kurland und Lithauen – wo Menschen und Geld herkommen sollen, fragt er nicht“, so schreibt Weber am 7. Dezember 1915 an seine Frau Marianne.16

Im Gegensatz zu Sering will aber niemand Max Weber, den reichsweit bekannten Kritiker des wilhelminischen Säbelrasselns, als wissenschaftlichen Berater in einem Ministerium haben. Deshalb arbeitet Weber in nichtstaatlichen Organisationen wie dem Arbeitsausschuß für Mit-teleuropa auf eine Verständigung mit Polen hin. Wie ernst es ihm damit ist, zeigt der Umgang

14 Naumann, Mitteleuropa, S. 100f; in Ernst Jäckhs großflächigen Überlegungen zur „neuen Synthese“ von Okzident und Orient kommt Polen nicht gesondert vor.15 Als Organisator von Reservelazaretten in Heidelberg, vgl. Max Weber: Zur Politik im Weltkrieg. Schriften und Reden 1914-1918, hg. von Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Gangolf Hübinger, Tübingen 1984 (MWG I/15), S. 23f.16 Max Weber: Briefe 1915-1917, hg. von Gerd Krumeich und M. Rainer Lepsius in Zusammenarbeit mit Birgit Rudhard und Manfred Schön, Tübingen 2008 (MWG II/9), S. 208.

mit Polen in der Fachzeitschrift, die er mit herausgibt, dem international renommierten „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“. Für den Kriegsjahrgang 1915 veranlaßt er die polnische Sozialwissenschaftlerin und Sozialistin Zofia Daszynska-Golinska einen Artikel zu schreiben über „Die wirtschaftliche und politische Lage Polens bei Ausbruch des Krieges“. Daszynska-Golinska analysiert sehr professionell die stärkere Wirtschaftskraft Russisch-Polens gegenüber Galizien und kommt für die Zukunft Polens zu dem Schluß: „Die Schaffung eines unabhängigen, oder mit Österreich verbundenen Polens ist eine politische Notwendigkeit für Deutschland, das den russischen Nachbar von seiner Grenze fernhalten will. Der Polenstaat muß jedoch wirtschaftlich und politisch stark sein, um seine europäische Mission eines Schutzwalles von Westeuropa erfüllen zu können. Es liegt sowohl im Interesse Polens als Deutschlands, diesem Staate seine Expansionsmöglichkeit nach dem Osten zu sichern, wohin die Bevölkerung sich ergießen könnte, und die Großindustrie des Königreiches einen Absatzmarkt fände. Litauen und Kleinrußland, die einen Teil des historischen Polen gebildet haben, haben eine dünne Bevölkerung und sind schon heute ein wichtiges Absatzgebiet für die polnische Industrie.“17

Max Weber, das ist seine Art, läßt dieses Plädoyer für ein unabhängiges und expandierendes Polen drucken, obwohl er selbst ganz anderer Ansicht ist. Nachdem er im Mai 1916 von einer Erkundungsreise für den Arbeitsausschuß „Mitteleuropa“ aus Wien und Budapest (also doch nicht Warschau) zurückgekehrt ist, erscheint ihm nur eine Lösung richtig, um den gordischen [polnischen] Knoten zu durchschneiden. Sei es nicht zweckmäßig, so fragt er suggestiv in der entscheidenden Aussprache des Vereins für Sozialpolitik, wenn „Polen einfach dem deutschen Zollgebiet angegliedert wird, was freilich das sicherste und sicherlich auch für Polen beste wäre.“18 Dieses Modell verkehrt also die austropolnische Lösung in ihr Gegenteil und fordert die Gründung eines polnischen Staates mit Autonomie im Innern, aber einem wirtschaftlich festen Anschluß an das Deutsche Reich, - eine germano-polnische Lösung, wenn man so will. Der Kriegsverlauf ab 1917 mit der Russischen Februarrevolution und dem Kriegseintritt Ameri-kas zwei Monate später, am 6. April, führt dann dazu, daß keines der drei Modelle – Angliederung an Österreich, ausbalancierte Föderation, Angliederung an Deutschland, – zum Zuge kommt. Inzwischen hatte es zwar einen wichtigen Akt in der „Polenfrage“ gegeben. Am 5. November proklamierten der Deutsche Kaiser und der Kaiser von Österreich die Errichtung eines Königrei-ches Polen „mit erblicher Monarchie und konstitutioneller Verfassung“. Was wie eine Dialogbe-

17 Zofia Daszynska-Golinska: Die wirtschaftliche und politische Lage Polens bei Ausbruch des Krieges, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 40 (1915) S. 691-724, Zitat S. 722.18 Redebeitrag Max Webers in der Aussprache vom 6. April 1916: Die wirtschaftliche Annäherung zwischen dem Deutschen Reiche und seinen Verbündeten, 3. Teil, München 1916, mit einem Editorischen Bericht abgedruckt in MWG I/15, S. 134-152, hier S. 143. Vgl. ausführlich Wolfgang J. Mommsen: Max Weber und die deutsche Politik, Tübingen, 3. Aufl. 2004, S. 233-246.

Page 49: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

94 95

reitschaft mit den polnischen Parteien um Piłsudski aussah, geschah in Wirklichkeit auf Druck der Obersten Heeresleitung. Ludendorff war angesichts der unvorstellbaren Menschenopfer in den Schützengräben nur an frischen polnischen Divisionen interessiert. Konkrete Angaben über die Art der Autonomie in Verfassung, Verwaltung oder Heerwesen machte die Proklamation nicht. Und im preußischen Abgeordnetenhaus forderten in einer erregten Polendebatte im Ja-nuar 1917 die Konservativen einmal mehr Kompensationen. Wenn schon das ehemals russische Kongreßpolen autonom werden solle, dann müssten die preußischen Teile Polens noch stärker germanisiert werden, als es die ohnehin schon diskriminierenden Enteignungsgesetze und die Sprachenpolitik vorsahen. Es war wieder Max Weber, der die Konflikte scharf auf den Punkt brachte. Am 25. Februar 1917 veröffentliche die liberale „Frankfurter Zeitung“ Webers Artikel „Die Polenpolitik“. Weber ist kein Föderalist und schon gar kein Pazifist. Er denkt herrschaftssoziologisch in Kategorien einer nationalen Machtpolitik. Er unterscheidet zwischen historischen Ansprüchen der „europäischen Weltmächte“, zu denen er das Deutsche Reich zählt, und der kleinen Nationen wie Polen, denen er nur in Anlehnung an eine Großmacht Überlebenschancen zuspricht. Deshalb fixiert er in seinem Artikel zuerst die „nationalen Interessen“ des Reiches: „Eine für die Deutschen sowohl wie die Polen absolut befriedigende Lösung der zahlreichen schwierigen Interessenkollisionen ist – leider – nicht möglich. Denn solange Militärstaaten und staatliche Wirtschaftspolitik bestehen, kann die Nationalität, – deren Grenze überdies im Osten mit seinem Durcheinanderwohnen beider Völker gar nicht gefunden werden könnte, – für die Ziehung der politischen Grenzen nur neben 1. Der militärischen Sicherheit und 2. Der wirtschaftlichen Zusammengehörigkeit maßgebend sein.“19 Das ist konsequent im Modell eines von Deutschland militärisch und ökonomisch kontrol-lierten Mitteleuropa gedacht. Wenn aber jetzt die preußische Staatsregierung unter dem Druck der Rechten – und darauf zielt Webers Artikel in der Hauptsache – die Unterdrückung Polens verschärfe, statt auf der Linie der Kaiserproklamation ebenfalls die polnische Selbstbestimmung zu befördern, dann „ist das nichts anderes, als eine Kriegsansage gegen die innerdeutschen Polen sowohl wie vor allem gegen die hochpolitisch bedingte Polenpolitik des Reichs.“20

Dieser Zeitungsartikel vom Februar 1917 ist geeignet, einen definitiven Schlußpunkt hinter das Thema „Mitteleuropa“ zu setzen. Denn im Frühjahr 1917 zeichnen sich nicht nur für Max Weber, sondern für alle kritischen Beobachter des Kriegsverlaufs und für die Vertreter eines Verständi-gungsfriedens zwei Konsequenzen ab. Die Russische Februarrevolution und der amerikanische Kriegseintritt verändern das gesamte Kräftefeld der „europäischen Weltmächte“. Der Krieg

19 Max Weber: Deutschlands äußere und Preußens innere Politik. I. Die Polenpolitik, MWG I/15, S. 195-203, hier S. 197f.20 Ebd., S. 202.

droht für das Deutsche Reich verloren zu gehen, das macht weiteres Kopfzerbrechen über einen mitteleuropäischen Großraum sinnlos. Umso dringlicher rückt die Neuordnung Deutschlands selbst auf die Agenda. Die intellektuellen Kontroversen verlagern sich von der Außenpolitik immer stärker auf die Innenpolitik und die Reform der deutschen Verfassungsordnung. Die Demokratisierung des autoritären Kaiserreichs wäre aber jetzt ein neues Thema. Für „Mitteleuropa und Polen“ läßt sich zu meinen Ausgangsfragen ein knappes Fazit ziehen: „Mitteleuropa“ war sicherlich kein Vorbild für eine echte europäische Integration. Zu offensicht-lich kommt vor allem in den Beziehungen zwischen Deutschland und Polen das Machtgefälle eines unechten Dialogs zum Vorschein. Auf der einen Seite finden wir die Hegemonialpolitik des Deutschen Reiches mit Peitsche und Zuckerbrot. Dem stehen auf der anderen Seite die Erwar-tungen der polnischen Nationalbewegung gegenüber, die nicht mit deutscher Hilfe, sondern erst im Anschluß an die 14 Punkte des amerikanischen Präsidenten Wilson erfüllt wurden.21

Wenn auch kein Vorbild, so bietet „Mitteleuropa“ doch ein historisches Lehrstück. Die Kont-roversen um „Mitteleuropa“ liefern einen frühen Einblick in die Grundspannungen der ökono-mischen und politischen Globalisierung des 20. Jahrhunderts. Sind transnationale Wirtschafts-verbünde mit starkem Leistungsgefälle möglich? Können solche Wirtschafts- und Zollunionen über fiskaltechnische Erleichterungen hinaus politisch integrierend wirken? Lassen sich die Spannungen zwischen hegemonialen Machtzentren und nationaler Eigenständigkeit ausbalan-cieren? Hier sind Strukturprobleme angesprochen, die in den europäischen Integrationsdebatten von 1989 bis in die gegenwärtigen Krisenszenarien um einen echten europäischen Wirtschafts-raum mit einer durchsetzungsstarken politischen Führung auf frappante Art wiederkehren. Meine Vermutung ist deshalb, wenn wir in zwei Jahren den Ersten Weltkrieg ins Zentrum der europäischen Erinnerungsarbeit rücken,22 dann wird „Mitteleuropa“ als ein Beispiel abgerufen werden, an dem solche Spannungen strukturell diskutiert werden. Sie drücken sich heute nur anders aus.

21 Punkt 13 des am 8. Januar 1918 vor dem US-Kongreß verkündeten Friedensplans: „Ein unabhängiger Polnischer Staat sollte errichtet werden, der alle Gebiete einzubegreifen hätte, die von unbestritten polnischer Bevölke- rung bewohnt sind; diesem Staat sollte ein freier und sicherer Zugang zur See geöffnet werden, und seine poli- tische sowohl wie wirtschaftliche Unabhängigkeit sollte durch internationale Übereinkommen verbürgt werden.“22 Vgl. Gangolf Hübinger: Über die Aufgaben des Historikers, Berlin 2012, S. 70f.

Page 50: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

96 97

[UNIon] Tagungen12

Forschungsprojekt begann mit deutsch-polnischen WorkshopsVergleich und Verflechtung europäischer Wissenschaftskulturen werden untersucht

Mit zwei deutsch-polnischen Workshops star-tete ein neues Forschungsprojekt zu „Vergleichund Verflechtung europäischer Wissenschafts-kulturen“. Prof. Dr. Gangolf Hübinger von derKulturwissenschaftlichen Fakultät hatte die Fi-nanzierung bei der Deutsch-Polnischen Wissen-schaftsstiftung eingeworben und Prof. AndrzejPrzyłębski von der Adam-Mickiewicz-Universi-tät in Poznań als Kooperationspartner gewon-nen.

An beiden Universitäten wurde eine Arbeits-gruppe gebildet und der erste gemeinsameWorkshop fand am 5./6. Mai 2009 in Poznaństatt. In der gleichen Woche feierte die Adam-Mickiewicz-Universität ihr 90-jähriges Beste-hen. Die Gruppe nahm an einer Ausstellungser-öffnung zur Gründungsgeschichte der Universi-tät im Posener Schloss teil und beteiligte sichebenfalls an einer wissenschaftlichen Konfe-renz zur Geschichte der einzelnen Fakultätender AMU sowie der polnischen Untergrund-Universität während des Zweiten Weltkriegs. Ineinem Abendvortrag stellte Prof. Hübinger dasProjektthema vor.

Der zweite Workshop in Frankfurt (Oder) wurdeam 4. Juni mit einem öffentlichen Vortrag vonProf. Przyłębski zum Thema „Bildung hat Vor-rang. Über die Entstehung der Adam-Mickie-wicz-Universität Poznań“ eröffnet. ZentralerGegenstand dieses Workshops waren markanteTexte zur Zivilisationsanalyse aus der europäi-schen Zwischenkriegszeit. Den Ausgangspunktbildete der „Gründungsvater“ der modernenpolnischen Soziologie Florian Znaniecki, der inden Jahren 1921-1939 den Lehrstuhl für Sozio-logie und Kulturphilosophie an der PosenerUniversität innehatte. Seine Thesen zum „Un-tergang der westlichen Zivilisation“ (1921) und

sein leidenschaftliches Eintreten für die schöp-ferische Macht von Kultureliten wurden mitden Zivilisationsanalysen von Oswald Spenglerund Max Weber in Deutschland, mit EmileDurkheim und Marcel Mauss in Frankreich undmit H. G. Wells in England verglichen. Im Sinnedes Projektes wurde zum einen nach persönli-chen und nationalkulturellen Eigenarten, aber

auch nach der internationalen Zirkulation vonZivilisationsideen und von kulturellem Wissengefragt. Denn das Projekt untersucht primärdie Kultur- und Sozialwissenschaften in ihrerintegrierenden Bedeutung für die Selbstbeob-achtung und Selbstbeschreibung Europas.

EWA DĄBROWSKA

Die Teilnehmer des Workshops mit Prof. Hübinger (2.v.l.) und Prof. Przyłębski (5.v.l.).

Bereits zum vierten Mal veranstaltete die Pro-fessur für Politikwissenschaften 1 eine Exkur-sion zu den wichtigsten politischen Institutio-nen in Polen. In diesem Jahr nahmen zusätz-lich zu Studierenden der Viadrina zum zwei-ten Mal auch Mitglieder des StudentischenWissenschaftskreises der Politologen des Col-legium Polonicum teil.

Das abwechslungsreiche Programm gab denStudierenden die Möglichkeit, einen Einblickin die im Laufe der Seminare theoretisch be-sprochenen wichtigsten politischen Institu-tionen zu gewinnen und ihre Funktionsweiselive zu erleben. Zu diesem Zweck waren nichtnur Besichtigungen des Sejm, des Senats derPräsidenten- und Regierungskanzlei geplant,sondern auch persönliche Begegnungen mitAbgeordneten sowie Diskussionsrunden mitVertretern aus der Politik.Während der Führungen durch die Sejm-Ge-bäude konnten die Exkursionsteilnehmer viel

über die Geschichte des polnischen Parlamen-tarismus erfahren. Auch die Besichtigungenim Präsidentenpalast und in der Regierungs-kanzlei waren reich an Informationen überden Verlauf des demokratischen Konsolidie-rungsprozesses in Polen sowie die aktuellenMechanismen der Entscheidungsfindung in-nerhalb der polnischen Exekutive.

Besonders interessant verlief das Gesprächmit dem Chef der Präsidentenkanzlei, Mini-ster Piotr Kownacki, der vor allem über die Po-sition und Aufgaben des Präsidenten sowiedie im Rahmen des polnischen politischen Sy-stems aus der Kohabitation resultierendeKonfliktpotenziale berichtete. UnvergesslicheEindrücke hinterließen auch die mit weiterenpolnischen Spitzenpolitikern geführten Ge-spräche über aktuelle politische Themen.

Als Gesprächspartner standen den Studieren-den u. a. die Regierungsbeauftragte für Kor-

ruptionsbekämpfung Julia Pitera (PO), RafałRudnicki (PO), Mitglied der Kommission zurPlanung der EM 2012, Jerzy Szmajdziński(SLD), stellvertretender Sejmmarschall, stell-vertretender Parteivorsitzender der SLD undehemaliger Verteidigungsminister, der ehe-malige Parteivorsitzende der Bauernpartei,Eugeniusz Kłopotek (PSL), sowie der ehemali-ge Pressesprecher der Parlamentsfraktion,Mariusz Kamiński (PiS), zur Verfügung.

Insgesamt brachten die drei aufschlussrei-chen Tage in Warschau einen sehr informati-ven Blick hinter die Kulissen der Politik sowieKenntnisse über die polnische Geschichte,Kultur und die Lebensrealität in Polen mitsich. Am Ende waren alle der Meinung: einenAufenthalt in Warschau sollten sich nicht nurPolitikwissenschaftler aber auch andere anunseren östlichen Nachbarn Polen interessier-te Studenten nicht entgehen lassen.

ARTUR KOPKA

Warschau-Exkursion gab Einblicke in die Demokratie und Politik

FOTO

: PRI

VAT

Dokument 9

17[UNIon]Wissenschaftskulturen. Nationale Eigenarten und weltweite Verflechtungen

Zum Abschluss des ersten Forschungsab-schnitts des von Prof. Dr. Gangolf Hübingergeleiteten und von der Dutsch-PolnischenWissenschaftsstiftung geförderten Projekteszu den Europäischen Wissenschaftskulturenfand am 5. Februar 2010 an der Viadrina einWorkshop mit auswärtigen Spezialisten statt.

Zwei Fragen lagen der Tagung zugrunde: Wächst Europa unter dem Einfluss wissen-schaftlichen Wissens und der Kraft philoso-phischer Selbstreflexion enger zusammen,oder rivalisieren die Nationalstaaten mit ihrenwissenschaftlichen Traditionen und Institutio-nen noch stärker miteinander? Und welche Bedeutung haben moderne Klas-siker für die weltweite Zirkulation wissen-schaftlicher Weltbilder?

Dr. Edith Hanke

Professor Sérgio da Mata

Dr. Katrin Steffen

Ewa Dąbrowska

Max Spohn

Dr. Barbara Pich

EWA DĄBROWSKA UND MAX SPOHN

Institut für angewandte Geschichte starteteForschungsprojekt zu Erinnerungsorten

Prof. Sérgio da Mata von der Universidade Federal de Ouro Preto war Stipendiat an der Viadrina.

FOTO

: PR

IVA

T

Dokument 10

Page 51: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

98 99

Dokument 11

Europäische Wissenschaftskulturen und politische Ordnungen in der Moderne(1890-1970)

Veranstalter: Kolloquium des Historischen KollegsDatum, Ort: 19.05.2011-21.05.2011, MünchenBericht von: Edith Plöthner, Historisches Kolleg München; Max Spohn, Kulturwissenschaftliche Fakultät, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt an der Oder

Das Kolloquium „Europäische Wissenschaftskulturen und politische Ordnungen in der Moderne“, das unter der Leitung von GANGOLF HÜBINGER (Frankfurt an der Oder/München) vom 19. bis 21. Mai 2011 am Historischen Kolleg in München veranstaltet wurde, setzte sich zwei Ziele. Zum ersten sollten der Zusammenhang zwischen sozialer Erfahrung, wissenschaftlicher Beobachtung und politischer Gestaltung von „Wirklichkeit“ erörtert und dazu empirisch gehaltvolle Beispiele herangezogen werden. Zugrunde lag die „Einsicht“ Reinhart Kosellecks, dass lebensweltliches Erfahren und wissenschaftliches Begreifen sozialer Wirklichkeit „immer schon aufeinander verweisen, letztendlich sich wechselseitig begründen, ohne vollständig auseinander ableitbar zu sein“. Zum zweiten sollten Eigenarten nationaler Wissenschaftskulturen und internationale Verflechtungen thematisiert werden, in denen soziale Ordnungs- und Zivilisationsmodelle wissenschaftlich begründet und in politische Geltungskämpfe eingestellt werden. Die Tagung nahm dazu in drei Sektionen die gesamte Spanne der „Hochmoderne“ zwischen 1890 und 1970 in den Blick. Gefragt wurde nach der Neuordnung der Wissenschaften in stets neuen europäischen Verflechtungen sowie der internationalen Zirkulationsgeschichte von eu-ropäischen „Klassikern“ der Kultur- und Sozialwissenschaften, dem Wirkungszusammenhang zwischen den intellektuellen Akteuren, ihren Netzwerken, „Denkstandorten“ (Ludwik Fleck) sowie den in Institutionen verfestigten und durch Medien verbreiteten Wissensordnungen. Im Eröffnungsvortrag aktualisierte LUTZ RAPHAEL (Trier/Berlin) seine These von der gesteiger-ten „Verwissenschaftlichung des Sozialen“, die auch dem Kolloquium mit zu Grunde lag. In fünf analytisch zu unterscheidenden Dimensionen von Ideen/Diskursen, Experten, Nutzern/Klienten, Eingriffs-/Beobachtungstechniken sowie Institutionen lasse sich das Eindringen humanwissen-schaftlicher Methoden in europäische Gesellschaften im „Zeitalter der ideologischen Extreme von 1900 bis 1980“ beschreiben und daraus zeitlich ineinander übergehende „Konfigurationen“ dieser Elemente ableiten um „Veränderungen zwischen intellektuellem Feld und Sozialexpertise“ zu erfassen. Allerdings zeigen sich vor 1945 signifikante Unterschiede zwischen der europäischen und der nordamerikanischen Erfahrungswelt. Europa wurde zu einem „Experimentierfeld neuer

Sozialordnungen“, das vielfältige Modelle zur Bewältigung der mit Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozessen einhergehenden Problemlagen hervorbrachte, etwa verschiedene Formen der Sozialversicherung. In Europa zeigte sich zudem das „totalitäre Potential ratio-naler, sozialwissenschaftlich fundierter Ordnungsentwürfe“, die ihren extremen Ausdruck in Faschismus, Nationalsozialsozialismus und Bolschewismus fanden. Die Weltkriege brachten jeweils „Schübe“ in der Anwendung humanwissenschaftlicher Technologien. Vor allem blieb in Europa die Verwissenschaftlichung des Sozialen fortwährend von politisch-weltanschaulichen Deutungskämpfen überformt. Dieser „Rückkopplung“ durch intellektuelle Deutungseliten konnten sich auch technologisch und pragmatisch gesinnte Experten nicht entziehen. Die erste Sektion widmete sich den neuen Mustern der wissenschaftlichen Selbstbeobach-tung moderner Gesellschaften an der Kulturschwelle um 1900. Aus einer Deutschland und Frankreich vergleichenden Perspektive ging STEFANIE MIDDENDORF (Berlin) dem Problemfeld „Elite-Masse“ als zentraler Kategorie der neuen „Massenwissenschaften“ nach. Der Begriff der „Masse“ verdeutliche eine der zentralen Leitideen der Moderne, dessen semantische Wandlung auf Veränderungen im europäischen Erfahrungsraum verweise. Dabei war der semantische Ge-halt von „Masse“ in beiden Ländern verschieden. Die französische Terminologie ging von einer „aktiven, zerstörerischen bzw. erdrückenden Qualität“ aus, die deutsche von einer „passiven, von außen formbaren Einheit“. So definierte etwa Gustave Le Bon die „Masse“ als ein im Dienste der Nation autoritär zu steuerndes Kollektiv, Gabriel Tarde sah in einem Frankreich, das über den dichtesten Presseraum der Welt verfügte, einen Übergang von der pöbelhaften „Masse“ zur „Öffentlichkeit als intellektualisierter Gemeinschaft“. In Deutschland, zunächst uneinheitlich, wichen differenzierte Diskurse um komplexe Bedingtheiten sozialerWechselwirkungen zuneh-mend einer Auffassung, in der „Masse“ eine „soziale Wesenheit“ und „Schicksalsgemeinschaft“ darstellte, verbunden mit einem bewussten „Wir-Erlebnis“. WOLF FEUERHAHN (Paris) konnte am Beispiel von Émile Durkheim darstellen, wie die Nie-derlage von 1871 in Frankreich auch als Scheitern der eigenen Wissenschaftskultur wahrge-nommen wurde. Durkheims aktive Erfahrungen als Gesandter der französischen Regierung an den Universitäten in Leipzig, Berlin und Marburg hatten mit der Gründung mehrerer wissenschaftlicher Zeitschriften, in denen deutsche und ausländische Literatur rezensiert wurde, einen frühen Wissenschaftstransfer zur Folge. In der Revue critique oder später der Année sociologique rezensierte Durkheim vor allem die Werke von Albert Schäffle, den er im Kontext der sozialen und republikanischen Frage für seine „realistische“ Perspektive lobte, weil er einen „drittenWeg“ zwischen dem Individualismus der orthodoxen Ökonomen und dem staatsinterventionistischen Kathedersozialismus aufgezeigt habe. Durkheim habe mit seiner Soziologie, die immer auch eine moralische Instanz im Dienst republikanischer Gesin-nung sein wollte, die Wissenschaft als Waffe in der Rivalität der europäischen „Weltmächte“ verstanden.

Page 52: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

100 101

Die zweite Sektion legte den Schwerpunkt auf die zivilisationsgeschichtlichen Selbstdiagnosen im Zwischenkriegseuropa. Ein Akzent lag hier auf Polens Bedeutung für Europas wissenschaftli-chen Kommunikationsraum, – das Kolloquium wurde in Kooperation mit der Deutsch-Polnischen Wissenschaftsstiftung veranstaltet. MONIKA TOKARZEWSKA (Torun) widmete sich am Beispiel von Georg Simmels Rezeption in Polen den Übersetzungs- und Transferproblemen moderner sozialwissenschaftlicher „Klassiker“. „Übersetzungen finden immer auf drei Ebenen statt. Zuerst auf der Ebene der Sprache selbst, – welches polnische Wort steht für Simmels Kategorie „Reiz“ zur Verfügung? Das führt bereits auf die zweite Ebene der Übertragung von einem kulturellen Kontext in einen anderen. Schließlich ist drittens der performative Charakter zu gewichten, in dem eine sprachliche Wendung in ihrem neuen Kontext produktiv geworden ist. Für die polnische Simmelrezeption lassen sich hierzu drei Phasen unterscheiden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein sehr schöpferischer Textumgang, der Simmel zum Gegenstand der Literaturkritik machte. In den 1970er-Jahren ein eher nachlässiger Umgang mit Simmels Werk mit fehlerhaften Übersetzungen zumeist auf der Basis englischer Vorlagen. Dann eine „Aufbruchsphase“ der Simmel-Übersetzungen nach der Wende von 1989. Als Symbol für die „moderne Gesellschaft“ und „westliche Wissenschaft“ wurden Simmels Theorien vor allem durch das Prisma der „nachholenden“ Modernisierung aufgenommen. MARIA GIERLAK (Torun) thematisierte in ihrem Vortrag die Bedeutung der polnischen Germa-nistik für den Kulturtransfer. Zygmunt Lempicki, Germanist und Journalist, sah sich als „Kultur-vermittler“, der die Germanistik als Instrument einer verbindenden Außenpolitik verstand. In den Zwischenkriegsjahren war er die treibende Kraft der deutsch-polnischen Gesellschaft und kon-zipierte deutsche Anthologien und Lehrbücher. Als Pilsudski-Anhänger favorisierte er autoritäre Staatsformen und stellte positive Bezüge zum Nationalsozialismus her, dessen Antisemitismus er nicht als konstitutives Element betrachtete. Sein wissenschaftlich distanzierter Habitus führte allerdings dazu, dass er von polnischer wie von deutscher Seite gleichermaßen als unsicherer Kantonist gesehen wurde. 1939 wurde Lempicki verhaftet und starb 1943 in Auschwitz. Mit dem Vortrag von KATRIN STEFFEN (Hamburg) wechselte die Perspektive vom „In-tellektuellen“ zum „Experten“. Anhand der Biographien des Mediziners Ludwik Hirszfeld und des Chemikers Jan Czochralski führte Steffen aus, wie polnische Wissenschaftler in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine im ostmitteleuropäischen Kontext typische „Erfahrung von Raum und Zeit, Migration und Transfer“ durchlebten. Meist im Ausland ausgebildet, waren sie als Rückkehrer Teil eines größeren Modernisierungsprojektes der polnischen Gesellschaft. Im Zusammenspiel von Politik, Militär und Technik sollten sie mit ihren Erkenntnissen die II. Republik an die Standards der westlichen Industriestaaten heranführen. Eine „polnische Wissenschaft“ sollte über die polnische Nation zumWelt-fortschritt beitragen. Das machte ihren Status ambivalent, einerseits im Dienst am Na-tionalstaat, andererseits dem Ethos einer weltweiten Forschergemeinschaft verpflichtet.

BOZENA CHOLUJ (Frankfurt an der Oder/Warschau) machte die wissenschaftssoziologischen Arbeiten des polnischen Mediziners Ludwik Fleck für internationale Transferfragen fruchtbar. Mit Recht habe Fleck im Zuge des „cultural turn“ eine Aufwertung erfahren, denn Probleme der Prozessualität, Performativität, Sprechaktbindung lassen sich mit Flecks Reflexionen zur situati-ven Verortung wissenschaftlicher Erkenntnis durch Denkzwänge und Denkkollektive prägnanter erfassen. Flecks berühmte Studie über die „Entstehung einer wissenschaftlichen Tatsache“ ist als eine intellektuelle Intervention zu lesen, sowohl die Zeitgebundenheit als auch die soziale Verankerung wissenschaftlichen Wissens in Rechnung zu stellen und nicht zuletzt durch eine Destabilisierung letztgültiger Wahrheitsbegriffe die Perspektive für eine Demokratisierung zu eröffnen. UWE PUSCHNER (Berlin) verfolgte die Entwicklung des europäischen Sozialdarwinismus am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sozialdarwinismus – eine sich auf Darwins Evolutionstheorie beziehende normative Gesellschaftslehre – diente in vielseitiger Auslegung in Nationalstaaten mit unterschiedlichen politischen Systemen als Rechtfertigungsideologie von Ungleichheit, imperialer Herrschaft, kolonialer Expansion und Lebensraumkonzepten. Er habe sich neben dem Marxismus als zweite „staatlich geschützte Zwangsdoktrin durchgesetzt“ (Hannah Arendt). Zwar seien die Kernländer eines sozialdarwinistischen Denkstils die USA und Großbritannien gewesen, im spätwilhelminischen Deutschland habe er jedoch in einer Kombi-nation von Rassenhygiene, Rassismus und radikalem Nationalismus eine aggressive Dynamik entwickelt und ein großes Weltanschauungsbedürfnis bedient. Die völkische Bewegung erklärte den Sozialdarwinismus zur wissenschaftlichen Grundlage ihres rassistischen In- und Exklusions-denkens und öffnete der nationalsozialistischen Rassendoktrin die Tore. AUSTIN HARRINGTON (Leeds/Erfurt) kritisierte in seinem Vortrag eine einseitige wissen-schaftliche Bevorzugung „westlicher“ Ordnungsmodelle und plädierte für eine transatlantische Selbstkritik. Nationalspezifische Traditionen seien nicht als rein methodologische Nationalismen zu begreifen. Am Beispiel vom „Weimarer Diskurs über den deutschen Geist und Westeuropa“ könne verdeutlicht werden, wie zwei europäische Ethiken um „Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik“ (Ernst Troeltsch) konkurrierten. Die oft erneuerte These eines deutschen Sonderwegs in die Katastrophe aufgrund der fehlenden emotionalen Bindung seiner intellektuellen Eliten an die Weimarer Republik sei zu einseitig. Höher zu veranschlagen sei zumindest für die frühe Phase ein bestimmtes linksliberales und pro-republikanisches intellektuelles Milieu, das Ausdruck eines weltoffenen deutschen Selbstverständnisses war. Sowohl die Überbetonung nationalkul-tureller Eigenheiten (F. Ringer, P. Gay) als auch eine unterstellte Abweichung von Normalwegen westlicher Modernisierung (H. A. Winkler), werde den Konstellationen der Zwischenkriegszeit nicht gerecht. Die dritte Sektion behandelte die Wissenschaftskulturen unter den Bedingungen des Kalten Krieges mit seinem bipolaren Ordnungsdenken und mündete in einen Ausblick auf die mul-

Page 53: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

102 103

tipolare Welt nach 1989. Im Spannungsfeld von „Gegnerforschung und Selbstbeobachtung“ ging TIM B. MÜLLER (Hamburg) der Gruppe um die deutschen Emigranten Franz Neumann und Herbert Marcuse und um amerikanische Historiker wie Stuart Hughes nach, die für den ame-rikani schen Geheimdienst in der Forschungsabteilung des „Office of Strategic Services“ (OSS) arbeiteten. Ihre Bedeutung als Sozialexperten im Jahrzehnt zwischen 1942 und 1952 zeigt sich in ihren Russlandstudien, in denen sie die sozialanalytischen Instrumente der „Gegnerforschung“ präzisierten. Sie verbanden diese mit entspannungspolitischen Optionen und lenkten ihre Fremd-beobachtungen zurück auf die kritische Betrachtung der eigenen westlichen Gesellschaften. Am Beispiel dieser OSS-Gruppe wurden die materiellen und ideellen Grundmuster eines politisch relevanten „Management des Wissens“ freigelegt. Bis in die frühen 1960er Jahre stabilisierte dies das modernisierungstheoretische Konvergenzdenken des liberalen Establishments in den USA. Kuba und Vietnam, führten jedoch zu einer linksintellektuellen Radikalisierung, die Marcuse und Hughes zu Protagonisten der „new left“ werden ließ. BARBARA PICHT (Frankfurt an der Oder) verglich die intellektuellen Biographien von Ernst Ro-bert Curtius, Werner Krauss und Czeslaw Milosz in typisierender wie kommunizierender Absicht. So wie die drei im Medium „Literatur“ die politische Ordnung Europas reflektierten, stehen sie beispielhaft für das Wechselspiel von Wissenschaftskulturen und politischen Erfahrungswelten. In ihren literaturkritischen und -historischen Arbeiten rehabilitierten sie die Vielfalt der west- und osteuropäischen Wissensräume und löschten durch ihre Übersetzungen weiße Flecken auf der Landkarte des europäischen Bildungswissens. In programmatischer Absicht übersetzten Milosz und Curtius T. S. Eliots „the waste land“ ins Polnische und ins Deutsche. Literatur erschien als der Königsweg zur kritischen Vergegenwärtigung der eigenen Zeit. In ihrem jeweiligen politischen Umfeld machte sie das zu „engagierten Beobachtern“ mit unterschiedlichen Konzepten zur Verbindung von Tradition und Zukunftsperspektive. Der polnische Literatur-Nobelpreisträger Milosz, der nach dem Zweiten Weltkrieg aus Polen nach Paris flüchtete und maßgeblich für die polnische Exil-Zeitschrift Kultura tätig wurde, stellte sich etwa in Artikeln wie „Nie“ (deutsch: Nein) entschieden gegen die Denkzwänge des historischen Materialismus. Ob für Curtius Kultur und Geschichte durch schöpferische Minderheiten bewegt wurden, Werner Krauss die Krise der europäischen Kultur in zyklischer Wiederkehr annahm oder Milosz nach der Kraft einer nicht-eschatologischen Poesie suchte, – die Konfrontationen des Kalten Krieges bestärkten sie darin, die Literatur auf ihre „Sinnkraft“ zu einem „Neu-Wägen des kulturellen und wissenschaftlichen Bestandes“ zu prüfen, sie empfanden dies als „geschichtlichen Auftrag“. Die vergleichende Analyse der globalen Rezeption und Übersetzung von Max Webers Werken in den unterschiedlichen Nationen und Kulturräumen führte EDITH HANKE (München) zu ihrer These, dass das Webersche Werk besonders dann seine Relevanz entfalte, „wenn politische Ordnungen in eine Legitimitätskrise geraten“. Die national unterschiedlich geprägte Rezeption der Weber Texte wurde exemplarisch an der japanischen, der US-amerikanischen, sowjetischen,

der chinesischen, der polnischen wie der iranischen Weberforschung demonstriert. Intellektu-elle spielen hier eine Schlüsselrolle. In den Ostblockstaaten habe sich dabei gezeigt, dass eine wissenschaftliche Auseinandersetzung „nur in Zeiten der Öffnung“ und „Liberalisierung“ unter „staatlicher Kontrolle“ möglich gewesen sei, wobei „ein ideologisches Abarbeiten am Klassen-feind“ als notwendig erachtet wurde.

Konferenzübersicht:EröffnungsvortragLutz Raphael (Trier, Berlin): Zwischen radikalen Ordnungsmustern und Sozialaufklärung. Verwissenschaftlichung des Sozialen im Europa der ideologischen Extreme (1900-1980) Sektion 1: „Aktive Massendemokratisierung“ und wissenschaftliche Selbstbeobachtung um 1900 Stefanie Middendorf (Halle): Masse und Moral. Wissenschaftliche Perspektiven und gesell-schaftliche Ordnung in Frankreich und Deutschland um 1900 / Wolf Feuerhahn (Paris): Politische Hintergründe und Konsequenzen eines wissenschaftlichen Imports: Emile Durkheim als Mittler der deutschen Sozialwissenschaft in Frankreich (1885-1913) Sektion 2: Zivilisationsgeschichtliche Selbstdiagnosen im ZwischenkriegseuropaMonika Tokarzewska (Torún): Georg Simmels Soziologie. Probleme einer Übersetzung ins Polni-sche / Maria Gierlak (Torún): Zygmunt Lempicki und der deutsch-polnische Kulturtransfer in der Zwischenkriegszeit / Katrin Steffen (Hamburg): Migration, Transfer und Nation: DieWissens- und Erfahrungsräume von polnischen Naturwissenschaftlern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhun-derts / Bozena Choluj (Frankfurt an der Oder, Warschau): Was leistet die Soziologisierung der Wissenschaften bei Ludwig Fleck? / Uwe Puschner (Berlin): Europäischer Sozialdarwinismus als wissenschaftliches Konzept und politisches Programm / Austin Harrington (Erfurt): Jenseits des methodologischen Nationalismus? Eine britische Perspektive auf den Weimarer Diskurs über „deutschen Geist undWesteuropa“ Sektion 3: Wissenschaftskulturen in der Zeit des Kalten KriegsTim B. Müller (Hamburg): Konvergenz und Kritik. Sozialwissenschaftliche Feindanalyse und in-tellektuelle Selbstbeobachtung in den USA / Barbara Picht (Frankfurt an der Oder): Wissenschaft als Auftrag. Zukunftsmodelle für Deutschland und Europa am Beginn des Kalten Krieges / Edith Hanke (München): Max Weber weltweit. Übersetzungen in Zeiten politischer Umbrüche Tagungsbericht Europäische Wissenschaftskulturen und politische Ordnungen in der Moderne (1890-1970). 19.05.2011-21.05.2011, München, in: H-Soz-u-Kult 10.08.2011.

Page 54: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

104 105

Dokument 12

Preisträger 2011

2011

Verleihung des Wissenschaftlichen Förderpreises des Botschafters der Republik Polen 2011 am GWZO an der

Universität Leipzig:

(v.l.n.r.) Max Spohn, Elisabeth Lehmann, Markus Nesselrodt, Dr. Anja Hennig, Dr. Tim Buchen, Prof. Dr. Robert

Traba, Prof. Dr. Beate A. Schücking, Anna Baumgartner, Botschafter Dr. Marek Prawda.

Am 6. Dezember 2011 wurde am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an

der Universität Leipzig (GWZO) der wissenschaftliche Förderpreis des Botschafters der Republik Polen in

Anwesenheit des Botschafters Marek Prawda und des Leipziger Oberbürgermeisters Burkhard Jung verliehen. Die

mit insgesamt 4.000 Euro dotierten Preise wurden bereits zum vierten Mal für herausragende Dissertationen und

Abschlussarbeiten aus dem Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften zur polnischen Geschichte und Kultur

sowie den deutsch-polnischen Beziehungen vergeben. Über die Preisvergabe entscheidet eine internationale

Fachjury unter Vorsitz des Direktors des Zentrums für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der

Wissenschaften, Prof. Dr. Robert Traba.

Wissenschaftlicher Förderpreis in der Kategorie Dissertation

TIM BUCHEN: Antisemitismus in Galizien.

Agitation, Gewalt und Politik gegen Juden in der Habsburgermonarchie um 1900

(Dissertation, Technische Universität Berlin 2011)

Home Über uns Publikationen Forschung und Lehre Bibliothek Servi

Preisträger 2011 file:///D:/Eigene Dateien/Eigene Dateien/FFO/DPWS/Abschlußbericht...

1 von 2 20.11.2012 08:59

Wissenschaftlicher Förderpreis in der Kategorie Abschlussarbeit

ANNA BAUMGARTNER: Wojciech Kossak. Ein polnischer Schlachtenmaler am preußischen Hof in Berlin (1895-1902

zwischen Wilhelminismus, polnischem Patriotismus und dem Aufkommen der Moderne

(Magisterarbeit, Freie Universität Berlin 2010)

Sonderpreis der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit

Der Sonderpreis der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit wurde in diesem Jahr geteilt:

KINGA KULIGOWSKA: Die Studentenproteste von 1968 im polnischen und deutschen Museum

(Masterarbeit, Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder 2011)

MAX SPOHN: Stefan Czarnowski – ein „Klassiker“ der Soziologie zwischen drei Kulturen

(Masterarbeit, Europa-Universität Viadrina Frankfurt/ Oder 2011)

Auszeichnungen der Jury

ANJA HENNIG: Moralpolitische Konflikte in katholischen Gesellschaften –

Polen, Italien und Spanien im Vergleich

(Dissertation, Europa-Universität Viadrina 2011)

ELISABETH LEHMANN: Die Berichterstattung der polnischen Medien über die Deutschen während der Kaczyński-

Herrschaft

(Diplomarbeit, Universität Leipzig 2011)

MARKUS NESSELRODT: Wiederaufbau einer Existenz?

Die Darstellung der jüdischen Minderheit im niederschlesischen Dzierżoniów in den Akten des Urząd

Bezpieczeństwa von 1949

(Masterarbeit, Europa-Universität Viadrina Frankfurt/ Oder 2011)

Mehr Informationen zu den ausgezeichneten Arbeiten

Programm der Preisverleihung

Preisträger 2011 file:///D:/Eigene Dateien/Eigene Dateien/FFO/DPWS/Abschlußbericht...

2 von 2 20.11.2012 08:59

Page 55: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

106 107

Dokument 13

[UNIon]30

MAX SPOHN

Deutsch-Polnisches Projektseminar „EuropäischeWissenschaftskulturen in der Moderne“

FOTO

: PR

IVAT

Lehrreiches Praxis-Seminar mit Gast

aus Litauen

HANS MARTIN MEIS

MASTER OF EUROPEAN STUDIES

1. SEMESTER

Dokument 14

Bibliographie der projektbezogenen Publikationen

Hübinger, Gangolf (Hg.): Europäische Wissenschaftskulturen und politische Ordnungen in der Moderne (1890-1970) (= Schriften des Historischen Kollegs/Kolloquien; Bd. 87). München: Oldenbourg 2014 (i. Dr.).

Hübinger, Gangolf: Sozialwissenschaftliche Avantgarden. Das ‚Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik’ (1904-1933), in: Jahrbuch für Soziologiegeschichte / Rocznik historii socjologii (i. Dr.)

Hübinger, Gangolf; Picht, Barbara; Dąbrowska, Ewa: Cultures historiques et politique sci-entifique. Les congrès internationaux des historiens avant la Première Guerre mondiale (Geschichtskulturen und Wissenschaftspolitik. Die Internationalen Historikerkongresse vor dem Ersten Weltkrieg), in: La fabrique internationale de la science. Les congrès scientifiques de 1865 à 1945 (= Revue Germanique Internationale 10/2010), S. 175-191.

Picht, Barbara: Wissenschaft als Auftrag. Ernst Robert Curtius, Werner Krauss, Czesław Miłosz und die europäischen Neuordnungen nach 1945, in: Hübinger, Gangolf (Hg.): Europäische Wissenschaftskulturen und politische Ordnungen in der Moderne (1890-1970) (= Schriften des Historischen Kollegs/Kolloquien; Bd. 87). München: Oldenbourg 2014 (i. Dr.).

Spohn, Max: Polen und Europa im Werk von Stefan Czarnowski. Neue Impulse für die Er- forschung der Geschichte der polnischen Soziologie, in: Jahrbuch für Soziologiegeschichte / Rocznik historii socjologii (i. Dr.)

Page 56: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

Frankfurt (Oder) 2012© bei den AutorenRedaktion des Abschlußberichtes und der Dokumentation: Dr. Barbara PichtDruck und Layout: Giraffe Werbeagentur GmbH Frankfurt (Oder)Umschlagabbildung:Brigitte Riesebrodt: Viewfinders: Spine 2009(Papiercollage 27,5 x 19 cm)

Page 57: Vergleich und Verflechtung europäischer Wissenschafts ... · Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter waren Dr. Barbara Picht, Max Spohn, MA, Ewa Dąbrowska, MA, Esther Chen, MA.

110