Verse einer schizophrenen

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Verse einer Sehizophrenen. Mitgeteilt yon Kurt Schneider. (Aus der psychiatrischen Klinik der KSlner Akademie fiir praktische Medizin [Professor Dr. Asehaffenburg].) (Eingegangen am 28. Mdrz 1919.) Die vorliegende Mitteilung einiger Verse, welche die 21j~hrige Lola Sander vor mehreren Jahren fiir reich aufschrieb, soll lediglich ein Beitrag zu der immer noch wenig bekannten Ph~nomenologie schizophrener Prozesse sein. Die Verse stammen aus einem fffihen Stadium der Er- krankung, aus einer Zeit, da diese noch nicht als solche erkannt und yon den AngehSrigen als Laune und Ungezogenheit betrachtet und behandelt wurde. Die Verse bedfirfen kaum eines Kommentars: Schmerzlich empfundene Geffihlsleere, StSrung des Pers5nlichkeitsbewu•tseins, der Einheit des Ichs, ein unheimliches Geffihl der Ver~nderung, das sich bis zum Bewu~tsein des kommenden Irrsinns verdichtet, ein verzwei- felter Kampf mit der die PersSnlichkeit fiberflutenden Krankheit sind neben den Anklagen gegen die immer fremder und feindseliger erschei- nende Umgebung ihr ]nl~alt. Dabei fehlt noch alles, was sonst schizophrene Dichtungen kfinstle- risch ungeniel~bar macht; auch der etwas bizarre SchluB des zweiten Gedichtes e~'scheint versti~ndlich und einffihlbar. Lola Sander hat nut im Beginn ihres Krankseins gedichtet und etwa nur ein Dutzend Verse geschrieben. Die hier nicht mitgeteilten zeigen, wenigstens wenn man sie unvoreingenommen liest, nichts ffir den ProzeI~ Charakteristisches. Einen Auszug der Krankengeschichte schlie~e ich lediglich als diagnosti- schen Beleg an; er bietet, abgesehen yon einer schSnen Schilderung der Entfremdung der Wahrnehmungswelt und von Wahnwahrnehmungen im Sinne der Bedeutung, Beziehung und des Transitivismus nichts Bemerkenswertes. Aueh das in der Selbstschilderung ausgesprochene Streben nach Autismus, sowie der lange, wechselvolle Kampf mit der Psychose seien erwi~hnt: doch geht das alles kaum fiber das hinaus, was wir auch sonst von differenzierten gebildeten Schizoohrenen im Beginn ihrer Krankheitsprozesse hSren.

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Verse einer Sehizophrenen. Mitgeteilt yon

Kurt Schneider.

(Aus der psychiatrischen Klinik der KSlner Akademie fiir praktische Medizin [Professor Dr. Asehaffenburg].)

(Eingegangen am 28. Mdrz 1919.)

Die vorliegende Mitteilung einiger Verse, welche die 21j~hrige Lola Sander vor mehreren Jahren fiir reich aufschrieb, soll lediglich ein Beitrag zu der immer noch wenig bekannten Ph~nomenologie schizophrener Prozesse sein. Die Verse stammen aus einem fffihen Stadium der Er- krankung, aus einer Zeit, da diese noch nicht als solche erkannt und yon den AngehSrigen als Laune und Ungezogenheit betrachtet und behandelt wurde. Die Verse bedfirfen kaum eines Kommentars: Schmerzlich empfundene Geffihlsleere, StSrung des Pers5nlichkeitsbewu•tseins, der Einheit des Ichs, ein unheimliches Geffihl der Ver~nderung, das sich bis zum Bewu~tsein des kommenden Irrsinns verdichtet, ein verzwei- felter Kampf mit der die PersSnlichkeit fiberflutenden Krankheit sind neben den Anklagen gegen die immer fremder und feindseliger erschei- nende Umgebung ihr ]nl~alt.

Dabei fehlt noch alles, was sonst schizophrene Dichtungen kfinstle- risch ungeniel~bar macht; auch der etwas bizarre SchluB des zweiten Gedichtes e~'scheint versti~ndlich und einffihlbar. Lola Sander hat nut im Beginn ihres Krankseins gedichtet und etwa nur ein Dutzend Verse geschrieben. Die hier nicht mitgeteilten zeigen, wenigstens wenn man sie unvoreingenommen liest, nichts ffir den ProzeI~ Charakteristisches. Einen Auszug der Krankengeschichte schlie~e ich lediglich als diagnosti- schen Beleg an; er bietet, abgesehen yon einer schSnen Schilderung der Entfremdung der Wahrnehmungswelt und von Wahnwahrnehmungen im Sinne der Bedeutung, Beziehung und des Transitivismus nichts Bemerkenswertes. Aueh das in der Selbstschilderung ausgesprochene Streben nach Autismus, sowie der lange, wechselvolle Kampf mit der Psychose seien erwi~hnt: doch geht das alles kaum fiber das hinaus, was wir auch sonst von differenzierten gebildeten Schizoohrenen im Beginn ihrer Krankheitsprozesse hSren.

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I. Glaubt nicht, da~ ich mich kr~nke, weft ihr mich habt gekrankt, Als ihr mein junges Leben mit Bitternis durchtr~nkt, Glaubt nur nicht, dal~ ich weine, weft ihr mich dies gelehrt, Als ihr mein reines tIerze mit Bosheit habt beschwert. Nein, euer Gift wirkt nimmer, seitdem ich einsam bin, Und wenn ich traure, tu ich's um meinen eignen Sinn. Der ist von all den K~mpfen so weh, so wund, so still, DaB er bedrfickt von Schwermut nicht mehr erwachen will.

II. Meine lieben Verwandten, die quMen und fragen reich immerzu, Mit Staunen und KSpfeschfitteln geben sie keine Ruh,

Sie wollen doch einmal wissen, warum ich so starr und so stumm, Nicht lache und nicht weine, ich sei doch sonst nicht so durum. HSrt zu, ihr lieben N~ehsten, ieh will euch die Antwort sagen, Dann gebt auch endlich Friede mit eurem ewigen Fragen: Einst war mein Auge glanzerfiillt vom Strahl der Lebenssonne, Jetzt ist in seinem kalten Bliek kein Sehimmer mehr yon Wonne; Einst sang mein Mund in Lebenslust gliickselige JubeUieder, Jetzt gibt er nut ein Klagelied yon meinen Sehmerzen wieder, Einst war mein Herze glutdurchtr~nkt in Liebe, Gl~ube, Hoffen, Jetzt ist die ganze Herrliehkeit im Lebensdreek versoffen.

III. Ieh gab eueh meine Liebe, ieh gab eueh meinen HaB, FOr eure Mordbegierden war das der reehte Fral3, Ihr habet mir entzogen all meine Leidensehaft, Nun fehlet mir zum Kampfe versehwendete Lebenskraft. Ihr habt racine Einheit zerrissen und eueh an den Fetzen gelabt, Nieht eher gebt ihr Friede, bis ihr mieh verniehtet habt. Web, dal3 ihr mein Leben zertriimmert in eurem Lebenswahn, FOr eueh, for mich w~r's besser, ihr h~ttet es nieht gotan.

IV. Aueh Melodien neu und wild, verwirren meinen Sinn, Vergessen ist mein Leben dann, ieh weft] nieht, was ieh will, Vom Lebensbaume abgeknickt, im Sturm ein loses Blatt, Das leben nieht und sterben kann und nirgends Ruhe hat.

V. Und immer wieder die Tr~ume von Gliiek, yon des Lebens heiligem Frieden, Und immer wieder das gleiche Geschick, das allen Tr~umen beschieden, Und immer wieder nach Sonnenblick das tote schaurige Nachten, Und immer wieder nach trunkenem Gltick das zehrende Verschmachten.

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VI. Meine Seele sucht Fr ieden , meine Seele sucht Gliick,

Meine Seele sucht sehnende S tunden ; W e t g ib t meiner Seele das Leben zurtick, das e ins tmals sie empfunden , W e r 15set das Band , das den F rohs inn ums t r i ck t ,

W e t hebe t die Las t , die die Sehnsucht e r s t i ck t? I s t Go t t de r Er lSser von qualvol ler No t ?

I s t Go t t de r Befreier yon Wa.hnsinn und Tod ? L~Bt Go t t meine Seele gesunden ? Go t t hi~tt' ich die A n t w o r t gefunden.

K r a n k h e i t s v e r l a u f : Lola Sander, 21 Jahre, isr. Ohne Belastung. Erste Aufnahme 12. IV. 1913. Sie habe sehr gut gelernt, sei immer sehr in sich verschlossen, sensibel und etwas merkwiirdig gewesen, babe immer sehr viel in sich hineingelesen, was sie nieht habe verstehen kiinnen, z. B. Nietzsche, und fiir sehr iiberspannt gegolten. Im letzten Vierteljahr sei sic reizbar geworden, ungeduldig, habe sieh viel mit der Mutter gezankt, habe scMecht geschlafen, habe gesagt, sie habe Eiter im Kopf, habe aueh davon gesproehen, sie miisse sich das Leben nehmen, es ge- sehehe ein Ungliick. In den letzten Tagen habe 8ie sicher Stimmen gehSrt, doch sei niehts N~heres dariiber zu erfahren gewesen. Im letzten Sommer sei sie wegen ihrer Nervositgt bei Dr. L. auf dem Lande gewesen; sie habe in letzter Zeit angegeben, dessen Stimme zu hSren.

Lola ist ein kleines, verwachsenes, bla~ und sensibel aussehendes M~dchen yon ~uBerst schleehtem Krgftezustand; Gewicht 39 kg. Sie erz~hlt dab sie vor einigen Tagen bei Naeht einmal eine merkwiirdige Unterhaltung gehabt habe; eine Stimme in ihr --vielleieht seien es aueh nur Gedanken gewesen - - babe gesagt, sie kSnne alles, es geschehe alles, was sie wiinsche. Sie soUe nur ordentlich wollen; es se i

vielleicht aueh etwas GSttliches gewesen, vielleicht Gottes Stimme. Sie habe z. B. gewollt, dab ihr Kamm, der vom Nachttischehen auf den Boden gefallen war, wieder auf dem Naehttischchen liege. Die Stimme habe gesagt, wenn du zwei- felst, dana wird nichts gesehehen, wenn du aber glaubst, wird es geschehen. Darauf habe sic gesagt: ,,Ich glaube es", und der Kamm habe wieder auf dem Nachttisch gelegen. Sic machte sieh nun vide Gedanken dariiber, ob das Wahrheit gewesen sei. Sie habe aber ganz sieher in der Nacht nicht getr~umt, sondern das alles wirk- lich erlebt. Sie habe sich immer viel mit mystischen und tibernatiirlichen Dingen abgegeben, habe abet nicht sieher geglaubt, dab so etwas mSglich sei, w~hrend sie jetzt nicht mehr daran zweife]n k6nne.

Sie benimmt sieh zungchst ganz unauffgllig, doch fgllt in ihren Blicken immer wieder etwas MiBtrauisehes, Lauerndes auf. Sie fragt den Arzt, wozu eigentlieh die auf der Abteilung befindliehen Katzen da seien, sie denke, man lasse die naehts in die Sehlafzimmer, um die Kranken zu priifen, ob sie Wirklichkeit yon Erscheinungen unterscheiden kSnnten. Iqach der ersten Nacht ihres Hierseins lieB sie den Arzt kommen, war ersiehtlich erregt, kniete nieder, weinte, legte den Kopf auf die Kante des Sessels und erz~hlte, sie babe doch ganz sicher Gottes Stimme gehSrt. Spgter sagte sie, sie wolie ja gerne alles sagen, abet man mSge sie nicht im ScMaf aushorchen, auch sei sie diese l~acht wieder in Hypnose gewesen. Das sei sieher dureh die Luttschgchte und Rohre geschehen; es sei doeh merkwiirdig, dab nur ein Tell der Rohre eeht, und dab eines mit Pappe umwickelt sei. W~hrend der Unter- haltung fragt sie plStzlieh (es schneit draufien) ,,warum schneit's denn zum Beispiel jetzt?" Spgter sagt sie, alles sei so merkwiirdig, es habe h ie r doeh a l les

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s e i n e n S i n n , warum sei z. B. im Zimmer alles grtin, warum sei keine blaue Farbe da, warum liege das griine Pulver iiberall herum, warum sei jedes Bett wieder ein klein wenig anders als das n~chste; das miisse doch alles seinen Sinn und seine Berechnung haben. Was habe auch der Hund, der herumlaufe, zu bedeuten, sie werde sieher durch ihn beobachtet. ,,Sie sehen reich durch den Hund an." Dureh Zureden beruhigt sie sieh anscheinend wieder, gibt zu, sich get~uscht zu haben, ist ganz heiter und ruhig; sagt, sie wolle as jetzt sicher glauben, dal3 es sich nur um T~iusehungeu gehandelt babe und alles ganz harm[os sei.

14. IV. Diesen Morgen beginnt sie schon wieder mit ihren Ideen, gastern abend seien die Haarnadeln rechts yon ihr auf den Nachttisch hingelegt worden und jetzt seien sie links auf dem Stuhl; sie wisse ([as ganz genau, das sei keine T~u- sehung.

17. IV. Sie hat ihre krankhaften Ideen fast ganz aufgegeben und korrigiert, wenigstens sagt sie das. Die Stimmung ist im allgemeinen heiter. Sie ist sehr zu- g~nghch und vertraulich, g i b t a u c h v e r s c h i e d e n e G e d i c h t e y o n s i ch herr d ie a u s d 'em l e t z t e n h a l b e n J a h r e s t a m m e n . Sie schreibt folgende Selbst- schilderung ihres Zustandes:

,,DAB ich so aus mir heraus will, kommt haupts~chlich daher, daft Herr Dr. L. mir einmal sagte, ich solle nicht an reich denken, dann wiirde die Krankheit am leichtesten gehoben. Ich hatte aber gar nicht framer an reich gedacht und nun habe ich versucht, kein Innenleben mehr zu haben und nur auf andere Leute zu achten oder haupts~chlich alles andere in meiner Umgebung zu betrachten und das IchbewuBtsein dabei auszuschlieBen, z. B. ein Schrank steht im Zimmer, den sehe ich, aber ich darf nicht dabei denken, der gef~llt mir, sondern rein sachlich, das ist ein Schrank, die Arbeit ist gut daran. Wie ich nun alles so leieht iibertreibe, ein Erbteil der Mutter, so habe ich dies auch getan, und versucht, ob meine Seele nicht in anderem aufgehen kann. In der Nacht nun, am Tage vorher habe ich reich so grenzenlos einsam gefiihlt, daehte ich, ob es nicht mSglich sei, dal3 ich mich mit fernweilenden Menschen in Verbindung setzen kSnnte, ob es nicht eine Geister- oder Seelenvereinigung g~be. Da stellte ich mir meine verstorbene Schwester vor und ich glaubte sie richtig vor mir zu sehen und ihre Stimme zu h6ren, dann Herrn Dr. L., yon ihm lieB ich mir sagen, was echte und unechte, d. h. krankhafte Emp- findungen sind, dann lid] ich die Personen aus dem Spiel und iiberliei3 reich so ganz meinem Geftihl. Ich sagte mir, ich will glauben, dab es iiberirdische M~chte gibt und die eine Maeht, die wir Gott nennen, ist alles Gute, SchSne, Liebe, Wahre, Eehte; die ancIere Macht, der Teufel, alles Verlogene, H~l iche , BSse. Ich will nun das rechte, also das GSttliche und will alles BSse, als0 den Teufel, in mir aus- rotten. Und da erfiillte mich eine Seligkeit ohnegleichen, ich dachte, es w~re iiber- irdisch, aber es war mein eigenes Gesicht. Das mit der Selbstverleugnung und den tiitlichen Vorg~ngen der Nacht war alles Selbstbetrug. Ich babe ein wenig Theater mit mir selbst gespielt, das sehe ich jetzt ein. Allerdings die Grundursache war das nicht, der Drang aufzustehen undi dies und jenes zu tun war in mir; ich hatte nicht mehr den Willen anders zu handeln, als racine Phantasie mir dies vorschrieb, wohl noch das BewuBtsein dessen, was ich getan habe. Es war, als hiitte reich aUes angezogen (magnetisch) z. B. die Luft, die yon dem Fenster hereindrang, lockte reich, dal3 ieh bald glaubte, ich kSnnte fliegen. U n d d a n n w a r es m i r , a l s ob i eh e i n e n b e s o n d e r e n S i n n b e k o m m e n h ~ t t e , wie H e l l s i e h t , a ls ob i ch w a h r n e h m e n k S n n t e , was a n d e r e M e n s c h e n u n d i c h f r i i h e r n i e h t w a h r - g e n o m m e n habe . So riehtig in den Zustand kann ich reich nicht mehr versetzen und ich will es aueh nicht, d e n n es i s t so l o c k e n d , s e i n e i g e n e s B e w u f l t s e i n a u s z u s e h a l t e n , dab i ch f i i r c h t e , i eh w e r d e n i e h t m e h r z u r W i r k l i e h k e i t e r w a e h e n wo l l en . Am anderen Tage unterdriickte ieh jede Erregung, wenn ieh

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mich fiber etwas grgern wollte oder freuen, dann dachte ich, das ist menschlich und ieh will doch fiber allen menschliehen Leidenseha~ten und Schw~chen stehen. Wenn ich gereizt wurde, war ich sanftmfitig, wenn mir ein Unrecht geschah, freute ieh reich und cIachte, nun bin ich schon dem Ziel etwas n~her. Jetzt weiB ich wieder, dab in mir genau so gut das Teufelehen steekt, wie das Engelchen und dab ieh den Weg zum Rechten nicht finde, indem ich leidensehaftslos bin, sondern indem ich k~mpfe; aber dazu gehSrt auch Kraft und die habe ich nicht mehr. We n n n u n ein f r e m d e r H a u c h an me ine Seele weht , k r i eche ich s c h l e u n i g s t in mich se lbs t z urfic k, ich kann das Fremde nicht verdauen, weil meine psychi- schen Kr/~fte verbraucht sind."

29. IV. Die krankhaften ]Edeen sind vollkommen verschwunden, sic sieht auch besser aus, ist im allgemeinen besser aufgelegt, aber auBerorffentlieh empfind- lieh. Neuerdings gibt sie doch wieder zu, manchmal noeh abends im Kopf Namen yon Leuten zu hSren, mit denen sie am Tage verkehrt hat.

10. V. In den letzten Tagen hat sic wieder begonnen, allerhand merkwfirdige Vermutungen zu haben: Von der Luftklappe aus sei sie vom Arzt hypnotisiert worden, eine andere Kranke werde nachts an die Tfire geschickt, um die Kranken auszuhorehen, eine Schreibmappe, die sie in den Schrank gelegt, sei fiber Nacht in die KommocIe gekommen u. a. m. Nachdem man mit ihr fiber die Saehen ge- sproehen hat, korrigiert sie sofort.

17. V. Die Beziehungsideen gehen weiter. Fast t/iglich kommt Lola mit irgendwelchen Geschichten. Sie meint, die J~rzte liel~en sie durch die VSgel im Gar- ten beobachten; ein andermal erzi~hlt sie, sie habe sieh im Garten auf eine Bank gelegt; nachdem sie aufgestanden sei, sei ein W/irter gekommen und habe sich aueh auf die Bai~k gelegt; damit habe man ihr doeh sicher zeigen wollen, dab sie sieh nicht habe auf die Bank legen sollen. Die Beobaehtung durch einen W/irter im Garten kehrt immer wieder. Einmal sagt sie auch, es sei sicher ein verkleideter Arzt gewesen, den man ihr nachgeschickt habe. Wenn man ihr versichert, von diesen Sachen nichts zu wissen, korrigiert sie anscheinend sofort. Gestern brachte sie dem Arzt eine kranke Amsel mit triumphierendem L/icbeln und den Worten: ,,Wissen Sie vielleieht davon aueh nichts ?" Die Amsel habe auf einem Stein am Wege gelegen, das sei doch sicher kein Zufall, die habe man doch sicher hingelegt; die Amsel sei doch sicher hypnotisiert gewesen. Gestern abend nach diesem Er- lebnis war sie ziemlich aufgeregt und bekam einen ohnmachts/ihnlichen Anfall mit starkem I-ferzklopfen.

24. V. In den letzten Tagen hat sie sich immer mehr in ihre Geschichten ein- gesponnen, a l l es g e w i n n t B e d e u t u n g . Die Pflegerinnen und die Kranken s/~hen sie alle so eigentiimlich an, was allcs vom Arzt komme. Sic muBte, da sie mitunter stark erregt war, auf den Wachsaal verlegt werden; sie gibt zwar manch- mal noch zu, sich in diesen Dingen get/~uscht zu haben, man hat aber nicht den Eindruek, als ob sie wirklich korrigiert.

5. VL Nachc[em der Zustand in den letzten Tagen wieder etwas besser ge- worden war, Lola wieder korrigierte, auch wiecIer volles Vertrauen zum Arzt gezeigt und sich ausgesprochen hatte, dabei wieder auf und im Garten gewesen war, ist seit gestern wieder eine starke Verschlimmerung eingetreten. Heute morgen gab sie an, heute nacht habe der Arzt wieder aus der Ventilation heraus gesprochen, eine Katze sei im Zimmer gewesen, von deren Haar eigenartige F/iden zu dem ihren gegangen seien, eine Rolle habe sie gehSrt, auf der ihre Gedanken auf- gewickelt wurden. Die P f l e g e r i n n e n s i i h e n sie wiede r al le so be- z i e h u n g s v o l l a n , m a n e h m a l mi t i h r e n e i g e n e n Augen. Sie werde hier immer kr~nker und kSnne hier nicht gesund werden.

5. V]~I. Sie war gestern verschiedentlich sehr stark erregt, weinte und rief,

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sie habe so grol~e Angst, sic merke, dab sie verrfickt werde, sie habe Eiter im Gehirn oder Rfickenmarkssehwindsucht, sie kenne sich gar nicht mehr aus und werde nicht mehr gesund. Am Nachmittag wurde sie noeh starker erregt, schrie fortgesetzt: ,,Schuft, du toter Schuft", womit sic anscheinend ihren Vater meinte. Sie maehte dabei einen leicht verwirrten Eindruck und wurde ins ~Bett gebracht. In den letzten acht Tagen waren, anscheinend unabh/ingig v o n d e r Psychose, mehrere Anf/ille von Herzangst aufgetreten, haupts~ichlich wenn sic in der Sonne gewesen war.

10. VI. Sic ist auBerordentlich gequ/ilt; in letzter Zeit haben sieh allem An- schein nach such lokale sexuelle Empfindungen eingestellt, die sie nicht schlafen lassen und wegen deren sie sieh such Vorwfiffe macht. Die sexuellen Ideen scheinen fiberhaupt in ihren Gedanken eine ziemliche Rolle zu spielen. _A_ls sic einmal im Garten im Rosenhag lag und der Arzt ihr sagte, sic sei ja wie DornrSsehen, sagte sie sp/~ter, sie wisse wohl, was er gemeint habe, n~mlich, sic sei nicht mehr jung- fr~ulich. Sie ist fiberhaupt roll yon Beziehungsideen undes gelingt ihr nur ganz selten, wieder etwas fiber ihrer Krankheit zu stehen.

15. VI. Sic ist im allgemeinen ruhig, hat such wieder Rapport mit dem Arzt, doch wird sie unglaublich gequi~lt durch ihre krankhaften Ideen, so dab sic h~ufig selbst die feste Meinung/iuflert, sie werde noch verrfickt. Ihre Ideen sind meist recht abenteuorlich: dutch elektrische Leitungen gehen ihre Gcd'anken yon ihrem Kopf zur Ventilation, yon dort einen Stock hSher, wo sic auf Rollen auf- gewiekelt und abgelesen werden.

28. VL Der Zustand ist ~uBerst progressiv; sie liegt den ganzen Tag im Bett und haUuziniert fortgesetzt. Seit einiger Zeit hSrt sic namentlich neben den ~rzten, die ihre Gedanken abhorehen, den Pastor Jatho spreehen. Vor einigen Tagen sah sic aueh ganz deuflich ihren friiheren Arzt Dr. L. im Zimmer; sic be- harrt darauf, dab er oder sein Geist dagewesen sei. Es treten oft sehr starke Angstzust~nde auf, in denen sie stark erregt ist. Es besteht immer ein sehr starkes Krankheitsgefiihl und ein sehr starker Affekt.

3. VII. Der Zustand ist auBerordentlich schwer; es bestehen andauernd die lebhaftesten GehSrs und Gesichtst~uschungen. In letzter Zeit sah sie nament- lich ihren alten Arzt Dr. L., dessen Geist im Zimmer fiber ihr sei und mit ihr rede, der auch yon ffen )~rzten hier Rechenschaft "r H/iufig h6rt sie aueh die Stimme des Pastor Jatho, c[er ihr predige. Gegen Pflegerinnen und Patientinnen wird sic unzug~nglicher, weil sic immer meint, diese seien beauftragt, sic auszu- horchen und die harmlosesten Bemerkungen in wahnhaftem Sinn deutet. Die t~oertragung auf den Arzt ist sehr stark. Sic l~llt ihn in ihren Angstzust/inden h~ufig kommen uncI bittet ihn, sie liebzuhaben. Eines Tages sagt sie, sie kSnne es jetzt nicht mehr 1/~nger aushalten, sie mfisse weg, sic gehe an dieser Liebe noch zugruncIe. Mitunter ist sic aber auch voUkommen feincIselig, gibt nieht die Hand, und es zeigt sieh nachher, dab die Stimmen ihr allerlei gesagt haben, denn sie hSrt aueh sehr h/s die Stimmen cIer hiesigen ~rzte.

In diesen Angstzust/inden ist schon aufgefallen, dab sie e i g e n a r t i g gez ie r t spricht, die H/ inde merkwfi rd ig h~l t und fiberhaupt einen katatonischen Ein- druck macht. Von einer Affektverblassung ist noch nichts zu bemerken, die Affekt- erregbarkeit ist zum mindesten sehr stark.

14. VII. l'n den letzten Tagen war Lola ganz ruhig. Die Stimmen sehienen etwas zurfickzutreten; sie sagte, es gehe ihr gut, cIas Leben freue sic jetzt wieder. Die a f f ek t ive E r r e g b a r k e i t sch ien p lS tz l ieh g e s e h w u n d e n . Angst- zust~nde traten gar nicht mehr auf. Als man ihr sagte, sie komme fort, fragte sie nicht einmal wohin, sondern ging ruhig mit.

Sie war darm vom 14. VII. bis zum 8. IX. 1913 in der Heilanstalt G. ;dor t litt sie dauernd unter Sinnest/iuschungen und mitunter heftigen Erregungszust/in-

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den. Mitunter benahm sie sich merkwiirdig: sie legte sich z. B. einmal u n t e r das Bert.

Z w e i t e A u f n a h m e 9. IX. 1913. Lola kommt morgens in die Klinik und l~Bt sich bei dem friiheren Arzt melden. Sie macht einen innerlich aul~erordentlich erregten Eindruck, die Lippen sind fortgesetzt in zitternder Bewegung; es wird ihr sehr schwer, das Weinen zu unterdriicken.

Sie gibt an, gestern gegen den Wunsch der ~rzte heimgeholt worden zu sein; sie sei dort zuletzt auf der unruhigen Station gewesen, habe immer noch sehr viele Stimmen gehdrt. Gestern gleich nach ihrer ~eimkehr habe es zu Hause wieder eine Szene gegeben, und man habe den Arzt gerufen. Sie komme jetzt her, um Rat zu holen, was sie anfangen solle, da sie zu Hause nicht gut bleiben kdnne und nicht 1/inger unt/itig sein wolle; vielleicht w~ire es mdglich, daI~ sie jetzt in ein Gesch/ift ginge.

Da der Zustand wenig gut, und namentlich die Stimmung sehr depressiv er- schien, wurde sie yon einer Pflegerin nach Hause begleitet. Gegen Abend kam sie wieder allein zur Klinik; sie sah den Arzt nur grol~ und erstaunt an, und als er fragte, was sie wieder in die Klinik fiihre, sagte sie: ,,Du hast reich doch gerufen, ich bin ja dein." Sie legte ihre Hand auf den Arm des Arztes, und als dieser die Hand ent- fernte, sagte sie mit zitternder Stimmc und aul~erordentlich tiefem Affekt: ,,Daft ich denn das nicht einmal ? Ich bin doch zum Liebhaben gekommen. Ich bin doch dein!" Sie wurde auf die Abteilung gefiihrt und nach telephonischer Riicksprache mit den Angehdrigen zun/ichst hier behalten.

Die Schwester, die Lola gestern von G. geholt hatte, gibt an, daI3 der Zustand schlechter als friiher geworden sei und dal~ sie namentlich allem Anschein nach fortgesetzt unter dem Einflussc yon Stimmen stiinde. Es sei nicht mdglich gewesen, sie zu Hause zuriickzuhalten, sie habe verschiedentlich gesagt: ,,Eure Einwilligung habe ich ja, ich mul3 noch zu meinem Briiutigam."

25. IX. Sie hat hier dauernd unter dem Einflul~ yon Stimmen gestanden, ha t oft vor sich hingelacht, ohne daS sie recht herausriickte, woriiber sie lachte; sie gibt aber zu, st/~ndig Stimmen zu hdren. Auf Vorhalt sieht sie ein, da~ sie so lange in ein Sanatorium miisse, bis die Stimmen fort seien. Sie ist ganz einverstan- den mit ihrer heutigen (Jberfiihrung nach W., besonders als man ihr sagt, dal~ dort G~rten seien.

Sic war dann bis zum 15. III . 1914 in der Heilanstalt W., war dort ,,meist ftir sich", sprach mit niemand, beteiligte sich nicht an gemeinsamen Unterhaltungen, zeigte dauerndes Grimassieren, lag meist im Bert.

D r i t t e A u f n a h m e 10. IV. 1914. Siewird vom Vater gebracht; sio habe in letzter Zeit Tag und Nacht geweint und geschrien und Angst gezeigt. Sie habe sich auch die Pulsader durchstechen wollen und zu diesem Zweck einen Schrauben- zieher mat ins Bett genommen. Sic fragte die Schwester, was sie wohl gesagt h~tte, wenn man sie tot gefunden h/~tte.

28. IV. Sic liegt fast daucrnd zu Bett und scheint sich am wohlsten zu fiihlen, wenn sich niemand urn sie kiimmert. Sie liegt auch ganz ruhig, nut ganz selten schreit sie (oft stundenlang) monoton ohne sehr viel Affekt. Sie hdrt fortgesetzt Stimmen und hat allem Anschein nach auch wieder sehr lebhafte kdrperliche Be- einflussungsideen. Sie gibt aber dariiber nur noch selten Auskunft, wie sie sich iiberhaupt meist ablehnend verh/ilt, auch dem yon friiher her sehr vertrauten Arzt gegeniiber. Sie gibt meist auch nicht die Hand, offenbar aus wahnhaften Griinden.

Es besteht ein a u s g e s p r o c h e n e s K r a n k h e i t s g e f i i h l ; sie sagt selbst wiederhoit, oft in sehr bit terem Ton, sie sei dauernd gequ/ilt, sie kdnne sich nicht vorstellen, wie man iiberhaupt wiedcr gesund werden kdnne, man kdnne es

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erleben, dab sie sich eines Tages noch umbringe. Sehr oft antwortet sie aber auf alle Fragen nur mit einem gereizten: ,,Ich wei~ es doch nicht!"

Die S p r a c h e i s t s t e t s a u s g e s p r o e h e n m a n i r i e r t , der Mund spitzt sich eigentiimlich zu und wird hiiufig krumm gezogen. Der Gesichtsausdruek ist meist gequ/~It, seltener ganz affektlos; mitunter lacht sie still vor sich hin. Sie scheint unaufhSrlich allerlei zu erleben, was sieh nach aullen hSchstens in der Stimmung wid'erspiegelt.

Zu einer Besch/iftigung ist sie nieht mehr zu bekommen; sie sagt meist, sie ftihle sich zu sehwaeh, sowohl kSrperlich als geistig; sie kSnne ja gar niehts mehr denken. Wenn sie auf ist, legt sie sieh meist raseh wieder abseits yon den anderen in den Liegestuhl.

Sie ist tats/~ehlieh kSrperlich sehr schwach, auch die Driise an der reehten Halsseite hat sich anscheinend vergr6Bert.

Pat. wurde am 6. VII. 1914 naeh der Heilanstalt R. iibergefiihrt; wie lange sie dort war, ist nicht bekannt, auch ist ein Krankenblatt unter den gegenw/~rtigen Ver- h/~ltnissen nicht zu erhalten.

Vi e r t e A u f n a h m e 12. XI. 1915. Sie wird wieder von den Angeh5rigen gebracht, sie habe in der Naeht laut gesehimpft, die Eltern seien Verbrecher, sich in ihr Zim- mer eingeschlossen und niehts gegessen. Sie sei gegen die Schwester gewaltt/~tig geworcIen, als man sie in ffie Klinik bringen wollte. Sie se i zum Staatsanwalt ge- rannt, um die Eltern und die _~_rzte tier Lindenburg als Verbrecher anzuzeigen. Bei tier Aufnahme spricht sie eigentiimlich geziert, verzieht das Gesicht, sagt, sie kSnne nieht bei den Eltern mehr bleiben, leugnet, je Stimmen gehfr t zu haben. A m m e i s t e n f / i l l t d ie v e r s r u n d g e z i e r t e A r t zu r e d e n a u f ; sie erz/s in ganz urteilsunf/~higer affektloser Weise. Schon am n/ichsten Tage wurde sie in die Iteilanstalt G. iiberfiihrt, wo sie noch immer ist. Der l e t z t e E i n t r a g des dortigen Krankenbla t tesvomFebruar 1919 lautet: , , R u h i g , s t u m p f , a r b e i t e t f l e i 0 i g in t ier G e m i i s e p u t z k i i e h e . "