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N A T U R Mit Beiträgen von Arnold Berleant, Chigbo Joseph Ekwealo, ursula baatz, ursula taborsky, Karénina Kollmar- Paulenz, Franz Gmainer-Pranzl und anderen polylog zeitschrift für interkulturelles philosophieren ISSN 1560-6325 ISBN 978-3-901989-27-8 15,– 29 2013

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Nr.

29 (2

013)

Gefördert durch den Magistrat der stadt Wien

n a t u r

Mit Beiträgen von Arnold Berleant, Chigbo Joseph Ekwealo, ursula baatz, ursula taborsky, Karénina Kollmar-

Paulenz , Franz Gmainer-Pranzl und anderen

polylogzeitschrift für interkulturelles philosophieren

ISSN

1560

-632

5 I

SBN

978

-3-9

0198

9-27

-8 €

15,– 292013

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SONDERDRUCK

forum67Franz Gmainer-Pranzl

Verständigung – Anerkennung – IdentitätZur kommunikationstheoretischen Rekonstruk­tion von »Kultur« bei Jürgen Habermas

85Rezensionen & Tipps

128IMPRESSUM

129polylog bestellen

5Arnold Berleant

Die ästhetische Umweltpolitik

21Chigbo Joseph Ekwealo

Ndu mmili, ndu azuLeben und leben lassen:

eine afrikanische Umweltethik

37ursula baatz

Buddhas NaturÖkologiebewegung und Buddhismus

51ursula taborsky

Grüne Orte des Polylogs

59Karénina Kollmar-Paulenz

im Gespräch mit Ursula Baatz:

Ökonomisierung und Tradition Haben mongolische Schamanen ein

Verständnis für »Natur«?

n a t u r

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Franz Gmainer-Pranzl ist

Leiter des Zentrums Theologie

Interkulturell und Studium der

Religionen an der Universität

Salzburg und seit 2003 Mitglied

der Redaktion von polylog.

Franz Gmainer-Pranzl

Verständigung – Anerkennung – IdentitätZur kommunikationstheoretischen Rekonstruktion von »Kultur«

bei Jürgen Habermas1

Der1 Begriff »Kultur« stellt mehr eine Frage als eine Selbstverständlichkeit dar. Auch wenn die inflationäre, ja überbordende Semantik des »(Inter-)Kulturellen« Aktualität, Offen-heit und Anschlussfähigkeit signalisiert – die Bedeutung von »Kultur« wird dadurch nicht klarer, und die beklagte Vieldeutigkeit dieses Begriffs nimmt eher noch zu.2 Dass interkul­turelles Philosophieren von der Fraglichkeit des Kulturbegriffs direkt betroffen ist, zeigt sich bereits in jenem Beitrag, mit dem Franz Martin Wimmer die Zeitschrift polylog eröff-net. »Kultur«, so Wimmer, sei etwas »intern

1 Vortrag beim Symposium »Perspektiven interkultu­rellen Philosophierens« am 22.11.2012 an der Universität Wien2 Viele Lehrbücher setzen mit der Undefinier-barkeit von »Kultur« ein, so beispielsweise Klaus P. Hansen: Kultur und Kulturwissenschaft, A. Francke (UTB 1846): Tübingen/Basel 32002, S. 11–18.

Universelles, die jeweilige Einheit der Form aller Lebensäußerungen einer Gruppe von Menschen«; zugleich sei sie aber auch »extern universell«.3 Mit »Kultur« könne sowohl ein Zustand als auch ein Handeln bezeichnet wer-den, hält Wimmer fest und schließt damit an jene Kritik essentialistischer Kulturkonzepte an, die die Vorstellung von »Kulturen« als klar bestimm- und abgrenzbaren Größen zu-rückweist. Nicht erst die postkoloniale Kritik kultureller Identitätskonstruktionen hat auf die Hybridität, Pluralität und Transformati-vität dessen hingewiesen, was oft »eindeutig« als »Kultur« identifiziert wird;4 gerade fremd-

3 Franz Martin Wimmer: »Thesen, Bedingungen und Aufgaben interkulturell orientierter Philoso-phie« in: polylog Nr. 1 (1998) S. 5–12; hier S. 8.4 Vgl. Nausikaa Schirilla: »Können wir uns nun alle verstehen? Kulturelle Hybridität, Interkulturali-tät und Differenz« in: polylog Nr. 8 (2001) S. 36–47.

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Franz Gmainer-Pranzl:

Muss nicht »Kultur« wieder

mehr als gesellschaftliche

Dimension wahrgenommen

werden, anstatt sie von den

Selbstverständigungs- und

Transformationsprozessen

einer sozialen Gemeinschaft

abzukoppeln?

kulturelle Erfahrungen und gesellschaftliche Herausforderungen (soziale Probleme, öko-nomische Bedingungen, politische Konflikte, religiöse Differenzen usw.) haben die Bedeu-tung von »Kultur« fraglich werden lassen. Schließlich wurde der methodische Ansatz in-terkulturellen Philosophierens selbst mit dem Vorwurf konfrontiert, durch die Perspektive des »Inter-« essentialistische Kulturbegriffe vorauszusetzen5 – eine Kritik, die zwar ernst zu nehmen ist, aber das differenzierte Pro-blembewusstsein vieler VertreterInnen inter-kulturellen Philosophierens kaum beachtet. Diese (selbst-)kritische Auseinandersetzung mit der vermeintlichen Selbstverständlich-keit von »Kultur«, wie sie sich nicht zuletzt aus dem alltäglichen Sprachgebrauch ergibt (die »Kultur« der Azteken, die »Jugendkul-tur«, die »kulturelle Tradition« Frankreichs usw.), setzt Franz Wimmer stets voraus, stellt (sich) aber in seinem Lehrbuch die interes-sante Frage: »Hat das Bild von den besonderen ›Kulturen‹ nicht doch ein Fundament in der Sache?«6

5 So heißt es in der Einleitung zu dem von Espé-rance-François Ng. Bulayumi und Tanja Schnider konzipierten Band Kulturelle Identitäten im Zeitalter der Globalisierung, aa-infohaus: Wien 2009, nachdem der Ansatz der Transkulturalität vorgestellt wurde: »Das Konzept der Interkulturalität hingegen geht nach wie vor von einem traditionellen Kulturbegriff aus. Inter (= dazwischen) -kulturell ist ein Begriff, der von einem Dazwischen, also von abgegrenzten National-kulturen ausgeht. Von Kulturen, die nach Wolfgang Welsch wie Kugeln oder Inseln gehandhabt werden« (Allgemeine Einleitung, S. 11).6 Franz Martin Wimmer: Interkulturelle Philoso-

Diese Frage könnte der Auftakt zu einer komplexen Untersuchung werden, wo und wie der Kulturbegriff auf der Skala zwischen »konstruktivistisch« und »essentialistisch« einzuordnen sei. Eine solche Analyse würde allerdings nicht nur wenig Neues ergeben, sondern letztlich immer noch voraussetzen, dass »Kultur« eine Dimension des Lebens sei, die es – mit welcher Methode auch immer – »zu finden« und »zu erklären« gelte und die sich »an sich« (begrifflich) fassen ließe. Auf diese Problematik möchte ich mich hier nicht einlassen, sondern einer Frage nachgehen, die diesen Diskussionen noch vorausgeht: Muss nicht »Kultur« wieder mehr als gesellschaft-liche Dimension wahrgenommen werden, an-statt sie von den Selbstverständigungs- und Transformationsprozessen einer sozialen Ge-meinschaft abzukoppeln? Zugespitzter formu-liert: Läuft interkulturelles Philosophieren nicht Gefahr, in den Bann kulturalistischer Identitätskonzeptionen zu geraten, die von der Verständigung zwischen unterschied-lichen »Kulturen« sprechen, aber konkrete gesellschaftliche Problemstellungen, von de-nen viele Menschen betroffen sind, vernach-lässigen? Entspricht die Bezeichnung »inter­kulturelles Philosophieren« überhaupt noch den Herausforderungen, denen sich Wissenschaft und Politik unter den gegenwärtigen globa-len Bedingungen zu stellen haben? Zeigt die Unklarheit der Bedeutung von »Kultur« nicht eine unangemessene Verselbständigung der Dimension des Kulturellen an, dessen Iden-

phie. Eine Einführung (UTB 2470), Facultas/WUV, Wien 2004, S. 45.

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Verständigung – Anerkennung – Identität

»Die westlichen Gesellschaften

nähern sich seit Ende der 60er

Jahre einem Zustand, in dem

das Erbe des okzidentalen

Rationalismus nicht mehr

unbestritten gilt«

J. Habermas, 1981

tität geradezu hypertrophe Ausmaße annahm, sodass eine sozialwissenschaftliche Rekontex-tualisierung kultureller Bezüge anstünde?7

Dieser Beitrag versucht, die angesprochene (Re-)Integration kultureller Lebensbezüge in gesellschaftliche Zusammenhänge – und das heißt auch: eine größere Rückbindung inter-kulturellen Philosophierens an sozialwissen-schaftliche Diskurse – durch einige Überle-gungen des deutschen Philosophen Jürgen Habermas anzustoßen, die er in seinem Werk Theorie des kommunikativen Handelns (1981) ent-wickelte. Dieser Bezug mag überraschen, haf-tet doch Habermas das Attribut des »typisch

7 Vgl. den Hinweis von Jürgen Straub, der in einem Grundsatzbeitrag kritische Anfragen in Be-zug auf eine »Omnipräsenz des Kulturbegriffs« aufgriff, die »auf kulturalistische Reduktionismen und sogar regelrechte Holzwege bei der Erklärung menschlichen Handelns sowie zahlloser interindivi-dueller und intergruppaler Verhaltensunterschiede (Missverständnisse, Konflikte usw.) hinweisen, um alternative, ebenfalls theoretisch begründete Denk- und Erklärungsformen – z. B. individualpsycholo-gische, dezidiert sozialwissenschaftliche im Sinne der nomologisch-quantitativen Sozialforschung oder biologisch-neurowissenschaftliche – gegen kultur-wissenschaftliche Einseitigkeiten und Dogmen auf-zubieten; den herkömmlichen Attributionsfehlern, die sich der alltagsweltlichen und wissenschaftli-chen ›Kulturblind heit‹ verdankten, stünden, hieß und heißt es, längst jene Irrtümer zur Seite, die ei-ner zwanghaften Fixierung auf die ›Kultur‹ und ihr explanatives Potential geschuldet seien« (Jürgen Straub: »Kultur« in: Jürgen Straub/Arne Wei-demann/Doris Weidemann [Hg.]: Handbuch inter­kulturelle Kommunikation und Kompetenz. Grundbegriffe

– Theorien – Anwendungsfelder. J. B. Metzler: Stuttgart 2007, S. 7–24; hier S. 9).

europäischen Intellektuellen« an, dessen normative Gesellschaftstheorie untrennbar mit einer Rationalitätskonzeption verbunden sei, die sich an westlichen Wertvorstellungen orientiere, aber keine interkulturellen Bezüge aufweise.8 Zweifellos trifft manches an dieser Kritik zu, vor allem der Hinweis darauf, dass Habermas seine Theorie der Vernunft, der Kommunikation und der Gesellschaft in der Auseinandersetzung mit europäischen und nordamerikanischen Diskursen entwickelte, aber Stimmen außerhalb der westlichen Tradition so gut wie nicht wahrnahm. Den-noch ist festzuhalten, dass sein Werk seit den 1980er-Jahren ein gewisses interkulturelles Problembewusstsein aufweist. Im Vorwort zu seiner Theorie des kommunikativen Handelns stellt er fest: »Die westlichen Gesellschaften nähern sich seit Ende der 60er Jahre einem Zustand, in dem das Erbe des okzidentalen Rationalismus nicht mehr unbestritten gilt«9.

8 Die Formulierung eines »sich verdichtenden Eu-rozentrismusverdachts gegenüber Habermas’ Theorie der Moderne« (Hans Schelkshorn: Entgrenzungen. Ein europäischer Beitrag zum philosophischen Diskurs über die Moderne, Velbrück Wissenschaft: Weilerswist 2009, S. 57) bildete ein wichtiges Motiv in der Ent-stehungsphase interkulturellen Philosophierens und kam auch in der Auseinandersetzung zwischen »Dis-kursethik« (Karl-Otto Apel) und »Befreiungsethik« (Enrique Dussel) zum Tragen; vgl. ein Resümee die-ser Diskussion bei Raúl-Fornet-Betancourt (Hg.): Konvergenz oder Divergenz? Eine Bilanz des Gesprächs zwi­schen Diskursethik und Befreiungsethik (Concordia Reihe Monographien, Band 13), Augustinus-Buchhandlung: Aachen 1994.9 Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Band 1: Handlungsrationalität und gesellschaft­

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Franz Gmainer-Pranzl:

In einem seiner jüngsten

Beiträge spricht sich Habermas

beispielsweise dafür aus,

»dass die westliche Staaten-

gemeinschaft im Bewusstsein

der Fallibilität ihrer eigenen

Lesart, aber auch im Vertrauen

auf die Kraft ihrer Argumente

vorbehaltlos in einen interkultu-

rellen Menschen[rechts]diskurs

eintreten müsste«

In Stellungnahmen zu Fragen der Globali-sierung, der Migration, der Rolle der Reli-gionen und der Menschenrechte ist das Mo-tiv interkultureller Verständigung durchaus präsent, auch wenn Habermas keine eigene Theorie der Interkulturalität erarbeitete.10 In einem seiner jüngsten Beiträge spricht sich Habermas beispielsweise dafür aus, »dass die westliche Staatengemeinschaft im Bewusst-sein der Fallibilität ihrer eigenen Lesart, aber auch im Vertrauen auf die Kraft ihrer Argu-

liche Rationalisierung, Suhrkamp: Frankfurt 1981, S. 9.10 Vgl. Jürgen Habermas: »Inklusion – Einbe-ziehen oder Einschließen? Zum Verhältnis von Na-tion, Rechtsstaat und Demokratie« in: ders.: Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theo­rie, Suhrkamp: Frankfurt 1996, S. 154–184; ders.: »Vom Kampf der Glaubensmächte. Karl Jaspers zum Konflikt der Kulturen« in: ders.: Vom sinnlichen Ein­druck zum symbolischen Ausdruck. Philosophische Essays, Suhrkamp: Frankfurt 1997, S. 41–58; ders.: »Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie« in: ders.: Die postnationale Konstellation. Politische Essays (es 2095), Suhrkamp: Frankfurt 1998, S. 91–169; ders.: »Von der Machtpolitik zur Weltbür-gergesellschaft« in: ders.: Zeit der Übergänge. Kleine Politische Schriften IX (es 2262), Suhrkamp: Frankfurt 2001, S. 27–39; ders.: »Eine politische Verfassung für die pluralistische Weltgesellschaft?« in: ders.: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Auf­sätze, Suhrkamp: Frankfurt 2005, S. 324–365; ders.: »Europa und seine Immigranten« in: ders.: Ach, Eur­opa. Kleine Politische Schriften XI (es 2551), Suhrkamp: Frankfurt 2008, S. 88–95; ders.: »Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte« in: ders.: Zur Verfassung Europas. Ein Essay, Suhrkamp: Berlin 2011, S. 13–38.

mente vorbehaltlos in einen interkulturellen Menschen[rechts]diskurs eintreten müsste«11.

Wichtiger noch als einzelne Belege für eine Wahrnehmung des Anspruchs bzw. der Not-wendigkeit interkultureller Vermittlung sind jedoch zwei Elemente der Habermasschen Diskurstheorie, die mit Grundanliegen inter-kulturellen Philosophierens korrespondieren: Zum einen der von Habermas vorausgesetz-te Anspruch einer Kommunikationsgemein-schaft, prinzipiell allen die Teilnahme an einem Diskurs zu ermöglichen. Die »Zwanglosig-keit« einer Kommunikationsstruktur, deren formale Eigenschaften eine »ideale Sprechsi-tuation« ausmachen, ist dann gegeben, »wenn für alle Diskursteilnehmer eine symmetrische Verteilung der Chancen, Sprechakte zu wäh-len und auszuführen, gegeben ist«12. Alle, die an einer diskursiven Auseinandersetzung be-teiligt sind, müssen die gleiche Chance haben, »kommunikative Sprechakte zu verwenden […]; Deutungen, Behauptungen, Empfeh-lungen, Erklärungen und Rechtfertigungen aufzustellen und deren Geltungsanspruch zu problematisieren, zu begründen oder zu wi-derlegen, so dass keine Vormeinung auf Dauer der Thematisierung und der Kritik entzogen

11 Jürgen Habermas: »Rawls’ Politischer Libera-lismus. Replik auf die Wiederaufnahme einer Diskus-sion« in: ders.: Nachmetaphysisches Denken II. Aufsätze und Repliken, Suhrkamp: Berlin 2012, S. 277–307; hier S. 305. – [Im Text heißt es an dieser Stelle »Men-schendiskurs«; Korrektur von F. G.-P.]12 Jürgen Habermas: »Wahrheitstheorien« in: ders.: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kom­munikativen Handelns (stw 1176), Suhrkamp: Frank-furt 1995, S 127–183; hier S. 177.

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Verständigung – Anerkennung – Identität

Ohne die »ideale Sprechsitua-

tion« von Habermas mit einem

polylogischen »allseitigen

Gespräch« in eins zu setzen,

sind dennoch signifikante Struk-

turparallelen aufzuweisen: die

Einbeziehung prinzipiell »aller

Anderen« als Voraussetzung für

gelingende Verständigung.

bleibt […]; repräsentative Sprechakte zu ver-wenden, d. h. ihre Einstellungen, Gefühle und Wünsche zum Ausdruck zu bringen«, sowie »regulative Sprechakte zu verwenden, d. h. zu befehlen und sich zu widersetzen, zu erlauben und zu verbieten, Versprechen zu geben und abzunehmen, Rechenschaft abzulegen und zu verlangen usf.«13. Dieser Einbezug prin-zipiell aller Gesprächsteilnehmer stellt nicht bloß eine »freundliche Geste« dar, sondern ist konstitutiv für den Diskurs – vergleichbar der Kommunikationsform des Polylogs, die kon-sequent davon ausgeht, »dass Menschen ei-nander als Argumentierende ernst nehmen«14. Ohne die »ideale Sprechsituation« von Ha-bermas mit einem polylogischen »allseitigen Gespräch«15 in eins zu setzen, sind dennoch signifikante Strukturparallelen aufzuweisen: die Einbeziehung prinzipiell »aller Anderen« als Voraussetzung für gelingende Verständi-gung.

Zum anderen ist es der tendenzielle Uni-versalitätsanspruch, der Habermas mit inter-kulturellem Philosophieren verbindet. So sehr Habermas von einem »nachmetaphysischen« Standpunkt her argumentiert, also die histo-rische, gesellschaftliche und intellektuelle Kontextualität von Diskursen ernst nimmt und sich von »starken Begründungen« im Sinn einer vorkritischen Metaphysik verab-schiedet, so sehr kritisiert er einen erkennt-nistheoretischen Kontextualismus, der jeg-

13 Ebd. S. 177f.14 Franz Wimmer: Interkulturelle Philosophie (Fn. 5), S. 178.15 Ebd. S. 182.

lichen Anspruch auf eine universale Geltung von Positionen aufgegeben hat. In seiner be-kannten Kontroverse mit Richard Rorty, dem er eine »Gleichsetzung von ›Wissen‹ mit dem, was nach den Maßstäben unserer Gemeinschaft jeweils als ›rational‹ akzeptiert wird«16, vor-warf, wies er auf die kontexttranszendente Dynamik reziproker Kommunikation und Argumentation hin, die von einem kultu-rellen Relativismus nicht eingeholt werde.17 Vielmehr drücke sich in den Argumentations-bedingungen der Öffentlichkeit und der In-klusion prinzipiell aller Gesprächsteilnehmer »die Intuition aus, dass wahre Aussagen gegen räumlich, sozial und zeitlich entschränkte Versuche der Widerlegung resistent sind. Was wir für wahr halten, muss sich mit überzeu-genden Gründen nicht nur in einem anderen Kontext, sondern in allen möglichen Kon-texten, also jederzeit gegen jedermann ver-teidigen lassen«18. Diese Profilierung eines Wahrheits- und Diskursverständnisses, das die Möglichkeit gelingender intersubjektiver Verständigung »über die Grenze der eigenen Gruppe hinaus«19verteidigt, trifft sich mit dem

16 Jürgen Habermas: »Wahrheit und Rechtferti-gung. Zu Richard Rortys pragmatischer Wende« in: ders.: Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Auf­sätze, Suhrkamp: Frankfurt 1999, S. 230–270; hier S. 238f.17 »Der Kontextualismus bringt ein Problem zu Bewusstsein, für das der kulturelle Relativismus eine falsche, weil performativ selbstwidersprüchliche Lö-sung präsentiert« (ebd. S. 245).18 Ebd. S. 259.19 Ebd. S. 268. – Vgl. zu dieser Fragestellung Geor-ge Rajmohan: Speaking Across Boundaries. A Theore­

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Franz Gmainer-Pranzl:

Wenn Interkulturalität eine Ein-

stellung besagt, die prinzipiell in

allen geographischen Regionen

und philosophischen Ansät-

zen und Forschungsfeldern

verwirklicht werden kann, lässt

sich auch das Werk von Jürgen

Habermas, im Besonderen seine

Theorie kommunikativen Han-

delns, als Impuls zu interkultu-

rell sensiblem Philosophieren

verstehen.

hermeneutischen Selbstverständnis interkul-turellen Philosophierens, das sich weder mit dem Universalismus eines expansiven oder integrativen Zentrismus noch mit dem Relati-vismus einer separativen »Ethno-Philosophie« identifiziert, sondern »tentativ« bzw. »transi-torisch« auf Verständigung über den eigenen (kulturellen) Kontext hinaus ausgerichtet ist. Ein »polylogisches Vorgehen« als »Vorgangs-weise und Perspektive von Philosophie, die sich ihrer Kulturgeprägtheit bewusst ist und doch weiß, dass sie ihren Universalitätsan-spruch nicht aufgeben kann«20, teilt mit Ha-bermas’ Kontextualismuskritik das Anliegen, die Grenzen unserer Sprache nicht mit den Grenzen »der Welt« zu identifizieren.21

Diese Hinweise sollen Jürgen Habermas nicht zum »interkulturellen Philosophen« er-klären, aber einige Anschlussstellen in seinem Werk aufzeigen, die als unterstützende Mo-tive für eine Philosophie in interkultureller Orientierung anzusehen sind. Wenn Interkul-turalität eine Einstellung besagt, die prinzipi-

tical Study on Intercultural Relationship Focussing on the Communication Theory of Habermas, CIPH: Trivandrum 1998. – Rajmohan resümiert: »Habermas perceives an underlying unity of languages. It is not yet realised. We need to cross the boundaries of particular lan-guages to reach that unity through dialogue and free communication. If this is not done, Habermas would warn that we can fall into either sheer relativism of languages, or else posit ourselves and our language as having absolute validity« (ebd. S. 231).20 Franz Wimmer: Interkulturelle Philosophie (Fn. 5), S. 153.21 Vgl. die bekannte Stelle bei Ludwig Wittgen-stein: Tractatus logico­philosophicus, 5.6: »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.«

ell in allen geographischen Regionen und phi-losophischen Ansätzen und Forschungsfeldern verwirklicht werden kann, lässt sich auch das Werk von Jürgen Habermas, im Besonderen seine Theorie kommunikativen Handelns, als Impuls zu interkulturell sensiblem Philoso-phieren verstehen.

1. Interkulturelles Philoso-phieren im Dickicht der Kultur-begriffe

So dominant und scheinbar selbstverständ-lich die Relevanz des kulturellen Faktors in gegenwärtigen philosophischen Diskussionen erscheint, so unklar bleibt die Bedeutung von »Kultur« – diese Beobachtung stand am Be-ginn meines Beitrags. Interkulturelles Philo-sophieren, das die Bezüge »zwischen« unter-schiedlichen kulturellen Traditionen ernst nimmt, muss zwar nicht ständig ausdifferen-zierte Kulturtheorien entwickeln, kann aber nicht völlig darauf verzichten, eine Art Posi-tionsbestimmung vorzunehmen, um sich des eigenen historischen und hermeneutischen »Standorts« zu vergewissern.22 Insofern sich interkulturelles Philosophieren sowohl als konkrete Denkbewegung zwischen verschie-denen Positionen und Gestalten der Vernunft als auch als (Meta-)Reflexion auf den »Raum

22 Vgl. exemplarisch für diese Bemühung Anke Graness: »Überlegungen zu einem interkulturellen Philosophieren« in: polylog Nr. 25 (2011) S. 55–74. »Unter Kultur«, so Graneß, seien »Konstruktionen zu verstehen, mit denen Menschen ihren Handlungen Sinn und Einheit geben« (S. 62).

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Verständigung – Anerkennung – Identität

Auch der Versuch, den Begriff

»Kultur« einfach aufzugeben,

löst das Problem nicht, denn of-

fenbar lässt sich jenes Moment

im menschlichen Leben, das

(bisher) als »kulturell« be-

zeichnet wird, nicht aufgeben,

ohne eine Erklärungslücke zu

erzeugen.

des Interkulturellen«23 versteht, ist eine Aus-einandersetzung mit dem faktisch voraus-gesetzten Verständnis von »Kultur« unaus-weichlich.

Ein Blick in verschiedene Handbücher und Einführungen in die Thematik »Kultur« zeigt, dass häufig eine (historische) Darstellung von Kulturbegriffen oder den Theorien unter-schiedlicher AutorInnen geboten wird, aber nur selten der Versuch einer Systematisierung unternommen wird. Klar scheint die Ab-grenzung von (früheren) Positionen, die von einem »Wesen« der Kultur ausgingen, und die Betonung der Unmöglichkeit, »Kultur« defi-nitorisch festzulegen, zu sein. »Interkultura-lität« wird beschworen, ohne eine befriedi-gende Antwort auf die Frage geben zu können, worin die Eigenart jener »kultureller Identi-täten« besteht, zwischen denen Verständigung herzustellen sei. Auch der Versuch, den Be-griff »Kultur« einfach aufzugeben, löst das Problem nicht, denn offenbar lässt sich jenes Moment im menschlichen Leben, das (bisher) als »kulturell« bezeichnet wird, nicht aufge-ben, ohne eine Erklärungslücke zu erzeugen.24

23 Andreas Cesana: »Prozesse der Pluralisierung im Zeitalter der Globalisierung« in: Hermann-Josef Scheidgen/Norbert Hintersteiner/Yoshiro Na-kamura (Hg.): Philosophie, Gesellschaft und Bildung in Zeiten der Globalisierung (SIP 15), Rodopi: Amster-dam/New York 2005, S. 49–65; hier S. 52.24 Franz Martin Wimmer bringt diese Verlegen-heit treffend auf den Punkt, wenn er festhält: »Ich weiß überhaupt nicht, welches Wort an die Stelle des Wortes Kultur treten könnte« (Interview mit Hakan Gürses, in: Franz Gmainer-Pranzl/Anke Graness [Hg.]: Perspektiven interkulturellen Philoso­

Einen bemerkenswerten Versuch zur Sys-tematisierung gängiger Kulturbegriffe unter-nimmt Andreas Reckwitz; seine Typologie umfasst vier Positionen:a. Der normative Kulturbegriff umschreibt

eine »ausgezeichnete, erstrebenswerte Lebensweise«25. Eine solche Vorstellung von »Kultur« kann konsequenterweise nur im Singular auftreten, kommt in ihr doch »der normativ ausgezeichnete Zustand ei-ner sozialen Gemeinschaft«26 zur Geltung.

b. Der totalitätsorientierte Kulturbegriff gibt die wertende, universalistische Orientie-rung auf und verfolgt ein holistisches Kon-zept. »Kultur« bezeichnet die »Totalität der kollektiv geteilten Lebensform eines Volkes, einer Nation, einer Gemeinschaft«27. Hier ist der viel zitierte Kulturbegriff Johann Gottfried Herders anzusiedeln, der damit die Lebensweise ganzer Völker umschrieb; die mittlerweile zu einem Stereotyp gera-tene Charakterisierung des Herderschen Kulturverständnisses als »Kugel« greift al-lerdings viel zu kurz, um dem universalen anthropologischen Anliegen Herders ge-recht zu werden.28 Totalitätsorientiert ist

phierens. Beiträge zur Geschichte und Methodik von Polylo­gen. Für Franz Martin Wimmer, Facultas/WUV: Wien 2012, S. 397–410; hier S. 410).25 Andreas Reckwitz: Die Transformation der Kul­turtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms, Vel-brück Wissenschaft: Weilswist 22008, S. 65f.26 Ebd. S. 66.27 Ebd. S. 72.28 »Wie kaum ein anderer entpuppte sich der Ro-mantiker Herder als glühender Verfechter einer kosmopolitischen Auffassung unendlich vielfältiger

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Franz Gmainer-Pranzl:

diese Auffassung von Kultur insofern, als sie die gesamte menschliche Lebensweise umfasst und sich strikt von dem abgrenzt, was dem Menschen (biologisch) vorgege-ben ist: »Kultur ist damit alles, was nicht Natur ist.«29

c. Der differenzierungstheoretische Kulturbegriff bezieht sich auf ein »soziales ›Teilsystem‹, das sich in institutionalisierter Form auf den Umgang mit Weltdeutungen spezi-alisiert hat«30. Dieser Zugang betrachtet »Kultur« als ein Feld von Institutionen, Wissenschaften, Medien, Kunst usw., auf dem die Interpretation »der Welt« stattfin-det.

d. Der bedeutungs­ und wissensorientierte Kultur-begriff schließlich, den Reckwitz mit dem cultural turn des späten 20. Jahrhunderts in Zusammenhang bringt, begreift »Kul-tur« als »Komplex von Sinnsystemen oder […] von ›symbolischen Ordnungen‹, mit denen sich die Handelnden ihre Wirklich-keit als bedeutungsvoll erschaffen und die in Form von Wissensordnungen ihr Handeln ermöglichen und einschränken«31. Un-ter dem Dach dieser an »Sinn(verstehen)« orientierten Zuordnung von »Kultur« sind mehrere Diskurse anzusiedeln, die wich-

Kulturen. Er legte den Akzent auf Differenz und Di-stinktion, auf Heterogenität und in gewisser Weise auch auf die Inkommensurabilität menschlicher Le-bensweisen und Lebensformen« (Jürgen Straub: »Kultur« [Fn. 6]; S. 13).29 Andreas Reckwitz: Die Transformation der Kul­turtheorien (Fn. 24), S. 76.30 Ebd. S. 79.31 Ebd. S. 84.

tige Theoriestränge des 20. Jahrhunderts markieren: (1) die phänomenologische Tra-dition, vor allem Husserls Rekurs auf die »Lebenswelt« als dem »Reich ursprüng-licher Evidenzen«32, dem »›Boden‹ für alle, ob theoretische oder außertheoretische Praxis«33; (2) die strukturalistische Position, die kulturelle Prägungen als »kollektive ›Codestruktur‹«34 einer Gesellschaft ver-steht; (3) der semiotische Ansatz, der »Kul-tur« als ein bedeutungsgebendes Sinn- und Symbolsystem versteht;35 und (4) die post­

32 Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wis­senschaften und die transzendentale Phänomenologie (Hua VI), Hg. Walter Biemel, Martinus Nijhoff: Haag 1962, S. 130.33 Ebd. S. 145.34 Andreas Reckwitz: Die Transformation der Kul­turtheorien (Fn. 24), S. 180. – Reckwitz interpretiert die strukturalistische Kulturtheorie als holistisches Konzept: »In ihrem Vokabular erscheint Kultur als eine immanent strukturierte, übersubjektive sym-bolische Ordnung, die sich im Handeln der Akteure ›manifestiert‹ und in Form einer notwendigen Be-dingung dieses hervorbringt. Die dem Subjekt vor-gängige symbolische Ordnung stellt eine relationale Sinnstruktur dar, ein Unterscheidungssystem, das der wissenschaftliche Beobachter rekonstruiert, das für die Akteure selbst, obgleich es sich in ihrem Han-deln niederschlägt, jedoch nicht verständlich und letztlich unbewusst bleibt« (ebd.).35 Für Clifford Geertz, einen der wichtigsten Vertreter einer semiotischen/interpretativen Zu-gangsweise, erweist sich »Kultur« als »ein historisch überliefertes System von Bedeutungen, die in symbo-lischer Gestalt auftreten, ein System überkommener Vorstellungen, die sich in symbolischen Formen aus-drücken, ein System, mit dessen Hilfe die Menschen ihr Wissen vom Leben und ihre Einstellungen zum

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polylog 29Seite 75

Verständigung – Anerkennung – Identität

(Inter-)Kulturalität erweist

sich von daher nicht nur als

hermeneutische, sondern in

hohem Maß auch als politische

Herausforderung.

koloniale Kritik, die »einen anti-essentia-listischen und anti-holistischen Begriff von Kultur«36 vertritt und eine Dekonstrukti-on hegemonial vorgegebener Identitätskon-zepte betreibt – ein Zugang, der für inter-kulturelles Philosophieren zweifellos von besonderem Interesse ist.37Mit seiner Typisierung hat Andreas Reck-

witz einen wichtigen Beitrag zur Einordnung gängiger Kulturkonzepte geliefert und darü-ber hinaus gezeigt, wie eng Gesellschafts- und Kulturtheorie zusammenhängen. Während »Kultur« und »Gesellschaft« in der normati-ven und totalitätsorientierten Konzeption na-hezu deckungsgleich sind, gehen sie im diffe-renzierungstheoretischen sowie vor allem im bedeutungs- und wissensorientierten Para-digma deutlich auseinander, sodass »Kultur« zunehmend als Dimension in Erscheinung tritt, die mit gesellschaftlichen und sozialen Faktoren des Lebens kaum noch etwas zu tun hat. Folgerichtig werden Handlungsformen aus der Perspektive von Kulturtheorien als

Leben mitteilen, erhalten und weiterentwickeln« (Clifford Geertz: »Religion als kulturelles System« in: ders.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kul­tureller Systeme (stw 696), Suhrkamp: Frankfurt 41995, S. 44–95; hier S. 46).36 Stephan Moebius: Kultur, transcript: Bielefeld 2009, S. 176.37 Vgl. Nikita Dhawan: »Überwindung der Mono-kulturen des Denkens: Philosophie dekolonisieren« in: polylog Nr. 25 (2011) S. 39–54. – Eine der Kern-thesen dieses Beitrags lautet: »[…] das Projekt einer Dekonstruktion der Philosophie bleibt unvollständig ohne eine Dekolonisierung der Philosophie« (ebd. S. 42).

»Rekonstruktion der kognitiv-symbolischen Organisation der Wirklichkeit«38 erklärt, und »Kultur« wird im Zusammenhang von Sinno-rientierung und symbolischer Strukturierung wahrgenommen.39 Der Vorwurf der »Kultu-ralisierung«, der darin besteht, relevante Fak-toren des gesellschaftlichen Lebens zugunsten kultureller Aspekte zurückzudrängen, betrifft allerdings auch die postkolonialen Theorien, die – bei aller kritischen Ausrichtung – oft nur den diskursiven und kulturellen Aspekten der sozialen Wirklichkeit verhaftet bleiben.40

Daraus ergeben sich für die Philosophie – vor allem für Philosophie in interkulturel-ler Orientierung – zwei Herausforderungen: Zum einen gibt es keinen eindeutigen Aus-weg aus dem »Dickicht der Kulturbegriffe«; die (selbst-)kritische Bezugnahme auf impli-zite und explizite Kulturkonzepte gehört zur

38 Andreas Reckwitz: Die Transformation der Kul­turtheorien (Fn. 24), S. 117.39 »Die kognitiv-symbolischen Strukturen ermög-lichen bestimmte Verhaltensformen und schließen andere als ›undenkbar‹ aus« (ebd. S. 130).40 Vgl. die Kritik von Doris Bachmann-Medick: »Dieser Kulturalismusvorwurf, wie er für die Kul-turwissenschaften insgesamt erhoben wird, gilt in besonderem Maß für die postkoloniale Wende. Denn deren Fixierung auf Diskurssysteme führt langfristig zur Ausblendung ökonomischer Bedingungen, auch zur Ausblendung sozialer Gewalt zugunsten epi-stemologischer Gewalt. Das kulturell-theoretische Übergewicht des postcolonial turn bewirkt damit eine Schieflage in der Analyse, die den Postkolonialismus als kritisches Projekt entschärft« (Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kul­turwissenschaften [rororo 55675], Rowohlt: Reinbek bei Hamburg 22007, S. 221).

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polylog 29Seite 76

Franz Gmainer-Pranzl:

Und interkulturelles Philoso-

phieren stellt nicht nur einen

von sinn-, bedeutungs- und

wissensorientierten Aspekten

geleiteten Diskurs dar, sondern

eine gesellschaftlich relevante

Form der Auseinandersetzung

mit der Pluralität, Diversität,

Alterität und Exteriorität

kollektiver Lebensformen in

konkreten sozialen

Spannungsfeldern.

Theorie und Praxis des Philosophierens dazu. Und wie sich zeigt, nimmt das Problembe-wusstsein, was die Diversität und Offenheit des Kulturbegriffs betrifft, durchaus zu; so geht etwa Michael Klemm davon aus, dass unter »Kultur« unterschiedliche Aspekte des Lebens gemeint sein können: »Kultur als Pro-dukt, das heißt die menschlichen Erzeugnisse, die gern auch als ›Kulturgüter‹ bezeichnet werden (z. B. künstlerische Werke, aber auch ›Gebrauchstexte‹); Kultur als gesellschaft-licher Prozess, also als Gesamtheit der kul-turellen Praktiken einer Gemeinschaft, ihrer Bräuche, Symbole, Kommunikate; Kultur als soziale Vergemeinschaftung von Menschen im ›Way of life‹, im Bereich der ›praktischen Daseinsbewältigung‹; Kultur als individuelle Praxis, das heißt als Produktion, Nutzung und Aneignung von ›Kulturgütern‹.«41 Zum ande-ren, und das wird schon aus Klemms Charak-terisierung kultureller Dimensionen deutlich, sollte »Kultur« wieder deutlicher im Rahmen gesellschaftlicher Lebenswirklichkeiten situ-iert werden. Interkulturelle Dialoge finden ja nicht nur unter der Rücksicht von Sinnfragen und im Horizont von Symbolsystemen statt, sondern auf der Grundlage realer politischer, ökonomischer und sozialer Entwicklungen. Und interkulturelles Philosophieren stellt nicht nur einen von sinn-, bedeutungs- und wissensorientierten Aspekten geleiteten Dis-

41 Michael Klemm: »Medienkulturen. Versuch einer Begriffsklärung« in: Hamid Reza Yousefi u. a. (Hg.): Wege zur Kultur. Gemeinsamkeiten – Differenzen

– Interdisziplinäre Dimensionen, Traugott Bautz: Nord-hausen 2008, S. 127–149; hier S. 135.

kurs dar, sondern eine gesellschaftlich rele-vante Form der Auseinandersetzung mit der Pluralität, Diversität, Alterität und Exterio-rität kollektiver Lebensformen in konkreten sozialen Spannungsfeldern.42 (Inter-)Kultura-lität erweist sich von daher nicht nur als her-meneutische, sondern in hohem Maß auch als politische Herausforderung.

2. »Kultur« in der Dynamik lebensweltlicher Reproduktions prozesse

Die Aufgabe der Reintegration kultureller Le-bensdimensionen in einen sozialen und gesell-schaftlichen Handlungskontext – und damit auch die Wiedergewinnung gesellschaftspoli-tischer Dimensionen interkulturellen Philoso-phierens – soll im Folgenden im Licht eines mittlerweile klassischen Textes der Gesell-schaftstheorie des 20. Jahrhunderts betrachtet werden. Die so genannte »Zweite Zwischen-betrachtung« im zweiten Band von Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns reflektiert zwei Dimensionen gesellschaftlicher Prozesse, die sich auf spannungsreiche und komplexe Weise zueinander verhalten.43 Habermas plä-

42 Vgl. Dieter Senghaas: »Sozialwissenschaftliche Rückfragen an Interkulturelle Philosophie« in: Franz Gmainer-Pranzl/Anke Graness (Hg.): Perspekti­ven interkulturellen Philosophierens (Fn. 23), S. 147–158.43 Vgl. die präzise Darstellung der zentralen Ge-dankengänge der Theorie des kommunikativen Handelns bei Jens Greve: Jürgen Habermas. Eine Einführung (UTB 3227), UVK: Konstanz 2009, S. 99–132. – Vgl. einen weiteren Beitrag von Habermas, der viele Passagen und Gedankengänge der »Zweiten Zwischenbetrach-

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Verständigung – Anerkennung – Identität

»Die kommunikativ Handelnden

bewegen sich stets innerhalb

des Horizonts ihrer Lebenswelt;

aus ihm können sie nicht

heraustreten ...«

J. Habermas

diert dafür, »Gesellschaften gleichzeitig als System und Lebenswelt zu konzipieren«,44 und greift damit sowohl die systemische, strate-gisch ansetzende als auch die soziale, kommu-nikativ verfahrende Weise der Integration der Gesellschaft auf, deren Rationalisierungspro-zess das zentrale Thema seiner umfangreichen Untersuchung bildet.45

Kommunikatives Handeln, so Habermas, wird ermöglicht durch einen »kooperativen Deutungsprozess, in dem sich die Teilnehmer auf etwas in der objektiven, der sozialen und

tung« enthält: Jürgen Habermas: »Erläuterungen zum Begriff des kommunikativen Handelns« in: ders.: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kom­munikativen Handelns (stw 1176), Suhrkamp: Frank-furt 1995, S. 571–606.44 Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Band 2: Zur Kritik der funktionalistischen Ver­nunft, Suhrkamp: Frankfurt 1981, S. 180.45 Die eigentliche Pointe dieses Werks sieht Axel Honneth in der These, »dass sich erst im Zuge der soziokulturellen Evolution die Mechanismen der Sy-stemintegration so stark aus dem Horizont der gesell-schaftlichen Lebenswelt herausgelöst haben, dass sie als selbständige Formen der Koordinierung sozialen Handelns in Erscheinung treten und autonome Hand-lungssphären bilden können. Der methodische Dua-lismus von ›System-‹ und ›Sozialintegration‹, der zu-nächst nur zwei komplementäre Perspektiven in der Analyse ein und desselben Entwicklungsprozesses beschreiben sollte, verkehrt sich mithin für Haber-mas auf dem Weg der Rationalisierung sozialen Han-delns in den faktischen Dualismus von ›Systemen‹ und ›Lebenswelt‹« (Axel Honneth: »Theorie des kommunikativen Handelns« in: ders./Institut für So-zialforschung [Hg.]: Schlüsseltexte der Kritischen Theorie, VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden 2006, S. 188–193; hier S. 190f.

der subjektiven Welt zugleich beziehen«46. Die-se an Verständigung orientierte Praxis illus-triert Habermas mit der Szene auf einer Bau-stelle, wo ein neuer Arbeiter zum Bierholen geschickt wird. Allen möglichen oder tatsäch-lichen Missverständnissen, stillschweigenden oder expliziten Verständnis- und Handlungs-voraussetzungen, Aushandlungsprozessen und Umdefinitionen, die hier ablaufen und die jeweilige Situationsdefinition betreffen, »lie-gen die Gemeinsamkeitsunterstellungen der objektiven, der sozialen und einer jeweils sub-jektiven Welt zugrunde«47. Im Hintergrund der Handlungssituation ist die »Lebenswelt als ein Reservoir von Selbstverständlichkeiten«48

präsent und wird nur dann ausdrücklich be-wusst, wenn diese impliziten Überzeugungen erschüttert werden. Habermas ersetzt die be-wusstseinsphilosophisch und transzendental konzipierten Grundbegriffe der Husserlschen Lebensweltthematik durch kommunikations-theoretische Kategorien und interpretiert den »vertrauten kulturellen Wissensvorrat«49, der die Hintergrundüberzeugungen handelnder Personen bildet, als sprachlich vermittelte Größe: »Die kommunikativ Handelnden be-wegen sich stets innerhalb des Horizonts ihrer Lebenswelt; aus ihm können sie nicht heraus-treten […]. Die Strukturen der Lebenswelt

46 Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Band 2 (Fn. 43), S. 184.47 Ebd. S. 187.48 Ebd. S. 189.49 Ebd. S. 191.

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polylog 29Seite 78

Franz Gmainer-Pranzl:

Die objektive »Kulturalität«,

die soziale Solidarität und die

subjektive Kompetenz bilden

gemeinsam »die Lebenswelt«,

die durch eine »kulturalistische

Verkürzung« um ihre gesell-

schaftlich relevante Dimension

gebracht wird.

legen die Formen der Intersubjektivität mög-licher Verständigung fest.«50

Diese vor allem am 1979 veröffentlichten Werk Strukturen der Lebenswelt (Alfred Schütz/Thomas Luckmann) orientierte Perspektive weist Habermas als »einen kulturalistischen Begriff der Lebenswelt«51 zurück. Handeln bedeutet sowohl verantwortliche Aktivität, das Lösen von Problemen und die Initiative zu neuen Entwicklungen, als auch rezeptive Passivität, das Getragenwerden von Überlie-ferungen, die Partizipation an Gemeinschaf-ten und das Konfrontiertwerden mit Sozi-alisationsprozessen. Dieser lebensweltliche Hintergrund, und das ist eine entscheidende Korrektur der phänomenologischen Posi tion, ist nicht nur »kulturell« konstituiert; er »be-steht auch aus individuellen Fertigkeiten, dem intuitiven Wissen, wie man mit einer Situ-ation fertig wird, und aus sozial eingelebten Praktiken, dem intuitiven Wissen, worauf man sich in einer Situation verlassen kann, nicht weniger als aus den trivialerweise gewussten Hintergrundüberzeugungen«52. Die objektive »Kulturalität«, die soziale Solidarität und die subjektive Kompetenz bilden gemeinsam »die Lebenswelt«, die durch eine »kulturalistische Verkürzung«53 um ihre gesellschaftlich rele-vante Dimension gebracht wird. Die Repro-duktion der Lebenswelt, und darin besteht die zentrale These der Habermasschen Zwi-schenbetrachtung, spielt sich im Dreieck von

50 Ebd. S. 192.51 Ebd. S. 203.52 Ebd. S. 205.53 Ebd.

kulturellen Überlieferungen, sozialen Grup-pen und personalen Kompetenzen ab: »Un-ter dem funktionalen Aspekt der Verständigung dient kommunikatives Handeln der Traditi-on und der Erneuerung kulturellen Wissens; unter dem Aspekt der Handlungskoordinierung dient es der sozialen Integration und der Her-stellung von Solidarität; unter dem Aspekt der Sozialisation schließlich dient kommunika-tives Handeln der Ausbildung von personalen Identitäten.«54 Entscheidend an dieser Theorie lebensweltlicher Reproduktion ist in unserem Zusammenhang, dass kulturelle Reprodukti-on (nur) gemeinsam mit sozialer Integration und personaler Sozialisation jenen Prozess konstituiert, der die symbolischen Struk-turen der Lebenswelt ausbildet. »Kultur« ist keine spezielle Dimension des Lebens, die »auch noch« mit gesellschaftlichen Entwick-lungen vermittelt werden muss, sondern im Lebensweltkonzept von Habermas von vorn-herein in den Reproduktions- und Kommu-nikationsprozess der Gesellschaft verwoben. Kurz gesagt: »Kultur« gibt es nur zusammen mit »Gesellschaft« und »Person«. Habermas fasst zusammen: »Kultur nenne ich den Wis-sensvorrat, aus dem sich die Kommunikati-onsteilnehmer, indem sie sich über etwas in einer Welt verständigen, mit Interpretationen versorgen. Gesellschaft nenne ich die legitimen Ordnungen, über die die Kommunikations-teilnehmer ihre Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen regeln und damit Solidarität sichern. Unter Persönlichkeit verstehe ich die Kompe-tenzen, die ein Subjekt sprach- und hand-54 Ebd. S. 208.

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Verständigung – Anerkennung – Identität

Habermas fasst zusammen:

»Kultur nenne ich den

Wissensvorrat, aus dem sich die

Kommunikationsteilnehmer,

indem sie sich über etwas in

einer Welt verständigen, mit

Interpretationen versorgen.

lungsfähig machen, also instand setzen, an Verständigungsprozessen teilzunehmen und dabei die eigene Identität zu behaupten.«55

Auf weitere Überlegungen der Habermas-schen Zwischenbetrachtung, wie die Darstel-lung der Verschränkungen zwischen der kultu-rellen Reproduktion, der sozialen Integration und der Sozialisation der Angehörigen einer Lebenswelt, die Analyse der entsprechenden Pathologien (kultureller Sinnverlust und Ori-entierungskrise, soziale Anomie und Desinte-gration, psychische Erkrankung und Entfrem-dung) sowie die Thematik »Rationalisierung der Lebenswelt«, die zur Theorie einer »Ent-koppelung von System und Lebenswelt«56 und in letzter Konsequenz zur Diagnose einer »Kolonialisierung der Lebenswelt«57 führt, möchte ich hier nicht weiter eingehen, son-

55 Ebd. S. 209.56 Ebd. S. 230. »System und Lebenswelt differen-zieren sich, indem die Komplexität des einen und die Rationalität der anderen wächst, nicht nur jeweils als System und als Lebenswelt – beide differenzieren sich gleichzeitig auch voneinander« (ebd.). – Zu diesem Abschnitt der Theorie gesellschaftlicher Evolution bei Jürgen Habermas vgl. Marcelo Neves: »System und Lebenswelt« in: Hauke Brunkhorst/Regina Kreide/Cristina Lafont (Hg.): Habermas­Handbuch, J. B. Metzler: Stuttgart 2009, S. 374–377.57 Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Band 2 (Fn. 43), S. 522. – Habermas stellt eindringlich die Frage, »ob nicht die Rationalisierung der Lebenswelt mit dem Übergang zur modernen Gesellschaft paradox wird: – die rationalisierte Le-benswelt ermöglicht die Entstehung und das Wachs-tum der Subsysteme, deren verselbständigte Impe-rative auf sie selbst destruktiv zurückschlagen« (ebd. S. 277).

dern vor allem den Stellenwert des Kulturel-len in diesem Theoriestück beleuchten. Mit »Kultur«ist in der Lebenswelttheorie Haber-mas’ nicht einfach »die Lebenswelt« als solche gemeint, die mehr oder weniger offenkundig als handlungs- oder theorieleitender » Hinter-grund« fungiert, sondern eine von drei Ver-mittlungsinstanzen lebensweltlicher Repro-duktion. In diesem Sinn stellt »die Kultur« sicher, »dass in der semantischen Dimension neu auftretende Situationen an die bestehen-den Weltzustände angeschlossen werden: sie sichert die Kontinuität der Überlieferung und eine für die Alltagspraxis jeweils hinreichend Kohärenz des Wissens«58. Ein kulturalistischer Begriff der Lebenswelt übersieht, dass diese kulturelle Verständigungs- und Kommuni-kationsfunktion mit den Prozessen der sozi-alen Integration und der Vergesellschaftung zusammenhängen;59 analog dazu kann der Lebensweltbegriff auch institutionalistisch oder sozialisationstheoretisch verengt werden, wenn entweder das Moment der sozialen Integrati-on oder der Ausbildung der eigenen Identität absolut gesetzt wird. Entscheidend ist hier, dass »Kultur« als lebensweltliche Instanz ein gesellschaftlicher Faktor ist und jegliche kul-turelle Auseinandersetzung unweigerlich auch eine gesellschaftliche ist. Fragen der »Kultur«

58 Ebd. S. 212.59 »Während die Interaktionsteilnehmer, ›der Welt‹ zugewendet, das kulturelle Wissen, aus dem sie schöpfen, durch ihre Verständigungsleistungen hindurch reproduzieren, reproduzieren sie zugleich ihre Zugehörigkeit zu Kollektiven und ihre eigene Identität« (ebd. S. 211).

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Franz Gmainer-Pranzl:

Interkulturelle Hermeneutik

ließe sich nicht nur enger mit

konkreten gesellschaftlichen

Fragen verbinden, sondern von

vornherein als Kommunika-

tionsprojekt begreifen ...

betreffen nicht bloß die innere Verfassung von Individuen, die ästhetische Gestaltung von speziellen Lebensbereichen oder bestimmte Symboliken einer Gruppe, sondern die Ver-mittlung von Wissen, den Zusammenhalt der Gesellschaft und die Gestaltung von Lebens-formen. Es gibt keine kulturelle Verständigung ohne die Gewährung gesellschaftlicher An­erkennung und die Behauptung persönlicher Identität – das ist eine der zentralen Einsichten und Konsequenzen der kommunikationstheo-retischen Rekonstruktion von »Kultur«, wie sie Habermas in diesem Abschnitt seiner Theo­rie des kommunikativen Handelns vorlegt. Gewiss besteht das ihn leitende Motiv nicht in der Suche nach interkultureller Verständigung als solcher, sondern vor allem in der Rehabilitati-on des Projekts Aufklärung und der Rettung eines »nicht-defätistischen Vernunftbegriffs« angesichts einer »Gegenaufklärung« und ei-ner »Kritik der Moderne«, die den Prozess der Rationalisierung der Lebenswelt als Ursa-che von Sinnkrisen und Orientierungsverlust ansieht.60 Der antikulturalistische Topos der Theorie des kommunikativen Handelns, der sich zusammen mit den Motiven einer kommuni-kativen Wahrheitstheorie und den Prinzipien von Anerkennung und Einbeziehung durch

60 In diesem Zusammenhang ist die Frage zu stel-len, ob Habermas hier nicht Problemstellungen der europäischen Gesellschaft einen selbstverständlichen Vorrang einräumt; zu dieser kritischen Rückfrage vgl. Dirk Jörge: »Jürgen Habermas: Das Vernunftpoten-tial der Moderne« in: Stephan Moebius/Dirk Qua-dflieg (Hg.): Kultur. Theorien der Gegenwart, VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden 2006, S. 491–502.

das gesamte Werk von Habermas zieht,61 könnte nicht nur ein wichtiges Korrektiv in der gegenwärtigen Kulturdebatte sein, son-dern auch für interkulturelles Philosophieren innovative Anstöße bringen. Interkulturelle Hermeneutik ließe sich nicht nur enger mit konkreten gesellschaftlichen Fragen verbin-den, sondern von vornherein als Kommunika-tionsprojekt begreifen, das die Herausforde-rungen von Verständigung, Anerkennung und Identität umfasst.

3. Zur Kritik der »kulturalistischen Vernunft«: Anstösse für inter-kulturelles Philosophieren

Als »kulturalistisch« bezeichnet Habermas Positionen, die »Gesellschaft« mit »Lebens-welt« identifizieren und dabei systemische Mechanismen wie etwa Geld und Macht ausblenden;62 er wirft einer »kulturalistisch vereinseitigten, verstehenden Soziologie«63

vor, von den Fiktionen einer Autonomie von 61 Dies zeigt sich etwa in Habermas’ Europa-Essay, in dem er (kulturalistische bzw. nationalistische) Konzepte staatlicher »Souveränität« kritisiert und die »Transnationalisierung der Volkssouveränität« durch (1) die demokratische Vergemeinschaftung freier und gleicher Rechtspersonen, (2) die Organi-sation kollektiver Handlungsfähigkeiten und (3) die Bürgersolidarität unter Fremden erläutert (vgl. Jür-gen Habermas: »Die Krise der Europäischen Union im Lichte einer Konstitutionalisierung des Völker-rechts. Ein Essay zur Verfassung Europas« in: ders.: Zur Verfassung Europas (Fn. 9), S. 39–96; hier S. 48f.).62 Vgl. Jürgen Habermas: Theorie des kommunika­tiven Handelns, Band 2 (Fn. 43), S. 275.63 Ebd. S. 224.

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Verständigung – Anerkennung – Identität

»Ich behaupte nicht, dass es

keine kulturellen Konflikte gibt,

aber ich meine, dass die größte

Bruchstelle in einer Gesellschaft

und zwischen verschiedenen

Gesellschaften weiterhin

die ökonomische ist – selbst

wenn soziale Konflikte immer

häufiger in einem kulturellen

oder religiösen Vokabular

ausgedrückt werden.«

Navid Kermani

Handelnden, der Unabhängigkeit von »Kul-tur« sowie einer gewaltfreien Kommunikati-on auszugehen – Unterstellungen, die erfol-gen, wenn eine aus gemeinsamen kulturellen Überlieferungen konstruierte »Lebenswelt« mit der Gesellschaft als solcher gleichgesetzt wird.64 Von daher könnte interkulturelles Phi-losophieren dann eine »kulturalistische« Ver-kürzung erfahren, wenn der Dialog zwischen unterschiedlichen Gesellschaften auf »rein kulturelle« Dimensionen beschränkt wird – was meistens zur Folge hat, dass soziale Kon-flikte, ökonomische Strukturen, politische Bedingungen oder Genderfragen keine Rolle spielen, obwohl ein »interkultureller Dialog« diese Aspekte des gesellschaftlichen Lebens in seinen Diskurs mit einbeziehen müsste. In diesem Zusammenhang spricht Berthold Oel-ze von den »Grenzen des Kulturbegriffs«65, welcher angesichts konkreter Probleme we-nig Erklärungspotenzial aufweist: »›Kultur‹ als Leitbegriff der Sozialwissenschaften kann leicht in Aporien einer ästhetisch-relativisti-64 »Eine ›verstehende Soziologie‹, welche die Ge-sellschaft in Lebenswelt aufgehen lässt, bindet sich an die Perspektive der Selbstauslegung der jeweils un-tersuchten Kultur; diese Binnenperspektive blendet alles, was auf eine soziokulturelle Lebenswelt von außen einwirkt, aus. Insbesondere die theoretischen Ansätze, die von einem kulturalistischen Lebenswelt-begriff ausgehen, verstricken sich in die Fehlschlüsse eines ›hermeneutischen Idealismus‹« (ebd. S. 223).65 Berthold Oelze: »Soziologie als Reflexion der Kultur« in: Christoph Barmeyer/Petia Genkova/Jörg Scheffer (Hg.): Interkulturelle Kommunikation und Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Wissenschaftsdiszi­plinen, Kulturräume, Karl Stutz: Passau 22011, S. 311–324; hier S. 317.

schen Weltanschauung führen und von sozia-len Problemen ablenken. Der kulturalistische Diskurs entlastet von den Fragen nach den Entstehungsbedingungen sozialer Ordnung und sozialen Handelns, nach Strukturen und Funkti­onen von Gesellschaft sowie nach Interessen und Machtverhältnissen, die die soziale Wirklichkeit bestimmen, und wirkt tendenziell entpoliti-sierend und entproblematisierend.«66 Haber-mas’ Gesellschaftstheorie, die mit den beiden Größen »System« und »Lebenswelt« arbeitet und den Prozess kultureller Reproduktion als einen von mehreren gesellschaftlich konstitu-tiven Faktoren ansieht, kann das vielgestaltige Projekt interkulturellen Philosophierens dazu herausfordern, sein Profil neu zu schärfen, damit nicht ein Kulturkonzept vorausgesetzt wird, »das beansprucht, Kultur nur ›kulturell‹ zu definieren«67. Die abschließenden Hinwei-se und Anstöße sind im Licht dieser »Kritik kulturalistischer Vernunft« zu verstehen.A Interkulturelles Philosophieren ist gesellschaftskritisch. Damit ist nicht bloß die Einsicht gemeint, dass die Reziprozität eines Diskurses zwischen unterschiedlichen Traditionen eine kritische Rückwirkung auf die jeweiligen (philosophischen/gesellschaft-lichen) Positionen hat, sondern dass Philo-sophie in interkultureller Orientierung von vornherein die »Krisis« der gesellschaftlichen

66 Ebd. S. 318.67 Raúl Fornet-Betancourt: »Die Debatte um den Kulturbegriff. Versuch einer Klarstellung aus der Sicht der interkulturellen Philosophie« in: Hamid Reza Yousefi u. a. (Hg.): Wege zur Kultur (Fn. 40), S. 67–76; hier S. 71.

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Franz Gmainer-Pranzl:

Interkulturelles Philosophieren

wird kulturalistische und ande-

re Festlegungen immer wieder

aufbrechen und solche politisch

verhängnisvollen Stereotypen

mit Blick auf die realen gesell-

schaftlichen Verständigungs-

und Aushandlungsprozesse

dekonstruieren.

Lebensrealität betrifft. In diesem Sinn ist etwa der Hinweis von Navid Kermani zu ver-stehen: »Ich behaupte nicht, dass es keine kul-turellen Konflikte gibt, aber ich meine, dass die größte Bruchstelle in einer Gesellschaft und zwischen verschiedenen Gesellschaften weiterhin die ökonomische ist – selbst wenn soziale Konflikte immer häufiger in einem kulturellen oder religiösen Vokabular ausge-drückt werden.«68 Die Wahrnehmung ihres gesellschaftskritischen Potenzials besteht für interkulturelles Philosophieren nicht darin, empirische Sozialtheorie zu treiben – denn Philosophie beansprucht, allen wissenschaft-lichen Ansätzen (auch sich selbst) gegenüber eine reflexive Distanz einzunehmen, die in keiner einzelwissenschaftlichen Perspektive aufgeht –, aber ihre polyloge Hermeneutik offen zu halten für Entwicklungen, die die ge-sellschaftlichen Lebensbedingungen in Frage stellen und auch verändern. Interkulturelles Philosophieren muss in diesem Sinn nicht eine professionelle Erklärung für die europäische Finanzkrise oder für sozialpolitische Heraus-forderungen der Migrationspolitik bieten, darf aber seinen Verständigungsdiskurs nicht grundsätzlich von solchen Fragen abkoppeln.69

68 Navid Kermani: Wer ist Wir? Deutschland und sei­ne Muslime, C. H. Beck: München 22010, S. 25.69 Vgl. Cecilia Maria Pinto Pires: »Interkulturelle Philosophie im Kontext einer Ethik der Solidarität. Sozialphilosophische Herausforderungen« in: poly-log Nr. 27 (2012) S. 41–51. – Mehrere Themenhefte von polylog greifen gesellschaftspolitisch relevante Themen auf; vgl. Nr. 6 (2000): Gerechtigkeit; Nr. 12 (2004): Das zweite Europa; Nr. 14 (2005): Menschen-rechte zwischen Wirtschaft, Recht und Ethik; Nr.

B Interkulturelles Philosophieren ist identitätskritisch. Angesichts vieler national, kulturell, ethnisch oder religiös er-zeugter »Identitäten«, durch die bestimmte Zuordnungen, Ein- und Ausgrenzungen, Festschreibungen und Gegensätze getroffen werden (ohne die Kontextualität solcher Iden-titätskonstruktionen wahrzunehmen), sieht es interkulturelles Philosophieren als ent-scheidende Aufgabe an, die Behauptung von »Identitäten« einem kritischen Polylog aus-zusetzen.70 Ein bekanntes, zutiefst erschüt-terndes Beispiel für eine – im wahrsten Sinn des Wortes – tödliche Identitätszuschreibung findet sich in Amartya Sens Buch Die Identi­tätsfalle. Sen erlebte als elfjähriges Kind wäh-rend der turbulenten Jahre vor dem Ende der britischen Kolonialherrschaft in Indien, wie ein blutüberströmter Mann (namens Kader Mia, wie sich später herausstellte) in den Gar-ten seines Elternhauses in Dhaka taumelte und einige Zeit darauf trotz intensiver Hilfe starb. Ursache seiner schweren Verletzungen war ein Überfall von Hindu-Schlägertrupps,

16: Gerechter Krieg?; Nr. 18 (2007): Weltzivilgesell-schaft; Nr. 23 (2010): Geld.70 Ich greife hier einige Überlegungen aus meinem Beitrag zur »Phänomenologie des Fremden« auf; vgl. Franz Gmainer-Pranzl: »Mit Fremden leben? Eine phänomenologische Auseinandersetzung mit einer unausweichlichen Frage« in: Raúl Fornet-Betan-court (Hg.): Das menschliche Zusammenleben: Probleme und Möglichkeiten in der heutigen Welt. Eine interkulturelle Annäherung. Dokumentation des IX. Internationalen Kon­gresses für Interkulturelle Philosophie (DID 32), Wissen-schaftsverlag: Aachen 2011, S. 187–213; bes. S. 195–197.

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Verständigung – Anerkennung – Identität

Interkulturelles Philosophieren

versteht sich deshalb aber nicht

als anti-modern, sondern ist auf

der Suche nach einer Moderne,

die nicht von einer »Kolonia-

lisierung von Lebenswelten«

geprägt ist.

die ihn zufällig auf der Straße entdeckten und ihn aufgrund seiner Identität als »Muslim« zu Tode prügelten. Diese Szene und die da-mit verbundene Logik, dass die Vielfalt der menschlichen Lebensbezüge und kulturellen, sozialen und religiösen Merkmale auf eine exklusive »(Gegen-)Identität« vereinheitlicht wurde, prägte sich dem jungen Sen unaus-löschlich ein: »Warum sollte jemand plötzlich umgebracht werden? Und warum von Leuten, die das Opfer nicht einmal kannten, das ih-nen also nichts getan haben konnte? Dass man Kader Mia als Menschen mit nur einer Iden-tität betrachten könnte, nämlich der des Mit-glieds einer ›feindlichen‹ Gemeinschaft, das man überfallen und nach Möglichkeit töten ›sollte‹, erschien unglaublich.«71 Was sich in dem von Amartya Sen geschilderten Erlebnis mit schlagartiger Grausamkeit ereignete, ge-schieht in jedem interkulturellen »Vergleich«, in dem »die Illusion einer einzigen Identität«72 erzeugt wird. Interkulturelles Philosophie-ren wird kulturalistische und andere Festle-gungen immer wieder aufbrechen und solche politisch verhängnisvollen Stereotypen mit Blick auf die realen gesellschaftlichen Ver-ständigungs- und Aushandlungsprozesse de-konstruieren.7371 Amartya Sen: Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt, C. H. Beck: München 2007, S. 181.72 Ebd. S. 183.73 Als wichtiges Beispiel für eine solche politisch höchst relevante Kritik von Identitätszuschreibungen

– als Reaktion auf Thilo Sarrazins Deutschland schafft sich ab – vgl. Hilal Sezgin (Hg.): Manifest der Vielen. Deutschland erfindet sich neu, Blumenbar: Berlin 2011.

C Interkulturelles Philosophieren ist globalisierungskritisch. Diese The-se klingt zunächst selbstverständlich, weist doch eine interkulturell sensible Kommuni-kation ein Problembewusstsein für die Dy-namik eines »expansiven Zentrismus«74 auf, der sein eigenes Selbstverständnis und damit verbundene Perspektiven und Methoden des Handelns hegemonial auszubreiten versucht. Die nach 1989 mit ungeheurer Schubkraft einsetzende kapitalistische Ökonomisierung vieler Lebensbereiche ist nicht bloß von je-ner Entwicklung gekennzeichnet, die Jürgen Habermas ein Jahrzehnt vorher als »weitge-hende Entkoppelung von System- und Sozial-integration«75 bezeichnet hatte, sondern von einer grundlegenden Verschiebung politischer Diskurse, die ein »Ende der Geschichte«76 suggeriert. »Globalisierung« wird, kurz gesagt, mit »Globalität« gleichgesetzt; eine politisch-ökonomische Expansionsstrategie mit konkreten Werten und gesellschaftlichen Zielen wird als »Reich der Freiheit«77 vorge-geben, als das, was angeblich alle Menschen

Die von Sarrazin propagierte Identitätsbildung ent-springt einem »Kulturbegriff, der Kultur als etwas vorstellt, dem man nicht entkommen kann, das an einem klebt, egal, wie man sich als Individuum ent-wickeln sollte […]« (Riem Spielhaus: »Neue Ge-meinschaften« in: ebd. S. 29–38, hier S. 32f.).74 Vgl. Franz Martin Wimmer: Interkulturelle Philo­sophie (Fn. 5), S. 54f.75 Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Band 2 (Fn. 43), S. 275.76 Vgl. Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? Kindler: München 1992.77 Ebd. S. 383.

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Franz Gmainer-Pranzl: Verständigung – Anerkennung – Identität

Gegen diese Identifizierung

einer partikularen ökono-

mischen Kultur mit dem An-

spruch von »Globalität« erhebt

interkulturelles Philosophieren

kritischen Einspruch

erstreben. Gegen diese Identifizierung einer partikularen ökonomischen Kultur mit dem Anspruch von »Globalität« erhebt interkultu-relles Philosophieren kritischen Einspruch.78 Die »Einbeziehung des/der Anderen« nötigt interkulturelles Philosophieren dazu, vor-gegebene »Universalitäten« kritisch zu hin-terfragen und einen »polyphonen Prozess, in dem die Abstimmung und Harmonie der verschiedenen Stimmen durch den konti-nuierlichen Kontrast zum anderen und dem kontinuierlichen Lernen aus seinen Einsichten und Erfahrungen stattfinden«79, zu initiie-ren. In diesem Sinn ist interkulturelles Phi-losophieren globalisierungskritisch, weil es global orientiert ist; es versteht sich deshalb aber nicht als anti-modern, sondern ist auf der Suche nach einer Moderne, die nicht von

78 »Nicht grundlos wird Globalisierung primär mit Finanzmärkten und neoliberaler Expansion assozi-iert: Konsumtion und Kommodifizierung durchdrin-gen alle Lebenswelten im Millenniumskapitalismus […]« (Eva-Maria Knoll/Andre Gingrich/Fernand Kreff: »Globalisierung« in: dies. [Hg.]: Lexikon der Globalisierung, transcript: Bielefeld 2011, S. 126–129; hier S. 127.79 Raúl Fornet-Betancourt: Lateinamerikanische Philosophie zwischen Inkulturation und Interkulturalität (DID 1), IKO: Frankfurt 1997, S. 103.

einer »Kolonialisierung von Lebenswelten« geprägt ist, sondern von einem möglichst inklusiven, reziproken und fairen Mitei-nander unterschiedlicher Akteure.80 Ent-sprechend dieser polylogen Einstellung wird interkulturelles Philosophieren in Zukunft noch mehr als Teil eines globa-len Lernprozesses, in den unterschiedliche Gesellschaften und Traditionen mit ihren sozia len, ökonomischen, kulturellen und religiösen Identitäten eintreten, wahrge-nommen werden. Dies könnte »eine Fort-setzung des Programms der Aufklärung mit anderen Mitteln«81 sein, wie sie – nicht zuletzt in kritischer Anknüpfung an die Kommunikationstheorie von Jürgen Haber-mas – mit Blick auf globale Fragestellungen der Gegenwart erforderlich wäre.

80 Vgl. Jessé Souza: »Für eine kritische Modernisie-rungstheorie« in: Axel T. Paul/Alejandro Pelfini/Bo-ike Rehbein (Hg.): Globalisierung Süd (Leviathan. Zeit-schrift für Sozialwissenschaft, Sonderheft 26), VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden 2011, S. 405–428.81 Franz Martin Wimmer: Interkulturelle Philosophie (Fn. 5), S. 49.