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Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte VI. Englische Vorherrschaft 1 VI. Die englische Vorherrschaft um 1850 Provisorischer Text 1. England als erste Industrienation ....................................................................................... 1 1.1. Die Folgen der industriellen Revolution ......................................................................... 1 1.2. Demographischen, ökonomische und soziale Merkmale Grossbritanniens um 1850 ..... 4 1.2.1. Bevölkerungsentwicklung ........................................................................................ 4 1.2.2. Im wirtschaftlichen Bereich verändert sich die relative Bedeutung von Landwirtschaft, Dienstleistungen und Industrie, inklusive Manufakturen ........................ 4 1.2.3. Soziale Konsequenzen der industriellen Revolution (vor allem England) .............. 7 2. Der Rückstand Europas und der Welt ............................................................................. 13 2.1. Ländervergleich (Frankreich und England, England und Indien) ................................. 13 2.2. Frankreich und England ................................................................................................ 14 2.2.1 Der Aussenhandel ................................................................................................... 14 2.2.2 Das Steuersystem .................................................................................................... 15 2.2.3. Schlechte Rohstoffausstattung Frankreichs ........................................................... 15 2.2.4. Die einmal erreichte englische Überlegenheit verstärkte sich kumulativ .............. 15 2.2.5. Frankreich ist lange ein eigentlicher Agrarstaat geblieben .................................... 16 3. England und Indien............................................................................................................ 17 3.1. Die ursprünglichen englisch-indischen Handelsbeziehungen ....................................... 17 3.2. Der Einfluss der industriellen Revolution in England auf die indischen Verhältnisse . 20 (Asselain 1991, Kapitel I, mit Ergänzungen) 1. England als erste Industrienation 1.1. Die Folgen der industriellen Revolution Das Jahr 1850 bildete den Höhepunkt der englischen Dominanz in Europa und in der Welt. Zeugnis dieser Überlegenheit war eine grosse Ausstellung von Maschinen und Industrieanla-

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Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte VI. Englische Vorherrschaft

1

VI. Die englische Vorherrschaft um 1850

Provisorischer Text

1. England als erste Industrienation ....................................................................................... 1

1.1. Die Folgen der industriellen Revolution ......................................................................... 1

1.2. Demographischen, ökonomische und soziale Merkmale Grossbritanniens um 1850 ..... 4

1.2.1. Bevölkerungsentwicklung ........................................................................................ 4

1.2.2. Im wirtschaftlichen Bereich verändert sich die relative Bedeutung von

Landwirtschaft, Dienstleistungen und Industrie, inklusive Manufakturen ........................ 4

1.2.3. Soziale Konsequenzen der industriellen Revolution (vor allem England) .............. 7

2. Der Rückstand Europas und der Welt ............................................................................. 13

2.1. Ländervergleich (Frankreich und England, England und Indien) ................................. 13

2.2. Frankreich und England ................................................................................................ 14

2.2.1 Der Aussenhandel ................................................................................................... 14

2.2.2 Das Steuersystem .................................................................................................... 15

2.2.3. Schlechte Rohstoffausstattung Frankreichs ........................................................... 15

2.2.4. Die einmal erreichte englische Überlegenheit verstärkte sich kumulativ .............. 15

2.2.5. Frankreich ist lange ein eigentlicher Agrarstaat geblieben .................................... 16

3. England und Indien ............................................................................................................ 17

3.1. Die ursprünglichen englisch-indischen Handelsbeziehungen ....................................... 17

3.2. Der Einfluss der industriellen Revolution in England auf die indischen Verhältnisse . 20

(Asselain 1991, Kapitel I, mit Ergänzungen)

1. England als erste Industrienation

1.1. Die Folgen der industriellen Revolution

Das Jahr 1850 bildete den Höhepunkt der englischen Dominanz in Europa und in der Welt.

Zeugnis dieser Überlegenheit war eine grosse Ausstellung von Maschinen und Industrieanla-

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gen, die 1851 im Londoner Quartier Crystal Palace stattfand; England galt damals als die

Werkstatt der Welt; man konnte sich nicht vorstellen, dass ein Industrieprodukt anderswo als

in England hergestellt werden konnte; noch etwa um 1955 sagte ein Schweizer (Walliser)

Mechaniker stolz von seinem Schraubenschlüssel: es ist ein „Engländer“, das Beste, das es

gibt!

[Die weltbeherrschende Stellung Englands leitete die fast absolute europäische Domina-

tion ein, vor allem getragen vom Britischen Imperium, Deutschland und Frankreich, die bis

zum Ersten Weltkrieg 1914 dauerte; Russland und Japan spielten auch ein wichtige Rolle;

zwei weitere Grossmächte, das Osmanische Reich und Österreich-Ungarn, waren auf dem

langsamen Abstieg begriffen und beide gingen 1918/19 unter. - In der Zwischenkriegszeit

traten die USA neben die Vormachtstellung Europas, immer noch bestehend aus dem Briti-

schen Imperium, Deutschland und Frankreich. - Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die USA

und die Sowjetunion bis 1990 dominiert, dann waren die Vereinigten Staaten bis zur Wirt-

schaftskrise von 2007/08 kurz alleinige Weltmacht. Jetzt scheint sich eine multipolare Welt-

ordnung mit verschiedenen Machtblöcken herauszubilden: China, Indien, Brasilien (plus Ar-

gentinien und Mexiko und somit Lateinamerika, USA (eventuell plus Kanada) und eventuell

Eurasien (Europa und Russland); dazu könnten hinzukommen: der Mittlere Osten und Nord-

afrika unter Führung der Türkei. Japan und Indonesien können sich bestimmten Blöcken an-

schliessen.]

Die Bedeutung der englischen Wirtschaft auf Weltebene stand um 1850 in keinem Ver-

hältnis zur Grösse des Landes: 8% der europäischen Bevölkerung und 2% der Bodenfläche

Europas.

Der Baumwollverbrauch in England war drei Mal höher als in den drei nächstbedeuten-

den „Textilnationen“ zusammengenommen: Frankreich, Deutschland und Österreich-Ungarn.

Kohlenproduktion: 50.2 Mio. Tonnen im Jahre 1850 in England; 15,3 Mio. Tonnen für

Frankreich, Deutschland und Belgien zusammengenommen.

Eisen: England erbringt mehr als die Hälfte der Weltproduktion. Englische Eisenexporte

übertreffen die Produktion Frankreichs, Deutschlands, Österreichs und Belgiens zusammen-

genommen.

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Von zentraler Bedeutung ist die Struktur des Aussenhandels, die, erstens, den externen

Entwicklungsmechanismus andeutet; auch angedeutet wird, zweitens, die langsam entstehen-

de weltwirtschaftliche Arbeitsteilung: England wird immer mehr Industrieland, überseeische

Gebiete werden Primärgüterproduzenten (Rohstoffe, Energieträger, landwirtschaftliche Pro-

dukte).

Englische Handelsbilanz 1825:

Importe Exporte

Rohstoffe 64% 4%

Manufakturprodukte 9% 85%

1825: GB fühlt sich zu diesem Zeitpunkt stark genug, um das Exportverbot für Maschi-

nen aufzuheben! Dieses Verbot wurde zum Schutz einheimischer Technologie eingeführt, um

zu verhindern, dass andere Länder Maschinen produzieren, was ihre Industrialisierung be-

schleunigt hätte. Auch bestand die Gefahr, dass andere Länder eventuell Maschinen nach

England exportiert hätten.

1846: Abschaffung der „Korngesetze“ (Corn Laws), die die englische Landwirtschaft

schützten: die Zölle wurden automatisch angehoben, sobald im Inland die Preise sanken, also

Überproduktion bestand. Mit der Abschaffung der Corn Laws wollte England die entstehende

neue Weltwirtschaftsordnung stärken: England würde immer mehr Industrieprodukte produ-

zieren und zum Teil exportieren und im Gegenzug vermehrt landwirtschaftliche Produkte

(und Rohstoffe) importieren.

1849: Abschaffung der Navigationsakte (alle Güter, die von England importiert und ex-

portiert wurden, mussten von englischen Schiffen transportiert werden). Die Navigationsakte

sicherte England ein Quasi-Monopol für den Seehandel.

England konnte sich diese Abschaffung leisten, denn 1850 betrug der englische Anteil an

der Welttonnage 60%! Die nächst grösste Flotte, die französische, war fünf Mal kleiner.

(In diesem Zusammenhang kann man eine allgemeine Regel festhalten: wirtschaftlich

schwache Länder mit hohen Durchschnittskosten für ihre Produkte tendieren zum Protektio-

nismus, wirtschaftliche starke Länder (niedrige Durchschnittskosten) propagieren dagegen

Freihandel.)

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[Die heutige Weltwirtschaftsordnung und die Grossmächte, die diese durchsetzen, zwingt

vielfach schwachen Ländern den Freihandel auf, der damit die Handelspolitik des wirtschaft-

lich Stärkeren wird. Die Industrie der schwachen Länder wird an die Wand gedrängt und den

starken Ländern geht es immer besser. So entstehen immer grössere Reichtumsunterschiede

zwischen Ländern und Regionen. In den schwachen Ländern gehen die Steuereinnahmen zu-

rück, Budgetdefizite entstehen und die Verschuldung steigt (gegenwärtiges Beispiel Südeuro-

pa). Allerdings wird in einer allgemeinen Krisensituation auch in wirtschaftlich starken Län-

dern wie Deutschland die Verschuldung zunehmen.]

1.2. Demographischen, ökonomische und soziale Merkmale Gross-britanniens um 1850

(diese Merkmale sind typisch für alle Länder, die sich industrialisieren.)

1.2.1. Bevölkerungsentwicklung

Die demographische Transformation findet in GB etwa ab 1750 statt:

* GB hat 1851 um die 21 Mio. Einwohner (ohne Irland); das bedeutet eine Verdreifa-

chung seit 1750!

* Der Geburtenüberschuss beträgt 1851 gute 2%:

3,6% (Geburtenrate) ÷ ~1,5% Sterberate

* Nach der industriellen Revolution setzt eine rasche Urbanisierung ein:

Im Jahre 1780 lebten 20% der Bevölkerung in Städten mit mehr als 5000 Einwoh-

nern; 1841 waren es bereits 60% der Bevölkerung!

1.2.2. Im wirtschaftlichen Bereich verändert sich die relative Bedeutung von Landwirtschaft, Dienstleistungen und Industrie, inklusive Manufak-turen

* Landwirtschaft

1851 nur noch 22% der aktiven Bevölkerung arbeiten in diesem Sektor; vor der industri-

ellen Revolution (1770) waren es 70-80 und mehr %, je nach Land.

* Dienstleistungssektor

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Wichtig: um 1840 herum stellen allein Dienstboten (Mägde, Knechte, Butler) 12 – 15%

der Arbeitsbevölkerung dar.

Problem: Der Industriesektor vermag das rasch wachsende Arbeitskräfteangebot nicht zu

absorbieren. Der Dienstleistungssektor dient als Auffangbecken.

[Heute werden auch in hoch entwickelten Industrieländern, z.B. in den USA, im Dienst-

leistungssektor z.T. schlecht bezahlte Arbeitsplätze geschaffen. Damit verminderte sich die

Arbeitslosigkeit, aber die Zahl der ‚working poor‘ nimmt zu: Leute, die arbeiten, aber das

Existenzminimum nicht erreichen und deshalb von Sozialhilfe abhängig sind. Allerdings muss

man auch sagen, dass heute im Dienstleistungssektor sehr viele hochwertige Arbeitsplätze

geschaffen werden (z.B. Banken und Versicherungen, Informatik - Software, Tourismus).]

*Manufakturen & Handwerk

Hier herrschen um 1850 weiterhin traditionelle Produktionsmethoden vor, z.B. bei der

Verarbeitung von HOLZ und LEDER, in der BANKBRANHCE sowie in bestimmten Berei-

chen der Konsumgüterherstellung (z.B. Bäckereien).

* Industrie (Fabrik)

Die Fabrik steht für den modernen Sektor; zwei Bereiche dominieren absolut:

1) Metallindustrie

- Eisenindustrie (Metallindustrie)

- Maschinenindustrie (Metallverarbeitung)

2) Textilindustrie

- Spinnen

- Weben

[Diese beiden Industriebereiche machen also um 1850 herum die Stärke Englands aus.

Bis zum Ersten Weltkrieg (1914) hat England versucht, seine Vorherrschaft in Metall- und

Textilindustrie zu erhalten und hat so den Anschluss an neu aufkommende Industrien teilwei-

se verpasst, z.B. Chemische Industrie (hier wurden Deutschland und die Schweiz führen) und

Automobilindustrie (neben den USA (Ford) übernahm hier Frankreich (Peugeot) die Führung

in Europa bis 1914).]

1) In der Metallindustrie waren um 1850 nur 6% der Industriearbeiter in der Eisenindustrie,

die Grundlage ist für die weit wichtigere Maschinenindustrie (20% der Industriearbeiter).

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Die „Produktions-Explosion“ in der Roh-Eisen-Produktion in England ist ein wichtiges

Indiz für das Faktum der Industriellen Revolution [natürlich, wenn man Indexzahlen für die

Weltproduktion von Eisen und anderen Gütern betrachtet, wie das einige Autoren tun, hat

scheinbar keine Industrielle Revolution stattgefunden; das ist aber eine völlig falsche Betrach-

tungsweise!].

In tausend Tonnen: ~1760: 20 – 26, 1788: 61, 1806: 235, 1830: 630, 1850: 2250 (2,25

Mio. Tonnen); d.h. die Eisenproduktion war in England um 1850 herum hundert Mal grösser

als um 1760!

2) Textilindustrie

Hier waren um 1850 herum 60% der Industriearbeiter beschäftigt.

Entwicklungsindikator: Importe an Rohbaumwolle in 1000 Tonnen (auch ein Indikator

für die Explosion der Industrieproduktion in England):

1770: 1,5, 1800: 24, 1825: 76, 1850: 267

* In der wirtschaftlichen Entwicklung Englands bis 1914 haben die Exporte eine besondere

Bedeutung. Die Wirksamkeit des Exportmultiplikators ist deutlich ersichtlich (Anstieg der

Exportquote: X/Q).

1770, also gerade vor der Industriellen Revolution betrug die Exportquote X/Q etwa 8%;

dann Anstieg bis zu den Revolutionskriegen (1790-1815). Die Exporte wirken als Entwick-

lungsmotor (ein Anstieg der Exportquote X/Q bedeutet, dass die Wachstumsrate der Exporte

(X) grösser ist als die Wachstumsrate des Sozialprodukts (Q)!).

Von 1800-15: starker Rückgang von X/Q (Napoleon verhängt die Kontinentalsperre:

keine englischen Industrieprodukte dürfen nach dem europäischen Kontinent exportiert wer-

den! Das gibt den kontinentaleuropäischen Ländern eine Verschnaufpause und ermöglicht

Industrialisierungsanfänge auf dem Kontinent, weil die englische Konkurrenz ausgeschaltet

ist! Russland hielt sich nicht voll an die Kontinentalsperre; dies bildete den Hauptgrund für

den Russlandfeldzug Napoleons 1812.)

Der Rückgang der ausländischen Nachfrage (die englischen Exporte (X) gehen zurück)

wird aber kompensiert durch steigende Staatsnachfrage in England (die Staatsausgaben G

steigen stark an): Waffenproduktion, auch Waffenlieferungen an Verbündete. [Nach dem

Friedensschluss 1815 (Wiener Kongress) gehen die Staatsausgaben (Waffenproduktion) stark

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zurück. Dies löst eine schwere Krise aus (Rückgang des Sozialproduktes Q und der Beschäf-

tigung N; die Arbeitslosigkeit steigt an. Arbeiterunruhen und Arbeiterversammlung kommen

zustande - von besonderer Wichtigkeit ist Peterloo 1819!]

Wichtig: 1831 betrug die Exportquote X/Q 7%, lag also unter dem Stand von 1770

(8%)! (Die Wirkung der Kontinentalsperre muss dramatisch gewesen sein, denn gleichzeitig

(ab etwa 1810) nahmen die Textilexporte nach Indien sehr stark zu!)

1851 war die Exportquote X/Q wieder auf 12%.

Dann erfolgte ein ständiger Anstieg von X/Q bis 1914: Die Exporte waren Entwick-

lungsmotor. Die Wachstumsrate der Exporte überstieg die Wachstumsrate des Sozialprodukts

(gX > gQ). Der externe Entwicklungsmechanismus mit dem Exportmultiplikator war wirksam!

Jedoch war die Struktur der Exporte sehr einseitig: 80% der Exporte entfielen nämlich

auf (1) Maschinen und Werkzeuge sowie auf (2) Textilien, die beiden Motoren der industriel-

len Revolution. Diese einseitige Ausrichtung der Exporte hat dann nach dem Ersten Weltkrieg

zu einer ständigen Schwächung der englischen Aussenhandelsposition geführt. Dafür gab es

zwei Hauptgründe. Einmal, musste England nicht wirklich um Märkte kämpfen, wie z.B.

Deutschland und die Schweiz, weil es in seinen Kolonien und abhängigen Gebieten gesicherte

Absatzmärkte hatte. Zweitens, hatte England den Anschluss an moderne Entwicklungen

(Chemie, Automobilherstellung) zum Teil weitgehend verloren. England hatte sich zu stark

auf seine traditionellen Stärken abgestützt.

1.2.3. Soziale Konsequenzen der industriellen Revolution (vor allem Eng-land)

* Im 19. Jh. bildet sich in England eine bestimmte soziale Struktur heraus, die eng mit der

politischen Struktur verbunden war

1) Grundbesitzer, vorwiegend Adel und traditionelle Grossbürger; Angehörige der

Anglikanischen Hochkirche; aber auch im Finanzbereich in der City of London täti-

ge Bürger und Angehörige des Kleinadels (Gentlemanly Capitalism, Cain and Hop-

kins). Politisch gehören diese sozialen Gruppen den Tories (Konservative) an. Die

Tories sind sozusagen die Partei des Ancien Régime.

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2) Kapitalisten, kleinere, mittlere und grössere Industrielle: Fabrikbesitzer (Industrie-

bürger), auch Ingenieure und fortschrittliche Bürger im allgemeinen (Bildungsbür-

gertum). Diese sozialen Gruppierungen gehören in der Regel den Whigs an (Libera-

le). Die Whigs sind die Partei des Fortschritts, vor allem des wirtschaftlichen und

wissenschaftlichen Fortschritts.

3) Arbeiter, sind vorwiegend unqualifiziert (Anhängsel der Maschine!); lange ange-

führt von Intellektuellen, die aus bürgerlichen Kreisen stammten; von zentraler Be-

deutung war die Fabian Society, aus der 1906 die Labour Party entstand.

Die Klassifikation ist eine Vereinfachung:

- Es gibt qualifizierte Arbeiter, z.B. Handwerker, die zum Teil selbständig sind

- Auch gibt es bürgerliche Grundbesitzer, wenige adelige Fabrikbesitzer und Bankiers

- Bürger (vor allem Grossbürger) und Adelige sind Staatsbeamte, Offiziere und poli-

tisch tätige (Parlamentarier, Mayors - Bürgermeister - Stadtpräsidenten)

Entwicklungstendenzen:

- Langfristig gewinnt das Bürgertum auf Kosten des Adels immer mehr an Bedeutung.

Industrieprofite werden gegenüber den Landrenten immer wichtiger, vor allem nach

der Abschaffung der Getreidezölle (Korngesetze) im Jahre 1846 (die Landwirtschaft

wird zum Teil der Industrie geopfert, eine allgemeine Tendenz in hochentwickelten

Industrienationen).

- Jedoch bleibt der Landbesitz zentral für den sozialen Status. Für die Bürger bedeutet

der Erwerb von Land einen sozialen Aufstieg in Richtung Adel.

[Das englische Parteienschema hat sich mit Variationen allmählich auch auf dem europä-

ischen Kontinent herausgebildet. So bildeten sich in der Schweiz die Parteien der Freisinni-

gen-Radikalen-Liberalen, der Katholisch-Konservativen (jetzt Christlich-demokratische

Volkspartei) und der Sozialdemokraten heraus. Nach dem Ersten Weltkrieg sind zu den (re-

formerischen) Sozialdemokraten die (revolutionären) Kommunisten hinzugekommen. Mit

dem Zusammenbruch des Sozialismus in Osteuropa und der Sowjetunion hat sich die europäi-

sche Parteienlandschaft gewandelt. So sind mit dem Einsetzen von krisenhaften Erscheinun-

gen in Europa die Rechtsparteien erstarkt, z.B. in der Schweiz die Schweizerische Volkspartei

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(SVP). Die Sozialdemokraten sind vor allem in Deutschland und England eher bürgerliche

Parteien geworden.]

* Die Lage der Arbeiter ist im England des 19. Jh. prekär, vor allem in der ersten Jahrhun-

derthälfte:

Wieso?

1) Arbeitslosigkeit ist permanent vorhanden, schwankt mit der Konjunkturbewegungen

(Kondratiev- und Juglarzyklen)

Gründe dafür:

a) Das Bevölkerungswachstum führt zu steigendem Arbeitsangebot.

b) Am wichtigsten sind Schwankungen der effektiven Nachfrage im Zusammen-

hang mit dem internen oder externen Entwicklungs-Mechanismus; zwar gibt es

keine Zahlen, aber man weiss, dass in heutigen Entwicklungsländern die Ar-

beitslosigkeit im Durchschnitt 20-40% (und mehr!) beträgt. Das Internationale

Arbeitsamt schätzt, dass weltweit von 3 Milliarden Arbeitsfähigen etwa eine

Milliarde unfreiwillig unterbeschäftigt oder total arbeitslos ist.

[ILO World Employment Report 1998-99 (from Wikipedia):

GENEVA (ILO News) - The number of unemployed and underemployed work-

ers around the world has never been higher and will grow by millions more be-

fore the end of the year as a result of the financial crisis in Asia and other parts

of the world, says the International Labour Office (ILO) in its latest World Em-

ployment Report * issued today in Geneva [September 24, 1998].

“The global employment situation is grim, and getting grimmer,” says Mr.

Michel Hansenne, Director General of the ILO. “The world financial crisis has

put immense pressure on globalization, and we fear that many governments

may begin turning their backs on much needed economic reforms. But globali-

zation per se is not the problem.”

Noting that beyond the current financial turmoil, many countries are suffering

from long-term employment problems that can be solved only through the

combined action of governments, trade unions and employer organizations, Mr.

Hansenne says: “Among measures to increase competitiveness, growth and em-

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ployment in a globalizing world economy, the critical role of a high-quality,

educated and skilled workforce must gain more prominence.”

Among the highlights of the World Employment Report:

Some one billion workers – one third of the world’s labour force – remain

unemployed or underemployed, a figure that is largely unchanged from

ILO estimates contained in its World Employment Report 1996-97]

Vermutlich hat sich die Arbeitslosensituation in der Krise, die 2007/08 einge-

setzt hat, noch verschärft.

c) Strukturveränderungen im Zusammenhang mit dem technischen Fortschritt.

Beispiel: Um 1790 steigen die Löhne für Weber auf 15 sh./Woche. Grund:

Fortschritte in der Spinntechnik führen zu einem hohen Garnangebot. Es

kommt zu einem Mangel an Webern.

Ab 1790 setzt sich der mechanische Webstuhl rasch durch. Die Löhne für We-

ber sinken auf 6 sh./Woche um 1800 und gehören fortan zu den niedrigsten.

Viele Weber wurden arbeitslos, freigesetzt durch technischen Fortschritt.

2) Die Arbeitslosigkeit drückt auf die Reallöhne, vor allem im landwirtschaftlichen

Sektor: hier sanken die Löhne (Nominallöhne) um die 25% zwischen 1815 und

1850.

Allgemein blieb der durchschnittliche Reallohn zwischen 1750 – 1820 etwa gleich.

Von 1820-50 war jedoch eine durchschnittliche Zunahme von 2% p.a. zu verzeich-

nen. 1820 war die Zeit eines Kondratiev-Abschwungs. Die Arbeitslosigkeit nahm

zweifellos zu; wahrscheinlich gewährleistete das verfügbare Einkommen in vielen

Fällen nicht einmal das physische Überleben (es gab ab 1815 Hungeraufstände -

1819 Peterloo!). Für die Beschäftigten stiegen jedoch die Reallöhne w (w = wG / p):

Die Preise für lebensnotwendige Konsumgüter (p) sanken in der Krise schneller als

die Geldlöhne (wG)! [Dieses Phänomen konnte man auch in der Weltwirtschaftskrise

der 1930er Jahre beobachten. Maynard Keynes erwähnt es in seiner General Theory

of Employment, Interest and Money ausdrücklich. Er sagt, dass die steigenden Real-

löhne Resultat der Arbeitslosigkeit und der rückläufigen effektiven Nachfrage seien

und dass nicht die höheren Reallöhne (w) Ursache für die Arbeitslosigkeit seien. Der

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gleiche empirische Sachverhalt kann also unterschiedlich interpretiert werden. Des-

halb ist die Theorie primär und grundlegend, nicht die Empirie.]

3) Allerdings verstärken sich die Lohndifferenzen, vor allem zwischen qualifizierten

und unqualifizierten Arbeitern. Alle Ungleichheitsindikatoren weisen eine zuneh-

mende Tendenz auf: z.B. 10% der Arbeiter mit dem höchsten Einkommen erhalten

28% der Gesamtlohneinkommen 1827, 34% der Gesamtlohneinkommen 1851.

4) Frauenstundenlöhne betragen 35 – 40% der Männerlöhne.

Kinderlöhne belaufen sich auf 2% der Männerlöhne.

Allerdings hatten Frauen und vor allem Kinder leichtere Arbeiten auszuführen.

Die Lage der Arbeiter wird weiter verschärft durch:

5) Lange Arbeitszeiten, bis zu 15 – 18 Stunden.

6) Zunehmende Risiken wegen konjunktureller und struktureller Arbeitslosigkeit.

7) Sehr schlechte hygienische Verhältnisse in den Industriestädten, z.B. wegen teilwei-

se fehlenden Abwasserkanälen. In Liverpool betrug die Sterblichkeitsrate um 1840-

50 etwa 40% p.a., die Geburtenrate ungefähr 30% p.a.

D.h., die Grossstädte vermögen ihr Bevölkerung nicht zu erneuern und sind auf den

Zustrom von Landbewohnern angewiesen. Die prekäre Lage der Arbeiter führte zur

Schaffung des

Armenhaussystems:

Problem: Trotz Frauen- und Kinderarbeit hängt ein bedeutender Teil der Bevölkerung

von Armenunterstützung ab, weil die Löhne die Existenz nicht sichern. Es wird deshalb er-

gänzend zum Lohn eine Armenunterstützung bezahlt: Der Staat definiert einen Mindestlohn

und bezahlt die Differenz zwischen tatsächlich bezahltem Lohn und Mindestlohn. Dieses Sys-

tem bewirkt, dass die Löhne auf ein sehr niedriges Niveau sinken, sogar gegen Null tendieren!

Das ermöglicht es den Unternehmern die Exporte zu steigern, weil die Preise für Exportgüter

sehr niedrig werden. Trotzdem können die Unternehmer wegen den sehr niedrigen Löhnen

hohe Gewinne erzielen. [Daniel Defoe hatte um 1720 herum dieses Vorgehen als unsinnig

bezeichnet: sehr niedrige Löhne führen dazu, dass im Inland produzierte Güter zu Niedrigst-

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preisen auf den Weltmärkten verschleudert werden. Die Unternehmer werden zwar reich, aber

die Arbeiter verelenden, meinte Daniel Defoe. Heute geschieht Ähnliches in bestimmten

Transitionsländern wie China, Indonesien, Indien und anderen.]

Für die Arbeiter war dieses System ausserordentlich entwürdigend: Sie arbeiteten hart,

bezogen äusserst niedrige Löhne, die ihre Existenz und die ihrer Familien nicht sicherten, und

wurden so von Sozialhilfe abhängig, wurden also zu „working poor“ [die heute auch wieder

zunehmen]. Die Arbeitsdisziplin der working poor liess nach. Deshalb wurden die Arbeiter

und ihre Familien in ein Armenhaus eingewiesen. Die Disziplin wurde durch strikte Ordnung

aufrechterhalten, wie in einer Kaserne: Am Abend mussten die Arbeitstruppen einrücken, am

Morgen früh wieder ausrücken. (Charles Dickens beschreibt in seinem Oliver Twist das Leben

im Armenhaussystem).

Das Armenhaussystem wurde1723 eingeführt und 1834 aufgehoben. Es wurde ersetzt

durch das Arbeitsrecht, das allmählich aufgrund der Berichte von Fabrikinspektoren einge-

richtet wurde. Die Fabrik- und Sozialgesetze waren eine Art Selbstschutz der Gesellschaft,

um die übermässige Ausnutzung der Arbeiter zu verhindern (Polanyi 1977/1944, p. 112).

Die prekäre Lage der Arbeiter in England hat sich mit der Industrialisierung auf den eu-

ropäischen Kontinent übertragen. Dadurch ist die Arbeiterfrage oder die Soziale Frage ent-

standen, mit der sich nicht nur die Politik und die Sozialwissenschaften auseinandergesetzt

haben, sondern auch die Kirchen. So hat sich die Katholische Kirche seit der Mitte des 19. Jh.

mit der Sozialen Frage beschäftigt. Papst Leo XIII. hat dann 1891 in der Enzyklika „Rerum

Novarum“ [Die neuen Verhältnisse] offiziell zur Arbeiterfrage Stellung bezogen. In England

war die sozialphilosophische Strömung des Sozialen Liberalismus wichtig, die unter anderen

von L.T. Hobhouse vertreten wurde. Hobhouse stellte die Frage nach den sozialen Grundla-

gen, die es allen Mitgliedern einer Gesellschaft ermöglichen würden ein „refined and noble

life“ (Alfred Marshall) zu führen. Maynard Keynes (1883-1946) ist als Student in den Jahren

1902-1906 von Hobhouse u.a. stark beeinflusst worden. Sein Leben lang war Keynes auf der

Suche nach einer Alternative zum traditionellen Liberalismus, realisiert durch den Kapitalis-

mus (keine Staatseingriffe in die Wirtschaft), und dem Sozialismus (durch den Sowjetkom-

munismus verwirklicht). In seinen Schriften hat er die Sozialphilosophie des Sozialen Libera-

lismus ausgebaut und zusammen mit dem italienischen Ökonomen Piero Sraffa die Grundla-

gen für das theoretische System der Klassisch-Keynesianischen Politischen Ökonomie gelegt.

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Dieses Theoriensystem bildet eine Alternative zur neoliberalen Neoklassik und zur Politi-

schen Ökonomie des Sozialismus.

2. Der Rückstand Europas und der Welt Um 1850 kommt ein einziges kontinentaleuropäisches Land an England heran: Belgien, das

durch die Textilmanufakturen im Mittelalter die erste „Industrieregion“ Europas war (Brügge,

Gent!). Frankreich und die Schweiz liegen weiter zurück, noch mehr Deutschland, noch vor-

wiegend Agrarland. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erstreckt sich der Industri-

alisierungsprozess auf weite Teile Europas. Die Schweiz hat sich sehr gut in die europäische

Maschinenbautradition eingefügt. Gründe: Das Söldnerwesen hat zur Aneignung von techni-

schem Know-how geführt. Die Gründung der ETH Zürich 1855, die dichte und ausgewogene

Bildungs- und Ausbildungsstruktur (ETH - universitäres Niveau (Konzeption), Technische

Hochschulen (Prototypen), Handwerk (qualitativ sehr hoch stehende Produktion); kaufmänni-

sche Schule; Wirtschaftsgymnasien; wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Fakultäten). So

ist die Schweiz durch Spitzenqualität zu einer der führenden Exportnationen für hochwertige

Produkte geworden.

2.1. Ländervergleich (Frankreich und England, England und Indien)

Der Genfer Wirtschaftshistoriker Paul Bairoch erarbeitete einen sehr aufschlussreichen Ver-

gleich betreffend das Industrialisierungsniveaus in europäischen Ländern um 1840 anhand

von grundlegenden Kennziffern, die Basisgüter betreffen. [Es handelt sich um Indexzahlen,

deren Berechnung einen gigantischen Arbeitsaufwand erforderte!]

1) Pro-Kopf-

Verbrauch an

Rohbaumwolle

(Textilindustrie)

2) Pro-Kopf-

Produktion an Eisen

(Metall- und

Maschinenindustrie)

Pro-Kopf-Produktion

an Kohle (Energie,

Transport)

Landwirtschaftliche

Arbeitsproduktivität

QL/NL

GB 100 100 100 100

Frankreich 20 (1880) 25 (1890) 10 (1900) 70 (1910)

Deutschland 10 (1910) 10 (1880) 10 (1880) 45 (1890)

Russland 5 (1965) 5 (1935) 5 (1950) 40

Italien 5 5 25

Die Zahlen in Klammern geben das Jahr an, in dem das englische Niveau von 1840 er-

reicht wurde. Die Korrelation zwischen den einzelnen Reihen ist bemerkenswert. Dies deutet

Komplementaritäten zwischen den Sektoren an, wie sie für den sozialen Produktionsprozess

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typisch sind (in modernen monetären Produktionswirtschaften dominiert die Komplementari-

tät, nicht die Substitution, wie die neoklassische Theorie postuliert).

2.2. Frankreich und England

Um 1750 herum war es keineswegs sicher, ob die industrielle Revolution in Frankreich oder

in England einsetzen würde. Vier wichtige Faktoren haben England den entscheidenden Vor-

sprung verschafft:

2.2.1 Der Aussenhandel

England dominierte im 18. Jh. die Weltmärkte, d.h. vor allem die Märkte in seinen Kolonien,

vor allem Indien, der abhängigen Gebiete, z.B. Südamerika, aber auch die europäischen

Märkte. Seine Exporterfolge führten zu einer entscheidenden Steigerung der effektiven Nach-

frage.

Die Exporte von Industrieprodukten (XI) stellten den Entwicklungsmotor dar (externer

Beschäftigungs- und Entwicklungsmechanismus).

Ein wichtiges Mittel zur Sicherung dieser Exporterfolge war die englische Kriegsflotte.

Diese schützte die Seewege, die Handelsstützpunkte und damit der Handelsflotte; Handels-

stützpunkte waren besonders wichtig: hier wurden die Schiffsbesatzungen mit Lebensmitteln

und Trinkwasser versorgt; die Schiffe wurden entladen und neu geladen.

Nun war die englische Kriegsflotte immer viel stärker als die französische. Das war aus-

schlaggebend für die englische Seeherrschaft.

Der Hauptgrund war, dass England als Insel keine starke Landarmee brauchte, um sich

zu verteidigen; England konnte sich deshalb auf die Flotte konzentrieren.

Frankreich als Landmacht musste in erster Linie eine starke Landarmee unterhalten, um

Angriffskriege zu führen oder um sich zu verteidigen. Für die Flotte blieben immer zu wenig

Mittel übrig.

* Den entscheidenden Umschwung zugunsten Englands brachte der Siebenjährige Krieg,

1756-63 (England und Preussen gegen Österreich-Russland-Frankreich). Die Kriegsschau-

plätze befinden sich in:

- Europa; Österreich muss Schlesien an Preussen abtreten und in

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- Übersee; Frankreich verliert Nordamerika (Mississippibecken und Quebec) sowie

Indien an England.

Damit gingen für Frankreich wertvolle Absatzmärkte verloren.

Die Napoleonischen Kriege (1800-15) haben die französische Aussenhandelsposition

weiter verschlechtert. Der französische Aussenhandel war nach diesen Kriegen regelrecht

amputiert.

2.2.2 Das Steuersystem

Die Steuererhebung (direkte und indirekte Steuern) war in England besser organisiert als in

Frankreich.

Die Steuererhebung in England beruht auf Gesetzen, ist institutionalisiert, und damit un-

abhängig von Personen.

Die Steuererhebung in Frankreich ist personengebunden; Steuereintreiber ziehen direkte

und indirekte Steuern ein; die persönliche Bereicherung ist normal; dieses personengebundene

Steuersystem ist Teil des absolutistisch-feudalen Privilegiensystems. Das Amt des Steuerein-

treibers ist begehrt. Um es zu erhalten mussten hohe Summen an den Staat bezahlt werden.

2.2.3. Schlechte Rohstoffausstattung Frankreichs

Vor allem was die Kohle angeht, war Frankreich schlecht ausgestattet, und die Kohle war die

Basis der Dampfenergie, der weitaus wichtigsten Energiequelle in den Anfängen der Industri-

alisierung und im 19. Jahrhundert! Deshalb musste Frankreich Kohle importieren, was mit

hohen Transportkosten verbunden war; die Folge war eine Verteuerung von Industrieproduk-

ten.

2.2.4. Die einmal erreichte englische Überlegenheit verstärkte sich kumu-lativ

Die englische Konkurrenz behinderte die industrielle Entwicklung Frankreichs. Das Gesetz

der Massenproduktion (Skalenerträge) war wirksam: wenn mehr produziert werden kann,

sinken die Durchschnittskosten. Die Produktion wird kapitalintensiver; die Fixkosten (Kapi-

talkosten) steigen und die (variablen) Arbeitskosten (Lohnkosten) sinken. Um die Durch-

schnittskosten zu senken, müssen allerdings die Absatzmengen sehr hoch sein, damit die Fix-

kosten auf möglichst viele Produkteinheiten überwälzt werden können.

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Steigende Skalenerträgen führen damit zu einem Prozess der kumulativen Verursachung;

immer grössere Ungleichgewichte entstehen, wenn zwei Länder mit ungleichem Entwick-

lungsniveau Freihandel aufnehmen. Das stärkere Land (England) kann seine Industrieexporte

steigern. Dadurch sinken die Durchschnittskosten für seine Exportprodukte und es wird noch

wettbewerbsfähiger. Die französische Industrie dagegen wird an die Wand gedrängt. Wegen

rückläufigem Absatz steigen die Durchschnittskosten und die Preise. Die Wettbewerbsfähig-

keit sinkt.

Frankreich hat mit England dreimal ein Freihandelsabkommen abgeschlossen: 1786,

1815 und 1860. In den Jahren 1786 und 1860 handelte Frankreich freiwillig, 1815 wurde es

vermutlich zum Freihandel gezwungen. Jedenfalls öffnete Frankreich in allen drei Fällen sei-

ne Grenzen für englische Produkte. Alle drei Male wurden bedeutende Teile der französi-

schen Industrie ruiniert.

Das Freihandelsabkommen von 1786 hatte in Frankreich besonders verheerende Auswir-

kungen. Die bereits bestehende Krise vertiefte sich und die Arbeitslosigkeit nahm zu; beides

war sehr wahrscheinlich ein unmittelbarer Grund für die französische Revolution von 1789.

Die Revolution wäre natürlich auch ohne Krise und Arbeitslosigkeit zustande gekommen;

aber das Freihandelsabkommen von 1786 hat wahrscheinlich dazu beigetragen, dass sie gera-

de 1789 einsetzte.

Eine Möglichkeit, der Krise entgegenzuwirken wären höhere Staatsausgaben gewesen.

So war der Zusammenhang zwischen Krieg und verbesserter Wirtschaftslage seit langem be-

kannt. Dazu gibt es eine kleine Anekdote: Im Verlaufe des Jahres 1788 haben Minister und

Berater den französischen König Louis XVI auf die schlechte Wirtschaftslage, zunehmende

Arbeitslosigkeit und Bettelei hingewiesen. Der König soll dazu bemerkt haben: „Je ne peux

quand même pas commencer une guerre pour donner du travail et du pain au peuple“.

2.2.5. Frankreich ist lange ein eigentlicher Agrarstaat geblieben

Der interne Entwicklungsmechanismus hat immer die zentrale Rolle gespielt: wichtig waren

die Staatsausgaben und die Interaktion zwischen Industrie und Landwirtschaft. Dies impli-

ziert, dass in Frankreich der externe Entwicklungsmechanismus nie die wesentliche Position

eingenommen hat. (Siehe auch Kapitel VIII.)

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So war der Weg frei für England als erste Industrienation (siehe auch Abschnitt V.2).

3. England und Indien Die englische Domination hat zeitweise die Industrialisierung der Vereinigten Staaten behin-

dert. Indien jedoch erlitt wegen der industriellen Domination Englands einen schweren Rück-

schlag in seiner industriellen Aktivität – eine regelrechte Deindustrialisierung.

Dies war verbunden mit einer Umkehr der Handelströme zwischen England und Indien,

auf die wir weiter unten zu sprechen kommen.

Sicher eines der besten Bücher über die kolonialen Beziehungen zwischen England und

Indien ist:

Amiya Kumar Bagchi: Colonialism and Indian Economy, New Delhi and Oxford et

al. (Oxford University Press) 2011; first impression 2010

3.1. Die ursprünglichen englisch-indischen Handelsbeziehungen

In Alt-Indien vor der englischer Herrschaft dominieren die ländlichen Aktivitäten. Die Dörfer

sind weitgehend autark; es bestehen erbliche Nutzungsrechte am Land, die von Zeit zu Zeit

von den Dorfbehörden je nach Familiengrösse neu aufgeteilt werden. Die Handwerker produ-

zieren für den lokalen Bedarf.

In den Städten leben weniger als 10% der Bevölkerung. Sie waren ökonomisch dennoch

bedeutsam als Residenzen der Prinzen und als Wallfahrtsorte. Für die Bedürfnisse der Prinzen

und für religiöse Zwecke wurde eine künstlerisch sehr hoch stehende handwerkliche Luxus-

produktion erbracht.

Im 18. Jh. führen Kriege zu einer weitgehenden Verarmung. Es waren Bürgerkriege und

Kriege gegen die Franzosen und vor allem gegen die Engländer, die den Gegensatz zwischen

Hindus und Moslems geschickt ausnutzten.

Gleichzeitig floriert der Aussenhandel; vor allem besteht eine rege Exporttätigkeit. Indien

exportiert Agrarprodukte, auch Farbstoffe wie Indigo (indigoblau), sowie Luxusprodukte wie

Elfenbein, Parfums und verschiedene hochwertige Manufakturprodukte, wie z.B. Möbel aus

Edelhölzern.

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Schon Ende des 17. Jahrhunderts erreicht der Export von Textilien einen Höhepunkt und

behält seine Bedeutung während des ganzen 18. Jahrhunderts bei.

Noch 1785 importiert Liverpool wertmässig fünf Mal mehr indische Textilien als Roh-

baumwolle, die zur inländischen Verarbeitung bestimmt ist.

Schliesslich exportiert Indien auch Schiffe.

Aber der Grossteil der Aussenhandelsprofite fällt nicht Indien, sondern der Englischen

Ostindienkompanie zu; diese erhebt auch Abgaben auf dem indischen Binnenhandel (Binnen-

zölle werden wieder eingeführt!) und reserviert sich das Salz- und Tabakmonopol. Ein Teil

der Gewinne wird in Form von Steuern an die englische Regierung abgeführt. Dies ermög-

licht in England zusätzliche Staatsausgaben, die sich belebend auf die Wirtschaft auswirken

(zusätzliche Arbeitsplätze können geschaffen werden.

Die englische Herrschaft erstreckte sich auch auf den Agrarsektor. Bis zum 18. Jahrhun-

dert bestand eine reichhaltige Agrarstruktur, aber das Kollektiveigentum der Dorfgemein-

schaften dominierte in den meisten Provinzen. Die Dorfbehörden verpachteten den Boden

dauernd an die Familien; die Bodennutzung war erblich; von Zeit zu Zeit wurde aber der Bo-

den neu verteilt, um ihn der Grösse der Familien anzupassen. Wichtig: der Boden war Ge-

meineigentum und als solcher unveräusserlich (unverkaufbar); hier bestehen Parallelen

zum Germanischen Recht.

Das Gemeineigentum wurde nun durch den Permanent Settlement Act 1793 aufgeho-

ben.

Dadurch veränderte sich die Rolle der Zamindars, grundlegend. Die Zamindars waren

ursprünglich Steuereintreiber, aber zeitlich begrenzt. Die Engländer machten sie zu dauern-

den Privateigentümern des Bodens, die den Engländern steuerpflichtig waren.

Das Zamindarsystem implizierte eine radikale Veränderung der sozialen Strukturen des

ländlichen Indien: Die Bauern wurden zu Pächtern, die an die Grundherren (Zamindars)

schwerste Abgaben zu leisten hatten (in absoluten Grössen oder in relativen Ernteanteilen).

So wurden die relativ wohlhabenden indischen Bauern zu einem elenden und ausgebeuteten

Landproletariat.

Dieses System hatte für die englische Administration zwei Vorteile:

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1) Die Englische Regierung konnte auf regelmässige Steuereinkommen rechnen, ver-

bunden mit einem Minimum von Eingriffen seitens der Engländer in Indien.

2) Es wurde eine dominierende soziale Klasse geschaffen, die Zamindari, die direkt

von den Kolonialherren abhängig war und so leicht zu kontrollieren war.

Zum Permanent Settlement Act eine Textstelle aus Michael Edwardes: Illustrierte Ge-

schichte Indiens, Zürich (Ex Libris) 1961; engl. Orig. 1960, p. 255:

„[Die bedeutungsvollste, aber unglückseligste Tat des englischen Governeurs in In-

dien, Lord Cornwallis,] war die ‚dauernde Verpachtung’ (permanent settlement) von

Land in Bengalen, Bihar und Benares 1793 [...]. Er suchte nach einer Lösung des Steuer-

problems [für England!] und sah die einzige Möglichkeit in einem stabilen Grundbesitz,

der im Falle einer Verschuldung eingezogen werden konnte [wenn ein Zamindar die

Steuern an die englische Verwaltung nicht bezahlen konnte, bedeutete das den Konkurs

und die Ersetzung durch einen anderen Zamindar]. Auf diese Weise brach - wegen einer

wahrscheinlich vorübergehenden Geldknappheit - die ganze indische Tradition eines er-

blichen, unveräusserlichen Landbesitzes zusammen. Einer der Kommentare über diese

Regelung verdient es, zitiert zu werden [John Capper, englischer Schriftsteller]:

‚In seinem Bemühen, in Bengalen eine feste Grundsteuer einer stabilen und einträg-

lichen Basis einzuführen, beging Cornwallis einen der grössten Fehler, der je in der Ge-

schichte gemacht worden ist, und zugleich ein grosses Unrecht. Er schuf damit ein Sys-

tem, nach dem das Besitzrecht am gesamten Boden Bengalens in die Hände von Zamin-

dars oder erblichen Grundherren gelegt wurde, und das nicht nur für ein Jahr oder zehn

Jahre, sondern für immer. Sie waren bisher Steuereinnehmer gewesen und standen so

zwischen der Regierung und den Dorfbesitzern und Bauern, aber dass sie dadurch ein

Anrecht auf das Land, das die Steuern einbrachte, erworben hätten, war eine Utopie, die

nur in der Einbildung dieses sonst sehr liebenswerten Gentleman [Lord Cornwallis] be-

stand. Dieses System, das durch einen Federstrich eine neue Klasse von Grundeigentü-

mern schuf, schien jedoch, wo wertlos und ungerecht es auch war, eine sichere Steuer-

grundlage zu bieten, und die Verantwortlichen in England liessen sich täuschen und ga-

ben ihre Einwilligung dazu, so dass 20 Millionen kleiner Landbesitzer ihre Rechte verlo-

ren und völlig machtlos auf Gnade oder Ungnade einer Handvoll Wucherern ausgeliefert

waren’[John Capper].

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Unter Cornwallis blieben die höheren Verwaltungsposten den Europäern vorbehal-

ten. Aber diese Europäisierung hielt auch noch an, als die Notwendigkeit dafür schon

lange nicht mehr bestand. Den Indern war es jetzt nicht mehr wie früher möglich, an der

ausländischen Verwaltung mitzuwirken, und es entstand eine neue Kaste: die der weissen

Herren, und umgekehrt glich sich die fremde Herrschaft nicht mehr, wie noch bei den

Moguls [islamische Invasoren aus Zentralasien; die Mogulherrschaft in Indien bestand

von 1526-1858], an die politische und soziale Struktur Indiens an. Ausserdem suchte

Cornwallis das Rechtswesen zu reorganisieren, und die englische Rechtsprechung wurde

sogar auf das hinduistische Gesetz angewandt. Der Erfolg war eine Flut von Prozessen

mit professionellen Denunzianten und Zeugen“(Edwardes 1961, p. 255).

Wie kann man die Entscheidung von Cornwallis betreffend den Permanent Settlement

Act erklären? Vielleicht am besten so: Nach der Industriellen Revolution und der überragen-

den Stellung, die sie England verschaffte, begannen sich die Engländer, dann die Europäer

und etwas später die Amerikaner als etwas Einzigartiges zu betrachten (Eurozentrismus). Die

ganze Welt sollte europäisiert, später amerikanisiert werden. Was für England (Europa, USA)

gut war, war es auch für die übrige Welt. Das war schon zur Zeit von Cornwallis (Ende des

18. Jh.) Ideologie und ist es heute noch viel mehr. Aber heute kommt die westliche Dominanz

in Wirtschaft, Politik und auch intellektuell (Wirtschafts- und Sozialtheorie: Domination der

neoliberalen Doktrin) langsam zu einem Ende. Eine neue, nicht mehr vom Westen dominierte

Weltordnung bahnt sich an.

3.2. Der Einfluss der industriellen Revolution in England auf die in-dischen Verhältnisse

Die Industrielle Revolution in England führte zu einer Umkehrung der Handelsströme mit

Indien: Bis zur Industriellen Revolution hatte Indien hauptsächlich Fertigprodukte nach Eng-

land exportiert. Nach der Industriellen Revolution hat England immer mehr Fertigprodukte

nach Indien ausgeführt und von dort Rohmaterialen, vor allem Baumwolle importiert.

Die Industrielle Revolution führt vorerst zu einer Importsubstitution in England: bisher

importierte Produkte werden durch einheimische (im Inland produzierte) ersetzt. In einem

ersten Schritt erfordert dies einen Schutz der einheimischen englischen Produktion.

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Schon im Verlaufe des 18. Jahrhunderts werden indische Textilien mit hohen Zöllen be-

legt (40-60 %!), die erst 1846 aufgehoben werden, in einem Zeitpunkt, in dem die englische

Domination ihren Zenit erreicht hatte. England produzierte nun viel billiger als Indien. Der

Hauptgrund war der dramatische Anstieg der Arbeitsproduktivität (Q/N), verursacht durch die

industrielle Revolution. Englische Industrieprodukte waren preislich weltweit unschlagbar.

Selbst die indischen Handwerker, die zu niedrigsten Löhnen hochwertige Produkte herstell-

ten, hatten keine Chance. (Zudem durfte das von England kolonisierte Indien keine nennens-

werten (Aussen-)Zölle erheben, um seine Produktion zu schützen! Auf der anderen Seite hat

die Englische Ostindienkompanie in Indien Binnenzölle eingeführt, um ihre Einnahmen zu

steigern und um zusätzliche Gelder nach London überweisen zu können.)

England beginnt nun, vor allem nach den Napoleonischen Kriegen, Textilien nach Indien

zu exportieren. Die englischen Exporte nach Indien (XEI) waren um 1800 noch fast Null.

Dann aber wurden 1820 bereits12 Millionen Meter Tuch nach Indien exportiert, 45 Millionen

Meter Tuch 1830; nach 1857 explodierten die Exporte: 900 Millionen Meter Tuch 1870!

Der Grund war der folgende: Bis 1857 kontrollierte die Englische Ostindienkompanie

Indien, dies mit starker Unterstützung des englischen Staates. 1857 fand in Indien ein Auf-

stand statt, der von den modern ausgerüsteten englischen Truppen niedergeschlagen wurde.

Indien wurde nun als schönstes Juwel der englischen Krone direkt dem englischen Staat un-

terstellt. Indien wurde 1858 Vize-Königtum und die englische Königin Viktoria wurde Kaise-

rin des Britischen Imperiums.

Weil die indischen Handwerkstextilien von besserer Qualität sind, können sie anfänglich

noch der englischen Konkurrenz widerstehen; sogar einige Exporte nach England sind mög-

lich. Allmählich gehen jedoch die indischen Textilien gegenüber den englischen Industriepro-

dukten unter. Um die indische Textilproduktion einzuschränken, hat die englische Indienver-

waltung den indischen Handwerkern sogar noch Produktionsquoten vorgeschrieben!

England führt nun von Indien immer mehr Baumwolle ein, verarbeitet diese in GB

und führt Fertigprodukte nach Indien aus. Koloniale Wirtschaftsbeziehungen entwickeln

sich. Das ist von grösster Bedeutung für die neue Weltwirtschaftsordnung, die sich um

1850 herum anbahnt. Der Norden industrialisiert sich, der Süden wird Lieferant von Primär-

gütern (Rohstoffe, Energieträger, landwirtschaftliche Produkte). Das Nord-Süd-Problem

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entsteht: der reiche Norden und der arme Süden. Es ist diese Weltwirtschaftsordnung, die ge-

rade jetzt in Frage gestellt wird.

Diese Entwicklungen treffen zuerst die indischen Textil-Exportindustrien, dann allmäh-

lich alle handwerklichen Aktivitäten, zuerst in den Städten, dann auf dem Land. So erlebte

Indien im Verlaufe des 19. Jahrhunderts einen regelrechten Deindustrialisierungsprozess:

Die bereits bestehenden Manufakturen bildeten sich zurück und eine mögliche industrielle

Entwicklung wurde abgeblockt. Diese Entwicklung wurde verstärkt dadurch, dass die Eng-

länder den Indern Freihandel aufzwangen: Auf englische Importe durften in Indien nur sym-

bolische Zölle erhoben werden (~3%).

So wurde die englische Kolonisierung ein zentraler Grund für die schlechte Ausgangsla-

ge Indiens nach der Unabhängigkeit 1947.

Dazu sagen einige indische Ökonomen und Wirtschafthistoriker: Entwicklung und Un-

terentwicklung sind zwei Seiten derselben Medaille.

Dieser Ausspruch muss in einem weiteren Zusammenhang gesehen werden: Indien stand

während 2000 Jahren (etwa 300 v.Chr. bis 1700) im Zentrum der Weltwirtschaft, und Benga-

len war die reichste Region. Die Engländer haben Indien, vor allem Bengalen, innerhalb we-

niger Jahrzehnte in ein Armenhaus verwandelt. Man schätzt, dass auch heute noch um die

80% der indischen Bevölkerung unter der Armutsgrenze sind. Die unfreiwillige Arbeitslo-

sigkeit wird seit der Unabhängigkeit (1947) auf etwa 30% geschätzt.