Viel mehr als blosse Baukosmetik - Praxis Dr. med. Axel Weissaxelweiss.ch/media/PZA.pdf34 mensch und...

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34 mensch und raum Axel Weiss ist seit eineinhalb Jahren Chefarzt am Psychia- trischen Zen- trum Appenzell Ausserrhoden. Viel mehr als blosse Baukosmetik seit vier jahren werden die gebäude des psychiatrischen zentrums appenzell ausserrhoden in herisau erneuert, und die sanierungsprojekte sind noch nicht abgeschlossen. die akutstation hat bislang die markanteste änderung erfahren: sie ist zu einer transparenten abteilung geworden, die den patienten so viel freiraum wie möglich zugesteht. Haus 1, Psychotherapiestation und offene Station am Psychiatrischen Zentrum Appenzell Ausserrhoden (PZA): Im Aufenthaltsraum liest ei- ne Frau Zeitung, eine andere strickt. Sie sitzen in einem der Räu- me, an dessen Wänden Robert Walsers Mikrogramme – darge- stellt als Barcodes – abgebildet sind; der Schriftsteller war der be- rühmteste Patient des PZA. Die Wände und Türrahmen sind rot- braun gestrichen. Dunkel, düster, meinen die einen. Den anderen ge- fällt es, weil die Farbe Hotelcharme versprüht. Axel Weiss, seit Anfang 2011 Chefarzt am PZA, weiss um diese Kontroverse. Er sagt: «Erin- nert die Farbe an ein Hotel, ist das gut. Das trägt zu einer Normalisie- rung bei.» Normalisierung, Schwellen abbauen, niemanden abschrecken – diese Worte verwen- det Axel Weiss beim Rundgang über die Anlage im Herisauer Krombach immer wieder. Sie sind zentral bei der Neugestaltung der Gebäude des PZA. 1908 wurde die appenzell-aus- serrhodische Heil- und Pflegean- stalt eröffnet. Mit ihren verschie- denen Häusern, die sich auf dem idyllisch gelegenen, hügeligen Krombach-Areal verteilen, galt sie damals als Vorzeigemodell einer Pavillonanstalt. Zuvor war es üb- lich gewesen, psychiatrische Klini- ken in nicht mehr genutzten Ka- sernen oder Klöstern unterzubrin- gen. Die Architekten Robert Ritt- meyer und Walter Furrer haben die neun Gebäude im programmati- schen Heimatstil errichtet. Die Ar- chitektur aus der Gründerzeit ist weitgehend erhalten und wird es auch mit dem Umbau bleiben. Die Gebäude stehen unter kommuna- lem Schutz. Bis heute wurden kei- nen umfassenden organisatori- schen und betrieblichen Neuerun- gen vorgenommen. Im Laufe der Jahre zeigte sich nun Handlungs- bedarf beim Raumkonzept und der Infrastruktur. Es war im April 2008, als Baudirektor Jakob Brunn- schweiler einen Bagger bestieg und den Spatentisch für das Bauprojekt höchstpersönlich ausführte. Zuvor hatte das Ausserrhoder Stimmvolk einem Rahmenkredit zugestimmt; der Weg für das Grossprojekt war damit frei. Vierzig Millionen Fran- ken kostet die Erneuerung des PZA, sieben Jahre soll die Bauzeit dau- ern. Vier Jahre nach Beginn sind die Umbauarbeiten an zwei Patien- tenhäusern abgeschlossen, ebenso ist die Krombachkapelle saniert und das unterirdische Erschlies- sungssystem aus- und umgebaut worden. Gemäss Auskunft von Kantonsbaumeister Otto Hugen- tobler stehen die Umbauarbeiten an einem weiteren Gebäude, dem Verwaltungsgebäude, bevor. In Planungsvorbereitung befinden sich zwei weitere Häuser (das Mehr- zweckgebäude, in dem das Restau- rant Rägeboge untergebracht ist, und das Patientenhaus III). Aller- dings sind diese Planungsarbeiten zurzeit gestoppt, weil das Psychiat- riekonzept überarbeitet wird und mögliche Auswirkungen auf das zukünftige Raumprogramm abge- wartet werden müssen. Haus 4, Akutstation, die im Rah- men der bisherigen Umbauarbei- ten die markanteste Veränderung erfahren hat. Vom Treppenhaus aus blickt man direkt auf die Sta- tion. Die Eingangstüre besteht aus Glas. Ziemlich offenherzig für jene Station, die eigentlich eine ge- Fotos: Jürg Zürcher mensch und raum 35

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Axel Weiss ist seit eineinhalb Jahren Chefarzt am Psychia­trischen Zen­trum Appenzell Ausserrhoden.

Viel mehr als blosse Baukosmetik

seit vier jahren werden die gebäude des psychiatrischen zentrums appenzell ausserrhoden in herisau erneuert, und die sanierungsprojekte sind noch nicht abgeschlossen. die akutstation hat bislang die markanteste änderung erfahren: sie ist zu einer transparenten abteilung geworden, die den patienten so viel freiraum wie möglich zugesteht.

Haus 1, Psychotherapiestation und offene Station am Psychiatrischen Zentrum Appenzell Ausserrhoden (PZA): Im Aufenthaltsraum liest ei-ne Frau Zeitung, eine andere strickt. Sie sitzen in einem der Räu-me, an dessen Wänden Robert Walsers Mikrogramme – darge-stellt als Barcodes – abgebildet sind; der Schriftsteller war der be-rühmteste Patient des PZA. Die Wände und Türrahmen sind rot-braun gestrichen. Dunkel, düster, meinen die einen. Den anderen ge-fällt es, weil die Farbe Hotelcharme versprüht. Axel Weiss, seit Anfang 2011 Chefarzt am PZA, weiss um diese Kontroverse. Er sagt: «Erin-nert die Farbe an ein Hotel, ist das gut. Das trägt zu einer Normalisie-rung bei.» Normalisierung, Schwellen abbauen, niemanden abschrecken – diese Worte verwen-det Axel Weiss beim Rundgang über die Anlage im Herisauer Krombach immer wieder. Sie sind zentral bei der Neugestaltung der Gebäude des PZA.

1908 wurde die appenzell-aus-serrhodische Heil- und Pflegean-stalt eröffnet. Mit ihren verschie-

denen Häusern, die sich auf dem idyllisch gelegenen, hügeligen Krombach-Areal verteilen, galt sie damals als Vorzeigemodell einer Pavillonanstalt. Zuvor war es üb-lich gewesen, psychiatrische Klini-ken in nicht mehr genutzten Ka-sernen oder Klöstern unterzubrin-gen. Die Architekten Robert Ritt-meyer und Walter Furrer haben die neun Gebäude im programmati-schen Heimatstil errichtet. Die Ar-chitektur aus der Gründerzeit ist weitgehend erhalten und wird es auch mit dem Umbau bleiben. Die Gebäude stehen unter kommuna-lem Schutz. Bis heute wurden kei-nen umfassenden organisatori-schen und betrieblichen Neuerun-gen vorgenommen. Im Laufe der Jahre zeigte sich nun Handlungs-bedarf beim Raumkonzept und der Infrastruktur. Es war im April 2008, als Baudirektor Jakob Brunn-schweiler einen Bagger bestieg und den Spatentisch für das Bauprojekt höchstpersönlich ausführte. Zuvor hatte das Ausserrhoder Stimmvolk einem Rahmenkredit zugestimmt; der Weg für das Grossprojekt war damit frei. Vierzig Millionen Fran-ken kostet die Erneuerung des PZA,

sieben Jahre soll die Bauzeit dau-ern. Vier Jahre nach Beginn sind die Umbauarbeiten an zwei Patien-tenhäusern abgeschlossen, ebenso ist die Krombachkapelle saniert und das unterirdische Erschlies-sungssystem aus- und umgebaut worden. Gemäss Auskunft von Kantonsbaumeister Otto Hugen-tobler stehen die Umbauarbeiten an einem weiteren Gebäude, dem Verwaltungsgebäude, bevor. In Planungsvorbereitung befinden sich zwei weitere Häuser (das Mehr-zweckgebäude, in dem das Restau-rant Rägeboge untergebracht ist, und das Patientenhaus III). Aller-dings sind diese Planungsarbeiten zurzeit gestoppt, weil das Psychiat-riekonzept überarbeitet wird und mögliche Auswirkungen auf das zukünftige Raumprogramm abge-wartet werden müssen.

Haus 4, Akutstation, die im Rah-men der bisherigen Umbauarbei-ten die markanteste Veränderung erfahren hat. Vom Treppenhaus aus blickt man direkt auf die Sta-tion. Die Eingangstüre besteht aus Glas. Ziemlich offenherzig für jene Station, die eigentlich eine ge- Fo

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schlossene Abteilung ist. «Wir wol-len wenig geschlossene Türen», sagt Axel Weiss. Und so bleibt selbst diejenige zum Garten nach Möglichkeit offen. Die Erfahrun-gen geben den Verantwortlichen recht: Nur selten klettere jemand über den Gartenhag, so der Chef-arzt. Patienten würden sogar selte-ner aus offenen Stationen ver-schwinden als aus geschlossenen. Eingesperrt zu sein, erzeugt eben dringender das Bedürfnis, fliehen zu wollen, als sich innerhalb mehr oder weniger natürlicher Grenzen frei bewegen zu können. Kein Ver-stecken, kein Wegsperren – die neue Akutstation setzt auf Trans-parenz und schafft mit verschiede-nen optischen Massnahmen einen

würdigen Rahmen. Statt mit Git-tern sind die Fenster dort, wo sie zum Lüften geöffnet werden sol-len, durch eine zweite, bruchsiche-re Scheibe versehen. Statt in ge-fängniszellenartigen Räumen le-ben die Patienten in freundlichen, wenn auch immer noch nur mit dem notwendigsten eingerichte-ten Zimmern. Selbst die vier Inten-sivzimmer wirken trotz weicher Möbel und trotz des Wissens dar-um, dass hier Menschen in einer akuten Notsituation für eine ge-wisse Dauer untergebracht werden, vergleichsweise angenehm. Der Therapieraum ist auf zwei Seiten verglast, so können die Personen darin ebenso nach draussen auf den Sportplatz wie nach innen in

den Korridor blicken. Das Team, so Axel Weiss, sei begeistert gewesen vom offenen Konzept, und auch die Rückmeldungen der Pa tienten fallen positiv aus. «Sie fühlen sich weniger abgeschottet.» Die Patien-ten nehmen ihre Umgebung viel zuversichtlicher wahr, so dass das PZA seit dem Umzug in die neue Akutstation deutlich weniger mit Zerstörung der Zimmer oder des Mobiliars zu tun hat. Auch von ausserhalb erntet das PZA für das Konzept und die Gestaltung viel Lob. Führe er Berufskollegen durch die Räume, zeigten sich diese sehr beeindruckt, sagt Axel Weiss.

Eine «Irrenanstalt», die aus mehr als nur einem Haus besteht – schon

rein architektonisch strahlte das PZA von Anfang an Aufgeschlos-senheit aus. Auch vom Behand-lungskonzept her nahm das PZA von Beginn weg eine Vorreiterpo-sition ein. Unter dem ersten Direk-tor Arnold Koller entschied sich die Klinik für das Non-restraint-System. Diese Methode sah einer-seits bauliche Massnahmen vor, in dem die Anlage weder von einem Zaun noch von einer Mauer umge-ben sein sollte. Weitaus einschnei-dender waren andererseits die the-rapeutischen Massnahmen, die humanere Behandlung von psy-chisch Kranken verlangte: Ende des 18. Jahrhunderts befreite ein französischer Arzt in Paris die ein-gesperrten Irren von ihren Ketten.

In den 1830er- und 1840er-Jahren wagte man in England den Ver-such der zwangsfreien Behand-lung; eine Methode, die sich nur langsam ausbreitete. Die Grund-idee des «Non restraint», die das PZA seit über hundert Jahren pflegt, wird gerade durch die neue Gestaltung der Akutstation noch stärker gelebt. «Früher führten wir unzählige Gespräche darüber, weshalb die Leute überhaupt hier-bleiben müssen, heute können wir direkt bei der Lösung ansetzen», sagt Axel Weiss.Der Heris auer Arzt Paul Wiesman, der vor dem Bau des PZA der «Ir-renhaus-Baukommission» ange-hörte, wies vor über hundert Jah-ren auf die Bedeutung des Stand-

orts hin: «Dass landschaftlicher Reiz, liebliche Lage und eine schö-ne Aussicht als sehr kostbare Ei-genschaften eines Platzes für eine Anstalt zu bezeichnen sind, in welcher Gemütskranke ihre Ge-sundheit wieder erlangen sollen, ist gewiss einleuchtend; sie haben geradezu den Wert eines einfluss-reichen Heilfaktors.» Axel Weiss spricht heute ähnlich, wenn auch nicht ausschliesslich von den äus-serlichen Zuständen der Anlage, sondern vor allem vom Ge-bäudeinnern: «Was wir hier mit der Erneuerung tun, ist nicht nur Baukosmetik. Die Erneuerung hat positive Auswirkungen auf die Ge-sundheitsversorgung und den Therapieverlauf.» ckö

Einblick in das Haus 1, Psychothera­piestation und offene Sta tion. An den Wänden Robert Walsers Mikrogramme, dargestellt als Barcode.

Einblick in das Haus 4, in die Akutstation, die sehr offen gestaltet ist.