Vielfalt in Einheit - WordPress.com · Talks on the Yoga Vasistha by Swami Venkatesananda. Comp....

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„Vielfalt iŶ EiŶheit“ ist eiŶ Reiseführer auf deŵ Yoga-Weg zur Selbsterkenntnis, zur eindeutigen Erfahrung, dass es dasselbe Licht ist, das sich in allen Spiegeln reflektiert, dass alles Leben Teil des unteilbaren reinen Bewusstseins ist sogar ich selbst. Sǁaŵi VeṅkaṭeśāŶaŶda (ϭ9Ϯϭ-1982), ein direkter SĐhüler ǀoŶ Sǁaŵi ŚiǀāŶaŶda, der in den 1970er Jahren regelmäßig beim BDY (Berufsverband der Yogalehrenden in Deutschland) gelehrt hat, spriĐht hier üďer deŶ „Yoga des WeiseŶ Vasiṣṭha“, den er aus dem Sanskrit übersetzt hat. Diese klassische Schrift des Yoga-VedāŶta ist ganz anders als man es von einer Weisheits-Schrift erwarten würde: Sie enthält keine Philosophie im westlichen Sinne, sondern erzählt Abenteuer- und Liebesgeschichten, die über die Grenzen von Zeit und Raum hinausgehen. Barbara Franz ist Yogalehrerin (BDY/EYU), Yoga- Lehrausbilderin, Autorin und Heilpraktikerin für Psychotherapie. www.yogapur.de Vielfalt in Einheit Swami Veṅkaṭeśānanda Vielfalt in Einheit Swami Veṅkaṭeśānanda über den Yoga des Weisen Vasiṣṭha Barbara Franz (Hg.)

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  • „Vielfalt i Ei heit“ ist ei Reiseführer auf de Yoga-Weg zur Selbsterkenntnis, zur eindeutigen Erfahrung, dass es dasselbe Licht ist, das sich in allen Spiegeln reflektiert, dass alles Leben Teil des unteilbaren reinen Bewusstseins ist – sogar ich selbst.

    S a i Veṅkaṭeśā a da ( 9 -1982), ein direkter S hüler o S a i Śi ā a da, der in den 1970er Jahren regelmäßig beim BDY (Berufsverband der Yogalehrenden in Deutschland) gelehrt hat, spri ht hier ü er de „Yoga des Weise Vasiṣṭha“, den er aus dem Sanskrit übersetzt hat. Diese klassische Schrift des Yoga-Vedā ta ist ganz anders als man es von einer Weisheits-Schrift erwarten würde: Sie enthält keine Philosophie im westlichen Sinne, sondern erzählt Abenteuer- und Liebesgeschichten, die über die Grenzen von Zeit und Raum hinausgehen.

    Barbara Franz ist Yogalehrerin (BDY/EYU), Yoga-Lehrausbilderin, Autorin und Heilpraktikerin für Psychotherapie. www.yogapur.de

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    Swami Veṅkaṭeśānanda

    über den Yoga des Weisen Vasiṣṭha

    Barbara Franz (Hg.)

  • Swami Veṅkaṭeśānanda Vielfalt in Einheit

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    Vielfalt in Einheit

    Swami Veṅkaṭeśānanda über den Yoga des Weisen Vasiṣṭha

    zusammengestellt von Swami Veṅkaṭarāmani

    aus dem Englischen übertragen und

    herausgegeben von Barbara Franz

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    Titel des Originals: Multiple Reflections. Talks on the Yoga Vasistha by Swami Venkatesananda. Comp. and ed. by Swami Veṅkaṭarāmani. San Francisco/USA: Chiltern Yoga Trust, 1988.

    Herausgabe, Übersetzung: Barbara Franz München, 2018, yogapur.de mit freundlicher Genehmigung von Chiltern Yoga Trust, Westaustralien Lektorat unter Mitarbeit von Chandravali D. Schang und Dirk Glogau Alle Rechte vorbehalten

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    Swami Veṅkaṭeśānanda (1921-1982)

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    Inhalt Yoga Vāsiṣṭha – Meditation vor der täglichen Lektüre.................... 9 Vorwort von Swami Veṅkaṭarāmani ............................................. 11 Einführung von Swami Veṅkaṭeśānanda ....................................... 13

    Erwache! ....................................................................................... 19 Ein Lied des Kummers ................................................................... 27 Den vernebelten Geist klären ....................................................... 34 Wer erschafft? .............................................................................. 42 Jenseits der Vereinbarungen ........................................................ 48 Intelligenz, Geist, Stoff .................................................................. 52 Gemischte Erfahrungen ................................................................ 61 Die Bilderfalle ............................................................................... 71 Jenseits von Zeit und Raum .......................................................... 79 So wahr wie ein Traum ................................................................. 86 Vielfalt in Einheit ........................................................................... 95 Der Schlüssel zur Entdeckung ..................................................... 100 Für immer eins ............................................................................ 108 Handeln oder reagieren? ............................................................ 115 Der Grundirrtum ......................................................................... 125 Die Präzisionswaage ................................................................... 132 Brennstoff für das Feuer ............................................................. 140 Das Wort wird Fleisch ................................................................. 149 Auf der Suche nach dem Geist .................................................... 157 Eine Sache der Identifikation ...................................................... 165 Das Marionettenspiel ................................................................. 173 Welten in Welten ........................................................................ 182

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    Die Vorstellung vom Ich .............................................................. 191 Die ersichtliche Wirklichkeit ....................................................... 201 Die Schritte zur Erleuchtung ....................................................... 208 Bewusstsein ist ........................................................................... 217 Epilog: Der Schlüssel zu Erleuchtung .......................................... 220

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    Yoga Vāsiṣṭha Meditation vor der täglichen Lektüre

    yataḥ sarvāṇi bhūtāni pratibhānti sthitāni ca yatrai ’vo ’paśamaṁ yānti tasmai satyātmane namaḥ (1)

    jñāta jñānaṁ tatha jñeyam draṣṭā darśana dṛśyabhūḥ kartā hetuḥ kriyā yasmāt tasmai jñāptyātmane namaḥ (2)

    sphuranti sikarā yasmād ānandasyā ’ ṁbare ’vanau sarveṣaṁ jīvanaṁ tasmai brahmānandātmane namaḥ (3) (1) Gegrüßt sei jene Wirklichkeit, in der alle Elemente und alle

    belebten und unbelebten Wesen erstrahlen, als hätten sie ein unabhängiges Dasein, und in der sie eine Zeitlang bestehen und in die sie eingehen.

    (2) Gegrüßt sei jenes Bewusstsein, welches der Ursprung der scheinbar dreifachen Unterteilungen in Kenner, Kenntnis und Erkanntes, in Seher, Sicht und Gesehenes, in Täter, Tun und Tat ist.

    (3) Gegrüßt sei das Meer jener absoluten Glückseligkeit, welche das Leben aller Wesen ist, deren Glück und Entfaltung der Gischt dieses Meeres entspringt.

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    Vorwort von Swami Veṅkaṭarāmani

    Der Yoga Vāsiṣṭha ist ein klassischer Text, der Gelehrte und Suchende über Jahrhunderte hinweg fasziniert hat und dies auch bis ans Ende der Zeit tun wird. Warum ist dies so? Weil die Wahr-heit zeitlos ist, stets neu, stets aufregend. Entdeckungslust spornt den Untersuchenden dazu an, tiefer vorzudringen und neue For-schungsansätze zu erschließen. Die Seiten eines Textes wie dem Yoga Vāsiṣṭha bieten uns ein solches Abenteuer. Beim genauen Lesen entfaltet sich in Momenten stimmiger Einsicht jeder Satz, jedes Wort, um neue Aspekte der Wahrheit freizugeben.

    Wahrheit kennt keine Sprache und keinen Ort. Deshalb machen Denker des Ostens und des Westens dieselben Ent-deckungen und formulieren sie in der Sprache und Sprechweise ihres Heimatlandes und ihrer Generation. In den Veden heißt es bekanntlich: «Die Wahrheit ist eine einzige, aber die Weisen geben ihr verschiedene Namen«.

    Dieses kleine Buch ist eine Zusammenstellung von Auszügen aus Vorträgen, die S. H. Swami Veṅkaṭeśānanda über Jahre hin-weg zu verschiedenen Gelegenheiten gehalten hat. Der Großteil des in diesem Band enthaltenen Materials war bis jetzt unveröf-fentlicht, einige Texte sind in der Broschüre The Apparent Reality enthalten, die der Chiltern Yoga Trust in Südafrika und Australien herausgegeben hat. Die Vorträge enthalten die Essenz von Vasiṣṭhas Botschaft, die Swamiji in der für ihn bezeichnenden

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    lebhaften und gelehrten Weise darlegt und kenntnisreich erläutert. Swamiji beleuchtet die Unterweisungen des Weisen Vasiṣṭha manchmal von ungewöhnlichen Blickwinkeln aus, sodass herkömmliche Vorstellungen erschüttert werden und der Geist in tiefere Dimensionen der Entdeckung und Einsicht vordringt.

    Wir hoffen, dass die Lektüre dieses Buchs die Leserinnen und Leser zum Yoga Vāsiṣṭha einlädt und ihnen eine Schau der kosmi-schen Einheit gewährt, die sich im Tanz der Vielfalt spiegelt.

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    Einführung von Swami Veṅkaṭeśānanda

    Der Yoga Vāsiṣṭha ist eine sehr bedeutende Schrift, aber er ist in der Welt nicht so bekannt wie etwa die Bhagavad Gītā. Die Schrift enthält eine höchst moderne Kosmologie und physikalische Theo-rien, die nicht nur nukleare, sondern subatomare Ebenen einbe-ziehen und, was äußerst wichtig ist: Sie vermittelt eine Sichtweise, die erhaben und feinsinnig zugleich ist.

    Kürzlich las ich ein sehr interessantes Buch von Lewis Thomas, das Lives of a Cell1 heißt. Darin wird der menschliche Körper in kosmischen Dimensionen beschrieben, jede Körperzelle als großer Organismus, innerhalb dessen es unabhängige Organismen gibt, die weitere Organismen in sich beherbergen – Welten in Welten. Das entspricht in etwa der Kernbotschaft des Yoga Vāsiṣṭha. Thomas schreibt, ausgehend von seinen Forschungsergebnissen stelle er sich nicht einmal die Erde als abgeschlossenen Organis-mus vor; es sei womöglich viel treffender, sie als eine Zelle zu be-trachten, die etwas Größerem angehört. Der Yoga Vāsiṣṭha erzählt eine schöne Geschichte, die damit genau übereinstimmt. Ich glaube, dass in dieser Schau alle Spaltungen verschwinden, die unsere Sicht beeinträchtigen; ich und du und dein Hund sind dann

    1 New York/USA: Viking, 1974. Titel der deutschen Ausgabe: Das Leben überlebt. Geheimnis der Zellen. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1976.

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    nicht nur eines, wir sind vielmehr alle Zellen – winzige Strukturen einer einzigen Zelle.

    Diese Schrift enthält wertvolle Gesundheitstipps, psychosoma-tische Theorien, wunderbare Anweisungen für die Meditation und die Verehrung sowie schöne Beschreibungen der Kriegskunst und sogar Anleitungen dazu. Darüber hinaus enthält sie überaus romantische Geschichten.

    Dies alles kümmert uns jedoch nicht. Die meisten unserer Probleme kreisen um die Fragen: Was ist mein Leben? Was bin ich? Was soll ich tun? Warum bin ich hier? Einige von uns kom-men irgendwann an einen Punkt, an dem wir meinen: «Mein Leben ist sinnlos. Wozu ist dies alles gut? Ich fühle mich so unbe-deutend wie ein vom Wind verwehtes welkes Blatt«. Es entsteht Verzweiflung – das, was Johannes vom Kreuz als die «dunkle Nacht der Seele« bezeichnet hat. Die Lehre dieser Schrift ist die Antwort darauf.

    Vasiṣṭha verkündet gleich zu Beginn, dass das Gefühl, psychisch gebunden zu sein und dieses Gefängnis verlassen zu wollen, jene auszeichnet, die diesen Text mit Gewinn studieren können. Eine Seele, die diese dunkle Nacht erfährt, sich nach Licht sehnt und dieser Unterweisung ausgesetzt wird, wird sogleich erleuchtet.

    Warum entstehen Verzweiflung und Angst in uns? Warum geraten wir in Bindungen, die uns lähmen? Warum hassen wir? Das alles entsteht aus Hoffnung auf Glück, auf Geistesfrieden. Diese Hoffnung führt unweigerlich zu ihrer eigenen Vernichtung; sie führt ins Unglück. Vasiṣṭha sagt: «Versuche, nicht mehr vor der Welt davonzulaufen. Vertiefe dich nicht in diese Verzweiflung, vertiefe dich in nichts, was nur eine vorübergehende Erscheinung

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    ist. Lasse deinen Geist nicht bei dem verweilen, was als unwirklich erkannt wurde«.

    Der Yoga Vāsiṣṭha enthält den ausgesprochen schönen Vers: bhramasya jāgatasyā ’sya jātasyā ’kāśavarṇavat apunaḥ smaraṇaṁ manye sādho viṣmaraṇaṁ varaṁ

    Die Welt ist bhrama – eine Erscheinung, eine Sinneserfahrung. Vasiṣṭha vergleicht die Welterscheinung mit dem Blau des Him-mels; obwohl dort nichts Blaues ist, wirkt er blau, wenn du ihn an-schaust. Diese Sinneserfahrung währt, solange du diese Erschei-nung betrachtest und bestaunst. Du hast dir eine Vorstellung von der Welt gemacht und das ständige Nachdenken darüber, ob sie wirklich oder unwirklich ist, hat diese Vorstellung verfestigt. Vasiṣṭha sagt: «Es ist besser, an etwas anderes zu denken«.

    Was ist die Wirklichkeit? Das, was ist, ist wirklich. Das folgende Beispiel kommt in der Schrift sehr häufig vor: Da ist ein Armband, das aus Gold besteht. Armband ist ein Wort des gewöhnlichen Sprachgebrauchs. Wir sehen es in einer Form, und sobald diese Form gesehen wird, erzeugt sie im Geist einen Begriff und ein Wort. Lassen wir das Wort außer Acht und betrachten die Form, können wir ein sehr interessantes Spiel spielen: Ist es Gold oder ist es ein Armband? Es ist beides. Wie kann eine einzige Sache zwei sein? Der Stoff ist Gold; die Wirklichkeit ist Gold. Das Gold er-scheint in einer bestimmten Form und dieser Form wurde durch Übereinkunft ein Name gegeben.

    Wenn das klar ist, ist alles klar. Wenn mich etwa jemand als Idioten bezeichnet, akzeptiere ich, dass ich ein Idiot bin, indem ich darauf reagiere. Die Aussage hat eine bestimmte psychisch

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    wirksame Form, aber ihre Wirklichkeit ist nichts als reines inneres Bewusstsein. Etwas, das in der Außenwelt geschah, hat mich in dieses Meer der Verzweiflung gestoßen. Ich bekam Angst und habe mich nicht bemüht, sie anzusehen, weil ich die äußeren Um-stände für etwas Wahres hielt. Und deshalb war meine Aufmerk-samkeit ganz und gar auf die äußere Erfahrung gerichtet. Warum sollte ich überhaupt darauf reagieren, wenn ich kein Idiot bin? Kann ich in einer solchen Situation die Wirklichkeit erkennen? Was ist die Wirklichkeit desjenigen, den ich den anderen Men-schen nenne? Was ist die Wirklichkeit dieses Körpers, dieses Geis-tes? Was ist zugleich die Wirklichkeit, die ich «ich« nenne und die reagiert? Sind diese beiden ganz voneinander getrennte und un-abhängige Wirklichkeiten? Diese zweifache Erkundung muss gleichzeitig durchgeführt werden, nicht nacheinander. Das Subjekt und das Objekt müssen gemeinsam erkannt werden.

    Wer den Yoga Vāsiṣṭha studiert, entdeckt, dass die Erleuchtung aus nur drei Schritten besteht. Es gibt eine Erscheinung: Woraus besteht sie? Aus denkendem Geist. Was ist der Wesensgehalt des denkenden Geistes und wer versteht dies alles? Die Antwort ist: reines Bewusstsein. In diesem Bewusstsein scheinen du und ich, das Subjekt und das Objekt, voneinander getrennt zu sein.

    Da das Bewusstsein allgegenwärtig und unendlich ist, verkör-pert (kein anderes Wort ist möglich) es sich selbst überall als un-endliche Vielfalt. Diese Vielfalt kann nicht verschwinden, was je-doch verschwinden kann und muss, ist ihre Auffassung als ver-schiedene Gegenstände, die im Gegensatz zueinander stehen. Das Unendliche bleibt zu allen Zeiten unendlich und das Unendliche ersinnt in der Schöpfung all dies innerhalb seiner selbst.

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    Dafür gibt es im Yoga Vāsiṣṭha ein schönes Bild: Vasiṣṭha sagt, dass diese gegenständliche Schöpfung wie ungehauene Figuren in einem Marmorblock ist – du bist der Bildhauer und stellst dir all die schönen Figuren vor, die aus dem Block gehauen werden kön-nen. Diese Figuren existieren darin bereits als Möglichkeiten. Du kannst dir einen großen Buddha darin vorstellen oder du kannst dir Hunderte kleiner Buddhas in der Gestalt des einen Buddha vorstellen. In dieser Weise existiert diese ganze Welt.

    Die Welt existiert nicht als Wirklichkeit; «Welt« ist ein Wort und es gibt eine entsprechende psychische Gestalt. Die psychische Gestalt ist nur eine Vorstellung, die im Bewusstsein auftritt. Indem wir sie als eine unabhängige Wirklichkeit akzeptieren, jagen wir etwas nach und lehnen etwas anderes ab. All diese Erfahrungen erzeugen neuerliche Eindrücke im Geist und stärken die Bindung, oder stärken vielmehr die Vorstellung, die wir von Bindung haben.

    Die äußere Welt und äußere Umstände entstehen in diesem kosmischen Bewusstsein, das du Gott nennst, und dasselbe Bewusstsein erfährt all diese äußeren Umstände. Dies wird als veränderliche subjektive Erfahrungen bezeichnet – das ist alles. Erkennst du dies, bist du von dem Irrtum befreit, diese Erschei-nungen für die Wirklichkeit zu halten. Wurdest du befreit, sagt Vasiṣṭha, dann sitze nicht müßig herum, denn damit würdest du den Strom des Lebens ablehnen. Schließlich rät Vasiṣṭha: Lebe in dieser Welt, da das Leben hier gelebt wird, aber sei gänzlich frei von allem Kummer. Wenn du weinen musst, dann weine; wenn du Leid ausdrücken musst, drücke Leid aus; wenn du Freude und Glück ausdrücken musst, dann tue dies – weil du frei bist.

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    Ich habe nur einen Menschen gesehen, der dem entsprach: meinen Guru, Swami Śivānanda, der ein vollständig erleuchteter und befreiter Mensch war, und auch vollkommen menschlich. Wenn du mit etwas Traurigem zu ihm kamst, sahst du Tränen in seinen Augen, noch bevor du selbst Tränen vergossen hattest; wenn du ihm etwas Erfreuliches zu sagen hattest, war er noch glücklicher als du selbst. Er war ganz ungehemmt, psychisch und spirituell frei; er war äußerst fleißig – nicht weil er etwas erreichen wollte, sondern weil er erkannt hatte, dass Erreichen und Nicht-Erreichen gleichermaßen unerheblich für das Leben sind.

    Dein Leben ist nicht dein Leben. Es ist Teil dieses kosmischen Seins und was auch immer dieses kosmische Sein beschließt, wird geschehen. Dies unmittelbar zu verstehen, bedeutet sich zu erge-ben. Um dies zu erkennen, musst du durch die Verzweiflung hin-durch gegangen sein. Du musst zur unmittelbaren Einsicht gelangt sein, dass das, von dem du willst, dass es geschieht, nicht ge-schieht. Wenn du etwas tust, dich dafür einsetzt und es dann geschieht, würde Vasiṣṭha das ein zufälliges Zusammentreffen nennen. Es geschieht nicht immer und du bemerkst vielleicht, dass es meistens nicht geschieht. Wenn jemand dies erkennt, ergibt er sich vollständig. An diesem Punkt richtet er seine Aufmerksamkeit auf den Ursprung all dieser Verlangen, Begierden, Hoffnungen und Ängste und steht schließlich dem denkenden und fühlenden Geist gegenüber. Er erkennt, dass dieser Geist selbst reines Be-wusstsein ist, obwohl er durch bestimmte Absichten geprägt zu sein scheint, und diese Erscheinung löst sich auf. Das ist ein voll-kommen freies Leben, augenblicklich befreit und göttlich.

    Zinal, Schweiz, 1977

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    Erwache!

    Was sind die Schriften oder heiligen Texte? Wie sind sie entstan-den und für wen sind sie bestimmt? Die Frage ist sehr einfach, aber sehr interessant, weil wir die Schriften seit Tausenden von Jahren haben, aber das menschliche Leben dasselbe geblieben zu sein scheint, so als ob die Wahrheiten gar nicht vorhanden wären, als ob wir nichts hätten, wonach wir uns richten können. Was ge-schieht mit der Schrift? Für gewöhnlich schmückt sie unsere Bib-liotheken und wird kaum jemals angesehen.

    Vielleicht ist dir schon aufgefallen, dass Menschen jedes Mal, wenn sie aufgefordert werden, aus der Bibel oder einem anderen Text zu lesen, zu ihrer Lieblingsstelle gehen und diese immer wie-der lesen. Es ist, als ob wir Scheuklappen tragen würden. Wir se-hen nicht die ganze Wahrheit und folglich beeindrucken die Schriften uns nicht sonderlich.

    So häufig hören wir die Wahrheit, doch selbst wenn sie von einem Weisen, einem Heiligen, einem Yogi, einem Buddha ausge-sprochen wird, lassen wir dieser Weisheit nur ein anerkennendes Nicken zuteilwerden. Ich habe das in Indien erlebt: Jemand be-wundert einen Vortrag, indem er sagt: «Es war wunderbar, ganz erhebend«. Dabei sollte er gar nicht erhebend sein, er hätte er-schütternd sein sollen! Ich habe derartige Bemerkungen zum Bei-spiel nach einem Vortrag gehört, in dem der Yogi die Übel des Besitzes dargelegt hatte und der überwiegende Teil des Publikums

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    aus reichen Menschen bestand. Der Vortrag hat sie nicht auch nur ansatzweise berührt!

    Warum hat trotz all dieser großen Weisen und ihrer Unterwei-sungen keine Veränderung in unseren Leben stattgefunden? Wir sind nach wie vor auf demselben Karussell gefangen. Wahrschein-lich, weil wir eine grundlegende Vorbedingung nicht erfüllt haben, nämlich innerlich zu erwachen. Äußerlich scheinen wir wach zu sein, aber innerlich schlafen wir tief. Wir kaufen diese Schriften als dicke Bände und verwenden sie als Kopfkissen, in der Hoffnung, dass die Botschaft irgendwie aus den Buchdeckeln heraus und in unseren Kopf hinein springen wird. Dies geschieht nicht. Und wenn wir diesen großen Menschen zuhören, schlafen wir ganz sicher geistig und nicht selten auch körperlich!

    Was ist die erste und wichtigste Bedingung dafür, ein wahrer Suchender, ein wahrer Schüler zu werden oder überhaupt ein ernsthaftes Studium der Schriften anzugehen? Dies wird in der hinreißenden Schrift, die Yoga Vāsiṣṭha heißt, in sehr schönen Worten definiert. Die Grundvoraussetzung ist demnach, dass eine klare Einsicht und Erkenntnis besteht: «Ich bin gefangen und ich möchte aus dieser Falle befreit werden«. Ohne diese Einsicht bleiben die Schriften und Vorträge ohne jede Wirkung auf uns. Hast du die Vorstellung: «Ich bin gefangen, aber ich glaube, ich kann einen Ausweg finden«, dann geschieht ebenfalls kein Erwa-chen. «Ich bin gefangen« bedeutet, dass ich in jeder Hinsicht ge-fangen bin, ohne Erlösung, ohne eine Möglichkeit des Entkom-mens.

    Nimm zum Beispiel das Problem der Einsamkeit und der Langeweile. Was tun wir, um diese Langeweile oder Einsamkeit zu

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    überwinden? Wir versuchen uns in etwas zu flüchten, das diese Einsamkeit nur bestätigt. Wir finden jemanden, mit dem wir keine Beziehung haben können und gehen eine Beziehung ein, in der wir uns dann gemeinsam langweilen und gemeinsam einsam sind. Oder wir legen Musik auf, aber auch das nimmt uns unsere Lan-geweile nicht. Wir kaschieren diese Langeweile, diese Einsamkeit, um ihr zu entkommen. So geraten wir in eine noch tiefere, gefähr-lichere und tödliche Falle. Wenn das nicht klar ist, hat kein inneres Erwachen stattgefunden.

    Können wir erkennen wir, dass wir in einer Falle sind, ganz gleich, was wir tun? Alles, was der denkende Geist erschafft, ist eine Falle. Wenn wir innerlich erwacht sind, werden wir aus Schriften und Vorträgen Gewinn ziehen – falls wir nicht ganz un-wissend sind und zugleich auch nicht erleuchtet. Dies sind die Voraussetzungen. Ganz unwissende Menschen haben keinerlei Probleme und die Erleuchteten haben auch keine Probleme. Du und ich, die wir dazwischen stehen, sind diejenigen, die von Problemen bedrängt werden.

    Unwissenheit nimmt verschiedene Formen an, doch eines ihrer Merkmale ist die Fähigkeit, wissend zu wirken. Unwissende sind Philosophen, die den Anschein von Intelligenz erwecken können, ohne intelligent zu sein. Solche Menschen weichen vor den richti-gen Fragen aus und können alle falschen Fragen beantworten. Was sind die richtigen Fragen? Entscheidend ist die Einsicht: «Ich bin gefangen, wie auch immer ich es betrachte. Von morgens bis abends strebe ich nach Glück und finde nichts als Unglück«. Die bloße Tatsache, dass wir dauernd nach Glück streben, zeigt, dass

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    wir unglücklich sind. Stelle dich dem. Was auch immer wir tun, um unser Glück zu mehren, zerstört es nur.

    Und dennoch hören auch intelligente Menschen nicht damit auf. Sie sehnen sich nach innerem Frieden und ringen darum. Dieses Ringen zerbricht den Geist in mehrere Stücke. Eines dieser kleinen Stücke bekommen sie zu fassen und halten sich dann für friedlich! Das ist der ganze Witz. Ist das Intelligenz? Warum setzen wir dieses Spiel fort, obwohl wir diese Abfolge von unglücklichen Ereignissen verstanden haben?

    Falls es ausgeschlossen ist, hier auf Erden inneren Frieden und dauerhaftes Glück zu erlangen, dann gebe es auf, danach zu stre-ben. Ist das möglich? Nein. Innerlich rührt sich noch etwas: «Ich bin gefangen; es muss möglich sein, zu entkommen; ich möchte dem entgehen«. Wenn dieses doppelte Bestreben besteht und du nicht ganz unwissend oder erleuchtet bist, dann kannst du begin-nen, die Schriften zu verstehen. Und wenn die Schrift dir nichts sagt, kannst du auch die Hilfe eines Lehrers in Anspruch nehmen.

    Die Kaṭha-Upaniṣad enthält die schöne Aufforderung: utthiṣ-ṭhata jāgrata – erwache! Niemand sonst kann das für dich tun. Du kannst der Schüler von Gott, dem Allmächtigen selbst sein, aber auch Gott selbst wird dich nicht an deiner Statt erwecken können. Wenn du hungrig bist, musst du selbst essen. Der Guru wird das Essen nicht für dich erledigen. Der Guru kann dir Hinweise geben, aber sie umzusetzen ist dein Problem. Und wenn du spürst, dass es dein Problem ist, dann erwachst du, und dann bist du zum Problem erwacht.

    Solange du nicht aufgehört hast, andere – einschließlich deiner selbst – für den Zustand verantwortlich zu machen, in dem du

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    dich befindest, solange bist du nicht erwacht. Mitten in einem Tunnel siehst du vor dir und hinter dir ein kleines Licht. Genauso meinst du, in der Vergangenheit oder in der Zukunft einen Licht-schimmer zu sehen, während du jetzt gerade in der Dunkelheit bist. Das ist ein absurder Zeitvertreib.

    Die wichtigste Voraussetzung für den Yoga-Übenden ist des-halb die Einsicht, dass niemand für den Zustand verantwortlich ist, in dem du dich befindest. Niemand kann das spirituelle Erwachen in dir herbeiführen. Es kann dir dabei geholfen werden, aber er-wachen musst du selbst. Dieses spirituelle Erwachen wird vom Leben selbst herbeigeführt, aber auch um vom Leben erweckt zu werden, bedarf es einer gewissen Gnade und einer gewissen inne-ren Wachsamkeit.

    Erwachen ist leicht, wach bleiben ist hingegen weniger leicht. Diejenigen unter euch, die versucht haben, frühmorgens zur Me-ditation aufzustehen, können das bestätigen. Du stellst den We-cker, er läutet und du wachst auf. Dann aber wach zu bleiben, ist schwer. Der Geist liebt es, zu schlafen. Warum? Der Geist ent-springt der Unwissenheit, deshalb liebt er den Schlaf und verlangt nach einer dicken psychischen Bettdecke.

    Erwache also! Das Erwachen ist dein Problem, es liegt in deiner Verantwortung, nicht in der des Lehrers. Von da an sei stets wach-sam. Wenn ich dieses Wort «wachsam« gebrauche, fällt mir die berühmte Lehre Buddhas ein. In einigen Texten steht, dass Bud-dha in einer seiner letzten Predigten seinen Schülern sagte: «Lebe in dieser Welt, als würdest du in einem Raum mit einer lebendi-gen Kobra am Eingang leben«. Kannst du dir das vorstellen? Wenn du in einen kleinen Zimmer wärst, das nur eine Tür und keine

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    Fenster hätte, keine Fluchtmöglichkeit, und du fändest mitten in der Nacht eine Kobra neben dieser Tür vor, was würdest du tun? Würdest du schlafen? Würdest du dösen? Wie wachsam du wärst! So muss die Wachsamkeit des Suchenden sein.

    Wir können diese Wachsamkeit entwickeln, wenn wir verste-hen, dass wir gefangen sind und dass alles, was wir tun, um uns daraus zu befreien, uns nur noch tiefer in die Falle führt. Weil der denkende Geist in Unwissenheit entsteht und sich in Unwissen-heit bewegt, kann er nur Unruhe erzeugen und unseren Frieden stören. Er vermag ein zeitweiliges Glücksgefühl zu erzeugen – das allerdings bloß ein Zustand der Verwirrung ist. Wenn du jemals auch nur 15 Sekunden lang wahres Glück empfunden hast, warum hast du es dann aufgegeben? Weil es gar nicht Glück war!

    Wenn all unsere Unternehmungen zum Scheitern verurteilt wären, würden wir aufhören, irgendetwas zu tun. Der denkende Geist führt uns also von einem Unglück zum andern und gibt uns manchmal das Gefühl, dass es uns gut geht. Das ist das Spiel, das der denkende Geist spielt. Wenn diese Einsicht dämmert, entsteht Wachsamkeit.

    Kannst du die Wahrheit über das Leben entdecken, wenn du wach und wachsam bist? Mit was entdeckt man die Wahrheit? Das Denken und der denkende Geist können die Wahrheit nicht entdecken, weil sie aus Unwissenheit entstanden sind. Mit was sonst können wir sie entdecken? Hier kommt der Fragende nicht weiter. Wir können dasitzen und nachdenken, aber wir haben schon verstanden, dass Nachdenken zu nichts führt. Wir sind wach, wir sind achtsam, aber wir wissen nicht, was wir sonst noch tun können. Wohin gehen wir von dort aus? Gehe zu einem

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    erleuchteten Menschen und sei erleuchtet! Es ist unsere Aufgabe und unser Vorrecht, zu erwachen. Mit Hilfe unseres Meisters ist Erleuchtung möglich. Ansonsten besteht die Gefahr, dass wir uns selbst für erleuchtet halten, weil unser Geist behauptet, er sei er-leuchtet – eine weitere Falle! Deshalb lautet das Gebot der Upa-nischaden: utthiṣṭhata jāgrata – erwache, bleibe wachsam. Gehe zu den Erleuchteten und erlange die Erleuchtung.

    Eine kleine Geschichte ganz zu Anfang des Yoga Vāsiṣṭha illus-triert das: Ein großer Weiser namens Vyāsa hatte einen Sohn na-mens Śuka, von dem es hieß, dass er im Augenblick seiner Geburt zu einem Jungen von 16 Jahren herangewachsen war und sein Heim verließ. Der alte Weise Vyāsa, der sehr an seinem Sohn hing, lief dem jungen Mann hinterher und rief ihn zurück. Dieser gebo-rene Weise, Śuka, antwortete seinem Vater nicht einmal. Er ging davon, während die Bäume auf den Ruf des Vaters antworteten. Warum geschah dies? Dieser junge Mann hatte sich selbst mit dem gesamten Universum identifiziert.

    Ein anderer geborener Weiser wurde im ātma jñāna, der Selbstkenntnis, unterwiesen. Der Junge hatte die Schriften stu-diert und als sein Vater sie ihm erklärte, dachte er: «Das weiß ich schon«. Also fragte er seinen Vater: «Vater, was ist die Wahrheit über dieses Dasein? Was ist die Wahrheit über dieses Leben? Ich spüre, dass es ein kosmisches Einssein gibt, und dennoch sind wir so viele«. Der Vater sagte: «Ja, das scheint richtig zu sein und auch die Schriften sagen dies. Dein Verständnis scheint in die gleiche Richtung zu weisen«.

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    Es gibt übrigens ein Grundprinzip: Deinen eigenen Ehemann, deine Frau oder deine Kinder kannst du nicht unterweisen – sie werden dir nicht zuhören.

    Der alte Mann erkannte dieses Problem und sagte: «Mein Sohn, das ist alles, was ich weiß; das Wissen aber hat kein Ende. Es ist besser, deine Erkenntnis von einem erleuchteten Wesen, einem erleuchteten Weisen, bestätigen zu lassen. Erst dann wird dieser kleine Schatten eines Zweifels, der in deinen Geist entstan-den ist und dich mit dieser Frage zu mir geführt hat, vollständig beseitigt sein. Wenn du die höchste Erleuchtung erlangen willst, empfehle ich dir, zu einem erleuchteten Herrscher namens Janaka zu gehen. Er wird dich weiter lehren und deine Erkenntnis bestäti-gen können«.

    Der junge Mann ging zu Janakas Palast, stand vor den Palast-toren und ließ durch einen Boten melden, dass Śuka, der Sohn von Vyāsa, gekommen sei, um Janakas Segen zu erhalten. Janaka hörte dies, gab aber keine Antwort und empfing ihn nicht. Statt-dessen wies er seine Diener an, den Jungen mit sämtlichem Unrat zu überschütten und ihn allen möglichen unwürdigen Behandlun-gen zu unterziehen. Der Junge blieb unbewegt: «Ich bin gekom-men, um von diesem König zu lernen, der ein Weiser ist; das ist alles. Ich bin an nichts anderem interessiert«. Das ist wahre Kon-zentration, wahre Hingabe; das ist Glaube und Begeisterung!

    Nach einer Woche ließ der König ihn in den Palast bringen. Dort gab es Tanz, Theater, Musik und dergleichen und er wurde in duftendem Wasser gebadet. Auch dabei blieb er unbewegt: «Ich bin gekommen, um den König zu sehen, um ātma jñāna zu erlan-gen«.

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    Das wird Wachsamkeit genannt. Warum ist diese Wachsamkeit so wichtig? Weil sie ein Zeichen der Erkenntnis ist, dass alles Bin-dung ist, was durch den Geist hervorgebracht wird, unabhängig davon, ob es wie etwas Gutes oder Schlechtes aussieht.

    Nach einer weiteren Woche wurde Śuka wirklich zum König geleitet und der König sagte: «Du strahlst wie ein erleuchtetes Wesen, das bereits wissend ist. Was möchtest du von mir hören?« Der junge Mann erwiderte: «Herr, mein Vater sagte dieses und jenes, dies glaube ich, und dies ist, was die Schriften sagen ..«. Der König erwiderte: «Richtig! Ich sage genau dasselbe. Jetzt gehe!« So wurde nach zwei Wochen harter Prüfung das, was Śuka selbst erkannt und was er von seinem Vater und den Schriften gelernt hatte, von dem erleuchteten Menschen bestätigt. Was von den Lippen des erleuchteten Menschen kommt, ist nicht Frucht des denkenden Geistes, deshalb ist es annehmbar. Dies ist der Vor-gang der Erleuchtung, und wenn wir dieses Vorgehen überneh-men, kann es sein, dass unsere Suche ebenfalls fruchtbar ist.

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    Ein Lied des Leids

    Genau wie die Bhagavad Gītā hat auch die Lehre des Yoga Vāsiṣ-ṭha eine Rahmenhandlung. Sie ist eine Geschichte innerhalb einer Geschichte – ganz ähnlich wie in Tausendundeiner Nacht. Es ist die Geschichte von Rāma, den manche Menschen für eine Ver-körperung Gottes halten. Ob du an eine Art Inkarnation Gottes oder Verkörperung des göttlichen Wesens glaubst oder nicht, bleibt dir überlassen. Auch in Indien gibt es hitzige Debatten dar-über, was eine Verkörperung Gottes ist. Wir sollten uns jedoch dessen bewusst sein, dass uns als Hauptperson des Dramas je-mand begegnet, der nahezu in aller Welt als ein Übermensch gilt, als ein Prophet oder als der verkörperte Gott.

    Diese verkörperte Gottheit, Rāma, war der geliebte Sohn eines Königs namens Daśaratha. Er wuchs wohlbehütet und im Über-fluss auf. Das ist interessant: An jemanden, der, wie man so sagt, mit einem Silberlöffel im Mund geboren wurde, in einem Palast lebt und vom ersten Atemzug an mit Luxus umgeben war, ist all dies vollkommen verschwendet, weil er diesen Luxus nicht schät-zen kann. Doch obwohl er in diesem behüteten Überfluss aufge-wachsen war, hing Rāma offenbar weder an diesem Leben, noch hatte es ihn verdorben. Wie alle jungen Menschen es früher oder später wünschen, wollte er die äußere Welt kennenlernen. Des-halb unternahm er eine Pilgerreise. Während dieser Pilgerreise hat er offenbar andere Dinge gesehen als die, mit denen er aufge-

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    wachsen war. Er muss den Wirklichkeiten des Lebens von Ange-sicht zu Angesicht begegnet sein und das stellte ihn vor die Frage: «Was ist das Leben?« Ich bin versucht, hier eine Parallele zur Ge-schichte des Buddha zu ziehen. Wie der Buddha begann der junge Mann zu antworten, nicht auf wirkliche Fragen, sondern auf die Wirklichkeiten des Lebens, auf das Elend des Lebens. Und deshalb kam er gründlich enttäuscht zurück und versank daraufhin in et-was, das wir «Depression« nennen können.

    Nachdem er von der Pilgerreise heimgekehrt war, wurden seine Dienste von einem großen Weisen namens Viśvāmitra benötigt. Als Viśvāmitra im Palast erschien, ließ der König Rāma rufen. Ein Diener holte ihn und berichtete dem König, dass der junge Prinz seit seiner Pilgerreise nicht mehr fröhlich sei. Er sähe sehr niedergeschlagen aus und seufze häufig. Er sei nicht mehr an Tanz und Musik interessiert. Er mache den Eindruck, als ob etwas in ihm zugestoßen sei, als ob ihn innerlich etwas bewegen würde. Er war weder ganz unwissend, noch vollständig erleuchtet. Daher schwankte er – er war weder hier, noch dort.

    Der König ließ den jungen Prinzen holen. Als er am Hofe er-schien, sah Vasiṣṭha, der königliche Guru, ihn an und fragte: «Was ist los mit dir? Was fehlt dir?« Das erste Kapitel des Yoga Vāsiṣṭha ist fast ausschließlich Rāmas Sicht des Lebens und der Welt ge-widmet. Selbst wenn du nur diesen ersten Abschnitt liest, wirst du darin wahrscheinlich höchst inspirierende Wahrheit finden, die äußerst geistreich dargelegt ist. Rāma untersucht jeden Lebens-abschnitt: Geburt, Kindheit, Jugend, Alter und Tod. Er zeigt, wie lächerlich es ist, das Leben für etwas Erfreuliches zu halten. Er sagt: «Über dieses Leben ist nur glücklich, wer es nicht erkundet«.

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    Nicht nur Rāma sagte dies; auch von Sokrates wird angenommen, er habe gesagt, dass das unerkundete Leben nicht wert sei, gelebt zu werden. Die meisten Menschen gehen vollkommen geblendet durch das Leben, erkunden es nicht und wissen nicht, wohin sie gehen, was ihnen geschieht, was die Welt und was das Leben ist.

    Bestimmt hast du schon einmal einen schönen Wasserfall ge-sehen. Hast du dir die Mühe gemacht, einige Schritte vom Was-serfall in Richtung Quelle zu gehen? Wie ruhig und friedlich das Wasser dahinfließt, obwohl es kurz darauf in gewaltigen Aufruhr gerät! Ebenso wenig wissen wir, was das Leben mit sich bringt. Alles ist vollkommen unsicher, die einzige Sicherheit ist, dass all dies enden wird.

    Rāma betrachtet seinen Körper und sagt: «Welch ein undank-barer Schuft dieser Körper ist. Ich nähre ihn, kleide ihn und wa-sche ihn, doch eines Tages wird er mich hinauswerfen. Ist es das, wofür ich ihn nähre und kleide?« In dieser Weise untersucht er alle Aspekte des Lebens: «Hast du jemals ein Baby gesehen, wie es schreiend daliegt, hilflos, der Gnade aller anderen ausgeliefert? Und man weiß nicht, ob es hungrig ist, Schmerzen hat oder krank ist. Was für ein elender Zustand! Als kleiner Junge zerstreust du dich mit Nichtigkeiten. Du bist der Sklave aller anderen, deine El-tern behandeln dich, als wärst du ein Niemand. Dann wächst du zu einem Jugendlichen heran und denkst, dass du dich jetzt end-lich des Lebens erfreuen wirst, aber das ist nicht wahr. Jungen laufen Mädchen nach und Mädchen laufen Jungen nach, sie jagen sich gegenseitig nach, werden verstoßen und abgelehnt. Wieder derselbe Herzschmerz, dieselbe Qual, dasselbe Verlangen. Obwohl du dich für unabhängig hältst, bist du ein Sklave von Millionen

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    Sehnsüchten und Verlangen. Dies ist kein befriedigender Zustand. Und dann weißt du, dass du älter wirst. Schau den Mann in mittle-ren Jahren an: Er ist ein Bild des Jammers. Er sorgt sich um sein Haus, er sorgt sich um sein Geschäft, er sorgt sich um sein Eigen-tum, er sorgt sich um alles. Geld zu bekommen ist Sorge, das ver-diente Geld zu bewahren ist Sorge, es richtig auszugeben ist eine Sorge und es nicht zu verlieren ist eine weitere Sorge. Es ist alles ein Elend«.

    Dann kommt Rāma zum Ich. Er sagt: «Der Geist ist wirklich et-was Seltsames! Es scheint ihn nicht zu geben und dennoch hat er mich vollkommen im Griff«. Die Führenden der Welt haben viel über Menschenrechte gesprochen, über menschliche Würde und ähnliches. Doch das ist das Unwürdigste am Leben: dass wir dem Denken und Fühlen, dem Geist unterworfen sind. Den sogenann-ten Geist gibt es nicht, und dennoch sind wir ihm ganz ausgelie-fert. Er dreht alles um, noch bevor wir darüber nachdenken können, was geschieht.

    Diese Gedanken spricht Rāma aus. Der Text ist schockierend, aber schön. Während du ihn liest, erkennst du, dass er wahr ist, er beschreibt nicht zu leugnende Tatsachen. Für uns ist Rāmas ab-schließendes Bekenntnis wichtig. Er sagt: «Ich habe das Leben un-tersucht. Nichts lockt mich mehr. Weil ich all dies beobachten und die Eitelkeit des Lebens erkennen konnte, die äußerste Nichtigkeit der Suche nach Frieden und Glück, nach etwas Dauerhaftem in diesem Leben, bin ich ganz und gar frei von allem Verlangen nach Genuss«.

    Wenn du und ich diese Lehren hören, fühlen wir uns erhoben, in Hochstimmung versetzt, erregt. Aber der einzige Mensch, der

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    die Ansichten Rāmas zu schätzen schien, auch wenn er ihnen nicht ganz beipflichtete, war der Guru. Vasiṣṭha war erfreut, dass ein Erwachen stattgefunden hatte, aber nicht hell erfreut, weil dieses Erwachen nicht aus der unmittelbaren Schau der Wahrheit kam. Diskutierte er mit Rāma über das, was dieser gesehen hatte? Nein. Er sagte genau dasselbe, von einem anderen Standpunkt aus.

    In alten Zeiten galt die Lehre als geheim, weil sie fehlgedeutet und verdreht werden kann, wenn sie einem unreifen Menschen mitgeteilt wird und das Zeitverschwendung ist. Deshalb sagten die Meister: «Halte es geheim«, was nicht bedeutet: geheim, weil ich dieses Wissen nicht mitteilen möchte oder weil ich mit diesem Wissen Handel treiben möchte, sondern geheim, weil es nur ei-nem Menschen mitgeteilt werden soll, der geeignet und bereit dafür ist.

    Wann ist eine solche Unterweisung sinnvoll? Wenn jemand reif ist. Dies ist offenkundig. Fällt ein Same auf reifen Grund, geht er auf. Gibt es ein Kriterium, durch das ich erkennen kann, ob ich reif bin oder nicht? Wird ein unreifer Mensch oder ein halbreifer Mensch zugeben oder erkennen, dass er nur halbreif oder unreif ist? Würde ein völlig unreifer Mensch diese heilige Gemeinschaft überhaupt suchen? Woher weiß man, wann man wirklich reif und fähig ist, unmittelbar auf diese Lehre zu antworten? Man kann es nicht wissen. Es ist ein Zirkelschluss: Man wartet ab, ob die Lehre Wurzeln schlägt – dann ist man ein reifer Mensch. Erst wenn der Spross sich zeigt, kann man sagen, dass die Saat aufgegangen ist.

    Es ist eine Sache, dieses Leben zu betrachten, darin ein unend-liches Lied des Leids zu sehen und deswegen niedergeschlagen zu

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    sein; es ist eine ganz andere Sache, das Leid als eine Tatsache zu betrachten und davon inspiriert zu sein. Dies sind zwei ganz un-terschiedliche Dinge. Der unreife, unwissende Geist nimmt dieses Leid wahr und geht darin unter.

    Es ist unmöglich, das Leben zu beobachten und nicht zu be-merken, dass das Leben Leiden ist. Leben, wie wir es kennen, und Leiden sind gleichbedeutende Worte. Wer nicht aufmerksam ge-nug ist oder unfähig, dies zu erkennen, lebt nicht, sondern exis-tiert nur als bloßes Ding, als ein Stück Materie. Später im Yoga Vāsiṣṭha kommt der Meister immer wieder auf dieses Thema zu-rück und sagt: «Wenn du nicht willens bist, das Leben zu erkun-den, oder wenn du das Leben erkundest und die Wahrheit nicht erkennen kannst, bist du kein Mensch, sondern ein Esel«.

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    Den vernebelten Geist klären

    Können wir das Leben genau untersuchen und es herrlich finden? In der Kaṭha-Upaniṣad gibt es eine Geschichte, in der ein junger Suchender zum Gott des Todes geht und ihn um das Wissen über das Selbst bittet. Der Guru ist also der Gott des Todes selbst, und dieser Guru versucht, die Aufmerksamkeit des jungen Mannes mit süßen Versuchungen zu zerstreuen. Er sagt: «Wünsche dir irgend-etwas – ein langes Leben, alle Freuden des Lebens, Wohlstand, Tanz, Musik – ich gebe dir alles, was du willst. Aber verlange nicht ātma jñāna – die Selbstkenntnis«. Dieser junge Mann sagt schlicht und unbeeindruckt: «Alles andere kann ich leicht bekommen, aber solange du, Tod, gegenwärtig bist, ist es völlig nutzlos. Das Leben ist es nicht wert, gelebt zu werden, wenn ich weiß, dass alles, was ich erwerbe, zurücklassen werden muss«. Wenn ich weiß, dass all die Beziehungen, die ich pflege, mit einem Fingerschnipsen been-det werden können, werden diese Beziehungen bedeutungslos. Was bleibt uns dann übrig?

    Wie Patañjali im Yoga-Sūtra sagt, betrachtet der weise Mensch alles im Universum, alles Leben, als leidbehaftet. Es gibt zwei Hal-tungen dazu. Eine führt uns in einen Zustand der Niedergeschla-genheit und wir ziehen uns vom Leben zurück, soweit dies möglich ist. Doch können wir uns ganz vom Leben zurückziehen? Wir kön-nen Selbstmord begehen. Ramana Mahaṛṣi hat etwas sehr Schö-nes aufgezeigt. Er sagte: «Es ist der Geist, der leidet, der sündigt,

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    der genießt und für all dies verantwortlich ist; doch wenn du von allem angewidert wirst, bestrafst du etwas, das daran ganz un-schuldig ist: deinen Körper«. Wir bestrafen nicht den Geist, wir bestrafen nicht unser Ich, wir bestrafen etwas, das gar nichts ge-tan hat. Der Körper war ist nur ein Werkzeug, er ist nur eine Hülle.

    Die andere Haltung ist, was Buddha «die edle Wahrheit des Leids« nennt. Wie wird Leid zu einer edlen Wahrheit? Es wird erst dann zu einer edlen Wahrheit, wenn es unser Herz und unsere Seele erhellt und veredelt. Wie und wann geschieht das? Wenn wir beginnen, diese ganze Erscheinung des Lebens, der Lebens-führung, des Tätigseins, der Beziehungen, der Bindung, der Frei-heit zu erkunden. Es geht uns nicht darum, ob jemand ein Opti-mist oder ein Pessimist ist, weil beide in dichtem Nebel stehen, der keine Klarheit zulässt.2 Man muss aus diesem Pessi-Mist oder Opti-Mist heraustreten und Realist werden. Wurden sie alle gründlich untersucht und ihre Wahrheit ohne irgendeinen Nebel verstanden, dann können wir eine lange Liste der Wahrheiten auf-stellen, die wir sehen. Dann entsteht Weisheit und dann wird die Wahrheit edel.

    Wie kann ich diese beiden Tatsachen miteinander vereinen: dass Leid dem Leben innewohnt (und natürlich will ich nicht un-glücklich sein) und dass ich das Leben, das voller Leid ist, nicht ablehnen oder vor ihm davon laufen kann? Die Wahrheit über das Leid kann erst dann klar verstanden werden, wenn die Wahrheit über das Glück verstanden wurde. Wir können nicht verstehen,

    2 Wortspiel mit engl. mist („Nebel“).

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    was Unglück bedeutet, ohne zu verstehen, was Glück bedeutet, weil Unglück nur eine Erweiterung des Glücks ist. (Schreibe das Wort Glück und füge am Anfang ein «Un-« dazu.) Es ist keine ganz andere Kategorie. Wenn wir dies untersuchen, ohne dabei emo-tional oder sentimental zu werden oder uns darin zu verstricken, erkennen wir ganz klar, dass das Streben nach Glück an sich schon Unglück ist. Das Streben führt dazu, dass es sich ausdehnt. Solan-ge wir das Glück verfolgen, wird es zu Unglück. Wären wir glück-lich, würden wir nicht nach Glück streben.

    Die bloße Tatsache, dass wir nach Glück streben, zeigt, dass wir unglücklich sind. Schau dem ins Auge, ohne davor zu fliehen oder es zu rechtfertigen, ohne zu sagen: «So ist das Leben« oder: «Ich kann es nicht ertragen« – versuche es!

    Um das Leid zu verstehen, muss man also das Glück verstehen. Das ist etwas Wunderbares. Im Yoga Vāsiṣṭha wirst du häufig auf ein und derselben Seite widersprüchliche Aussagen finden. Der Yoga Vāsiṣṭha ist nicht intellektuell und deshalb auch nicht philo-sophisch im westlichen Sinne des Wortes. Verstehst du Philoso-phie ganz wörtlich als Liebe zur Weisheit, enthält der Text reich-lich davon, verstehst du darunter jedoch eine Abhandlung, wie sie zur Erlangung eines Doktortitels geschrieben wird, dann liegt keine Philosophie darin. Der Yoga Vāsiṣṭha enthält keine Gedan-kennahrung. Anders herum gesagt: Der Yoga Vāsiṣṭha enthält jede Menge Gedankengift, das dein Denken tötet, deinen Geist tötet, noch bevor du zwei Schritte getan hast.

    Im Laufe seiner Ansprache an seinen Schüler Rāma kommt Va-siṣṭha immer wieder zu der großartigen Verkündung zurück, dass Erleuchtung nicht geschieht, solange du nach Genuss strebst. Das

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    entscheidende Wort hier ist «Genussstreben«. Die einzige Mög-lichkeit, den eigenen Erleuchtungsgrad oder den anderer Men-schen einzuschätzen, ist zu beobachten und darauf zu achten, ob Genussstreben besteht. Besteht dieses Genussstreben, ist alles nur Gedankenspiel. Du hast deinen Geist entwickelt, du bist rede-gewandt und faszinierst die Menschen, doch das ist nicht die Er-leuchtung.

    Was meinen wir mit Genussstreben? Hier muss man wieder zwischen dem reinen Erleben von Genuss (oder bezeichne es als Seligkeit, Freude oder mit einem anderen Wort, wenn du es nicht Genuss nennen willst) und dem Streben nach Genuss unterschei-den. Was ist der Unterschied zwischen beiden? Ganz einfach: So wie das Leben in seinem Strom Erfahrungen mit sich bringt, die Kummer genannt werden, Leid oder Unglück, so bringt derselbe Lebensstrom andere Erfahrungen mit sich, die einfach nur deshalb als Freude, Glück oder Vergnügen bezeichnet werden, weil das eine ohne das andere nicht erkennbar ist. Wir schauen hinaus und sagen, dass es Nacht ist, nur weil wir vor ein paar Stunden gese-hen haben, dass es hell war und wir dies «Tag« genannt haben. Das eine befähigt uns, das andere zu erkennen.

    Der Weise, der diese Tatsache des Leids im Leben veredeln möchte, bemüht sich, den Mechanismus des Genusses zu verste-hen, die Dynamik des Genusses und was dabei geschieht. Zwi-schen Schmerz und Genuss besteht ein entscheidender Unter-schied: Schmerz kommt uns fast absolut vor, er ist stets neu und nie langweilig. Genuss hingegen ist relativ und scheint irgendwie vergiftet zu sein: Es gibt keinen reinen Genuss. Auch wenn wir etwas sehr genießen, beschleicht uns Zweifel: «Dies wird bald

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    enden ... Was dann?« So denken wir nicht, wenn wir Kopf-schmerzen haben! Wenn man glücklich ist, ist man sich bewusst, dass dieses Glück vergehen wird, dass es kurzlebig ist.

    Sehen wir etwas sehr Schönes zum ersten Mal – einen Sonnen-aufgang oder einen Palisanderbaum in voller Blüte – staunen wir. Der Kiefer klappt herunter und wir machen große Augen. Ich bin sicher, dass du dies schon einmal in Bezug auf das eine oder an-dere erfahren hast. Wärst du in diesem Augenblick bewusst und lebendig gewesen, hättest du erkannt, dass das Denken während dieser wenigen seligen Augenblicke aufgehoben war. Du warst le-bendig, du warst bewusst, du warst gewahr, aber das Denken war aufgehoben. «Oh – !« Doch das währt nicht lange. Still und leise schleicht sich etwas anderes ein: «Oh, das ist schön. Ich will es noch mal«. Anfangs war es ein Gewinn, aber wenn du es noch mal willst, wird es zu einem Verlust!

    Das ist ein weiteres dieser geheimnisvollen Grundprinzipien des Lebens: Warum wollen wir es noch einmal? Weil es uns be-eindruckt hat. Krishna spricht im zweiten Kapitel der Bhagavad Gītā über dieses Phänomen. Wenn wir etwas erfahren, das uns beeindruckt, heißt das, dass im Geist ein Eindruck entstanden ist und dieser Eindruck nach Wiederholung drängt. Der Eindruck, den die erste Erfahrung gemacht hat, verlangt nach Wiederholung. Was genau geschieht dabei? Tragen wir eine empfindliche Foto-platte in uns, die diesen Eindruck aufnimmt? Dies ist ein sehr geheimnisvolles, sehr interessantes, fesselndes Thema für die Meditation, denn – vergesse dies bitte nicht – wenn wir nicht beeindruckt sind, entsteht kein Eindruck, der später erneuert werden will und nach Wiederholung verlangt.

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    Das Streben nach Genuss kommt also daher, dass wir beim ers-ten Mal beeindruckt sind. Es ist eine direkte Folge der Achtlosig-keit, mit der wir die erste Erfahrung durchlaufen und zulassen, dass ein Eindruck entsteht. Gelingt es uns, eine Methode zu ent-decken, die größte Freude zu erfahren und zu genießen, ohne von ihr beeindruckt zu sein, sind wir entkommen und die gesamte Dynamik des Verlangens löst sich auf. In uns ist immer noch Glück, aber es ist kein Eindruck entstanden. Deshalb besteht kein Verlangen und entsteht kein Streben.

    Eine der Möglichkeiten, zu überprüfen, ob wir diese Dynamik ganz klar verstanden haben, ist die Beantwortung folgender Frage: Wenn wir bei einer bestimmten Gelegenheit Genuss emp-finden, verlangt es uns dann auch nach diesem Genuss, wenn diese Gelegenheit nicht besteht? Falls dem so ist, hat der Genuss einen Eindruck hinterlassen und von da an sind wir Sklaven. So-bald der Eindruck erzeugt wurde, ist ein sogenanntes saṁskāra entstanden. Saṁskāra bedeutet «eine Narbe«3 – auf unserer Psy-che ist eine Narbe entstanden, die früher oder später jucken und uns stören wird. Kann dies vermieden werden, dann können wir etwas genießen, solange es da ist, ohne dass es uns in seiner Ab-wesenheit danach verlangt. Das ist bereits ein großer Fortschritt.

    Die Tragik des Strebens nach Genuss ist, dass wir dabei niemals glücklich sind. Die Tragik liegt darin, dass wir ständig von Genuss träumen, uns nach Genuss sehnen, aber nichts uns zufrieden

    3 Engl. some scar („eine Narbe“), was ähnlich ausgesprochen wird wie saṁskāra.

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    stellt. Wir sind immer unglücklich. Wenn Gott gnädig ist und uns Genuss schenkt, wann immer wir möchten, langweilen wir uns. Dann gibt es keinen Genuss mehr.

    Das gilt nicht nur für das, was irreführenderweise als Sinnes-freude bezeichnet wird, sondern auch für das, was wir spirituelle Freude nennen. Jede Freude, von der wir reichlich haben, wird langweilig, sie verliert ihre Kontur und ihren Reiz. Das habe ich so-gar im Umfeld unseres göttlichen Meisters bemerkt. Ich sagte ge-rade, dass du beim Anblick von etwas Schönem, etwas Prächti-gem, Großartigem, Göttlichem einfach mit offenem Mund, offenen Augen und ruhendem Geist da stehst. So erging es uns, als wir ihn das erste Mal sahen. Ich kann das ganz kühn von fast jedem behaupten, der zum Ashram kam, um sein mönchischer Schüler zu werden. Alle machten dieselbe Erfahrung. Sie waren aus Südafrika, Südindien, Australien, Kanada gekommen und hiel-ten ihn für einen Guru, für einen Swami oder für den Vorstand des Ashrams. Aber sobald sie im Ashram waren, konnten sie ihn se-hen, wann immer sie wollten, und dann kam etwas hinzu, der Himmel weiß, welche Art von Teufel es war, und das ekstatische Entzücken war fort, fort, fort.

    Freude wird also zu einem Unheil, wenn sie leicht verfügbar ist. Sie wird abstoßend. Und wenn ein Streben nach Genuss besteht, ist das Leben unendliches Leid. Der Genuss, der uns gewährt wird, wird zu Sorge, weil wir befürchten, dass wir ihn wieder verlieren; der Genuss, der uns nicht gewährt wird, quält uns.

    «Aha! Wir haben verstanden. Wir werden also keinen Genuss mehr suchen. Wir werden Leid suchen«. Einige Swamis in Nord-indien sind ganz wild darauf, ihr Genussempfinden zu dämpfen.

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    Sie schlafen nicht in einem weichen Bett, sie kleiden sich in Säcke und selbst ihre Nahrung muss frei von Geschmack sein, denn wenn du beim Essen schmeckst und genießt, bist du gefangen! Gibst du ihnen Reis mit Curry, das du nach deinem Geschmack gewürzt hast, waschen sie die Nahrung mit Wasser, bis auch die leiseste Spur von Gewürz entfernt ist. Dann setzen sie sich hin und essen. Die Leute sind überaus beeindruckt von dieser Verhaltens-weise. Aber in nur drei Wochen kann man sich daran gewöhnen.

    Wir können uns Freude also verwehren. Dabei entdecken wir nur, dass der Geist immer noch in kleinen Dingen nach Freude sucht. Im Geist gibt es etwas, das Freude genießt. Erkenne dies. Im Leben, in diesem Universum gibt es etwas, das in seinem Ver-lauf verschiedene Erfahrungen mit sich bringt, und es besteht eine Wechselwirkung zwischen dem Geist und diesem Fluss – dem Lauf des Lebens.

    Das ist nur erkennbar, wenn man versteht, was die sogenannte Außenwelt ist und was «Geist« oder «Ich« bedeutet. Wird das Wesen von beidem verstanden, kann man leben und Erfahrungen machen, ohne durch Freude oder durch Leid beeindruckt zu sein – ein erleuchtetes Leben führen, während man an allen Aspekten des Lebens teilhat. Das war die Ausgangsfrage: Wenn ich sehe, dass das Leben voller Kummer ist, soll ich dann weiterhin an den Tätigkeiten dieser Welt teilhaben? Soll ich nach wie vor leben wie jeder andere? Vasiṣṭha stimmt dem zu: «Ja. Doch lebe weise, führe ein erleuchtetes Leben«.

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    Wer erschafft?

    Wenn klar ist, dass das Streben nach Genuss Kummer ist, dann ist der nächste Schritt sehr leicht. Bevor wir diesen Schritt gehen, ist es wichtig, einen entscheidenden Faktor zu verstehen, nämlich: Die spirituelle Wahrheit oder Wirklichkeit ist ihrem Wesen nach jenseits der Beschreibung. Sie bleibt außerhalb der Reichweite des Geistes und des Intellekts, ganz gleich, was erörtert wird, um sie zu verstehen. Wir wissen nicht, warum das so ist. Wenn wir den Grund dafür finden wollen, kann es sein, dass wir in einen Zirkel-schluss geraten, weil die Sprache den Anforderungen der spiritu-ellen Wahrheit nicht genügt.

    Dass Sprache nicht der Sache der Wahrheit dient, ist nicht schwer zu verstehen. Nichts Wesentliches kann wirklich in Worte gefasst werden. Friede, Liebe, Glück, Freude, Genuss, Gesundheit, Heiligkeit, göttlich, Gott – wir nehmen diese Worte bloß in den Mund, aber der andere Mensch versteht nicht, worüber wir spre-chen, wenn er nicht auf derselben Wellenlänge und auf derselben Ebene ist. Die Bedeutung dieser Worte ist nicht in Worte zu fas-sen. Keine wahre, ernste und tiefe Erfahrung kann in Worte ge-fasst werden. Deshalb schleichen wir um den heißen Brei herum und während wir immerzu im Kreis gehen, erschaffen wir Bilder. Wahrscheinlich kennst du den witzig gemeinten Spruch: «Glück ist ... « und dann wird irgendetwas eingesetzt – eine Zigarette, eine Tafel Schokolade, ein Glas Wein, eine Freundin. Also ist dein Geist

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    jetzt auf dieses Bild ausgerichtet als ob dieses Bild das Glück wäre. Dieses Bild ist nicht das Glück. Du hast es erfunden, um zu vermit-teln, was du meinst, um das Unaussprechliche auszudrücken. Der Geist hat vertraute Bilder ersonnen, um vorzugeben, das Uner-kennbare – die Wahrheit – sei erkannt worden.

    Der nächste und gefährlichste Schritt in diesem Ablauf ist, dass der Geist des Hörers diese unaussprechliche Wahrheit unweiger-lich in seine eigene Ausdrucksweise übersetzt, vielleicht sogar unter Verwendung seiner eigenen Bilder, und die ursprüngliche Lehre dabei ganz verloren geht. Dies ist, kurz gesagt, das Grund-problem des Wissens. Wenn dir dies klar ist, wirst du versucht sein, aufzustehen und wegzugehen, weil du erkennst, dass der Rest der Erörterung ein Blindgänger ist. Das Spiel ist verloren, be-vor es begonnen hat! Mein Vorschlag lautet deshalb: Können du und ich, während wir diese Erörterung fortführen, diese Art des Übersetzens vorübergehend einstellen, soweit dies möglich ist? Gurudev Swami Śivānanda sagte immer wieder: «Religion eignet sich nicht zur Erörterung am Clubtisch. Sie ist eine tiefgreifende, grundlegende innere Erfahrung«. Diese innere Erfahrung ist nicht-sprachlich und demnach unaussprechlich.

    Ich habe diese Geschichte vielleicht schon einmal erzählt, aber sie verträgt die Wiederholung: Ein verarmter, blinder Bettler hatte sein Lager auf dem Anwesen eines wohlhabenden Geschäftsman-nes aufgeschlagen. Einige Tage später hörte er Weinen und Kla-gen, das vom Palast her kam. Er tastete sich zum Palast vor und tatsächlich saß der Herr des Hauses auf der Veranda und klagte laut. Der Bettler ging zu seinem Gönner und fragte: «Herr, warum seid Ihr so unglücklich?«

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    «Mein kleiner Sohn ist heute Morgen gestorben.« «Ach, das muss schrecklich sein. Was ist geschehen?« «Er ist an seiner Milch erstickt.« Dieser arme Bettler hatte noch nie in seinem Leben Milch

    gesehen oder gekostet und wusste nicht, was das war. «Milch? Was ist Milch?« In seinem Kummer und Gram wollte der Mann den Bettler irgendwie loswerden und gab schnelle Antworten: «Das weiße Zeug.«

    «Was ist weiß, mein Herr?« Wie erklärt man einem blind geborenen Menschen, was Weiß ist? – «Weiß ist die Farbe des Kranichs.«

    «Kranich? Was ist ein Kranich?«, war natürlich die nächste Frage. Der Reiche hob seinen gebeugten Arm und führte die Hand des Bettlers darüber: «So sieht ein Kranich aus.«

    Der Bettler sagte: «Kein Wunder, dass das Kind gestorben ist. Daran würde jeder ersticken!«

    Das geschieht beim Übersetzen einer spirituellen Wahrheit in eigene Begriffe.

    Ich erkläre das so ausführlich, weil es von Seiten der wohl-meinenden orthodoxen Religionslehrer in Indien eine sehr verständliche und begründete Angst davor und entsprechend Ein-spruch dagegen gibt, den Yoga Vāsiṣṭha öffentlich zu lehren oder zu erörtern. Es gilt als gefährlich, dies zu tun. Warum? Aus einem offenkundigen und einfachen Grund. Der menschliche Geist ist so konditioniert und verunreinigt, dass er wahrscheinlich das falsche Ende des Stocks ergreift und scheitert. Es gibt im Sanskrit ein sehr schönes Sprichwort, wonach ein Lehrer oder Guru, der ungeeigne-ten Schülern verkündet: «All dies ist Gott«, mitsamt seiner Schüler

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    in die Hölle kommt – weil es sein kann, dass ein unreifer, unreiner Geist, der eine derart tiefe Wahrheit hört, diese Wahrheit in seine eigenen Begriffe übersetzt und sich ganz verdrehte Vorstellungen macht. Diese Vorsichtsmaßnahme muss man immer im Hinterkopf haben.

    Kann jemand diesen Vorgang hingegen in sich selbst ausschal-ten, ereignet sich ein tiefgreifender innerer Wandel. Die Wahrheit hat diese wunderbare Eigenschaft, von der auch die Bibel spricht: «Die Wahrheit wird euch frei machen«. Mit anderen Worten: Wenn es dich nicht frei macht, ist es nicht die Wahrheit – gib die Suche also noch nicht auf!

    Nun kommen wir auf diese Angelegenheit zurück, die wir Ge-nussstreben genannt haben. Vasiṣṭha mahnt uns immer wieder: Erleuchtung ist keine Sinneserfahrung, sie ist, modern gesagt, kein Egotrip. Erleuchtung ist nur an der völligen Abwesenheit des Ge-nussstrebens erkennbar. Geschieht sie, endet das Genussstreben. Was heißt das? Was ist Genuss und was strebt nach diesem Ge-nuss? Genuss bedeutet schlicht: ich und du – ein Subjekt und ein Objekt. Das Subjekt strebt nach dem Objekt und ihre Wechsel-beziehung ist die Erfahrung von Genuss.

    Damit uns das ganz klar wird, beschreibt Vasiṣṭha daraufhin das, was als Schöpfung bekannt ist. Kann bewiesen werden, dass der Gegenstand nicht als Gegenstand (als «Objekt«) existiert, fällt das Streben nach Genuss weg. Solange man einen Gegenstand als einen Gegenstand sieht, kommt man nicht umhin, ihn als den Ur-sprung von Genuss und Leid anzusehen. Dann bleibt man in seiner eigenen Begriffsbildung gefangen. Vasiṣṭha stellt deshalb keine Behauptungen auf, sondern dringt direkt zum Kern der Sache vor

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    und sagt: «Erkunde, was ein Gegenstand ist. Gibt es ihn? Ist er eine Wirklichkeit?« Falls der Gegenstand eine Wirklichkeit ist, sind wir in ihm gefangen.

    Wie kommst du darauf, dass etwas als Gegenstand existiert? Durch deine Sinne. Du berührst, siehst, riechst, schmeckst, hörst und hältst das, was all dem ausgesetzt ist, für einen Gegenstand, für einen materiellen Gegenstand, einen Gegenstand des Denkens oder einen Gegenstand deiner Träume. Schöpfung – die Welt der Materie und aller Wesen – wird als ein greifbarer Gegenstand betrachtet, der getrennt von «mir«, dem Subjekt, existiert.

    In der Bhagavad Gītā mahnt Krishna uns: «Sei vorsichtig mit der Schöpfung, denn du weißt nicht, was sie ist. Was du siehst, ist nicht, was ist«. Dies ist auch der neueste Stand der Wissenschaft. Der Autor eines sehr faszinierenden Buches mit dem Titel «Die tanzenden Wu-Li-Meister«4 erklärt dies anschaulich: Du kannst nicht erkennen, was die Welt wirklich ist, weil du ein Teil von ihr bist. Mit jeder Bewegung veränderst du also den Gesamtzustand der Welt. Wie kann der tatsächliche Zustand der Welt jemals er-kannt werden, wenn jeder Versuch, ihn zu erkennen, ihn verän-dert?

    Auf der zwischenmenschlichen Ebene machen wir diese Erfah-rung immer wieder. Sobald du einen jungen Mann fragst, was er denkt, hast du seinen Geist in Aufruhr versetzt und wirst demnach

    4 Gary Zukav: The Dancing Wu-Li-Masters. Overview on the New Physics. New York/USA: Harper Collins, 1979; deutsche Erstausgabe Hamburg: Rowohlt, 1981.

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    nicht erfahren, was er wirklich fühlt, was er wirklich denkt. Indem du deine Empfindungen und Gefühle aussprichst, führst du im an-deren Menschen bereits eine Veränderung herbei – wie kannst du also jemals die Wahrheit kennen?

    «Gewiss gibt es eine Welt. Gewiss gibt es die Schöpfung. Aber was sie ist, kann man niemals wissen«, sagt Krishna in der Bhaga-vad Gītā. Wenn du irgendetwas, das du magst, ehrlich betrach-test, wirst du schließlich an diesen Punkt kommen, wo du sagen musst: «Ich weiß nicht, was es ist, ich weiß nicht, wer es erschuf, ich weiß nicht, woher es kam«. Plötzlich ist deine Frage beantwor-tet. Ich-weiß-nicht hat es erschaffen! Diese Schöpfung ist der Un-wissenheit entsprungen, ihre Erscheinung beruht auf Unwissen-heit und sie besteht in Unwissenheit – «Ich weiß nicht, was es ist«. Diesem «Ich weiß nicht, was es ist« haben du und ich vereinbarte Namen und Definitionen gegeben – Gestalt, Farbe, Geruch, Ge-räusch, Geschmack, Entfernung – und es «objektive Welt« ge-nannt, die Welt unserer Gegenstände. Es ist eine phantastische Sache und so einfach. Es ist keine Zauberei dabei. Wer hat es er-schaffen? Ich weiß nicht, wer es erschaffen hat.

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    Jenseits der Vereinbarungen

    Niemand weiß genau, was Geburt ist, obwohl wir wissen, was sie bedeutet, weil wir ihre Bedeutung festgelegt haben. Hochrangige Astrologen in Indien streiten beispielsweise endlos darüber, was den Moment der Geburt ausmacht, weil eine halbe Stunde astro-logisch gesehen enorme Unterschiede im Horoskop bewirken kann. Sie müssen entscheiden, ob der Zeitpunkt der Geburt der Augenblick ist, in dem der Kopf erscheint oder der, in dem der Körper den Boden berührt. Oder geht es gar nicht darum, sondern um den Zeitpunkt der ersten Kindsbewegungen im Mutterleib? Falls ja, wer misst diese? Diese Auseinandersetzung wurde ernst-haft, als die Abtreibungsdebatte begann. Jetzt geht es um die Entscheidung über den Zeitpunkt, an dem der Fötus zu einer lebendigen Wesenheit wird – was der Geburt gleichkommt. Das Datum und der Zeitpunkt dessen, was «Geburt« genannt wurde, ist nicht mehr so wichtig.

    In einer der Upanischaden heißt es, dass der Kreislauf der Ge-burt beginnt, wenn die in der Atmosphäre schwebende Seele mit einem Regentropfen herabkommt. Jede Verkörperung durchläuft die gesamte Evolution nach Darwin. Wenn die Seele zur Erde her-abkommt, wird sie vom Erdelement aufgenommen, von den Mi-neralien. Als Mineralstoff gelangt sie in die Pflanze und beginnt zu wachsen. Dies ist der zweite Abschnitt der Evolution. Als pflanzli-che Nahrung gelangt sie in den Mann, wird zu seiner Kraft, die sich

  • 49

    auf die Frau überträgt. Im Mutterleib vollzieht sich wiederum die gesamte Entwicklungsgeschichte: In der Gebärmutter gleicht die Seele einem Fisch und wenn sie geboren wird, ist sie für einige Zeit eine Art Vierbeiner. Langsam versucht sie, sich zu erheben, sich zu entwickeln.

    Was ist Geburt? Wir wissen es nicht, aber wir haben Theorien, Dogmen und Lehrsätze darüber entwickelt, die zweckdienlich sind. Untersuchst du diese Theorien unvoreingenommen, stellst du fest, dass sie dem maßgeschneidert sind, was du und ich un-sere «Kultur« nennen. In dem, was als «westliche Kultur« gilt, spielen Formulare eine entscheidende Rolle. Das Geburtsdatum ist äußerst wichtig, um solche Formulare auszufüllen. Für Orien-talen ist der Zeitpunkt der Geburt wichtiger, um ein Horoskop zu erstellen.

    Die internationale Datumslinie verläuft quer über die Fidschi-Inseln, aber wenn du eine Weltkarte anschaust, wirst du sehen, dass die Datumslinie zu einer Kurve verschoben wurde, die um die Inseln herumläuft, damit ihre Einwohner nicht in die Verlegenheit gebracht werden, dass die Datumslinie ihr Haus durchquert und in zwei Zimmern desselben Hauses ein unterschiedliches Datum gilt. Haben wir die Datumslinie als eine zweckmäßige Vereinbarung erkannt, dann können wir auch unsere anderen Übereinkünfte als das erkennen, was sie sind. Sind all unsere Glaubenssätze entlarvt, wird die Wahrheit erkennbar. Solange du dich auf eine Datums-linie festlegst, als sei sie die ewige Wahrheit, bist du noch nicht zur Erkundung der Wahrheit bereit. Genauso definieren wir diese als «Geburt« bezeichnete Angelegenheit, ohne zu verstehen, dass sie eine Vereinbarung ist, welche die menschliche Intelligenz ohne

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    auch nur irgendeinen Bezug zu der sie betreffenden Wahrheit er-funden hat.

    Am anderen Ende des Spektrums steht etwas, das der Tod ge-nannt wird. Die Yogis sagen, dass selbst in einem toten Körper Leben ist, weil es ohne Leben und ohne Energiebewegung keine Aktivität gibt. Lebenskraft ist nötig, um einen Körper aufzubauen und auch, um ihn zu zersetzen. Zersetzung findet durch Energie-bewegung (dhanañjaya genannt) statt. Ohne Lebenskraft gäbe es keine Zersetzung. Wenn Energiebewegung im toten Körper ist, wie kann er dann tot sein? Das stimmt ganz mit der Theorie über-ein, dass es im gesamten Universum keine tote Materie gibt. Alle Materie vibriert vor Energie. Was ist dann der Tod? Zu welchem Zeitpunkt kann gesagt werden, dass der Mensch tot ist? In gewis-ser Weise stirbt der Körper laufend und wird laufend geboren. Seitdem du zu lesen begonnen hast, sind ein paar Milliarden Zel-len gestorben und ein paar Milliarden weitere wurden erschaffen: Was also ist der Tod und wann ereignet er sich tatsächlich? Gibt es so etwas wie den Tod überhaupt? Wurden Geburt und Tod nicht vielmehr nur vom klugen menschlichen Geist erfunden, um das Leben und das Ausfüllen von Formularen zu erleichtern?

    In der Bhagavad Gītā sagt Krishna: «Wie es im Leben eines ver-körperten Wesens Kindheit, Jugend, Mannesalter, mittleres Alter und hohes Alter gibt, so gibt es etwas, das Tod genannt wird«. Zwischen diesen Stufen findet ein Wandel statt. Keiner von uns sieht genauso aus, wie wir vor zwanzig Jahren aussahen – schritt-weise, unbemerkt von uns selbst, verändern wir uns. Wir sind uns der enormen Veränderungen nicht bewusst, die sich in den letz-ten zwanzig Jahren in unseren Körpern vollzogen haben. Das, was

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    im Körper lebt, unterliegt denselben Veränderungen, oder auch nicht. Anders gesagt: Man kann sich psychisch im gleichen Maße verändern, wie man sich körperlich verändert – oder auch nicht. Es braucht nicht eigens gesagt zu werden, dass diese Veränderung Wachstum oder Zerfall sein kann.

    Veränderung in Bezug auf das verkörperte Wesen ist das, was wir die Zeit nennen. Wenn du für kurze Zeit aus der Erdlaufbahn springen und die Erde von einem Tausende Kilometer entfernten Satelliten aus betrachten könntest, wie sie sich um ihre eigene Achse dreht und die Sonne umkreist, könnte dich niemand davon überzeugen, dass es etwas wie Tag und Nacht gibt. Es könnte dir auch niemand erzählen, dass es eine Zeitspanne gibt, die ein Jahr genannt wird. Vielleicht hättest du eine gewisse Vorstellung von Zeit, weil du weißt, wann du hungrig bist. Die Nahrung wurde ver-daut, also muss Zeit vergangen sein – ansonsten hat Zeit keine wie auch immer geartete Bedeutung. Vielleicht finden einige Verände-rungen im Körper statt – schwarzes Haar wird grau und dann weiß, Zähne fallen nach und nach aus – aber für das verkörperte Wesen gibt es keinerlei Hinweis darauf, dass Wachstum oder Zerfall stattfinden, außer das verkörperte Wesen entscheidet, in den Körper verstrickt zu sein und das, was dem Körper geschieht, anzunehmen, als geschähe es ihm selbst.

    Das erinnert mich an eine Geschichte über eine witzige Figur namens Mullah Nasrudin. Er lebte mit seiner Frau in einem zwei-stöckigen Haus. Als sie in der Küche im Erdgeschoss arbeitete, hörte sie plötzlich ein Poltern im ersten Stock. Sie lief die Treppen hinauf und fragte ihren Mann, was geschehen sei.

    «Nichts«, erwiderte er.

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    «Aber ich habe ein Poltern gehört, als ob du gestürzt wärst.« «Nichts passiert«, sagte der Mullah, «meine Tunika ist nur her-

    untergefallen.« «Aber wenn eine Tunika herunterfällt, macht das doch keinen

    solchen Lärm«, sagte seine Frau. «Zufällig war ich auch darin«, sagte der Mullah. Also sind alle geschehenden Veränderungen – Empfängnis, Ge-

    burt, Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter, mittleres Alter, hohes Alter und der sogenannte Tod – für das verkörperte Wesen nur insoweit wichtig, wie sich dieses Wesen mit diesem Körper-Geist-Komplex identifiziert.

    Identifiziert sich ein Mensch nicht damit, gibt es zwei Möglich-keiten: Entweder ist er völlig verblendet oder er ist erleuchtet. Vom Standpunkt normaler Leute aus gesehen erscheinen beide Möglichkeiten als gleichermaßen unnormal. (Ein gewitztes Argu-ment, das von einem klugen menschlichen Geist erfunden wurde, ist, dass jeder, der nicht so denkt wie du und ich, ein Verrückter ist!) Vom Standpunkt unserer Erörterung aus gesehen bedeutet es, dass in diesem Körper-Geist-Komplex eine Desorientierung ge-schieht, die bewirkt, dass der Geist sich nicht in die Veränderun-gen des Körpers verstrickt fühlt. Die Intelligenz im Körper fühlt sich frei von Beschränkungen, die ihr durch den Körper auferlegt sind. Oder sie spürt nicht einmal, dass der Körper ihr irgendwelche Beschränkungen auferlegt!

    Wir haben angenommen, dass der Körper der Intelligenz seine Beschränkungen auferlegt, wir haben dies als Norm akzeptiert und halten demnach alles andere für nicht normal. Der Yogi akzeptiert dies jedoch nicht, sondern sieht, dass in der Mehrzahl

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    der Fälle eine Verwechslung zwischen der Intelligenz, die dem Körper innewohnt, und dem Körper-Geist-Komplex vorliegt – sodass wir meinen, dass das, was dem Körper geschieht, mir geschieht. Der Mensch, der dies nicht so erlebt, wird für einen Schwachkopf gehalten. Die Yogis sagen, dass er vielleicht erleuch-tet ist.

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    Intelligenz, Geist, Materie

    Bei der sogenannten Geburt und dem sogenannten Tod scheinen Bewusstsein und Materie in einem Wechselspiel zu stehen. Ist Bewusstsein – die Intelligenz, die in der ganzen Natur wirkt, zum Beispiel in diesem Körper – in die Stofflichkeit des Körpers ver-strickt, ist sie an die Materie gebunden? Wirken sich die Schmer-zen und Freuden des Körpers zwingend auf das ihm innewoh-nende Bewusstsein aus? Beeinflussen oder beeinträchtigen die Beschränkungen, denen Körper und Geist unterliegen, zwingend die Intelligenz, die sich in ihnen verkörpert hat? Falls ja, in wel-chem Ausmaß, und falls nein, was folgt daraus? Beschränkt die Beschränktheit der Fähigkeiten des Körpers zwangsläufig diese in-nere Intelligenz oder sind beide unabhängig voneinander? Falls sie miteinander verbunden sind, in welcher Weise sind sie verbun-den? Das sind die Fragen. Wenn sie ausreichend beantwortet sind, sind wir erleuchtet.

    Im Körper ist Materie und zwischen uns ist Materie, Materie unterschiedlicher Dichte und Zusammensetzung, Materie in ver-schiedenen Stadien der Entstehung und des Zerfalls. Materie wird zusammengesetzt (wie in diesem Körper nach dem Frühstück) und Materie wird zersetzt, deshalb findet in dem, was als «stoffliche Zustände« bezeichnet wird, eine ständige Umwälzung statt. Alles, was wir vor einer halben Stunde gegessen haben, wird im Magen umgewälzt. Dein Magen und dein Gehirn sehen ganz ähnlich aus

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    wie die Erde und merkwürdigerweise geschieht das, was mit die-ser Erde geschieht, auch in diesen beiden Körperteilen. Alles, was auf diese Erde fällt, wird in die Eingeweide der Erde aufgenom-men und dort umgewälzt. Das wird Düngung genannt. Dieser ganze Abfall wird aufbereitet und als Gemüse ausgespuckt. Dieses Gemüse essen wir; der wiederaufbereitete Abfall ist zu unserer Nahrung geworden. Dann kehrt er zur Erde zurück, um von ihr verarbeitet zu werden – und vielleicht werden schöne und saftige Früchte daraus! Was in den Eingeweiden der Erde geschieht, ge-schieht eben jetzt in deinen eigenen Eingeweiden.

    Diese Veränderung vollzieht sich an unendlich vielen Punkten dieses Universums, nicht nur in deinem Magen, sondern sogar in den Innereien jener winzigen Bakterien, die den menschlichen Körper bewohnen und in den Eingeweiden der kleinen Würmer, die die Erde düngen. Beim Nachdenken darüber erkennst du, dass das etwas Großartiges ist. Zuerst gibt es die Eingeweide der Erde, dann diese kleinen menschlichen Eingeweide und in diesen menschlichen Eingeweiden gibt es Millionen Zellen. In den Einge-weiden dieser Zellen findet die Umwälzung statt. Auch in diesen Zellen sind Mikroorganismen, die fressen, was in ihrer Umgebung reichlich vorhanden ist, wobei das eine das andere verdaut. Also findet eine Kettenreaktion statt. Dieser Vorgang setzt sich in dem fort, was als Materie erscheint, und er geht ins Unendliche weiter.

    Der Unterschied zwischen Intelligenz und Materie scheint darin zu liegen, dass die Materie offenbar geteilt, die Intelligenz hinge-gen unteilbar ist. Ein Mädchen sieht nicht aus wie ein Mann und ein Aufnahmegerät ist beiden völlig unähnlich, doch alle drei sind stofflich. Die Materie ist von unterschiedlicher Dichte – an man-

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    chen Orten ist sie sehr dicht, an anderen weniger. Sogar in dem, was wir als Raum zwischen uns beiden bezeichnen, ist Materie, aber sie ist weniger dicht als diese beiden Punkte, die wir als «deinen« Körper und «meinen« Körper bezeichnen.

    All diese Unterscheidungen sind auf der materiellen Ebene möglich, offenkundig ist die Intelligenz jedoch nicht in dieser Weise teilbar. Du siehst nicht, dass sie Grenzen hat oder wie sie zerteilt werden könnte. Intelligenz ist unteilbar, so wie materieller Raum unteilbar ist. Obwohl man sich vorstellt, dass der Raum von Wänden und einem Dach umschlossen wird, ist der Raum in Wirk-lichkeit nicht begrenzt: Es scheint nur so. Diesen Raum, in dem wir sitzen, gab es, bevor die Wände errichtet und das Dach aufgesetzt wurden. Das Bauen der Wände und des Dachs haben das Wesen des Raums, in dem wir sitzen, nicht verändert, und der Raum be-steht fort, wenn die Wände und das Dach abgerissen wurden. Wenn nicht einmal dieser stoffliche Raum geteilt werden kann, kann auch die Intelligenz, die noch feiner ist, nicht geteilt werden. In dieser Intelligenz kann es keine wie auch immer geartete Spal-tung geben, nicht einmal Unterschiede in ihrer Dichte.

    Es gibt also erstens materiellen Raum, der Materie enthält und in sich birgt. Diese Materie wird ständig umgewälzt, wie Nahrung in deinem Magen umgewälzt wird. Kannst du dir für einen Augen-blick einen Riesen vorstellen? Sein Magen ist die Erde, und mit je-dem seiner Atemzüge werden wir geboren und vernichtet, so wie deine Magenzellen geboren werden und sterben. Erweiterst du das, kannst du dir vorstellen, wie das gesamte Sonnensystem in gleicher Weise umgewälzt wird. In der Kaṭha-Upaniṣad gibt es ein schönes Bild dafür: «Ihr menschlichen Wesen seid wie ein Topf, in

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    dem Reis gegart wird«. Wenn das Wasser kocht, steigen die Kör-ner, die unten sind, nach oben, und die Körner, die oben sind, sin-ken hinunter – es ist ein völliges Durcheinander, ein gleichzeitiges Auf und Ab. Dies ist, was mit uns geschieht.

    Zweitens gibt es ein innewohnendes Bewusstsein, es gibt eine Intelligenz, die unveränderlich ist wie der Raum. Wie der Raum ist sie unteilbar und unzerstörbar. Welche Beziehung besteht zwi-schen der Intelligenz und der sich umwälzenden Materie? Besteht überhaupt eine Beziehung und falls ja, worin besteht sie? Die Ma-terie verändert fortlaufend ihren Aufenthaltsort, während sie um-gewälzt und gegart wird. Doch warum besteht währenddessen das Gefühl: «Ich sitze hier und spreche« oder: «Du sitzt dort und hörst zu«? Wie kommt es, dass in dieser ständigen Veränderung ein Gefühl von Identität besteht, dieses «Ich bin«? Was ist das? Worauf beruht es? Wenn es auf Wahrheit beruht, wenn es dem-nach wirklich ist, haben wir eine dreifache Wirklichkeit – die Wirk-lichkeit der Materie, die Wirklichkeit der Intelligenz und die Wirk-lichkeit, die «ich« genannt wird (was immer dies sein mag). Es gibt also eine kosmische, unteilbare Intelligenz, in der es absolut keine Spaltung gibt. Es gibt Materie, die an manchen Orten konzentriert ist und an anderen weniger konzentriert. Dann gibt es das, was als Ich gilt. Wurde ich mir meiner selbst bewusst, weil ich schon eine Tatsache war und ich bloß zu dieser Tatsache erwacht bin? Oder wurde ich zu diesem Ich, indem ich davon als von mir zu denken begonnen habe? Und weil ich mich von da an dafür gehalten habe, verstärkt sich die Vorstellung, dass ich das sei, mit jedem Tag, sodass ich schließlich keinerlei Zweifel daran habe.

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    Es gibt also diese Intelligenz, die unteilbar ist, und es gibt Ma-terie, die kosmisch, aber von unterschiedlicher Dichte ist. Hier und da spiegelt diese Intelligenz vorübergehend den veränderlichen Anschein der Materie wider und wird zu dem, was die Persönlich-keit genannt wird. Das, was gespiegelt wird, scheint sowohl innen als auch außen zu sein. Ist das möglich? Wenn du einen Spiegel vor dich hältst, bist du sowohl in ihm, als auch außerhalb von ihm. Ein ganzer Berg kann sich in einem kleinen Spiegel spiegeln. Er ist im Spiegel und er ist dort draußen. Das ist eine ganz erstaunliche optische Täuschung, wenn du es so nennen willst! Genauso wird etwas in diesem Stück Bewusstsein gespiegelt und diese Spiege-lung ist so realistisch, dass es keinen Grund gibt, sie nicht für wirk-lich zu halten.

    Diese Kategorien werden im Yoga Vāsiṣṭha schön beschrieben. Eine davon wird cid ākāśa genannt, was reines, unteilbares kos-misches Bewusstsein oder Intelligenz bedeutet. Diese Bezeich-nungen enthalten nur deshalb das Wort ākāśa oder Raum, weil diese Intelligenz mit dem uns bekannten Raum die Eigenschaft der Unteilbarkeit gemeinsam hat. Tatsächlich ist es aber unmöglich, diese kosmische Intelligenz in Worte zu fassen – alle Worte sind unzureichend.

    Weiterhin gibt es citta ākāśa. Citta ākāśa ist der Raum oder das psychische Bewusstsein, das Mittler zwischen reinem Bewusstsein und Materie ist, der dritten Kategorie. Materie spiegelt sich in sol-cher Weise in einem Abschnitt des reinen Bewusstseins, dass die Spiegelung mindestens so wirklich zu sein scheint wie das Be-wusstsein oder die Materie. Es ist ganz ähnlich wie beim Spiegel: Wenn du im Spiegel ein Mädchen vorübergehen siehst, dauert es

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    einen Moment, bis du darauf kommst, dass es nur eine Spiegelung ist. Dieses gespiegelte Bewusstsein ist citta ākāśa, psychisches Bewusstsein. Von diesem reinen Bewusstsein unterscheidet es sich nur in einer einzigen, sehr wichtigen Hinsicht: Es ist nicht un-teilbar und absolut wie reines Bewusstsein, weil Materie sich nur in unterteiltem Bewusstsein spiegelt. Citta ākāśa ist umgrenzt und beschränkt und greift aufgrund seiner Begrenzung einen begrenz-ten Bereich des Raums heraus, der in einer begrenzten Weise ge-spiegelt wird und sich für begrenzt hält.

    Führen wir diesen Gedanken einen Schritt weiter: Der Spiegel ist etwas Merkwürdiges. Ich kann einen Spiegel so halten, dass ich dein Gesicht darin gespiegelt sehen kann. Wenn ich es mir anders überlege, brauche ich ihn nur zu drehen und er spiegelt mein Ge-sicht. Dann ist dein Gesicht nicht mehr im Spiegel – nicht die Spur davon! Es ist, als ob dein Gesicht niemals darin gewesen wäre. Etwas anderes ist sogar noch irritierender: Du hast niemals einen Spiegel gesehen, sondern nur Spiegelungen – weil du etwas darin gespiegelt siehst, sobald du einen Spiegel anschaust. Du siehst eine Tafel oder eine Glasscheibe, nicht aber den Spiegel. Der Spie-gel hat keine eigene Wirklichkeit, es gibt ihn nicht wirklich. Jetzt hast du den ganzen Yoga Vāsiṣṭha verstanden! Ebenso ist das Be-wusstsein, das Materie spiegelt, ein Bruchteil des Bewusstseins ohne eigene Wirklichkeit.

    Das wahre Wesen dieses Bewusstseinsfragments zu erkunden, das citta ākāśa ist, psychisches Bewusstsein, ist wie einen Spiegel auf beiden Seiten zu säubern. Dann siehst du Glas, das vollkom-men durchsichtig ist. Die Schönheit von vollkommen durchsichti-gem Glas ist, dass du dir seines Vorhandenseins vielleicht nicht

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    einmal bewusst bist. Ebenso wird die Wahrheit über das psychi-sche Bewusstsein, wenn sie erkundet wird, als nicht vorhanden erkannt. Was besteht, ist Intelligenz, Bewusstsein. Wenn das ge-schieht, bist du in Ekstase; du meinst, du hättest Gott gesehen. Das, was du zuvor im gespiegelten Bewusstsein (oder psychischen Bewusstsein) gesehen hast, ist auf einmal verschwunden und lässt die Wirklichkeit unberührt.

    Diese drei Kategorien sollte man sich merken. Es gibt kosmi-sche Intelligenz, in der auf unbegreifliche Weise das, was Stoff zu sein scheint, umherschwebt – an dem einen Ort dichter, an einem anderen weniger dicht. Während diese Veränderungen gesche-hen, werden sie teilweise im Spiegel dieser kosmischen Intelligenz reflektiert. Diese Spiegelung nimmt in sich selbst eine unabhän-gige Wirklichkeit an, die psychisches Bewusstsein genannt wird – oder was du das Individuum nennst, die Persönlichkeit, den den-kenden Geist oder das Ich. Alles, was nötig ist, damit ein dramati-scher Wandel stattfinden kann, ist, dass dieses unterteilte Be-wusstsein sich umwendet und etwas anderes widerspiegelt und sogleich geschieht auch etwas anderes – du nennst es Geburt und Tod. Nichts geschieht wirklich. Die Intelligenz ist nach wie vor da und der Stoff, die Materie, ist auch nach wie vor da.

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    Gemischte Erfahrungen

    Einige der Theorien, die wir erörtert haben, kommen uns abseitig vor, weil wir mit einer anderen Kost großgeworden sind. So wie der Körper weitgehend die verarbeitete Nahrung ist, die wir ge-gessen haben, so ist unser Geist fast ausschließlich von der intel-lektuellen Kost geformt, die wir von Kindheit an gewöhnt sind. Um uns diese Theorien verständlicher zu machen, haben die Meister Geschichten um sie gewoben. Denke beim Hören dieser Geschich-ten, die die Wahrheit oder die Theorie veranschaulichen, bitte da-ran, dass kein Beispiel, kein Vergleich oder keine Veranschauli-chung ganz übertragbar ist. Wenn du sagst: «Er sieht aus wie jemand anderes«, dann beziehst du dich dabei nur auf bestimmte Aspekte und auf andere nicht. Nur in jenen Aspekten besteht eine Ähnlichkeit. Natürlich gibt es andere Aspekte, in denen keinerlei Ähnlichkeit besteht.

    Hören wir diesen Geschichten weiter zu, müssen wir es zulas-sen, dass der gewohnte Blickwinkel sich verschiebt und ein neuer Blickwinkel entsteht, genau wie beim Spiegel. Bewegst du den Spiegel, siehst du, wie die Spiegelung deines Gesichtes plötzlich verschwindet und etwas anderes auftaucht. Ebenso ist der ge-wohnte Blickwinkel verschwunden und etwas Neues hat seinen Platz eingenommen. Ist dies die Wahrheit oder ist jenes die Wahrheit? Keines von beiden. Dieses ist ein Blickwinkel, jenes ist ein anderer Blickwinkel. Du kannst weder von allen Blickwinkeln

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    aus schauen, noch kannst du «in die Schuhe von jemand anderem schlüpfen und das Problem verstehen«. Du bist du und ich bin ich, solange dieses Ich besteht und jenes Ich besteht. Du kannst mich unmöglich ganz verstehen und es ist dir unmöglich, deine Sicht-weise abzulegen und meine Sichtweise anzunehmen. Was dir je-doch möglich ist, ist zu verstehen, dass dies eine Sichtweise ist und der andere Mitmensch einen anderen Blickwinkel hat. Wenn du verstehst, dass das, was du für die alleinige Wahrheit gehalten hast, nicht die Wahrheit ist, sondern nur ein Blickwinkel, hast du dein Problem gelöst, mein Problem, jedermanns Problem – indem du verhinderst, dass das Problem überhaupt entsteht. Das ist al-les, was du tun kannst und sollst. In dieser begrenzten Weise kön-nen wir den anderen Menschen gewiss verstehen.

    In den Geschichten des Yoga Vāsiṣṭha versucht der Meister nur, die Einsicht in uns zu wecken, dass es andere Blickwinkel gibt. Nimmst du einen Blickwinkel klar wahr, gelingt es dir vielleicht, eine ungefähre Vorstellung von den umliegenden Blickwinkeln zu bekommen. Obwohl ich also nicht genau verstehe, worüber du sprichst, verstehe ich es so ungefähr. Der Zweck des Erzählens und Hörens von Geschichten, die diese Wahrheitstheorien veran-schaulichen, liegt darin, vorhandene Vorstellungen oder Vorur-teile, wenn du sie bei ihrem eigentlichen Namen nennen willst, auszuräumen und ein Gefühl dafür entstehen zu lassen, dass es andere Facetten der Wahrheit gibt, die erkundet werden müssen.

    Betrachten wir die folgende Geschichte aus dem Yoga Vāsiṣṭha: Einst gab es einen wunderbaren König namens Padma, der

    eine schöne Frau namens Līlā hatte. Sie lebten in einem idealen Zustand häuslicher Harmonie und Liebe, wie eine Seele in zwei

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    Körpern. Kam ihm ein Gedanke, dachte sie darüber nach. War er glücklich, blühte sie auf; war er jedoch zornig, wurde sie nicht zor-nig un