Vipassaná Meditation

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Vipassaná Meditation Die Entfaltung der Bewusstseinsklarheit Joseph Goldstein Mit einem Geleitwort von Robert Hall und einer Einführung von Ram Dass FRANK SCHIKLER VERLAG BERLIN Geleitwort, Einführung, Danksagungen Erster Abend - Eröffnung und erste Unterweisung Zweiter Abend - Der Edle Achtfache Pfad Dritter Morgen - Unterweisung: Gefühle Vierter Abend - Reines Beobachten Fünfter Morgen - Unterweisung: Gedanken Fünfter Abend - Vorstellungen und Wirklichkeit Sechster Morgen - Unterweisung: Sinnenobjekte Siebter Nachmittag - Geschichten Achter Morgen - Unterweisung: Absichten Neunter Morgen - Unterweisung: Essen Neunter Abend - Hemmungen Zehnter Morgen - Unterweisung: Bewusstsein Zehnter Abend - Krieger Elfter Morgen - Das Konzentrationsspiel Zwölfter Abend - Die drei Pfeiler des Dharma: Parami Dreizehnter Abend - Johannes vom Kreuz / Franz von Sales Vierzehnter Abend - Die Vier Edlen Wahrheiten Fünfzehnter Nachmittag - Vorsatz auf halbem Wege Sechzehnter Abend - Karma Siebzehnter Nachmittag - Unterweisung: Entspannen / Abtreiben des Geistes Achtzehnter Abend - Reinheit und Glück Neunzehnter Nachmittag - Verehrung Einundzwanzigster Abend - Bedingte Entstehung Zweiundzwanzigster Abend - Tod und Güte Fünfundzwanzigster Abend - Tao Sechsundzwanzigster Abend - Erleuchtungsfaktoren Neunundzwanzigster Abend - Buddhistische Wege Dreißigster Morgen - Schlußworte

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Vipassaná Meditation

Die Entfaltung der Bewusstseinsklarheit

Joseph Goldstein

Mit einem Geleitwort von Robert Hall und einer Einführung von Ram Dass

FRANK SCHIKLER VERLAG BERLIN

• Geleitwort, Einführung, Danksagungen • Erster Abend - Eröffnung und erste Unterweisung • Zweiter Abend - Der Edle Achtfache Pfad • Dritter Morgen - Unterweisung: Gefühle • Vierter Abend - Reines Beobachten • Fünfter Morgen - Unterweisung: Gedanken • Fünfter Abend - Vorstellungen und Wirklichkeit • Sechster Morgen - Unterweisung: Sinnenobjekte • Siebter Nachmittag - Geschichten • Achter Morgen - Unterweisung: Absichten • Neunter Morgen - Unterweisung: Essen • Neunter Abend - Hemmungen • Zehnter Morgen - Unterweisung: Bewusstsein • Zehnter Abend - Krieger • Elfter Morgen - Das Konzentrationsspiel • Zwölfter Abend - Die drei Pfeiler des Dharma: Parami • Dreizehnter Abend - Johannes vom Kreuz / Franz von Sales • Vierzehnter Abend - Die Vier Edlen Wahrheiten • Fünfzehnter Nachmittag - Vorsatz auf halbem Wege • Sechzehnter Abend - Karma • Siebzehnter Nachmittag - Unterweisung: Entspannen / Abtreiben des Geistes • Achtzehnter Abend - Reinheit und Glück • Neunzehnter Nachmittag - Verehrung • Einundzwanzigster Abend - Bedingte Entstehung • Zweiundzwanzigster Abend - Tod und Güte • Fünfundzwanzigster Abend - Tao • Sechsundzwanzigster Abend - Erleuchtungsfaktoren • Neunundzwanzigster Abend - Buddhistische Wege • Dreißigster Morgen - Schlußworte

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Geleitwort

Immer wieder erscheint ein Buch, das einen besonderen Wert für die Menschen hat, die sich mit dem befassen, was ist. Ich denke an Bücher wie Suzuki Roshis Zen-Geist, Anfänger-Geist und Carlos Castanedas Schriften über die Lehren des Don Juan. Hier ist ein weiteres.

Dies ist das Werk eines Meditationslehrers, der jung und Amerikaner ist und trotzdem aus dem leeren, friedvollen Bereich spricht, der gewöhnlich mit den Alten und Weisen einer anderen Kultur in Verbindung gebracht wird.

Joseph Goldstein ist ein einmaliger Lehrer. Wie alle guten Lehrer ist er ein Werkzeug, um das alte Wissen in die Wirren dieser modernen Welt wieder hineinzutragen. Seine Worte klingen überzeugend, da sie aus seiner eigenen Erfahrung geboren sind. Er hat viele Jahre mit dem Studium und der Übung eines meditativen Lebens in Indien verbracht. Jetzt bringt er in dieses Land eine Tiefe des Verstehens, die nur aus all diesen Jahren der Übung kommen kann.

Er lehrt Meditation als eine Methode, die Dinge so sehen zu lernen, wie sie wirklich sind. Seine Vorträge sind praktische Anweisungen, wie man lernt, mit Abstand und Mitgefühl zu leben. Während seiner ganzen Arbeit begleitet ihn die Eigenschaft, die nötig ist, um ein wirklich menschlicher Lehrer zu sein - ein Sinn für Humor.

Dies ist ein gutes Buch. Es zeigt Joseph bei der Arbeit, aber es ist auch die getreue Wiedergabe der Dynamik eines Meditationseminars. Seminare, wie sie hier beschrieben werden, die von Joseph und seinen Mitarbeitern geleitet werden, sind intensive Erfahrungen in der Übung der Einsichtsmeditation. Sie werden schweigend durchgeführt mit Ausnahme der Vorträge und der Fragestunden. Der Ablauf der Sitz- und Gehübungen beginnt jeden Tag um fünf Uhr morgens und reicht bis in den späten Abend und noch länger für ernsthaft Übende. Es sind meistens 50 bis 200 Teilnehmer, die zusammen üben; sie erleben einen Vorgang, der Höllenfahrten und höchstes Glück einschließen kann sowie jede andere Erfahrung, die der Geist für uns bereit hält.

Für mich, einen Psychiater, der außerhalb der orthodoxen Theorien seines Berufes arbeitet, ist Joseph eine willkommene Inspiration und ein wundervoller Freund gewesen. Sein Verständnis des Geistes entspringt direkter Konfrontation und nicht dem Studium intellektueller Vorstellungen. Was er lehrt ist wichtig und nützlich für uns alle, die wir um Freiheit bemüht sind - die Freiheit, die nur durch das Licht der Einsicht kommt.

Ich hoffe, daß viele meiner Kollegen der hilfeleistenden Berufe dieses Buch in die Hände bekommen. Sie könnten darin eine erfrischende, neue Perspektive für ihre Arbeit finden, wie die Bekanntschaft mit Joseph und den Menschen, die mit ihm arbeiten, es für mich war.

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Dr. med. ROBERT K. HALL Lomi School San Francisco - Dezember 1975

Einführung

Bei meinen Studien in Indien war einer der Lehrer, der vollkommen seine Lehren verkörperte, Anagarika Munindra. Die flüchtige Natur der Erscheinungen, das Selbst eingeschlossen, kann nicht deutlicher als in seiner abwesenden Gegenwart dargestellt werden. Ursprünglich ein Krishnabakta bei Ananda Maya Ma, zog es ihn nach Burma, um sich einem Sadhana des Theravada-Buddhismus zu unterziehen. Jahrelang nahm Munindra den Pali-Kanon des Buddhismus, eine exakte, verzweigte und ernsthafte Lehre des Geistes, und die Art, wie Vorstellungen erschaffen und aufgelöst werden, so erfolgreich in sich auf, daß ich es schwierig fand, als ich ihn in Bodhgaya traf, ihn von der Doktrin zu unterscheiden.

Trotz der Tatsache, daß Munindra-ji eine Anzahl verantwortungsvoller, administrativer Posten in der heiligen Stadt, in der Buddha Erleuchtung erreicht hatte, bekleidete, begann er zu unterrichten. Unter den Schülern dieses körperlich sehr kleinen Lehrers war Joseph, ein sehr großer, junger Mensch aus dem Westen, der mich sofort mit seiner Kraft, Schlichtheit und stillen Würde beeindruckte. Wie ich, behielt Joseph seine westliche Kultur bei und trank trotzdem in großen Zügen aus einer östlichen Quelle der Einsicht in die Freiheit, sich des allumfassenden Geistes völlig bewußt.

Nach vielen Jahren geduldigen Studiums kehrte Joseph in seine Heimat zurück und begann bescheiden und einfach, nicht teure Meditationsseminare von zehn Tagen bis zu drei Monaten in den Vereinigten Staaten anzubieten. Auf Grund meiner großen Achtung vor ihm war ich wahrhaftig erfreut, daß der Westen den Segen seiner Lehre empfangen konnte. Ich empfand ihn, wie seinen Lehrer, als ein Wesen, das man mit seinen Lehren identifizieren konnte.

Die lebensnahe Übertragung einer formellen Lehre ist eine heikle Sache. Die Vorträge, die in diesem Band niedergeschrieben sind, geben uns ein gutes Beispiel. Denn Joseph ist einer jener Menschen, die 'gnostische Vermittler' genannt werden können (wie Jung Richard Wilhelm bezeichnete); dies ist jemand, der die Lehre von einer Kultur und einer Zeit auf eine andere überträgt, und

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zwar nicht durch seinen Intellekt, sondern durch das Aufnehmen der Lehre bis in das Blut und die Eingeweide, so daß er in Wahrheit zur Lehre wird.

Eine solche Einverleibung, ein intuitives Verstehen, eine eheliche Verbindung, eine Identifizierung, setzt ein "Hingeben" voraus, auf das wieder und wieder in geistigen Lehren hingewiesen wird. Ein solcher Mensch, der die lebende Übertragung einer Lehre ist, ist ein Beweis für das Vertrauen und das Ergeben, die notwendig sind, um die wahre Bedeutung der Lehre zu erfassen, d.h. das, worauf sich die Worte beziehen.

Es wird jetzt klar, daß, nach dem Zynismus der späten 50er und der frühen 60er Jahre, unser vielschichtiges Forschen der späten 60er Jahre herangereift ist zu einem ehrlichen und tiefen geistigen Suchen bei buchstäblich Hunderttausenden von Menschen, die in der westlichen Hemisphäre geboren sind. Ich sehe diese vergangenen Jahre als einen Prozeß des Einstimmens auf den Dharma, auf eine Art, die die Integrität unseres sich entwickelnden Bewußtseins erhalten hat.

Viele von uns suchen die tieferen, reineren, mehr esoterischen Lehren. Und wir erkennen, daß wir, um diese Lehren aufnehmen zu können, uns der Meditation widmen müssen. Daher besteht eine stets wachsende Nachfrage nach Meditation als Mittel und Ziel. Das Meditationsseminar, über das in diesem Buch geschrieben wird, ist ein äußerst wichtiger Beitrag zu unserem geistigen Wachstum gerade in dieser Zeit.

Dieses Buch ist ein Segen, dem ich meinen eigenen hinzufüge. RAM DASS Lama, New Mexiko Juli 1975

Danksagungen

Aufrichtigen Dank an

STEPHEN LEVINE, Freund im Dharma und Herausgeber, der unermüdlich bei diesem Projekt bis zu seiner Vollendung geholfen hat;

SHARON SALZBERG, unschätzbare Kollegin beim Lehren und Säule der liebenden Unterstützung, die bei vielen Kapiteln dieses Buches eine große Hilfe war und auch bei der allgemeinen Überarbeitung;

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JACK KORNFELD, Lehrer an meiner Seite und nie versagende Inspiration im Dharma;

RICHARD BARSKY, Freund und mir verbunden beim Lehren;

SUSAN OLSHUFF, CATHY INGRAM, LIZA JONES und DONNA SPIETH, die so wunderbar ihre Dienste anboten, für die unüberwindliche Aufgabe des Niederschreibens der Bänder und des Anfertigens der Manuskripte;

RICHARD COHEN und CHAITANYA für ihren Geist und ihre Tüchtigkeit bei der Überarbeitung;

ROBERT HALL und RAM DASS für ihre freundlichen Einführungsworte und ihre Ermutigung während der ganzen Zeit, die mir Kraft gab für dieses Unternehmen.

Besonderen Dank den Folgenden für die Genehmigung, ihre wertvollen Texte verwenden zu dürfen:

Rene Daumal, MOUNT ANALOGUE, Übersetzt von Roger Shattuck. Copyright 1959 by Vincent Stuart Limited. Abdruck mit Genehmigung der Pantheon Books, einer Abteilung der Randhom House, Inc.

Franz von Sales, WERKE, Band 7. Abdruck mit Genehmigung des Franz-Sales Verlages.

Hermann Hesse, SIDDHARTA. Copyright 1922 by Hermann Hesse. Abdruck mit Genehmigung des Suhrkamp Verlages.

Wei Lang, DAS SUTRA DES SECHSTEN PATRIARCHEN. Abdruck mit Genehmigung des Origo Verlages.

Thomas Merton, SINFONE FÜR EINEN SEEVOGEL. Copyright 1973 by Patmos-Verlag. Abdruck mit Genehmigung des Patmos-Verlages.

Nyanatiloka, DER EINZIGE WEG. Copyright 1956 by Verlag Christiani. Abdruck mit Genehmigung des Verlages Christiani.

Suzuki Roshi, ZEN-GEIST, ANFÄNGER-GEIST. Copyright 1970 by John Weatherhill, Inc. Abdruck mit Genehmigung des Theseus-Verlages.

Han Shan, COLD MOUNTAIN, übersetzt von Burton Watson. Copyright 1970 by Columbia University Press. Abdruck mit Genehmigung der Columbia University Press.

Tchuang-Tse, INNER CHAPTERS, übersetzt von Gia-fu Feng und Jane English. Copyright 1974 by Gia-fu Feng und Jane English. Abdruck mit Genehmigung der Alfred A. Knopf, Inc.

Wei Wu Wei, POSTHUMUS PIECES. Copyright 1968 by Wei Wu Wei. Abdruck mit Genehmigung der Hong Kong University Press.

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Erster Abend - Eröffnung und erste Unterweisung

Der traditionelle Beginn für Meditationsseminare ist die Zufluchtnahme zu Buddha, Dharma und Sangha. Zuflucht zum Buddha nehmen heißt, den Samen zur Erleuchtung, der in uns selbst ruht, den Weg zur Freiheit zu erkennen. Es bedeutet außerdem, daß man Zuflucht nimmt zu den Eigenschaften, die der Buddha verkörpert, Eigenschaften wie Furchtlosigkeit, Weisheit, Liebe und Mitgefühl. Zuflucht zum Dharma nehmen heißt, Zuflucht zum Gesetz zu nehmen, zur wahren Natur der Dinge; wir öffnen uns der Wahrheit, damit der Dharma sich in uns entfalten kann. Zuflucht nehmen zur Sangha bedeutet, in einer Gemeinschaft Halt zu suchen, in der sich alle gegenseitig in ihrem Streben nach Erleuchtung und Befreiung unterstützen.

Eine notwendige Grundlage für die Meditations-Übungen ist das Einhalten bestimmter Sittenregeln. Wir erreichen dadurch eine grundlegende Reinheit von Körper, Sprache und Geist. Die fünf Sittenregeln, die befolgt werden sollten, sind: nicht töten, das heißt abstehen von wissentlichem Töten eines Lebewesens, nicht einmal eine Mücke zu erschlagen oder eine Ameise zu zertreten; nicht stehlen, das heißt nur nehmen, was gegeben wird; Abstehen von sexuellem Fehlverhalten, das bedeutet in bezug auf dieses Seminar, völlige Enthaltsamkeit zu üben; nicht lügen oder falsche oder heftige Reden führen; keine Rauschmittel nehmen, was wiederum hier bedeutet, daß weder Alkohol noch Rauschgifte genommen werden. Aus der Befolgung dieser Sittenregeln entsteht eine feste Grundlage für die Entwicklung der Konzentration und die Möglichkeit zur Entfaltung der Einsicht. Wir erleben gemeinsam etwas Besonderes durch die Möglichkeit, hier zu sein und an diesem ruhigen, geschützten Ort in uns zu schauen. Es ist selten, daß wir einen ganzen Monat der Meditation widmen können, um uns selbst zu erforschen und herauszufinden, wer wir eigentlich sind. Es gibt einige grundlegende Geisteshaltungen, die uns helfen werden, ein ernsthaftes und ausgeglichenes Bemühen aufrechtzuerhalten. Die erste ist Geduld. Zuzeiten wird uns der Monat endlos erscheinen, und jeder wird sich überlegen, besonders zur kühlen Morgenstunde um vier Uhr dreißig, was er eigentlich hier will. Im Verlauf der Meditation wird es viele Höhen und Tiefen geben. Es wird Zeiten geben, zu denen die Meditation gut, schön und einsichtsvoll ist, aber auch Zeiten, wo sie langweilig, schmerzlich, voller Ruhelosigkeit und Zweifel ist. Durch Geduld gegenüber allen diesen

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Erscheinungen wird der Geist im Gleichgewicht bleiben. Jemand fragte einmal Trungpa Rinpoche, wo die 'Gnade' in der buddhistischen Tradition ihren Platz habe. Er antwortete, Geduld sei Gnade. Wenn wir einen geduldigen Geist haben, werden sich alle Dinge natürlich und organisch entwickeln. Geduld bedeutet daß Sie sich in einem Zustand der Ausgewogenheit befinden, offen entspannt und achtsam sind, ganz gleich, was geschieht.

Milarepa, der berühmte tibetische Yogi, gab seinen Schülern den Rat, sich "langsam zu beeilen". Beeilen im Sinne von ständig und unnachgiebig bemüht zu sein, aber mit Gelassenheit und Gleichmut. Beharrlich und kraftvoll, jedoch gleichzeitig völlig entspannt und ausgeglichen.

Eine weitere Hilfe zur Vertiefung der Meditation ist Schweigen. Wir haben nicht oft die Gelegenheit, genau zu erkennen, was in unserem Geiste vor sich geht, da Sprechen unsere Aufmerksamkeit zerstreut und unsere Energie verbraucht. Ein Großteil der durch das Schweigen gewonnenen Energie kann zur Entwicklung der Bewußtheit und Achtsamkeit eingesetzt werden. Genau wie die Meditationsübungen selbst, sollte das Schweigen leicht und entspannt sein. Dies bedeutet nicht, zu sprechen, wenn der Wunsch dazu aufsteigt, sondern sich einfach in die Stille hineinzugeben und mit ruhiger Bewußtheit durch den Tag zu gehen. Durch das Bewahren der Stille wird der ganze Bereich des geistigen und körperlichen Geschehens sehr klar werden; Schweigen ermöglicht eine tiefe geistige Stille.

Beziehungen zwischen Freunden und Paaren werden nicht empfohlen. Versuchen Sie, ein Gefühl des Alleinseins zu entwickeln. Um dies zu erreichen ist es nützlich, alle vorgefaßten Meinungen über sich selbst, über Beziehungen und andere Menschen beiseite zu schieben. Nutzen sie diese Zeit zur tiefen Selbsterfahrung.

Jeder von uns wird allein sterben. Es ist notwendig, daß wir mit unserer grundlegenden Einsamkeit vertraut werden und sie akzeptieren. Durch diese Erkenntnis kann der Geist stark und friedvoll werden und uns eine ungetrübte Gemeinschaft mit anderen ermöglichen. Wenn wir uns selbst verstehen, werden zwischenmenschliche Beziehungen unproblematisch und sinnvoll.

Im übrigen ist es hilfreich, nicht verschiedenartige Übungen zu verwenden. Viele haben bereits die unterschiedlichsten Meditationsarten ausgeübt. Es wäre von Vorteil, sich während dieser Zeit lediglich auf die Entfaltung des Vipassaná oder der Einsicht zu konzentrieren. Indem Sie während dieses Monats alle Bemühungen auf die Entwicklung des Gegenwärtighaltens der Achtsamkeit richten, verhindern Sie eine Verflachung der Übung. Ist alles Streben auf ein Ziel gerichtet, wird der Geist kraftvoll und durchdringend.

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Sehr wertvoll ist es, langsamer zu werden. Nichts eilt, Sie müssen nirgendwo hingehen, es gibt nichts anderes zu tun; verweilen Sie nur im gegenwärtigen Augenblick. Bei allen Tätigkeiten des Tages üben Sie größte Achtsamkeit und beachten genau alle Ihre Bewegungen. Ständiges Gewahrsein vertieft die Meditation.

Wir beginnen die Sitzübung mit einem einfachen Wahrnehmungsobjekt: Achtsamkeit auf die Atmung. Nehmen Sie eine einigermaßen bequeme Haltung ein, halten Sie den Rücken möglichst gerade, jedoch ohne steif oder verspannt zu sein. Wenn Sie verkrampft oder vorgeneigt sitzen, werden Sie sich bald unbehaglich fühlen. Wenn Sie es vorziehen, können Sie auch auf einem Stuhl sitzen. Wichtig ist, daß Sie sich so wenig wie möglich bewegen. Die Augen sollten geschlossen sein, es sei denn, Sie sind an eine Technik gewöhnt, bei der sie leicht geöffnet bleiben, und Sie dies vorziehen. Die Augen geöffnet halten ist lediglich eine Methode, sie auf einen Punkt zu richten und sie dann zu vergessen. Im allgemeinen scheint es leichter zu sein, sie entspannt geschlossen zu halten. Aber an sich ist es nicht wichtig.

Atmungs-Achtsamkeit kann auf eine von zwei Arten geübt werden. Wenn Sie einatmen, hebt oder dehnt sich die Bauchdecke, und wenn Sie ausatmen, sinkt sie ein. Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf die Bewegung der Bauchdecke, ohne Vorstellungen oder Träumereien, erfahren Sie nur die Empfindung der Bewegung. Beeinflussen oder lenken Sie den Atem in keiner Weise, bleiben Sie nur achtsam auf das Heben und Senken der Bauchdecke.

Die andere Möglichkeit besteht darin, sich bewußt zu sein, wie der Atem durch die Nasenlöcher ein- und ausströmt; die Achtsamkeit ist etwa auf die Nasenspitze oder die Oberlippe gerichtet. Halten Sie die Aufmerksamkeit auf die Atmung etwa so wach, wie ein Pförtner, am Tor stehend, die Menschen beobachtet, die ein- und ausgehen. Folgen Sie dem Atem nicht hinein oder hinaus; beeinflussen oder steuern Sie die Atmung auch nicht. Werden Sie sich des Ein- und Ausstreichens des Atems an den Nasenlöchern bewußt. Am Anfang der Übung ist es hilfreich, entweder "Heben, Senken" oder "ein, aus" im Geiste zu bemerken. Dies hilft dem Bewußtsein, auf das Objekt gerichtet zu bleiben.

Zuerst müssen Sie herausfinden, welches Objekt Ihnen klarer erscheint, entweder das Heben und Senken oder das Ein und Aus. Dann wählen Sie Ihr Objekt der Achtsamkeit und bleiben dabei, ohne zu wechseln. Wenn es manchmal weniger deutlich ist, gehen Sie nicht zum anderen Objekt über, weil Sie denken, es ginge leichter. Nachdem Sie sich entschieden haben, worauf Sie Ihre Aufmerksamkeit richten wollen, halten Sie sie dort, unbeirrt durch alle Erfahrungen. Manchmal ist sie klar, manchmal nicht, manchmal ist sie tief, dann

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wieder oberflächlich, manchmal lang, manchmal kurz. Beachten Sie: Es ist keine Atemübung, es ist der Anfang der Achtsamkeitsübung.

Der Achtsame Gang:

Die Gehübung führen wir aus, indem wir bei jedem Schritt die Bewegung des Beines betrachten: Heben, Vorwärtstragen, Aufsetzen. Es ist hilfreich, einen Teil-Schritt ganz zu beenden, bevor Sie das andere Bein bewegen. "Heben, Vorwärtstragen, Aufsetzen, Heben, Vorwärtstragen, Aufsetzen."

Es ist ganz einfach. Auch dies ist keine Bewegungsübung. Es ist eine Achtsamkeitsübung. Benutzen Sie die Bewegung, um eine klare Bewußtheit zu entwickeln. Im Laufe des Tages können Sie viele Veränderungen erwarten. Manchmal möchten Sie schnell gehen, dann wieder langsam. Sie können die Schritte als Einheit nehmen: "Schreiten, Schreiten." Oder Sie beginnen mit schnellem Gehen und werden im Zuge derselben Meditationsübung langsamer, bis Sie wieder zur Dreiteilung kommen. Probieren Sie alles aus.

Die Hauptsache ist, daß Sie achtsam sind, daß Sie bewußt erfahren, was geschieht. Beim Gehen sollten die Hände ruhig gehalten werden, entweder hinter dem Rücken oder an den Seiten oder vorne. Es ist besser, ein wenig nach vorne zu schauen und nicht auf die Füße; damit verhindern wir, daß wir in die Vorstellung "Fuß" verwickelt werden, die durch den visuellen Kontakt entsteht. Die ganze Aufmerksamkeit wird auf die Erfahrung der Bewegung gerichtet, Sie spüren die Empfindung des Hebens, Vorwärtstragens und Aufsetzens.

Nachstehend der Zeitplan, er soll Ihnen eine Vorstellung davon vermitteln, wie die Tage verlaufen werden:

04.30 - - Wecken 05.00 - 06.30 - Gehen und Sitzen 06.30 - 07.30 - Frühstück 07.30 - 08.00 - Gehen 08.00 - 09.00 - Sitzen in der Gruppe 09.00 - 09.45 - Gehen 09.45 - 10.45 - Sitzen in der Gruppe 10.45 - 11.30 - Gehen 11.30 - 13.15 - Mittagessen und Ruhepause 13.15 - 14.00 - Sitzen in der Gruppe 14.00 - 14.45 - Gehen 14.45 - 15.45 - Sitzen in der Gruppe

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15.45 - 17.00 - Gehen und Sitzen 17.00 - 17.30 - Tee 17.30 - 18.00 - Gehen 18.00 - 19.00 - Sitzen in der Gruppe 19.00 - 20.00 - Gespräche 20.00 - 20.45 - Gehen 20.45 - 21.45 - Sitzen in der Gruppe 21.45 - 22.00 - Tee 22.00 - - Weitere Übungen oder Schlafen

Der Zeitplan wird ausgehängt. Während der ersten Tage oder Wochen sollten Sie sich möglichst danach richten. Wenn Sie sich daran gewöhnt haben, den Tag in Meditation zu verbringen, mit einem ständigen Bemühen um Achtsamkeit, werden Sie Ihren eigenen Rhythmus finden. Gehen und sitzen Sie so regelmäßig wie möglich. Führen Sie das Essen wie alle anderen Tätigkeiten, achtsam und bewußt aus. Nach einiger Zeit kann es möglich sein, daß Sie lieber länger gehen, vielleicht eine oder eineinhalb Stunden, und dann erst wieder sitzen wollen. Manche mögen lieber länger sitzen, zwei oder drei Stunden hintereinander, andere wieder bleiben abends gerne lange auf. Als ich das erste Mal in Indien übte, meditierte ich gern in den späten Nachtstunden: die Zeit zwischen Mitternacht und drei Uhr früh war für mich voller Frieden und Ruhe und gut zum Üben. Je mehr Sie in die Meditation hineinkommen, desto weniger Schlaf werden Sie brauchen. Sie sollten schlafen gehen, wenn Sie wirklich müde sind, nicht nur aus Gewohnheit zu einer bestimmten Stunde. Bei fortschreitender Meditation kann es möglich sein, daß Sie sich gar nicht mehr müde fühlen und Tag und Nacht üben können. Sie sollten versuchen, das Maximale für sich zu erreichen, ohne zwanghaftes Bemühen. Der heilige Franz von Sales schrieb:

Habe mit allen Menschen Geduld, vor allem aber mit dir selbst. Lasse dich nicht durch deine Unvollkommenheiten entmutigen, beginne immer wieder mit neuem Mut. Ich freue mich, daß du jeden Tag von neuem beginnst. Es gibt keinen besseren Weg zu geistigen Erkenntnissen, als immer wieder von vorn zu beginnen und nie zu denken, daß es nun genug sei. Wie können wir geduldig bei den Schwächen unseres Nachbarn sein, wenn wir ungeduldig bei unseren eigenen sind. Wer sich über seine eigenen Mängel grämt, wird sie nicht korrigieren können. Alle tiefgreifenden Veränderungen kommen aus einem ruhigen und friedvollen Geist.

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Zweiter Abend - Der Edle Achtfache Pfad

Wir alle haben eine Reise begonnen. Eine Reise in unseren Geist. Eine Reise, um zu erkunden und zu erfahren, wer und was wir sind. Der erste Schritt ist schwierig, und während der ersten Übungstage wird sich häufig Ruhelosigkeit, Schläfrigkeit, manchmal Langeweile, Trägheit, Zweifel und vielleicht auch Bedauern darüber, daß Sie sich überhaupt darauf eingelassen haben, einstellen. Der erste Schritt ist für jeden schwierig. Spinoza schrieb am Ende eines seiner wichtigen philosophischen Werke: "Alle edlen Dinge sind so schwierig, wie sie selten sind." Der geistige Weg, den wir gehen wollen, ist ein einmaliges und tiefes Unterfangen, dessen Anfangsschwierigkeiten wir mit Ruhe und Beharrlichkeit begegnen sollten.

Ein schönes Gleichnis für diese Reise ist das Buch "Mount Anologue". Die Geschichte handelt von Menschen, die auf der Suche nach einem Berg sind. Der Fuß des Berges ruht auf der Erde, und der Gipfel stellt die höchste geistige Erreichung dar. Zuerst stehen die Pilger einer großen Schwierigkeit gegenüber: unter normalen Voraussetzungen ist der Berg unsichtbar und kann erst nach schweren Kämpfen und Entbehrungen entdeckt werden. Nach vielen Anstrengungen finden sie den Berg und können sich dem Fuße nähern. Das Buch beschreibt dann weiter die Vorbereitungen, Schwierigkeiten, Kämpfe und Aufregungen, die den Gipfelsturm begleiten.

Wir sind auf der gleichen Reise, wir wollen den Berg der geistigen Innenschau erklimmen. Wir haben bereits das Geheimnis seiner Unsichtbarkeit entdeckt die Tatsache, daß die Wahrheit, das Gesetz, der Dharma, in uns ist, nicht außerhalb von uns, und daß wir dort beginnen, wo wir sind.

Der Bergpfad, der Weg zur Freiheit ist uns vorgezeichnet von den vielen Menschen, die ihn vor uns gegangen sind. Eine der klarsten Wegbeschreibungen finden wir in den Lehren des Buddha, wie er sie uns mit dem Edlen Achtfachen Pfad zeigt. Er ist eine Anweisung und ein Fingerzeig auf den Weg zur Erleuchtung.

Der erste Schritt auf dem Bergpfad heißt Rechte Erkenntnis. Tatsächlich ist dies der erste und auch der letzte Schritt. Bedingt durch ein erstes Aufleuchten der Erkenntnis beginnen wir die Reise; und diese Erkenntnis kommt auf dem Gipfel zur Erfüllung und Reife, wenn wir in die tiefsten Gründe unseres Geistes eindringen. Zuerst bezieht sich die Rechte Erkenntnis auf bestimmte naturgegebene Gesetze, denen unser alltägliches Leben unterworfen ist. Eines der wichtigsten ist das Karma-Gesetz, das Gesetz von Ursache und Wirkung.

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Jede Handlung hat eine bestimmte Wirkung. Nichts geschieht durch Zufall. Wenn unser Handeln durch die Wurzeln Gier, Haß und Unwissenheit bestimmt ist, kommen Schmerz und Leid auf uns zurück. Wenn unser Tun von Selbstlosigkeit, Liebe und Weisheit gelenkt wird, werden wir Glück und Frieden ernten. Wenn wir dieses Wissen um das Karma-Gesetz in unser Leben integrieren, können wir bewußt damit beginnen, heilsame Bewußtseinszustände zu entwickeln und zu fördern.

Buddha betonte oft die Kraft und Wichtigkeit der Selbstlosigkeit und Freigebigkeit. Der geistige Zustand der Gierlosigkeit drückt sich aktiv durch Geben aus. Der gesamte geistige Weg beruht auf dem Prinzip des Loslassens, des Nichteergreifens und Nichtanklammerns, und Freigebigkeit ist hier die Verkörperung des Nichthaftens.

Weiter erfahren wir durch Rechte Erkenntnis die besondere Verbindung, das einmalige Karma, das zwischen uns und unseren Eltern besteht, und die Verantwortung und Verpflichtung, die wir ihnen gegenüber haben. Unsere Eltern haben für uns gesorgt, als wir nicht für uns selbst sorgen konnten, und wir verdanken es Ihren Bemühungen zu einer Zeit, als wir hilflos waren, daß wir jetzt die Möglichkeit haben, dem Dharma gemäß zu leben. Buddha sagte, daß es keinen Weg gibt, diese Schulden abzutragen, daß wir unser ganzes Leben lang unsere Eltern auf unseren Schultem tragen könnten und trotzdem unseren Verpflichtungen nicht nachgekommen wären. Der einzige Weg, unsere Schuld an unseren Eltern abzutragen, ist der, ihr Leben im Dharma, in der Wahrheit, in der Rechten Erkenntnis zu festigen. Im allgemeinen verwenden wir viel Zeit und Kraft darauf, uns psychologisch von unseren Eltern zu befreien, was sicher seine Berechtigung hat, aber gerade in diesem Bereich der Freiheit sollten wir unsere Verantwortung ihnen gegenüber erkennen.

Rechte Erkenntnis besteht auch aus einem tiefgreifenden und differenzierten Wissen um unsere wahre Natur. Im Verlauf der Meditation wird es immer klarer, daß alle Dinge vergänglich sind. Alle geistigen und körperlichen Elemente sind nur für einen Augenblick vorhanden und vergehen wieder, steigen auf und lösen sich auf, in stetem Wechsel. Der Atem strömt ein und aus, Gedanken steigen auf und verlöschen, Gefühle bilden sich und schwinden. Alle Erscheinungen sind in ständiger Veränderung. Es gibt keine bleibende Sicherheit im Strom der Vergänglichkeit. Der tiefe Einblick in die selbstlose Natur aller Dinge eröffnet uns eine völlig andere Perspektive auf unser Leben und die Welt. Der Geist verliert seinen Hang zum Haften, wenn die Vergänglichkeit aller Dinge bis ins Kleinste erkannt wird und wir die Vorgänge des Geistes und Körpers ohne die Last des Ich erfahren. Dies ist Rechte Erkenntnis, die in der Meditation aus genauer und durchdringender Betrachtung erwächst.

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Der zweite Schritt auf dem Achtfachen Pfad ist Rechte Gesinnung. Dies bedeutet, daß die Gedanken von Sinnenlust, Übelwollen und Grausamkeit frei sind. Solange der Geist von Sinnenlust getrübt ist, wird er äußerliche Befriedigung suchen und sich äußerlichen Objekten zuwenden, die durch ihre Vergänglichkeit niemals restlose Zufriedenheit bringen können. Wir haben für einen Augenblick ein Gefühl der Freude, und sofort steigt das Begehren nach mehr auf. Der endlose Kreislauf des Strebens nach Sinnenlust hält den Geist in Unruhe und Verwirrung. Die Gedanken von der Sinnenlust zu befreien bedeutet nicht, daß wir sie unterdrücken oder so tun, als ob sie nicht da seien. Wenn ein Begehren unterdrückt wird, wird es sich meistens auf eine andere Art bemerkbar machen. Genauso unheilsam ist es, sich mit jedem aufsteigenden Begehren zu identifizieren und zwangsweise darauf zu reagieren. Rechte Gesinnung heißt, sich der Sinnenlust bewußt zu werden und sie loszulassen. Je mehr wir loslassen, desto freier wird der Geist. Unruhe und Verkrampfung treten nicht mehr auf, und wir können beginnen, uns von der Last der Bedingtheit und der Knechtschaft der Sinnenlust zu befreien.

Freiheit von Übelwollen bedeutet Freiheit von Ärger. Ärger ist ein Brennen des Geistes, das, wenn es zum Ausdruck kommt, auch anderen Menschen Leid bringt. Es ist hilfreich, den Ärger zu erkennen und ihn loszulassen. Der Geist wird dann hell und leicht und zeigt seine natürliche Güte.

Wenn die Gedanken frei von Grausamkeit sind, kann Mitgefühl aufsteigen; Sie entwickeln ein Empfinden für das Leiden anderer und möchten ihnen helfen. Wir sollten Gedanken entwickeln, die jedwedem Lebewesen gegenüber frei von Grausamkeit sind.

Die nächsten Schritte auf dem Bergpfad bringen uns zu unseren Beziehungen zur Welt, zu unserer Umgebung, zu anderen Menschen. Sie sind eine Anleitung dazu, wie wir im Gleichklang mit unserer Umgebung leben und unseren Geist in Harmonie mit anderen oder der Natur um uns schwingen lassen können. Der erste Aspekt, um sich so auf die Umwelt einzustimmen, ist Rechte Rede. Rechte Rede ist Vermeiden von Lüge, Zwischenträgerei, roher und törichter Rede. Wir wählen ehrliche, hilfreiche Worte, die eine Ausstrahlung von Frieden und Harmonie haben.

Über den Buddha wird eine Geschichte erzählt, als er nach seiner Erleuchtung in die Stadt zurückkehrte, in der seine Familie noch lebte. Viele seiner Verwandten, mitgerissen durch seine Gegenwart, seine Liebe, Güte und Weisheit, traten dem Mönchsorden bei. Auch sein Sohn Rahula wurde zu dieser Zeit Novize im Orden. Es gibt eine berühmte Rede, genannt "Rat an Rahula", in welcher der Buddha zu seinem Sohn spricht und ihm sagt, daß er unter keinen Umständen, weder zu seinem eigenen noch zu anderer Vorteil, die Unwahrheit

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sprechen dürfe. So wichtig ist die Verpflichtung zur Wahrheit. Sie macht unsere Beziehungen leicht und unkompliziert. Wahrhaftigkeit der Rede bringt uns auch eine Wahrhaftigkeit mit uns selbst ein. Es gibt viele Dinge in unserem Geist und Körper, bei denen wir uns selbst etwas vormachen, alle möglichen Spannungen, Unannehmlichkeiten, Dinge, denen wir ausweichen. Wahrhafte Rede ist die Grundlage für geistige Ehrlichkeit, und dies ist der Punkt, wo alles beginnt. Wir fangen an, klar zu sehen, und können uns durch die Neurosen unseres Geistes hindurcharbeiten.

Der vierte Schritt auf dem Bergpfad ist Rechte Tat. Wir vermeiden das Töten, fügen anderen Wesen so wenig Schmerzen wie möglich zu; wir stehlen nicht, das heißt, wir nehmen nichts Nichtgegebenes; wir vermeiden sexuelle Verfehlungen, was in bezug auf unser tägliches Leben so verstanden werden kann, daß wir anderen durch Gier oder Verlangen nach angenehmen Empfindungen kein Leid zufügen.

Oft sind uns die langfristigen Auswirkungen unserer Taten nicht klar. Eine Geschichte aus Mount Analogue illustriert dies.

Für Menschen, die den Berg bestiegen, gab es eine Regel, daß nach einem bestimmten Punkt des Aufstiegs kein Lebewesen mehr getötet werden durfte. Die Wanderer mußten ihre ganze Nahrung mit sich tragen. Eines Tages kam jemand, der diesen Punkt bereits passiert hatte, in einen Schneesturm. Drei Tage mußte er unter einem notdürftigen Schutz ohne Nahrung, halb erfroren, verbringen. Am dritten Tag hörte der Sturm auf. Er sah eine sehr alte Ratte aus einem Loch kriechen und dachte bei sich, es wäre wohl nicht so schlimm, wenn er die Ratte töte, damit er etwas zu essen habe und den Abstieg beginnen könne. Es gelang ihm, die Ratte mit einem Stein zu töten. Er ging den Berg hinab und dachte nicht mehr an die Angelegenheit. Einige Zeit später wurde er vor das Gericht der Führer gerufen, sie trugen die Verantwortung für den Berg und den Pfad. Er wurde wegen des Tötens der Ratte zur Rechenschaft gezogen, ein Vorfall, den er längst vergessen hatte. Es stellte sich heraus, daß seine Tat ernste Folgen gehabt hatte. Die Ratte hatte, da sie sehr alt gewesen war, nicht die Kraft gehabt, gesunde Insekten zu fangen, und sich deshalb von kranken Tieren ernährt. Nachdem die Ratte tot war, gab es keine natürliche Auslese mehr unter den kranken Insekten. Krankheit verbreitete sich ungehemmt, und die ganze Art starb aus. Diese Insekten aber hatten die Aufgabe, die meisten Pflanzen des Berges zu befruchten. Als nun die Insekten ausstarben und keine Befruchtung mehr möglich war, begann die Vegetation zu verkümmern. Durch die Pflanzen wurde die Erde auf dem Berg gehalten, und als die Vegetation abstarb, begann die Erosion. Schließlich kam es zu einem gewaltigen Erdrutsch, der viele Menschen tötete, die gerade den Berg bestiegen. Der Pfad war für eine lange

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Zeit blockiert. All dies war die Folge einer unscheinbaren Tat, wie es das Töten der Ratte gewesen war.

Da wir oft die weitreichenden Wirkungen unserer Taten nicht abschätzen können, sollten wir uns bemühen, keine Spannungen in unserer Umgebung auszulösen, sondern Friede, Güte, Liebe und Mitgefühl ausstrahlen. Der nächste Schritt auf dem Achtfachen Pfad, in bezug auf unsere Verbindungen in dieser Welt, ist Rechter Lebenserwerb. Das heißt, nur solchem Lebensunterhalt und solcher Arbeit nachzugehen, die anderen nicht schaden, also keine Arbeit, die Töten, Stehlen oder Unehrlichkeit verlangt. Es gibt eine herkömmliche Liste von unheilsamen Berufen wie Waffen- und Rauschgifthandel, Jagen und Fischen; alle verursachen anderen Leid. Sie werden dem Dharma nicht gerecht, wenn Sie nur sitzen. Das Sitzen ist ein kraftvolles Werkzeug, um zum Verständnis zu gelangen, aber Weisheit und Verständnis müssen auch in unser tägliches Leben integriert werden. Rechter Lebenserwerb ist ein wichtiger Schritt zu dieser Integration: wir sollten einen heiligen Wandel führen, wie es die amerikanischen Indianer taten. Wir sollten Lebensführung zu einer Kunst erheben. Wir werden unsere Tätigkeiten voller Achtsamkeit und auf edle Art ausführen.

Die nächsten drei Schritte auf dem Pfad befassen sich in erster Linie mit der Übung der Meditation. Der erste ist in mancher Hinsicht der wichtigste: Rechte Bemühung. Nichts geschieht, wenn wir uns nicht bemühen. Im Abhidhamma, der buddhistischen Psychologie, wird gesagt, daß die Bemühung die Wurzel aller Errungenschaften ist, die Grundlage aller Erfolge. Wenn wir den Gipfel erreichen wollen, aber nur am Fuße des Berges sitzen und darüber nachdenken, wird nichts geschehen. Nur durch die Bemühung, durch das tatsächliche Besteigen des Berges, durch das Einen-Schritt-vor-den-anderen-Setzen wird der Gipfel erreicht. Ramana Maharshi, ein großer Weiser des modernen Indiens, schrieb: "Niemand hat ohne Bemühung Erfolg. Die Beherrschung des Geistes wird einem nicht in die Wiege gelegt. Diejenigen, welche Erfolg haben, haben dies nur durch ihre Beharrlichkeit erreicht." Aber die Bemühung muß auch ausgewogen sein. Krampfhafte, begierige Bemühungen behindern nur. Tatkraft und Sammlung sollten sich die Waage halten. Es ist etwa so, als ob Sie die Saiten einer Gitarre stimmen wollen. Wenn sie zu stramm oder zu locker sind, ist der Ton nicht klar. Bei unseren Übungen müssen wir beharrlich und zielstrebig sein, dabei jedoch einen entspannten und ausgeglichenen Geist bewahren und uns ohne Verkrampfung bemühen. Wir haben in uns selbst so viel zu entdecken, so viele Schichten des Bewußtseins zu durchdringen. Durch Bemühung öffnet sich der Weg. Kein anderer wird es für uns tun. Niemand kann ein anderes Wesen erleuchten. Die Erleuchtung Buddhas löste seine Probleme, nicht die unseren ... weist aber auf den Weg hin. Jeder von uns muß den Weg selbst gehen.

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Achtsamkeit ist der siebte Schritt auf dem Edlen Achtfachen Pfad, das heißt wahrnehmen, was jetzt und hier geschieht. Es bedeutet, auf den Fluß der Dinge zu achten beim Gehen die Bewegung des Körpers zu empfinden, beim Betrachten der Atmung das Ein- und Ausstreichen oder das Heben und Senken zu empfinden; Gedanken oder Gefühle zu registrieren, wenn sie aufsteigen. Ein Zen-Meister sagte es so: "Wenn du gehst, gehe; wenn du läufst, laufe; vor allem: wackle nicht." Was immer das Objekt ist, nehmen Sie es wahr, beobachten Sie es, ohne anzuhangen, was Gier wäre, ohne zu verurteilen, was Haß wäre, ohne es zu verlieren, was Verblendung wäre. Betrachten Sie nur das Fließen, nehmen Sie den Prozeß wahr. Rechte Achtsamkeit hat ihren eigenen Rhythmus, der Tagesablauf wird zum Tanz. Achtsamkeit fördert die Selbstsicherheit und die geistige Ausgeglichenheit. Bleiben Sie sehr wachsam, lassen Sie sich nicht von den vorüberziehenden Dingen berühren.

Der letzte Schritt auf dem Bergpfad ist Rechte Sammlung. Gemeint ist die Einspitzigkeit des Geistes, die Fähigkeit, den Geist unverwandt auf ein Objekt gerichtet zu halten. Die ersten Tage dieser Reise mögen schwierig erscheinen, da die Sammlung noch nicht gut entwickelt ist. Um einen Berg zu ersteigen, bedarf es einer gewissen körperlichen Kraft. Wenn man noch nicht sehr stark ist, wird man sich am Anfang müde und unbehaglich fühlen. Mit zunehmender Kraft jedoch wird das Bergsteigen leichter. Genauso ist es bei der Meditation. Je intensiver die Sammlung ist, desto besser können Sie im Jetzt verweilen. Die Hindernisse, die sich zuerst auftürmen, werden dann leicht überwunden.

Wenn Sie einen Kessel auf den Herd stellen und ständig den Deckel abnehmen, wird es lange dauern, bis das Wasser kocht. Belassen Sie es dabei, den Kessel aufzusetzen, wird das Wasser rasch heiß.

Ein Meditationskurs ist eine einmalige Gelegenheit, einen hohen Grad an Sammlung und Achtsamkeit zu entwickeln. Bei gleichmäßiger Übung baut sich ein Moment auf dem anderen auf und in kurzer Zeit wird der Geist stark und durchdringend.

Die Reise, auf der wir uns befinden, verbindet ein rechtes Verhältnis zur Umwelt mit einem sich vertiefenden Verständnis und Einblick in unsere eigene Natur. In Mount Analogue steht ein guter Ratschlag für den Wandel auf dem Weisheitspfad: "Verliere nicht den Weg nach oben aus den Augen. Vergiß aber nicht, den Blick vor die Füße zu richten. Der letzte Schritt hängt vom ersten ab. Glaube nicht, daß du den Gipfel erreicht hast, nur weil du ihn sehen kannst. Achte auf festen Gang. Sei dir des nächsten Schrittes sicher. Aber lasse dich dadurch nicht vom höchsten Ziel ablenken. Der erste Schritt hängt vom letzten ab.

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Wir stehen sicher in der Gegenwart, halten die Achtsamkeit gewärtig und vertrauen in unsere Vision der Freiheit.

Ich habe festgestellt, daß Empfindungen stärker bei der Einatmung auftreten; manchmal stört dies meine Konzentration. Kann ich irgend etwas dagegen tun?

Die Atmung ist ein sehr interessantes Meditationsobjekt, da sie viele Möglichkeiten der Qualität und Intensität in sich birgt. Manchmal ist der Atem kräftig und schwer, manchmal dünn und leicht. Er kann sich zwischen der Ein- und Ausatmung verändern oder innerhalb eines Zeitraumes. Manchmal ist die Atmung fast nicht mehr bemerkbar. Der Atem ist deshalb ein wertvolles Meditationsobiekt, weil er, wenn er ganz fein wird, dazu benutzt werden kann, den Geist zu den tiefsten, subtilsten Schichten zu führen. Wenn der Atem ganz zart wird, machen Sie den Geist so einspitzig, daß die Achtsamkeit gerichtet bleibt. Es bedarf einer zusätzlichen Kraft - nicht einer Handlung, sondern der Stille.

Woran erkennt man, ob ein Mensch erleuchtet ist?

Ein erleuchteter Mensch ist nicht auffindbar. Es gibt keine Möglichkeit, einen freien Geist durch irgendeinen Sinn zu erkennen, da er jenseits des Geistes ist. Es ist so, als ob Sie ein Feuer suchen, das bereits ausgegangen ist. Wo wollen Sie suchen? Sie können sich die Erleuchtung nicht so vorstellen, als ob sie irgendwo existiert. Es gibt kein besonderes Zeichen auf der Stirn, aber Sie können die Weisheit und Güte dieser Menschen erkennen und sie würdigen.

Eine Frage über unsere Beziehungen zu unseren Eltern und unsere Verpflichtungen, zu versuchen, ihnen den Weg zu zeigen. Meine Eltern überlegen sich, warum ich hier bin und was ich mache. Es scheint keine Möglichkeit zu geben, es ihrem Verständnis nahe zu bringen.

Es gibt viele Kommunikationsmöglichkeiten - Sprechen ist manchmal nicht die beste. Wenn Sie mit Ihren Eltern oder anderen Menschen zusammen sind und dabei voller Ruhe sind, nicht wertend, sondern annehmend, weit offen und voller Liebe und Güte, dann brauchen Sie nicht zu sprechen. Ihr friedvolles Wesen schafft einen gewissen Raum. Es braucht seine Zeit. Menschen hängen an ihren Ansichten. Wenn ihnen etwas gesagt wird, das ihren Ansichten zu nahe tritt, werden sie defensiv. Deshalb ist dies nicht der richtige Weg; Sie sollten so sein, wie Sie sind, und den Dharma sich entfalten lassen. Ein friedvoller Geist wirkt sich auf seine Umgebung aus. Sie brauchen Zeit, Sie brauchen Geduld und viel Liebe.

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In der Meditation seh' ich meinen Atem wie Wasser in einem Tunnel hin- und herfließen. Wäre es achtsamer, ohne solche Visionen zu sitzen?

Ja. Der Sinn der Übung ist, den Geist von der Vorstellungswelt auf eine Ebene der direkten Erfahrung zu führen. Die Vergegenständlichung der Atmung ist eine Vorstellung. Es ist nicht das, was geschieht. Der Sinn ist, die Atmung zu empfinden, nicht, sich eine Vorstellung davon zu machen.

Wie paßt die Hingabe an Gott zu diesen Übungen?

Es hängt davon ab, was Sie mit Gott meinen. Die Menschen haben viele verschiedene Deutungen dieses Wortes. Man kann Gott mit der höchsten Wahrheit gleichsetzen, das wäre dann das gleiche wie der Dharma, das Gesetz, das So-Sein der Dinge. Loslassen ist der Weg des Hingebens. Den Dharma sich entfalten lassend.

Dritter Morgen - Unterweisung: Gefühle

Gefühl ist ein Geistesfaktor, der bei der Entfaltung der Einsicht besonders wichtig ist. Gefühl bezieht sich auf angenehme, unangenehme und neutrale Empfindungen, die in jedem Bewußtseinsmoment vorhanden sind. Das angenehme oder unangenehme Gefühl bedingt das Begehren oder Hassen. Sie klammern sich an angenehme Objekte und Gefühle, verurteilen und empfinden Abneigung bei unangenehmen. Wenn wir die Achtsamkeit bei Gefühlen einsetzen, können wir mit Abstand und Ausgewogenheit die Empfindungen betrachten.

Die physischen Empfindungen des Körpers gehören zu der Objektgruppe, bei der Gefühl vorherrschend ist. Wir können ganz klar die Empfindungen als angenehm oder unangenehm erfahren. Das Betrachten dieser Gefühle ist eine gute Art, Achtsamkeit auf die Gefühle zu entwickeln. Wir erfahren die Körperempfindungen, ohne an den schönen, leichten, perlenden Gefühlen zu haften und ohne Abneigung gegen Schmerz und Verkrampfung. Betrachten Sie lediglich die Empfindungen - Hitze, Kälte, Jucken, Vibrieren, Leichtigkeit, Schwere - und wie die damit verbundenen Gefühle aufsteigen, ohne anzuhangen oder zu werten oder sich damit zu identifizieren.

Beginnen Sie die Übung damit, daß Sie die Achtsamkeit auf das Heben und Senken der Bauchdecke oder das Ein- und Ausströmen des Atems richten. Wenn

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die Empfindungen im Körper überwiegen, richten Sie Ihre ganze Aufmerksamkeit, die volle Achtsamkeit, auf sie. Es ist wichtig, daß der Geist entspannt bleibt, wenn Sie die Empfindungen betrachten, besonders wenn es sich um starke schmerzliche Gefühle im Körper handelt. Geist und Körper haben die Tendenz, auf Schmerz mit Verkrampfung zu reagieren. Dies ist ein Ausdruck von Widerwille, Abneigung und Ausweichen und verursacht einen unausgeglichenen Geist. Sie sollten sich im Abstand von dem Schmerz entspannen und das Fließen betrachten. Wenn der Geist still, aufmerksam und entspannt ist, erfahren Sie den Schmerz nicht als eine dauerhafte Substanz, sondern als ein Fließen, von Augenblick zu Augenblick aufsteigend und vergehend. Sie sitzen mit entspanntem und ruhigem Geist und betrachten das Fließen der Empfindungen ohne Abneigung und ohne Erwartung.

Schmerz ist ein gutes Meditationsobjekt. Wenn Sie einen starken Schmerz im Körper empfinden, wird auch die Meditation intensiv werden. Sie können den Geist leicht darauf richten, ohne daß er viel abweicht. Immer wenn körperliche Empfindungen vorherrschen, sollten Sie sie zum Meditationsobjekt machen. Wenn sie nicht mehr überwiegen, kehren Sie zur Atmung zurück. Die Achtsamkeit sollte gleichmäßig sein, nicht sprunghaft oder sich an Objekte klammernd, nur betrachtend: "Heben-Senken", "Schmerz", "Kribbeln", "Hitze", "Kälte", "Heben - Senken". Wenn Sie feststellen, daß Sie durch einen Schmerz verkrampft werden, sollten Sie sorgfältig das unangenehme Gefühl, die Schmerzhaftigkeit untersuchen. Richten Sie die Achtsamkeit auf das Gefühl, und der Geist wird ohne Zwang in einen ausgeglichenen Zustand gelangen.

Vierter Abend - Reines Beobachten

Eine alte Prophezeiung besagt, daß zweitausendfünfhundert Jahre nach Buddhas Tod ein Wiederaufleben des Dharma stattfinden wird. Wir erfahren zur Zeit die Erfüllung dieser Voraussage in der sich jetzt anbahnenden Renaissance der geistigen Belange. Um die Weite und Tiefe der Prophezeiung verstehen zu können, ist es gut zu wissen, was das Wort "Dharma" bedeutet. Dharma kommt aus dem Sanskrit, und seine allgemeine Bedeutung ist das Gesetz, das So Sein der Dinge, das Tao, insbesondere aber die Lehre Buddhas. All dies ist der Dharma. Auch die einzelnen psychischen und physischen Elemente, aus denen die Lebewesen bestehen, sind damit gemeint. Die Elemente des Geistes: Gedanken, Visionen, Empfindungen, Bewußtsein und die Elemente der Materie werden einzeln als "Dharmas" bezeichnet. Die Aufgabe bei allen geistigen Übungen ist

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es, diese Dharmas in uns zu entdecken und zu erforschen, alle Elemente des Geistes und des Körpers zu entschleiern und zu durchdringen, sie sowohl einzeln zu erkennen als auch ihre gesetzmäßige Entwicklung und ihre Beziehungen untereinander zu verstehen. Genau dies ist es, was wir hier tun: In jedem Augenblick erfahren wir die Wahrheit über unsere Natur, die Wahrheit darüber, wer und was wir sind.

Es gibt eine Eigenschaft des Geistes, die die Bedingung und die Grundlage für geistige Erfahrungen ist, diese Eigenschaft nennt man "Reines Beobachten". Beim Reinen Beobachten betrachten Sie die Dinge so, wie sie sind; Sie wählen nicht, Sie stellen keine Vergleiche an, Sie werten nicht, Sie tragen keine Projektionen und Erwartungen in das Geschehen hinein. Sie entwickeln ein wahlfreies und rein aufnehmendes Beobachten. Diese Eigenschaft des Reinen Beobachtens wird sehr gut durch ein berühmtes japanisches Haiku illustriert:

Alter Teich in Ruh.

Fröschlein hüpft vom Ufersaum, Und das Wasser tönt.

Es ist keine dramatische Beschreibung des Sonnenuntergangs und des friedlichen Abendhimmels über dem Teich und der Schönheit all dessen. Nur eine kristallklare Wahrnehmung des Geschehens. "Alter Teich in Ruh. Fröschlein hüpft vom Ufersaum, und das Wasser tönt." Reines Beobachten: Sie lernen, einfach und direkt zu sehen und wahrzunehmen, frei von Beimischungen. Es ist eine kraftvolle, durchdringende Eigenschaft des Geistes.

Während sich die Eigenschaft des Reinen Beobachtens entfaltet, stellen sich bereits grundlegende Veränderungen an unserer Lebensführung ein. Die Losung unserer Zeit ist: "Sei jetzt hier" - im gegenwärtigen Moment leben. Das Problem ist die Durchführung. Unsere Gedanken verweilen meistens in der Vergangenheit, überdenken verflossene Dinge oder planen für die Zukunft oder ersinnen, was noch geschehen wird, oft in Angst und Sorge. Es ist oft sehr schwer, im gegenwärtigen Augenblick verankert zu bleiben, weil wir uns ständig an die Vergangenheit erinnern oder über die Zukunft spekulieren. Reines Beobachten ist die Fähigkeit der Achtsamkeit, die uns lebendig und wach im Hier und Jetzt hält. Wir verweilen in der Gegenwart und erfahren bewußt das, was geschieht.

Es gibt eine Zen-Geschichte über das Leben im Jetzt. Zwei Mönche kehrten abends heim in ihren Tempel. Es hatte geregnet, und die Straßen waren sehr schlammig. Sie kamen an eine Kreuzung, an der ein schönes Mädchen stand, die wegen des Schlammes die Straße nicht überqueren konnte. Sofort hob der erste Mönch sie auf und trug sie über die Straße. Danach setzten die Mönche ihren

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Weg fort. Einige Zeit später, am Abend, konnte der zweite Mönch sich nicht länger bezwingen, und er wandte sich an den ersten: "Wie konntest du nur?! Wir Mönche sollten weibliche Wesen nicht einmal ansehen, geschweige denn anfassen. Und ganz besonders keine jungen und hübschen." - "Ich ließ das Mädchen dort", antwortete der erste Mönch, "trägst du sie immer noch?" Während sich die Eigenschaft des Reinen Beobachtens entwickelt und wir konstatieren, was in uns und um uns geschieht, erfahren und reagieren wir auf die Gegenwart spontaner und gelöster.

Der Geist wird durch die Übung des Reinen Beobachtens in einen Zustand der Ruhe gebracht. Ein ungeübter Geist reagiert oft nur, klammert sich an angenehme Dinge und verurteilt die unangenehmen, hängt an dem, was er mag, und schiebt Verabscheutes von sich, er reagiert mit Gier und Haß. Eine ermüdende Unausgewogenheit des Geistes. Je weiter das Reine Beobachten entwickelt wird, um so mehr lernen wir, Gedanken und Gefühle, Situationen und andere Menschen ohne die Verkrampfung durch Anhaften oder Abneigung zu erfahren. Wir beginnen das, was geschieht, voll und ganz zu erfahren, mit einem ruhigen und ausgeglichenen Geist.

Die Bewußtheit des Reinen Beobachtens ist nicht auf eine bestimmte Meditationszeit am Morgen und am Abend beschränkt. Der Glaube, daß die Sitzmeditation die Zeit der Achtsamkeit ist und die übrige Zeit des Tages nicht, bringt Disharmonie in unser Leben und verhindert die Entwicklung eines rechten Verständnisses Achtsamkeit sollte ständig angewandt werden, ob wir sitzen, stehen, liegen, reden oder essen. Wir sollten das Reine Beobachten auf alle Objekte richten, auf alle Bewußtseinszustände und auf alle Situationen. Jeder Moment sollte voll und ganz gelebt werden. Es gibt eine Geschichte über einen Mann, der vor einem Tiger floh. Er kam an einen Abgrund, ergriff eine wilde Weinranke und schwang sich über den Rand. Von oben schnüffelte der Tiger nach ihm, während unter ihm ein anderer Tiger knurrte und die Zähne fletschte und darauf wartete, daß er abstürze. Während er da nun hing fingen zwei Mäuse an, die Weinranke durchzunagen. Gerade in diesem Moment sah er eine große wilde Erdbeere nahebei wachsen. Er streckte seine freie Hand aus und pflückte sie. Wie süß sie schmeckte!

Eine andere Eigenschaft des Reinen Beobachtens ist es, daß es nach einer gewissen Zeit der Übung mühelos wird, es ganz von selbst auftritt. Es ist dem Vorgang ähnlich, wenn wir lernen, ein Instrument zu spielen. Wir setzen uns, werden unterwiesen und müssen bestimmte Übungen machen. Wir beginnen zu üben, und die Finger wollen zuerst nicht recht, wir verspielen uns oft, und es hört sich schauerlich an. Aber wenn wir jeden Tag üben, werden die Finger beweglicher, und die Musik hört sich besser an. Nach einer bestimmten Zeit entstehen gewisse Fertigkeiten, so daß unser Spiel mühelos wird. Dann besteht

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kein Unterschied mehr zwischen Spielen und Üben, das Spielen selber ist die Übung. Es ist hier genau dieselbe Entwicklung, wir üben Achtsamkeit, wir fangen ganz langsam an, beachten die Bewegungen unserer Schritte, "Heben, Vorwärtstragen, Aufsetzen", achten auf den Atem, "Heben, Senken" oder "ein, aus". Zuerst ist eine starke Bemühung notwendig. Die Achtsamkeit erfährt viele Unterbrechungen. Es gibt viele Kämpfe und Hindernisse. Aber nachdem der Geist in der Achtsamkeit geübt ist, wird er zunehmend natürlicher. Wir werden an einen Punkt der Übung kommen, wo die Kraft der Achtsamkeit so stark ist, daß sie selbständig einsetzt, und durch diese mühelose Achtsamkeit beginnen wir, die Dinge leicht, natürlich und einfach auszuführen.

Reines Beobachten bedeutet vor allem, daß wir lernen, in uns hineinzuhorchen, auf unseren Geist, unseren Körper und auf unsere Umgebung zu achten. Vielleicht haben Sie einmal still an einem Meer oder Fluß gesessen. Zuerst hören wir nur ein lautes Geräusch. Aber wenn wir still sitzen und nichts weiter tun als horchen, beginnen wir eine Unzahl feiner und feinster Geräusche zu hören, die Wellen, die gegen den Strand schlagen, oder die rauschende Strömung des Flusses. In diesem Frieden und dieser Geistesstille erfahren wir sehr tief, was geschieht. So ist es auch, wenn wir in uns hinein horchen. Zuerst hören wir nur das "Selbst oder "Ich". Aber langsam wird das Selbst als eine Anzahl stets wechselnder Elemente enthüllt; Gedanken, Gefühle, Empfindungen und Vorstellungen, alle werden durch Horchen, durch Achtsamkeit erkannt. Es gibt ein schönes Gedicht von einer Zen-Nonne:

Sechsundsechzig Mal haben diese Augen des Herbstes wechselndes Bild gesehen. Ich schweige vom Mondlicht; frage mich nicht. Höre nur auf das Tönen der Kiefer und Zedern, wenn kein Windhauch sich rührt.

Das Tönen der Bäume hören, wenn kein Windhauch sich rührt. Der Friede dieses Geistes drückt das Gleichgewicht des Tao aus, das Schöpfende und das Empfangende. Schöpferisch ist er durch sein Wachsein, seine Durchdringungskraft und sein aktives Aufmerken. Empfangend ist er durch sein Nichtwählen, Nichturteilen, Nichtverdammen. Es ist ein offener und sanfter Geist. Wenn Achtsamkeit und klares Sehen mit Aufnahmefähigkeit und Offenheit zusammentreffen, wird das Gleichgewicht vollkommen, und der Geist erfährt die volle Harmonie der Unvoreingenommenheit und Gelassenheit.

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Zwei Geistesfaktoren sind in erster Linie für die Entwicklung des Reinen Beobachtens verantwortlich.

• Der erste ist Sammlung, die Fähigkeit des Geistes, auf ein Objekt gerichtet zu bleiben.

• Der zweite Faktor ist Achtsamkeit, die bemerkt, was im Augenblick geschieht, und den Geist daran hindert, vergesslich zu werden; sie hält Geist in der Gegenwart und gesammelt.

Wenn beide, Achtsamkeit und Sammlung, entwickelt sind, ist ein Gleichgewicht des Geistes erreicht; es ermöglicht ein vollkommenes Lauschen. Eine tiefe und durchdringende Wahrnehmungsfähigkeit entwickelt sich und offenbart uns viele Aspekte darüber, wer wir sind.

Weisheit kommt nicht von einem bestimmten Objekt oder einem bestimmten Zustand. Suzuki Roshi hat von "nichts Besonderem" gesprochen. Es ist nichts Besonderes in unserem Geist, in unserem Körper, in der Art, wie die Dinge geschehen. Alle Dinge, die aufsteigen, haben die Eigenart zu vergehen; es gibt nichts Besonderes zu erreichen oder zu ergreifen, nichts Besonderes, an das wir uns halten können. Was immer mit diesem Fließen auf uns zukommt, es ist gut so. Wichtig ist die Ausgewogenheit und Klarheit des Geistes. Es ist nicht besonders erstrebenswert, ungewöhnliche Erfahrungen zu machen. Obwohl außergewöhnliche Phänomene manchmal auftreten, sind sie nichts Besonderes, lediglich weitere Objekte der Betrachtung und dem gleichen Gesetz der Vergänglichkeit unterworfen. Was wir tun wollen, ist, alles loszulassen und uns mit keinem Zustand, wie auch immer, zu identifizieren. Wir wollen nach allen Seiten hin frei sein, an kein Geschehen gebunden sein, auch nicht durch goldene Ketten. Wenn wir diesen Fluß der Vergänglichkeit sehr tief erfahren, wenn wir klar und direkt erkennen, daß jeder Teil unseres Wesens sich verändert, im Wechsel begriffen ist, dann beginnen wir abzulassen von unserem am stärksten bedingten Anhaften, und wir kommen in Einklang mit dem Fließen. Kein Widerstehen, kein Anklammern, kein Ergreifen. Wir werden eins mit dem sich entfaltenden Dharma.

Gibt es keine Seele, auch nicht als Teil der Entwicklung?

Die ganze Entwicklung der Achtsamkeit basiert darauf, daß wir die Dinge mit einem stillen Geist erfahren, und nicht mit unseren Gedanken und Vorstellungen darüber. Wir gelangen von einer Gedanken- und Vorstellungsebene des Geistes zu einer intuitiv-erfahrenden Ebene. Alle Worte sind belanglos im Vergleich zu der schweigenden Wahrnehmung. Ich halte es jetzt für erwähnenswert, daß Sie

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nichts blindlings glauben sollen. Das wahre, tiefe Verständnis wird aus Ihrer eigenen Meditation kommen. Ob Sie die Begriffe kennen oder nicht, fällt nicht ins Gewicht. Einige der fortgeschrittensten Yogis haben nie studiert, nie ein Buch gelesen und sind keineswegs immer sehr klug, aber sie hören die Übungsanweisungen und führen sie aus. Der ganze Dharma entfaltet sich in ihnen, sie erfahren viele Stadien der Erleuchtung, und trotzdem fehlen ihnen die Worte, ihr schweigendes Wissen mitzuteilen. Die Erfahrung der Wahrheit in uns, frei von Vorstellungen und Ansichten, ist das Allerwichtigste.

Was ist der Sinn der Konzentrationsübung?

Es gibt verschiedene Methoden, um auf dem Weg zu gehen. Traditionell wird erst die Konzentration entwickelt und dann diese Geisteskraft zur Entwicklung der Einsicht eingesetzt. Dies kann eine sehr lange Zeit dauern, da besondere Umstände nötig sind, um eine starke Sammlung zu entwickeln. Ein Teil von dem, was insbesondere während der letzten 100 oder 150 Jahre in Burma geschah, ist das Wiederaufleben der Vipassaná-Techniken, die Achtsamkeit und Konzentration gleichzeitig entwickeln, so daß die gegenwärtig gehaltene Achtsamkeit und die Konzentration stark genug sind, um zur Erleuchtung zu führen.

Haben wir irgendeine Wahl in bezug auf die Dinge, die wir in dieser Welt tun?

Vieles von dem, was geschieht, ist durch unser vergangenes Karma bedingt, aber wie wir darauf reagieren ist uns innerhalb der Freiheit des Augenblicks überlassen. Wir können Achtsamkeit pflegen oder auch nicht. Es gibt keinen Zwang auf die Dinge zu reagieren. Unsere Freiheit liegt in unserem Verhalten dem Augenblicksgeschehen gegenüber.

Wie verhält sich die westliche psychologische Vorstellung von einem Unbewußten zur Meditation?

Wenn der Geist still wird und wir die Wahrnehmung verfeinern, dann werden viele Dinge die unter unserer normalen Bewußtseinsschwelle liegen, viele Dinge die unbewußtes Material genannt werden durch die Achtsamkeit erhellt. Wir beginnen zu erkennen was früher unbewußte Bedingtheit war und durch dieses Gewahrsein beginnen wir sie in unseren Geist zu integrieren.

Mindert das Bemühen, in jedem Augenblick bewußt zu sein, die Spontaneität?

Unachtsam sein sein bedeutet nicht spontan sein. Wir sind lediglich ein Roboter und keineswegs spontan wenn wir bedingt und mechanisch auf die Dinge reagieren. Ein Anstoß kommt von außen und wir handeln unbewußt und unachtsam. Das ist kein spontaner Bewußtseinszustand - es ist ein mechanischer. Spontan

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sind wir wenn der Geist still ist, wenn der Geist intuitiv ausgerichtet ist und ganz klar jeden Augenblick in sich aufnimmt. Wenn Achtsamkeit gut entwickelt ist wird das Fließen nicht unterbrochen der natürliche Rhythmus nicht beeinträchtigt. Am Anfang ist es sicher nützlich sich auf jeden einzelnen Vorgang einzustellen aber nach der Entwicklung des Reinen Beobachtens fließt es mühelos.

Zu dem Gleichnis vom Erlernen des Klavierspielens und der Übung des Reinen Beobachtens. Es gibt viele Menschen, die Klavier spielen, aber nur sehr wenige, die darin wahre Meister werden. Könnte man nicht auch meinen, daß dies auf die Übung des Reinen Beobachtens zutrifft, daß nur sehr wenige Menschen wirklich achtsam werden?

Die Entwicklung der Menschen ist unterschiedlich. Manche Menschen kommen langsam weiter und quälen sich. Andere entwickeln sich auch langsam haben aber meist angenehme Empfindungen dabei. Manche kommen sehr schnell voran unter vielen Schmerzen und andere entwickeln sich schnell und haben viel Freude. Es hängt sehr stark mit der Anhäufung unseres früheren Karmas zusammen, damit, wie entwickelt die geistigen Fähigkeiten unseres Bewußtseins schon sind. Aber wenn die Richtung stimmt, brauchen wir nur weiterzugehen. Ob es ein Jahr dauert oder sechzig Jahre oder fünf Leben, es macht nichts, wichtig ist nur, daß wir dem Lichte zustreben. Wir wollen auf die Freiheit zu gehen, nicht rückwärts in die Dunkelheit. Ganz gleich, welche Entwicklung der einzelne durchgemacht hat, wir müssen da beginnen, wo wir sind.

Sie sprechen davon, daß man mehrere Leben durchläuft. Ist da irgend etwas, wie zum Beispiel eine Seele, das all diese Leben durchläuft?

Es wird vielleicht verständlich, wenn Sie sich die Veränderungen vorstellen, die Sie in einem Leben durchmachen. Zum Beispiel, denken Sie fünf oder zehn Jahre zurück, da war Ihr Körper völlig anders, sogar auf der zellularen Ebene. Es hat sich alles verändert. Der Geist hat sich unzählige Male verändert, aufsteigend und vergehend. Es gibt jetzt nichts in Körper und Geist, das dem gleicht, was es damals war. Aber wie Sie jetzt sind, ist bedingt durch den damaligen Zustand und jeden darauffolgenden Augenblick. Anders gesagt, jeder aufsteigende Augenblick bedingt den nächsten. Nichts wird mit hinübergenommen, aber es besteht eine Beziehung zwischen den Augenblicken. Der ganze Vorgang unterliegt einer geordneten Kontinuität. Im Augenblick des Todes bedingt die Art des Sterbebewußtseins das Aufsteigen des Wiedergeburtsbewußtseins. Nichts wird mit hinübergenommen, aber bedingt durch den letzten Augenblick steigt das neue Bewußtsein auf.

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Fünfter Morgen - Unterweisung: Gedanken

Es ist sehr wichtig, die Gedanken zum Objekt der Achtsamkeit zu machen. Wenn wir unachtsam beim Aufsteigen der Gedanken sind, ist es schwierig, Einblick in ihre unpersönliche Natur und in unsere tiefwurzelnde und subtile Identifizierung mit dem Gedankenablauf zu nehmen. Diese Identifizierung stärkt die Illusion des Selbst, von "Jemandem", der denkt. Über die Gedanken zu meditieren bedeutet, sich bewußt zu sein, daß der Geist denkt, wenn die Gedanken aufsteigen, ohne sich dabei um den Inhalt zu kümmern: nicht einem Gedankengang zu folgen, nicht den Gedanken zu untersuchen oder sich zu überlegen, warum er aufsteigt, lediglich sich bewußt zu sein, daß gerade in diesem Augenblick "Denken" geschieht. Es hilft, wenn Sie, jedesmal wenn ein Gedanke aufsteigt, "Denken, Denken" im Geiste bemerken. Betrachten Sie den Gedanken ohne Wertung, ohne Reaktion auf den Inhalt, ohne sich damit zu identifizieren, ohne den Gedanken als das "Ich", das "Selbst" oder das "Meine" zu verstehen. Der Gedanke ist der Denker. Es steht niemand dahinter. Der Gedanke denkt sich selbst. Er kommt ungerufen. Sie werden bemerken, daß die Gedanken nicht lange anhalten, wenn Sie einen starken Abstand zu dem Gedankenvorgang gewinnen. Wenn Sie die Achtsamkeit auf einen Gedanken richten, wird er schwinden, und die Aufmerksamkeit richtet sich wieder auf den Atem. Manche Menschen ziehen es vor, verschiedene Arten der Gedanken zu benennen, entweder "Planen" oder "Vorstellen" oder "Erinnern". Dies fördert die Einspitzigkeit. Aber andererseits reicht die geistige Notiz "Denken, Denken" völlig für den Zweck aus. Schon beim Aufsteigen sollten Sie den Gedanken beachten, nicht erst einige Minuten später. Wenn die Gedanken sorgfältig und gelassen bemerkt werden, haben sie keine Kraft, den Geist zu verwirren.

Sie sollten Gedanken nicht als Behinderung oder Störung betrachten. Sie sind lediglich ein weiteres Objekt der Achtsamkeit, ein weiteres Meditationsobjekt. Lassen Sie Ihren Geist nicht träge werden und nicht abgleiten. Bemühen Sie sich mit großer Klarheit um das Geschehen des Augenblicks.

Suzuki Roshi schreibt in Zen-Geist, Anfänger-Geist:

Wenn Ihr Zazen praktiziert, versucht nicht, Euer Denken zu unterdrücken. Laßt es von selbst aufhören. Wenn Euch etwas in den Sinn kommt, laßt es hereinkommen und laßt es hinausgehen. Es wird nicht lange bleiben. Wenn Ihr versucht, Euer Denken zu unterdrücken, bedeutet dies, daß Ihr von ihm gestört seid. Laßt Euch von nichts stören. Es scheint Euch, als ob etwas außerhalb Eures Geistes auftreten würde, aber in Wirklichkeit sind es nur die Wellen Eurer Gedanken, und wenn Ihr Euch von den Wellen nicht stören laßt, werden sie

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allmählich ruhiger und ruhiger... Viele Empfindungen kommen, viele Gedanken und Bilder entstehen, aber es sind nur Wellen Eures eigenen Geistes... Wenn Ihr Euren Geist laßt wie er ist, dann wird er ruhig. Dieses wird Großer Geist genannt.

Lassen Sie die Dinge geschehen, wie sie geschehen. Lassen Sie alle Gedanken, Bilder und Empfindungen aufsteigen und dahinschwinden, ohne zu reagieren, ohne zu werten, ohne sich daran zu klammern und ohne sich damit zu identifizieren. Werden Sie eins mit dem Großen Geist, beobachten Sie sorgfältig und bis ins Kleinste das Kommen und Gehen der Wellen. Durch diese Einstellung erreichen Sie schnell einen Zustand des Gleichgewichts und der Stille. Lassen Sie den Geist nicht abschweifen. Halten Sie den Geist in jedem Augenblick einspitzig auf das Geschehen gerichtet, ob es das Ein- und Ausatmen ist, das Heben und Senken, oder ob es Empfindungen oder Gedanken sind. In jedem Moment sollten Sie mit einem ausgeglichenen und entspannten Geist das Objekt erfassen.

Fünfter Abend - Vorstellungen und Wirklichkeit

In Platos Republik gibt es ein berühmtes Gleichnis über eine Höhle. In der Höhle sind eine Anzahl Menschen derart mit Ketten gefesselt, daß sie lediglich die rückwärtige Wand sehen können. Hinter der Menschenreihe ist ein Feuer, und eine Menge Wesen gehen hin und her, beschäftigt mit den Dingen des täglichen Lebens. Diese Wesen werfen Schatten auf die Rückwand der Höhle. Die angeketteten Menschen können nur die wechselnden Schatten sehen, und weil dies alles ist, was sie je gesehen haben, halten sie diese Schatten für die absolute Wirklichkeit. Manchmal gelingt es einem der Angeketteten, durch große Anstrengungen, die Ketten zu lockern und sich umzudrehen. Er oder sie sieht dann das Feuer und die wandernden Wesen und beginnt zu verstehen, daß die Schatten nicht Wirklichkeit sind, sondern lediglich ein Widerschein an der Wand. Wenn sich diese Person nun weiter bemüht, wird es ihr vielleicht möglich sein, die Ketten abzuwerfen und in das Sonnenlicht, in die Freiheit zu gelangen.

Wir haben ähnliche Schwierigkeiten wie die angeketteten Menschen in der Höhle. Die Schatten sind die Welt der Vorstellungen, in der wir leben. Durch unsere Verhaftungen sind wir angekettet, wir nehmen die Welt durch unsere Ideen, unsere Gedanken, unsere geistige Beschaffenheit wahr und halten diese Vorstellungen für die Wirklichkeit.

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Es gibt viele Vorstellungen, die uns stark geprägt haben und die tief in unseren Geist eingegraben sind. Zum Beispiel ist das Leben vieler Menschen stark verknüpft mit der Vorstellung von Ort, Land und Nation. Auf dem Planeten gibt es keine Aufteilungen unter den Ländern. Unser Geist hat diese abwegigen Vorstellungen hervorgebracht. Jedesmal wenn Sie eine Grenze überschreiten, können Sie sehen, wieviel "Wirklichkeit" in diese Vorstellung von einem Ort hineingelegt wird. Viele Schwierigkeiten in der Welt - politische und wirtschaftliche Spannungen und Feindseligkeiten - sind mit dem Gedanken verbunden: "Dies ist meine Nation, mein Land." Wenn wir verstehen, daß diese Vorstellung nur das Produkt unserer eigenen Denkvorgänge ist, können wir beginnen, uns von diesen Anhaftungen zu befreien.

Ein griechisches Mädchen, das nach Indien reiste, erzählte mir einmal eine Geschichte, die die Vorstellung eines Ortes sehr gut beleuchtet. Sie beschrieb einen Grenzübergang mitten in einer Wüste. Die Grenze bestand aus einem ausgetrockneten Flußbett, und über das Flußbett spannte sich eine große Eisenbrücke, deren eine Hälfte grün und deren andere Hälfte rot angestrichen war. Es gab dort nichts außer der öden Wüste und der zweifarbigen Brücke. Mitten auf der Brücke war ein Eisentor das von beiden Seiten verschlossen war. Wollte jemand von einem "Land" in das andere gehen, riefen die Wachhabenden auf einer Seite nach den anderen auf der gegenüberliegenden Seite; gleichzeitig trafen sie dann auf der Mitte der Brücke ein, drehten die Schlüssel in den Schlössern und öffneten das Tor: das Überschreiten der Grenze!

Die Vorstellung der Zeit ist auch sehr stark in unserem Geist verankert. Ideen über Vergangenheit und Zukunft. Was ist das, was wir Zeit nennen? Wir haben bestimmte Gedanken, die im gegenwärtigen Augenblick auftreten. Erinnerungen Reflexionen -, wir nennen diese ganze Gedankengruppe "Vergangenheit" und projizieren sie irgendwohin jenseits von uns, abseits vom gegenwärtigen Moment. Gleichermaßen planen und ersinnen wir und nennen diese Gedanken "Zukunft" und projizieren sie in eine erdachte Wirklichkeit außerhalb von uns. Selten erkennen wir, daß "Vergangenheit" und "Zukunft" gerade jetzt geschehen. Es gibt nichts außer dem sich entfaltenden gegenwärtigen Augenblick. Wir haben diese Vorstellungen für einen nützlichen Zweck erfunden, aber da wir die Vorstellungen als Wirklichkeit ansehen, weil wir nicht Verstehen, daß sie lediglich ein Produkt unserer eigenen Denkvorgänge sind, überkommen uns Sorgen und Bedauern in bezug auf die Vergangenheit und grübelndes Vorausahnen der Dinge, die noch nicht geschehen sind. Wenn wir uns in den Augenblick hineingeben und erkennen, daß Vergangenheit und Zukunft lediglich Gedanken in der Gegenwart sind, befreien wir uns von der Fessel "Zeit".

Es ist nützlich, wenn wir den Einblick in die Natur der Vorstellungen entfalten, damit wir erkennen, wie verhaftet wir sind. Wir bilden uns ein, daß wir Dinge

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"besitzen". Das Kissen, auf dem wir sitzen, hat keine Ahnung davon, daß es jemand gehört. Die Vorstellung von Besitz bezieht sich auf die Nähe zu den verschiedenen Objekten. Zeitweise sind wir den Objekten nahe, benutzen sie und haben dann die Vorstellung, daß sie uns gehören. Tatsächlich ist Besitz ein Denkprozeß völlig unabhängig von der wirklichen Verbindung zwischen uns und den Objekten in der Welt. Wenn wir uns von der Verhaftung an "Besitz" befreien, befreien wir uns von unserer Abhängigkeit von den Objekten.

Eine andere Vorstellung, in die wir alle verwoben sind, und das sehr stark, ist die Vorstellung von Mann und Frau. Wenn Sie Ihre Augen schließen, gibt es die Atmung, Empfindungen, Geräusche, Gedanken - wo ist "Mann" oder "Frau" außer als Idee, als Vorstellung? Mann und Frau hören auf zu existieren, wenn der Geist still ist. Stellen Sie sich einmal Wellen vor, die sich aus dem Ozean erheben und Bemerkungen übereinander machen, ob sie groß oder klein, schön oder herrlich sind, was in relativem Sinne wahr ist, aber nicht die darunterliegende Einheit der großen Menge Wasser reflektiert. Genauso ist es, wenn wir uns Vorstellungen von bestimmten Formen und Gestalten machen und uns daran klammern; Vergleiche, Bewertungen und Verurteilungen steigen auf und stärken die relative Trennung und Isolation. In der Meditation befreien wir uns von dem Anhangen an diese Vorstellungen und erfahren die fundamentale Einheit der Elemente, aus denen unser Sein zusammengesetzt ist.

Die Vorstellung, die vielleicht am tiefsten eingegraben ist, die uns die längste Zeit in der Höhle der Schatten gefangen und uns an das Rad von Leben, Tod und Wiedergeburt gefesselt hält, ist die Vorstellung des Selbst. Die Idee, daß jemand hinter dem Fließen steht, daß es eine Entität, ein unvergängliches Element gibt, das die Essenz unseres Seins ist. Das Selbst, das Ich, das Meine sind alles Vorstellungen des Geistes, sie steigen auf durch das Identifizieren mit den verschiedenen Aspekten des geistig-körperlichen Vorgangs. Von Anfang an gibt es kein "Selbst", da wir aber so tief in der Vorstellung davon leben, verbringen wir einen großen Teil unseres Lebens damit, dieses eingebildete Selbst zu verteidigen oder aufzublähen oder zu befriedigen. Meditation hilft uns, seine nur vorgestellte Natur zu erkennen, zu sehen, daß es in Wirklichkeit nicht existiert, daß es nur eine Vorstellung ist, eine irreführende Projektion auf das Geschehen des Augenblicks.

Dies sind einige der Vorstellungen, die uns gefesselt halten. Vorstellungen von Ort, Zeit, Besitz, von Mann oder Frau und Selbst. Sie können sehen, wie ausgeprägt diese Vorstellungen sind, wie vieles in unserem Leben sich um sie dreht, wie sehr wir in der Welt der Schatten leben. Kalu Rinpoche, ein sehr bekannter tibetischer Meditationsmeister, schrieb:

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"Sie leben in Vorstellungen und in der Erscheinung der Dinge. Es gibt eine Wirklichkeit. Sie sind diese Wirklichkeit. Wenn Sie dies verstehen, werden Sie sehen. daß Sie nichts sind. Und wenn Sie nichts sind, sind Sie alles. Das ist alles.''

Es gibt vier "absolute Wirklichkeiten". Sie werden so genannt, weil sie erfahren werden können, im Gegensatz zum bloßen Nachdenken darüber. Diese vier absoluten Wirklichkeiten beinhalten unseren gesamten Erfahrungskomplex.

Die erste umfaßt die materiellen Elemente, aus denen alle Objekte des physischen Universums zusammengesetzt sind. Traditionell und in Ausdrücken, mit denen wir sie auch bei unseren Übungen erfahren können, werden sie Erd-, Luft-, Feuer- und Wasserelement genannt. Das

Erdelement ist das Element der Ausdehnung. Wir erfahren es als Härte oder Weichheit der Objekte. Wenn wir Schmerz im Körper spüren, ist es eine Manifestation dieses Elementes. Wenn wir gehen und Kontakt mit der Erde haben, ist das Berührungsgefühl das Erdelement das Gefühl von Härte, Weichheit, Ausdehnung.

Zu dem Feuerelement gehören Hitze und Kälte. Bei der Meditation kann es vorkommen, daß das Feuerelement vorherrschend wird und ein Gefühl entsteht, als ob der Körper brennt. "Niemand'' brennt es ist nur das Feuerelement, das sich seiner Art gemäß manifestiert; das heißt in der Empfindung von Hitze oder Kälte.

Das Luftelement kennzeichnet sich durch Vibration oder Bewegung. Während der Meditation im Gehen erfahren wir das Wechselspiel der Elemente. Fuß und Bein sind Vorstellungen, Begriffe, die wir gebrauchen, wenn wir den Fluß der Elemente auf eine bestimmte Art erfahren. Es gibt keinen Fuß, kein Bein, keinen Körper, kein Selbst; nur die Erfahrung der Bewegung und die Berührungsempfindung.

Das Wasserelement stellt das Flüssige und Bindende dar, es ist das Element, das die Dinge zusammenhält. Wenn Sie trockenes Mehl haben, fallen die einzelnen Teile auseinander. Sie haften nicht aneinander. Fügen Sie etwas Wasser hinzu, und alle Mehlteilchen kleben zusammen. So manifestiert sich das Wasserelement: es hält alle materiellen Elemente zusammen.

Zusammen mit diesen vier Elementen steigen vier sekundäre Eigenschaften der Materie auf - Farbe, Duft, Ton und Nährstoff; das ganze physische Universum kann als Ausdruck dieser Elemente erfahren werden. Wir können uns ihrer bewußt werden, frei von Gedanken über sie. Der Boden existiert nicht; Boden ist

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eine Vorstellung. Was wir wahrnehmen, ist das Gefühl der Härte oder Kälte oder die Farbe, wenn wir ihn ansehen. Die Augen sehen Farbe. Sie sehen keinen Namen. Wenn sie draußen spazieren gehen, sehen die meisten Leute "Baum", aber es ist nur eine Verdinglichung von dem, was gesehen wird. Was wir tatsächlich sehen, ist Farbe in einer bestimmten Form. Ein anderer Gedankengang nennt es dann "Baum". "Körper" ist eine Vorstellung. Wenn wir sitzen und meditieren, schwindet der "Körper" dahin. Was wir erfahren, ist Empfindung: Hitze oder Kälte oder Schmerz oder Spannung, lediglich die Bewegung der Elemente, die alle nicht von Dauer sind, in ständigem Wechsel. Die meditative Erfahrung ermöglicht uns, daß wir beginnen, die Dinge, so wie sie sind, aus der erfahrenden, nicht vorstellungsgebundenen Ebene heraus zu erkennen, frei von Gedanken über sie. Wir werden uns bewußt, daß wir Farbe sehen, wenn wir etwas erblicken. Wenn wir etwas fühlen, erkennen wir die Art der Empfindung, ohne an einer Vorstellung zu hängen, ohne ständig Ideen in die Erfahrung hineinzuprojizieren.

Es ist interessant, daß Vorstellungen sich behaupten, während die Wirklichkeit sich in ständiger Veränderung befindet. Das Wort "Körper" bleibt immer gleich, aber der Körper selber ist in ständiger Verwandlung. Die Vorstellung ist statisch, aber wenn wir tatsächlich erfahren, was geschieht, entdecken wir einen Fluß von unbeständigen Elementen, ein Aufsteigen und Verlöschen von Empfindungen. Die achtsame Erfahrung der Dinge enthüllte ihre wahre vergängliche Natur. Solange wir uns noch auf der Ebene der Vorstellungen bewegen, bewahren wir die Illusion der Beständigkeit, die uns an das Rad des Lebens und Sterbens gefesselt hält.

Der Vorgang der Entwicklung von Einsicht und Weisheit bezieht sich auf die Erfahrung der Wirklichkeit statt der Schatten. Dann wird die wahre Art der Natur sichtbar.

Die zweite der absoluten Wirklichkeiten ist Bewußtsein. Bewußtsein ist dasjenige, das weiß, welches das Objekt erkennt. Manchmal haben die Menschen die Vorstellung, daß in diesem Geistigen und Körperlichen ein Bewußtsein von der Geburt bis zum Tode vorhanden ist, ein Beobachter, der alles weiß. Diese Idee ruft die Vorstellung von einem unvergänglichen Selbst hervor. Dies geschieht, wenn wir unseren Geist nicht genügend zum Schweigen gebracht haben, um das Fließen des Wissens zu sehen. In jedem Moment steigt das Bewußtsein selber auf und vergeht. Es gibt keinen Geist, der alle Phänomene betrachtet; in jedem Augenblick wird "Geist" geschaffen und vernichtet. Das Bewußtsein, das hört ist verschieden von dem Bewußtsein, das sieht oder schmeckt oder riecht oder tastet oder denkt. Es gibt verschiedene Bewußtseinsmomente, die in jedem Augenblick aufsteigen und vergehen. Wenn der Geist still wird, ist es möglich, dieses Fließen des Bewußtseins zu beobachten. Einsicht in das Fließen und die Vergänglichkeit der Eigenschaft des Wissens, das Begreifen, daß es keinen

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Wissenden gibt, keinen Beobachter, sondern vielmehr einen sich durch die Augenblicke fortsetzenden Prozess, löst die Vorstellung eines unvergänglichen Selbst auf.

Die dritte absolute Wirklichkeit sind die Geistesfaktoren. Sie sind Eigenschaften des Geistes, die bedingen, wie sich das Bewußtsein zum Objekt verhält. Immer andere Zusammenstellungen der Geistesfaktoren steigen in jedem Augenblick des Bewußtseins auf und verschwinden wieder mit ihm. Gier, Haß und Unwissenheit sind die drei Geistesfaktoren, die die Wurzeln aller unheilsamen Handlungen darstellen. Jedes unheilsame Karma oder jede unheilsame Tat wird durch eine der drei Wurzeln hervorgerufen. Zum Beispiel hat der Faktor Gier die Eigenschaft, am Objekt zu haften. Wenn Gier bei einem Bewußtseinsmoment aufsteigt, beeinflußt sie den Geist derart, daß er sich anklammert, anhaftet, ergreift und verhaftet ist. Dies ist die Natur des Gierfaktors. Er ist vergänglich, nicht das Selbst, nicht das Ich, nur ein Geistesfaktor, der seiner eigenen Art gemäß wirkt.

Haß ist ein Geistesfaktor, der die Eigenschaft hat, das Objekt zu verurteilen, zu mißbilligen. Widerwille, Übelwollen, Gereiztheit, Groll, Ärger, alle diese sind Ausdrücke des Geistesfaktors Haß. Auch Haß ist nicht das Ich, nicht das Selbst, nicht das Meine, er ist ein vergänglicher Faktor, der aufsteigt und vergeht.

Unwissenheit ist ein Faktor, der die Funktion hat, den Geist zu vernebeln, so daß wir das Objekt nicht klar sehen. Wir wissen nicht, was geschieht.

Es gibt auch drei heilsame Wurzeln des Geistes: Gierlosigkeit, Haßlosigkeit und Wissen oder Unverblendung. Gierlosigkeit ist die Eigenschaft der Freigebigkeit, des Nichtanhaftens und Nichtbesitzen-Wollens. Halslosigkeit ist Liebe, Güte gegenüber allen Wesen, Freundschaft. Unverblendung ist Weisheit. Weisheit hat die Funktion des klaren Sehens. Sie ist wie ein Licht im Geiste. Wenn Sie in ein dunkles Zimmer gehen, können Sie nichts sehen und fallen über alles. Wenn Sie Licht machen, werden alle Objekte klar und gut sichtbar. Dies ist die Funktion der Weisheit: den Geist zu erleuchten, damit wir den Inhalt und den Vorgang des Geistigen und Körperlichen erkennen.

Alle diese Geistesfaktoren sind unpersönlich und vergänglich. Es gibt keinen, der gierig ist, keinen, der haßerfüllt ist, keinen, der weise ist, keinen, der freigebig ist. Es gibt nur das Aufsteigen und Vergehen der Bewußtseinsaugenblicke, zusammen mit bestimmten Geistesfaktoren, wobei jeder sich seiner Besonderheit gemäß verhält. Woher kommt aber die Vorstellung des Selbst? Wieso sind wir so konditioniert, daß wir an die Existenz des "Ich" glauben?

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Es gibt einen Geistesfaktor, der "verkehrte Ansicht" genannt wird; er hat die Eigenschaft, sich mit den verschiedenen, wechselnden Elementen des Geistes und des Körpers zu identifizieren. Wenn der Faktor der verkehrten Ansicht in einem Bewußtseinsmoment aufsteigt, steigt auch die Vorstellung eines Selbst auf. Aber auch er ist vergänglich und unpersönlich, zuzeiten aufsteigend und vergehend. Wenn wir im Jetzt achtsam sind, steigt keine verkehrte Ansicht auf, und wir beginnen, uns von der Bedingtheit durch "Das bin ich", "Das gehört zu mir", "Das ist das Meine" zu befreien. Jeder Augenblick der Achtsamkeit ist auch ein Augenblick der Ichlosigkeit, der Reinheit.

Eine Frage wird oft gestellt: "Wer ist hier achtsam?" Auch Achtsamkeit ist ein Geistesfaktor. Er hat die Aufgabe, das Objekt achtsam in dem gegenwärtigen Augenblick zu erkennen. Gurdjieff nannte diese Fähigkeit Selbsterinnerung. Es gibt keinen, der achtsam ist, es gibt nur den Ablauf eines bestimmten Faktors: eine Bewußtheit ohne anhaften, werten oder identifizieren. Im Verlauf der Entwicklung der Achtsamkeit wird die tiefere Erkenntnis erreicht, daß alle bedingten Phänomene vergänglich und ohne ein bleibendes Selbst sind.

Wir sind wie ein großes, sich bewegendes Puzzlespiel. Die Teile des Puzzle sind die materiellen Elemente, das Bewußtsein und die Geistesfaktoren. Wenn die Teile auf eine bestimmte Art zusammengesetzt werden, sehen wir "Mann" oder "Frau", "Baum" oder "Haus". Aber das ist nur das Bild der zusammengesetzten Stücke, die Vorstellung davon. Es sind die grundlegenden Elemente des Geistes und des Körpers, die in stetem Fluß und in ständiger Veränderung sich befindenden darunter liegenden Kräfte, welche die Wirklichkeit unserer Erfahrung schaffen.

Die vierte absolute Wirklichkeit ist Nirvana. Nirvana ist wie das Erlebnis einer Person, die sich restlos von allen Ketten befreit hat und aus der Höhle hinaus in das Sonnenlicht tritt, die über den bedingten geistig-körperlichen Vorgang hinweg in die Freiheit geht.

All diese absoluten Wirklichkeiten können erfahren werden. Die Worte, die wir gebrauchen, um sie zu beschreiben, sind Vorstellungen, die lediglich auf den Weg zur Erleuchtung deuten. Die Meditationsübung entwickelt das Bewußtwerden dieser Dinge jenseits der Worte. Wir sind alle dabei, die Ketten zu zerbrechen, die uns in der Höhle der Unwissenheit gefangen halten. Manchmal, während der Übung, scheint es so, als ob nicht viel geschieht, mit Ausnahme von Schmerz, Unruhe, Gereiztheit und Zweifel. Aber tatsächlich ist es so, daß jeder Augenblick der Achtsamkeit, jeder Augenblick der Bewußtheit hilft, die Ketten unseres Anhaftens zu schwächen. Wir bauen die Kraft der Bewußtheit auf. Und während Achtsamkeit und Sammlung intensiver werden, wird der Geist machtvoller und einsichtsvoller. Mit viel Geduld erfahren wir nach und nach den

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Sinn des geistig-körperlichen Vorgangs. erfahren ihn frei von Vorstellungen, frei von der Vorstellung eines Selbst; wir kommen aus dem Dunkel der Höhle in das Licht der Freiheit und des Friedens.

Wie gelangten wir von der absoluten Wirklichkeit zu dem begrifflichen Denken? Wie sind wir so weit weg von diesem sehr einfachen Vorgang, den wir alle erfahren sollten, gekommen?

Es ist nicht der Fall, daß wir aus einem Zustand der Reinheit herausgefallen sind in einen Zustand des Irrtums. Nichtwissen und Begehren sind die beiden Triebfedern, die uns seit undenkbaren Zeiten bewegt haben. Nichtwissen und Begehren treiben uns auf dem Rad der Wiedergeburt voran Die Tatsache, daß wir uns jetzt in diesem Zustand befinden, ist ja die Schwierigkeit und das Problem, vor dem wir stehen. Es gibt eine Rettung, und zwar die Auslöschung von Unwissenheit und Gier. Und dies geschieht durch Achtsamkeit auf das Geschehen auf der Erfahrungsebene.

Wie können wir in der Welt ohne Vorstellungen leben?

Bitte verstehen Sie mich richtig, Vorstellungen sollten benutzt werden. Es ist nicht so, daß wir, nachdem wir die Wirklichkeit jenseits der Vorstellungswelt erfahren haben, den ganzen Denkprozeß über den Haufen werfen. Wir brauchen die Vorgänge des Geistes, um erfolgreich in der Welt zu sein, um unser Leben zu leben. Es gibt zwei Ebenen der Wahrheit: Die eine ist die konventionelle Wahrheit, für die wir alle diese Vorstellungen wie "Mann", "Frau", "Ich", "Zeit" und "Ort" gebrauchen. Die andere ist die absolute Wahrheit, die sich auf die vier Wirklichkeiten bezieht. Wir können Vorstellungen benutzen, ohne von ihnen abhängig zu sein. Wir müssen sie als konventionelle Wahrheiten begreifen und daß es eine darunter liegende Wirklichkeit gibt. In Bodhgaya, dem Ort, wo viele von uns in Indien studierten, gab es einen Elefanten. Oft ging der Elefant die Straße entlang, wenn wir zur Stadt wollten. Wir gingen achtsam, ganz langsam, voller Aufmerksamkeit. Wenn wir den Elefanten auf uns zu kommen sahen, blieben wir nicht einfach stehen und sagten: "Sehen, Sehen"; wir gingen ihm aus dem Wege. Benutzen Sie den Gedankenablauf, wenn es angebracht ist.

Was sind Emotionen?

Emotionen sind verschiedene Geistesfaktoren. Wut, Neid, Mitleid, Freude und Liebe sind Geistesfaktoren. Alle Emotionen sind unpersönliche Eigenschaften des Geistes. Es steht keiner dahinter. Keiner ist böse, keiner liebt - es sind nur Faktoren, die ihrer Art gemäß funktionieren.

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Was bedingt das Aufsteigen der Achtsamkeit?

Weisheit oder das klare Erkennen unserer Bedingtheit und ein Begreifen des Weges zur Freiheit. Der Faktor Bemühung wird ein Anlaß dazu, daß Achtsamkeit aufsteigt. Glauben und Vertrauen können auch ein Anlaß sein, die Bemühung zur Achtsamkeit zu erwecken.

Können Sie etwas über Liebe sagen?

Der Ausdruck der Leerheit ist Liebe, da Leerheit bedeutet, daß Sie ohne "Selbst" sind. Wenn es kein Selbst gibt, gibt es auch keinen Anderen. Diese Dualität wird durch die Vorstellung eines Selbst, des Ich oder Ego, hervorgebracht. Wenn kein Selbst vorhanden ist, ist eine Einheit, eine Verschmelzung da. Ohne den Gedanken "Ich liebe jemanden" wird Liebe zum natürlichen Ausdruck dieser Einheit.

Wenn die Achtsamkeit auf das Bewußtsein gerichtet ist, was ist da achtsam?

Achtsamkeit ist ein Geistesfaktor, der sich seiner Art gemäß erinnert, was das Objekt ist, und dem Geist nicht gestattet zu vergessen. Die Achtsamkeit kann auf das Objekt gerichtet sein, sie kann auch auf das Bewußtsein gerichtet sein, es erkennen. Im allgemeinen ist es leichter, das Objekt zu betrachten, weil es greifbarer ist. Wenn der Geist sehr still ist, können Sie bemerken, wie die Fähigkeit zu wissen aufsteigt und vergeht. Gerade an diesem Punkt wird es interessant, da wir hier unsere Identifizierung mit dem Bewußtsein, mit dem als Ich empfundenen Wissen, eine sehr subtile Identifizierung, unterbrechen können. Es ist einfach, in sich zu ruhen und das Fließen der Dinge zu betrachten und dabei immer noch das Gefühl zu haben, daß da ein Beobachter ist. Aber tatsächlich gibt es keinen Beobachter. Es gibt nur Wissen, in jedem Moment aufsteigend und vergehend. Wissen oder Bewußtheit ist ebenfalls ein Vorgang. Es ist vergänglich, unpersönlich, nicht das Ich, nicht das Selbst .

Was ist Erinnerung? Wohin gehört sie?

Erinnerung ist ein komplizierter Vorgang einiger bestimmter Geistesfaktoren, die meistens mit Wahrnehmung verbunden sind. Wahrnehmung ist ein Geistesfaktor, der die Eigenschaft des Erkennens hat, der die bestimmten Merkmale eines Objektes aufnimmt. Mit dem Geistesfaktor der Wahrnehmung erkennen wir durch die Erfahrung vorhergegangener Bewußtseinsmomente, was ein Objekt ist. Erinnerung gehört zu einer Gruppe von Gedanken, die als Objekt etwas nehmen, was bereits erfahren ist.

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Woher kommt es, daß eine Person zu einer bestimmten Art des Verhaltens neigt?

Die dauernde Wiederholung bestimmter Willenshandlungen führt zu Neigungen. Zur Zeit stärken wir Achtsamkeit, Sammlung uhd Einsicht und entwickeln eine Neigung zu Weisheit und Verständnis. Genauso haben wir in der Vergangenheit durch die Wiederholung bestimmter Arten von Willensäußerungen und Handlungen unsere unterschiedlichen Persönlichkeiten begründet, unsere Neigungen, bestimmte Dinge zu tun. Persönlichkeit kann man als diese innewohnenden Neigungen auffassen. Es gibt keine Einzelheit, welche die Persönlichkeit ausmacht, obwohl ein bestimmter Geistesfaktor gelegentlich vorherrschen kann. Bei einem Menschen, der Gier stark werden läßt, der ständig anhaftet und ergreift, der sich anklammert und unachtsam ist, wird der Faktor Gier sehr ausgeprägt werden. Bald wird er sich in allen seinen Handlungen manifestieren. Wenn Gierlosigkeit oder Haßlosigkeit gepflegt wird, dann wird sie die vorherrschende Neigung sein und sich als Persönlichkeit ausdrücken.

Wann tritt der Faktor Wille auf?

Wille ist ein weiterer Geistesfaktor. Es gibt verwickelte Verbindungen zwischen all den verschiedenen Geistesfaktoren. Wille gibt es, es gibt einen ganzen Entscheidungsvorgang, Bemühung gibt es. Sie manifestieren sich ihrer Art gemäß. Ein direkter Anlaß zur Entfaltung der Achtsamkeit, so wird gesagt, ist das Hören der Lehre, des Dharma. Dadurch wird der Faktor Bemühung aufsteigen. Buddha sprach oft von dem großen Vorteil, der durch das Hören des Dharma entsteht. Der Faktor Bemühung wird erweckt, der Achtsamkeit zu entwickeln beginnt. Die Geistesfaktoren, "Wille" eingeschlossen, sind latent im Geiste vorhanden. Wir brauchen nichts zu tun, um die Faktoren zu erschaffen. Es kommt nur darauf an, welche Faktoren wir entwickeln wollen. Bestimmte Entscheidungen werden durch das Hören des Dharma beeinflußt, wenn Sie verstehen, worum es geht. Es führt zum Aufsteigen des Bemühens, Achtsamkeit und Bewußtheit, Einsicht und Weisheit zu entwickeln Es gibt eine Stanze im Dhammapada, die lautet: "Es gibt Handeln ohne einen Handelnden, Tun ohne einen Täter, Leiden ohne einen Leidenden, Erleuchtung ohne einen Erleuchteten."

Was ist Intellekt?

Der Intellekt ist die Gedanken- und Vorstellungsebene des Geistes. Sie kann geschult, entwickelt und benutzt werden; sie kann auch ein Hindernis sein. Es hängt davon ab, wie klar uns der Denkvorgang ist. Wenn eine klare Einsicht in seine wahre Natur besteht, ist er überhaupt kein Hindernis. Wenn wir die Gedanken über die Dinge mit den Dingen selber verwechseln, wird er eine Behinderung, da dann die Vorstellung mit der Wirklichkeit verwechselt wird.

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Aber an sich ist er nur ein weiterer Teil des gesamten geistig-körperlichen Vorgangs. Es gibt ein Wort des dritten Zen-Patriarchen "Nicht einmal die Welt der Sinne und Vorstellungen sollte man ablehnen. In der Tat, sie voll akzeptieren ist identisch mit wahrer Erleuchtung."

Sechster Morgen - Unterweisung: Sinnenobjekte

Steigen während der Übungen visuelle Bilder auf, bemerken Sie nur "Sehen, Sehen", ohne den Inhalt zu bewerten oder darüber zu urteilen. Beobachten Sie lediglich das Aufsteigen und Vergehen der Bilder. Wenn Geräusche vorherrschend sind, bemerken Sie "Hören, Hören", ohne sich die Ursachen vorzustellen oder sie zu untersuchen. Wenn ein Geruch oder Duft wahrnehmbar ist, konstatieren Sie "Riechen, Riechen" und wenden Ihre Aufmerksamkeit wieder der Atmung zu. Je genauer Sie die Achtsamkeit auf das Hauptobjekt gerichtet halten, desto schneller nimmt der Geist alle anderen Objekte auf.

Siebter Nachmittag - Geschichten

Sie können die Triebkraft der Bewußtheit dadurch verstärken, daß Sie mehr und öfter aufmerken. Zu Beginn der Übung bemerken Sie in ziemlich langen Zeitspannen zuerst ein Objekt und etwas später ein weiteres. Die Übung entwickelt sich, wenn die Häufigkeit des Konstatierens der Objekte zunimmt, so daß das Registrieren von Moment zu Moment geschieht, in jedem Augenblick die verschiedenen Objekte wahrgenommen werden, der Fluß des Atems oder Körperempfindungen oder Gedanken. Durch die Übung entwickelt sich die Art der Achtsamkeit, die klar und deutlich das Fließen der Phänomene erfährt. Buddha gab ein Beispiel dafür, wie achtsam wir sein sollten. Er berichtete von einem Menschen, dem befohlen worden war, mit einem bis an den Rand mit Wasser gefüllten Gefäß auf dem Kopf über einen sehr belebten Marktplatz zu gehen. Hinter ihm ging ein Soldat mit einem großen Schwert. Wäre ein einziger Tropfen Wasser verschüttet worden, hätte der Soldat ihm den Kopf abgeschlagen. Ganz bestimmt ging der Mann mit dem Krug äußerst achtsam. Aber

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es muß eine gelöste Art der Achtsamkeit sein. Wenn zu viel Anstrengung oder Verkrampfung dabei ist, genügt der kleinste Anstoß, um das Wasser zu verschütten. Der Mensch mit dem Krug mußte locker und gleichmäßig gehen, mit der wechselnden Umgebung fließen, jedoch in jedem Augenblick sehr achtsam sein. Das ist die Art der Bemühung, die Sie bei der Entwicklung der Bewußtheit haben sollten: entspannte Wachsamkeit.

Die Entwicklung der Bewußtheit in jedem Augenblick schließt eine gewisse Anstrengung ein. Es ist nicht die Anstrengung, etwas für die Zukunft erreichen zu wollen. Die Bemühung besteht darin, in der Gegenwart zu verbleiben, mit Gleichmut auf das zu achten, was im Moment geschieht.

Es gibt eine Geschichte über jemanden, der schon einige Zeit geübt hatte und nun einen Zen-Meister besuchen wollte. Es regnete, und als er zur Tür hineintrat, ließ er seine Schuhe und seinen Regenschirm draußen. Nach dem ersten Höflichkeitsaustausch fragte ihn der Meister, auf welcher Seite seiner Schuhe er seinen Schirm abgestellt habe. Er konnte sich nicht erinnern. Es wird gesagt, daß er davonging, um für weitere sieben Jahre seinen Zen in jedem Augenblick zu verbessern.

Es ist wichtig, eine ständige, durchdringende Bewußtheit in bezug auf alles, was wir tun, zu entwickeln, vom Aufwachen am Morgen bis zur Zeit des Schlafengehens. Beim Aufwachen bemerken Sie gleich "Heben, Senken" oder "ein, aus", und von diesem Augenblick an sind Sie achtsam auf alle Tätigkeiten, die mit dem Aufstehen und Waschen verbunden sind; der Beginn des Gehens, die Absicht, sich hinzusetzen und dann wieder zu stehen und Essen zu gehen. Wenn Sie sich schlafen legen, halten Sie das "Heben, Senken" oder "ein, aus" bis zum letzten Augenblick, bis Sie einschlafen. Diese Art der Aufmerksamkeit wird Ihnen sehr bei der Meditationsübung helfen. Wenn Sie die Vorstellung hegen, daß die Übung nur aus Sitzen und Gehen besteht und die andere Zeit unwichtig ist, dann verlieren Sie durch alle diese Unterbrechungen den Antrieb, der sich aufgebaut hat. Den ganzen Tag hindurch, bei jeder Handlung eine starke Bewußtheit aufzubauen, verhilft dem Geist dazu, gesammelt und still zu sein. Aus dieser Art der Entschlossenheit und des Gleichgewichts des Geistes entsteht Erleuchtung.

Es gibt gar nichts, das der Achtsamkeit unwert ist. Das plötzliche tiefe Erkennen der Wahrheit kann in einem Moment aufblitzen, wenn alle Faktoren der Erleuchtung gereift sind und in rechtem Gleichgewicht zusammentreffen.

Es gibt eine Geschichte über Ananda, den persönlichen Helfer Buddhas, der auf Buddhas Bedürfnisse achtete und alles für ihn tat. Weil er dem Buddha diente, hatte er nicht viel Zeit zum Üben. Alle seine Freunde waren bereits erleuchtet,

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und er war immer noch am Anfang. Erst nachdem Buddha gestorben war, hatte er die Gelegenheit, intensiv zu üben. Einige Zeit nach Buddhas Tod riefen die Mönche ein großes Konzil zusammen, um alle Reden Buddhas zu rezitieren, damit sie nicht vergessen würden. 499 Mönche wurden ausgesucht, die alle voll erleuchtet waren und über psychische Kräfte verfügten, und auch Ananda. Sie wählten Ananda, da er stets gegenwärtig gewesen war, wenn Buddha gesprochen hatte, und weil er ein vollkommenes Erinnerungsvermögen besaß. Obwohl er nicht voll erleuchtet war, war er doch von Nutzen für das Konzil. Als der Tag der Versammlung heranrückte, drängten alle Mönche Ananda, seine Übungen zu intensivieren. In der Nacht vor dem großen Konzil bemühte sich Ananda besonders eifrig. Er übte die Gehmeditation. "Heben, Vorwärtstragen, Aufsetzen." Es war Mitternacht, es war ein, zwei Uhr morgens, und es war immer noch nichts geschehen. Um vier Uhr morgens überdachte Ananda die Situation. Er war sehr weise und hatte alle Lehren Buddhas gehört. Er erkannte, daß sein Geist nicht ausgeglichen war. Er bemühte sich zu sehr, ohne genügend auf Sammlung und Stille zu achten. In seinem Geist war zuviel Erwartung und Voraussicht. Er meinte, niederlegen und meditieren wäre gut, um diese Faktoren ins Gleichgewicht zu bringen. Sehr achtsam ging er zu Bett und betrachtete dabei den ganzen Ablauf. Und es wird gesagt, daß, gerade als sein Kopf das Kissen berühren wollte, noch bevor seine Füße im Bett waren, in diesem Moment, er die höchste Wahrheit erfuhr und daß zusammen mit seiner Befreiung auch die psychischen Kräfte auftraten. Es war gerade vier Uhr morgens, und bis sechs oder sieben genoß er die Freuden des Nirvana, des Friedens. Am Morgen erschien er spontan an seinem Platz im Konzil, und alle erkannten Anandas Errungenschaft .

Sie können nicht wissen, wann die Nebel der Unwissenheit sich lichten werden. Es kann sogar in dem Moment geschehen, wenn Sie sich schlafen legen. Seien Sie achtsam! In jedem einzelnen Moment, seien Sie wachsam, klarbewußt über das Geschehen. Diese Art der täglichen Übung bildet eine außergewöhnliche Kraft des Geistes. Nutzen Sie die Vorteile dieses Seminars ganz aus: Vergeuden Sie keine Zeit und denken Sie nicht, daß Sie genug getan haben. Wenn Sie sich spät abends nicht müde fühlen, dann fahren Sie mit der Übung fort. Oft sind die späten Nachtstunden die besten zum Meditieren. Sie sollten die größte Bemühung einsetzen, ohne zu forcieren und ohne Spannungen zu schaffen. Als ich in Indien war und zu Üben anfing, hatte ich einen Freund, der mir gegenüber in der Halle wohnte. Er war ein Vorbild an Beharrlichkeit. Jedesmal wenn ich ihn erblickte, meditierte er. Abends um zehn oder elf war ich soweit, daß ich schlafen wollte. Aber dann sah ich sein Licht brennen und fühlte mich ermutigt fortzufahren, und ich stand auf vom Sitzen und ging eine Weile. Nach dem Gehen waren mein Geist und Körper wieder voller Energie, und ich konnte wiederum ein bis zwei Stunden sitzen. Ich saß, ging und saß. Auf diese Art kam

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ich soweit wie möglich voran, und es war sehr wertvoll. Sammlung und Achtsamkeit haben eine aufspeichernde Wirkung, so daß am Ende eines Übungstages, in den Nachtstunden, der Geist eine durchdringende Kraft besitzt. Wenn Sie merken, daß dies geschieht, fahren Sie bitte mit der Übung fort. Sitzen und gehen Sie soviel wie möglich. Es gibt viele Dinge zu erfahren, und viele Ebenen des Geistes.

In vielen Meditationszentren in Burma beginnen die Yogis mit vier Stunden Schlaf, und im Verlauf der Meditation brauchen sie immer weniger. Wir sollten nicht in die Falle unserer Gewohnheiten gehen und meinen, daß, wenn wir nicht sieben oder acht Stunden Schlaf haben, wir erschöpft sein werden. Das ist lediglich ein eingefahrenes Verhaltensmuster. Wenn der Geist den ganzen Tag ausgeglichen ist, nicht haftet, nicht wertet, sich nicht mit den Dingen identifiziert, sammelt sich fast keine Ermüdung oder Verspannung an. Mein Lehrer erzählte mir, daß er, als er in Burma lernte, fünf Tage ohne Schlaf verbrachte, ohne überhaupt müde zu sein. Er arbeitete systematisch und gleichmäßig, führte genau diese gleiche Vipassaná-Übung aus, die Übung der Achtsamkeit. Achten Sie auf den Wandel in Ihnen, und wenn Sie nicht müde oder schläfrig sind, üben Sie weiter, die ganze Nacht.

Achter Morgen - Unterweisung: Absichten

Wille ist ein allgemeiner Geistesfaktor, der in jedem Bewußtseinsmoment vorhanden ist Wenn er vorherrscht, sollte er bemerkt werden Wille ist der geistige Drang oder das Anzeichen, das jeder Handlung vorangeht. Wenn wir achtsam sind auf Wille und Absicht, dann können wir frei wählen, ob wir dementsprechend handeln wollen oder nicht. Solange wir die Absichten nicht wahrnehmen, so lange folgen die Handlungen automatisch. Wenn Sie zum Beispiel in der Meditation sitzen, ist die Absicht aufzustehen da, bevor Sie sich erheben. Wenn Sie diese Absicht feststellen, die aufsteigen und vergehen wird, werden Sie vielleicht weiterhin sitzen bleiben, da Sie achtsam waren und sich nicht damit identifiziert haben. Wenn die Absicht ohne Achtsamkeit aufsteigt, stellen wir fest, daß wir stehen, ohne den Vorgang als solchen bemerkt zu haben. So ist es mit allen willkürlichen Bewegungen des Körpers. Wenn Absichten vorherrschen, etwa bei einem grundlegenden Wechsel der Haltung, zwischen Sitzen und Stehen, Stehen und Gehen, dann seien Sie achtsam. Beim Gehen ist die Absicht zum Anhalten da, bevor Sie anhalten Die Absicht zu wenden ist da, bevor Sie sich drehen. Es besteht keine Notwendigkeit, jede Absicht bei jedem

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Schritt festzustellen, aber es ist nützlich, wenn Sie sie bemerken wenn Sie am Ende des Gehens sind, gerade bevor Sie sich umwenden. Der Fuß allein macht nicht die Drehbewegung. Er dreht sich gemäß dem vorangegangenen Wollen. Durch diese Art der Beobachtung erlangen Sie große Einsicht in die Verbindung von Ursache und Wirkung zwischen Geist und Körper. Manchmal ist der Körper die Ursache und ein Geisteszustand die Folge. Manchmal ist der Geist die Ursache und eine Körperbewegung die Wirkung. Die Absicht, sich zu drehen, steigt auf, und ein Bein bewegt sich. Es ist niemand da, niemand der das Drehen "macht". Es ist eine ganz unpersönliche Verbindung zwischen Ursache und Wirkung. Aber wenn wir beim Beginn des Drehens nicht achtsam auf den Verlauf sind, ist es leicht, sich mit der Idee zu identifizieren, daß "Jemand" da ist, der es tut.

Nehmen Sie an, Sie frieren und wollen sich einen Pullover anziehen. Wegen der körperlichen Empfindung steigt der Wunsch nach mehr Wärme auf. Durch diesen Wunsch steigt die Absicht auf, mehr Kleidung zu holen. Auf Grund der Absicht beginnt der Körper sich zu bewegen. Durch Achtsamkeit auf diese Absichten entsteht Einsicht in die Beziehungen zwischen dem Geistigen und Körperlichen.

Beim Sitzen werden die Absichten vor jeder Bewegung feststellbar sein. Wenn Sie die Haltung wechseln, wird immer eine Absicht, dies zu tun, da sein. Wenn Sie schlucken, wird eine Absicht vorangehen. Wenn Sie Ihre Augen öffnen, ist zuerst die Absicht dazu da. All dies sollten Sie bemerken. Absichten stellen sich nicht immer als Gedanken im Geiste dar, nicht immer als Worte. Manchmal empfinden Sie nur einen Drang, ein Anzeichen, daß etwas geschehen wird. Sie brauchen keine Wörter oder Sätze in Ihrem Bewußtsein zu suchen. Bemerken Sie nur den Impuls, etwas zu tun. Und während Sie beginnen, den Ursache- und Wirkungsablauf in Geist und Körper zu erkennen, löst sich die Vorstellung des Selbst in eine natürliche und einfache Entfaltung der Elemente auf.

Neunter Morgen - Unterweisung: Essen

Es gibt viele verschiedene geistige und körperliche Vorgänge, die beim Essen ablaufen. Es ist wichtig, die Aufeinanderfolge der Vorgänge genau zu beachten; sonst besteht die große Wahrscheinlichkeit, daß Gier und Begehren in bezug auf das Essen aufsteigen. Wenn wir nicht achtsam sind, genießen wir diese Erfahrung nicht ganz. Wir nehmen ein oder zwei Bissen, und unsere Gedanken wandern.

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Der erste Vorgang, der dazu gehört, wenn wir essen, ist, daß wir unser Essen sehen. Bemerken Sie "Sehen, Sehen". Dann kommt die Absicht, das Essen zu nehmen, ein geistiger Vorgang. Die Absicht sollte bemerkt werden: "Beabsichtigen, Beabsichtigen." Die geistige Absicht wird der Anlaß dazu, daß der Arm sich bewegt. "Bewegen, Bewegen." Wenn die Hand oder der Löffel das Essen berührt, ist eine Berührungsempfindung da. Fühlen Sie diese Empfindungen. Dann folgt die Absicht, den Arm zu heben, und dann das Heben. Beachten Sie genau all diese Abläufe.

Den Mund öffnen. Das Essen hineintun. Den Mund schließen. Die Absicht, den Arm zu senken, und dann die Bewegung. Eins nach dem anderen. Das Essen im Mund empfinden, die Beschaffenheit. Kauen. Erfahren Sie die Bewegung. Beim Beginn des Kauens werden Geschmacksempfindungen aufsteigen. Achten Sie auf das Schmecken. Während Sie weiterkauen, wird der Geschmack dahinschwinden. Schlucken. Achten Sie auf den ganzen Ablauf, der damit zusammenhängt. Es ist niemand dahinter, keiner, der ißt. Es ist nur die Reihenfolge von Absichten, Bewegungen, Geschmäcken, Berührungsempfindungen. Das ist es, was wir sind - eine Aufeinanderfolge von Ereignissen, Vorgängen, und wenn wir diesem Ablauf, dem Fließen achtsam folgen, befreien wir uns von der Vorstellung des Selbst. Wir sehen das Arbeiten von Geist und Körper als eine Kontinuität von Vorgängen. Absichten, Gedanken, Empfindungen und Bewegungen, alle sind untereinander verbunden, der Geist ist Ursache der körperlichen Bewegung, Körperempfindungen sind Anlaß für Wünsche und Absichten des Geistes.

Meistens essen wir sehr unachtsam. Geschmack kommt und vergeht sehr schnell. Während das Essen noch im Munde ist, wird der Arm, bedingt durch Verlangen und Gier nach weiteren Geschmacksempfindungen, nach mehr greifen, und meistens ist uns dieser Vorgang gar nicht bewußt. Essen Sie erst den Mund leer, bevor Sie nach mehr greifen. Auf diese Art werden wir unseres Körpers gewahr und der Menge der Nahrung, die wir brauchen. Es ist sehr schwierig, sich zu überessen, wenn man achtsam ißt.

Während dieses Monats der Übung wird alles langsamer vor sich gehen. So haben wir die Möglichkeit, genau festzustellen, was geschieht. Wenn Sie die Achtsamkeit gut ausgebildet haben, können Sie alles auch schnell erledigen. Aber jetzt ist die Zeit der Übung. Wir haben keine Eile. Tun Sie alles langsam, mit Ruhe und Achtsamkeit. Fügen Sie die Essensmeditation in Ihr tägliches Programm ein, so daß keine Lücke in der Kontinuität der Achtsamkeit entsteht. Von dem Augenblick an, wo Sie aufstehen, und bei allem Geschehen des Tages, seien Sie sehr achtsam, nehmen Sie alles als Meditation.

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Neunter Abend - Hemmungen

Stellen Sie sich vor, Sie stehen ganz allein und einhändig mitten auf einem Schlachtfeld, umgeben von tausend Feinden. Obwohl Sie von allen Seiten umzingelt sind, schaffen Sie es irgendwie, sie zu besiegen. Stellen Sie sich vor, daß Sie tausendmal auf diesem Schlachtfeld stehen, und jedesmal gelingt es Ihnen, die Feinde zu besiegen. Buddha hat gesagt, dies sei einfacher, als sich selbst zu besiegen. Es ist keine leichte Aufgabe, die wir uns gestellt haben. Das Schwierigste von allem ist, seinen eigenen Geist zu begreifen. Aber es ist nicht unmöglich. Es gibt viele Wesen, die diese tausend Feinde tausendmal besiegt haben, und sie haben uns beraten und geführt.

Die erste große Hilfe ist, die Feinde zu erkennen. Unerkannt bleiben sie starke Kräfte in unserem Geist; im Lichte der Erkenntnis ist es leichter, mit ihnen fertig zu werden. Es gibt fünf mächtige Feinde auf dem Schlachtfeld des Geistes, und sie erkennen zu lernen ist von großer Wichtigkeit, wenn Sie in die tieferen Ebenen des Begreifens vordringen.

Der erste der Feinde oder Hemmungen ist Sinnenlust: das Verlangen nach Sinnenfreuden, das Klammern an Sinnenobjekte. Sie zieht den Geist nach außen auf der Suche nach diesem oder jenem Objekt, in Unruhe und Unausgeglichenheit. Es liegt in der Natur der Sinnenlust, daß sie niemals befriedigt werden kann. Es gibt kein Ende des Herumsuchens. Wir freuen uns über ein angenehmes Objekt, es steigt auf und vergeht, wie alle Phänomene, und wir bleiben zurück mit demselben unerfüllten Verlangen nach mehr Befriedigung. Wir müssen uns mit dieser Art des Anhaftens des Geistes befassen, sonst bleiben wir immer unbefriedigt immer auf der Suche nach neuen Freuden, nach Vergnügungen. Es kann Verlangen nach einem schönen Anblick, nach schönen Tönen, Geschmäcken oder Düften, angenehmen Körperempfindungen oder mitreißenden Ideen sein. Anhaften an diese Objekte verstärkt den Gierfaktor; und es ist genau diese Gier des Geistes, dieses Anhaften und Ergreifen, das uns an das Rad des Samsara, das Rad von Leben und Tod, gebunden hält. Bis wir uns erfolgreich mit der Hemmung durch Sinnenlust befassen, bleiben wir gefesselt von den Kräften des Anhangens und der Besitzgier.

Der zweite Feind ist Haß; Übelwollen, Wut, Abneigung, Ärger, Gereiztheit sind alle Ausdruck eines wertenden Geistes. Es ist der Geist, der gegen das Objekt wütet und es los werden möchte. Es ist ein sehr gewaltsamer und aufgewühlter Zustand. Es gibt zwei Aussprüche, die ganz klar die Wirkung dieser beiden Feinde, Sinnenlust und Übelwollen, zeigen. Wir sagen: "Ein Mensch brennt vor

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Verlangen" oder eine Person "steht in Flammen ' und meinen damit, daß er oder sie sehr aufgebracht ist: sehr viel Leid.

Der dritte Feind ist Stumpfheit und Mattheit, was Faulheit und Trägheit des Geistes bedeutet. Ein Geist, angefüllt mit Stumpfheit und Mattheit, will nichts anderes als nur schlafen. Es gibt ein Tier, die Schnecke; sie war für mich immer das Sinnbild der beiden Eigenschaften Stumpfheit und Mattheit: sie bewegt sich kaum, ist fast ohne alle Kraft. Wenn wir nicht diese Schläfrigkeit und Faulheit des Geistes überwinden, wird nichts geschafft, sehen wir nichts klar, bleibt unser Geist schwer und trüb.

Die vierte Hemmung ist Aufgeregtheit. Ein Geist im Zustand der Sorge, des Bedauerns und der Unruhe kann nie gesammelt sein. Er springt ständig von einem Objekt zum nächsten, ohne Achtsamkeit. Diese Unruhe des Geistes verhindert das Aufsteigen tiefer Einsicht.

Der fünfte der großen Feinde ist Zweifel, und in mancher Hinsicht ist er der schwierigste von allen. Bis wir ihn durchschaut haben, legt Zweifel unseren Geist lahm, blockiert er die Bemühung um Klarheit. Zweifel steigt auf in bezug auf das, was wir tun und auf unsere Fähigkeit, es durchzuführen. Vielleicht ist Ihnen seit Sie hier sind der Gedanke gekommen: "Was mache ich hier? Warum bin ich gekommen? Ich kann es einfach nicht." Das ist der zweifelsüchtige Geist, eine große Hemmung auf dem Wege.

Alle diese Hemmungen - Sinnenlust, Übelwollen, Stumpfheit und Mattheit, Aufgeregtheit, Zweifel - sind Geistesfaktoren. Sie sind nicht das Selbst, nur unpersönliche Faktoren, die ihrer Art gemäß wirken. Es gibt ein Gleichnis, das die Wirkung dieser verschiedenen Hemmungen des Geistes illustriert. Stellen Sie sich einen Teich mit klarem Wasser vor. Sinnenlust ist so, als sei das Wasser mit hübschen Farben vermengt. Wir sind von der Schönheit und dem Ineinanderfließen der Farben hingerissen und ergründen nicht die Tiefe. Zorn, Übelwollen und Abneigung sind wie kochendes Wasser. Kochendes Wasser ist sehr aufgewühlt. Sie können nicht bis auf den Grund sehen. Diese Art der Aufgewühltheit des Geistes, die heftigen Reaktionen voller Haß und Abneigung sind ein großes Hindernis auf dem Weg zur Erkenntnis. Wenn das Wasser des Teiches dicht mit Algen überwuchert ist, dann gleicht es der Stumpfheit und Mattheit. Es ist unmöglich, bis auf den Grund zu sehen, da Sie nicht durch die Algen hindurchblicken können. Dies ist ein sehr träger Geist. Ruhelosigkeit und Sorgen sind wie ein windgepeitschter Teich. Die Oberfläche des Wassers wird von starken Winden bewegt. Wenn Ruhelosigkeit und Sorgen sich bemerkbar machen, ist Einsicht unmöglich, da der Geist weder gesammelt noch still ist. Zweifel ist wie schlammgetrübtes Wasser; Weisheit wird von Düsternis und Nebel verdunkelt.

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Es gibt bestimmte Methoden, mit diesen Feinden zu verfahren, wenn wir ihnen auf dem Wege begegnen. Die erste ist, sie zu erkennen, sie jeden Augenblick deutlich zu sehen. Wenn Sinnenlust aufsteigt, sofort zu wissen, daß Verlangen im Geiste ist; wenn Zorn aufsteigt oder Stumpfheit oder Ruhelosigkeit oder Zweifel, sofort zu erkennen, welches bestimmte Hindernis aufgestiegen ist. Das Erkennen ist die wirkungsvollste, mächtigste Art, sie zu besiegen. Das Erkennen fuhrt zur Achtsamkeit. Achtsamkeit bedeutet nicht anhaften, nicht werten und sich nicht mit dem Objekt identifizieren. Alle Hemmungen sind vergängliche Geistesfaktoren. Sie entstehen und vergehen wie Wolken am Himmel. Wenn wir bei ihrem Aufsteigen achtsam sind und nicht reagieren oder uns nicht mit ihnen identifizieren, dann ziehen sie durch den Geist, ohne Unruhe zu stiften. Achtsamkeit ist die beste Waffe gegen sie.

Es gibt auch ganz bestimmte Gegenmittel für diese Hemmungen, wenn der Geist etwa von ihnen überflutet wird und die Achtsamkeit noch schwach ist. Wenn Sinnenlust den Geist beherrscht, ist es gut, an die wahre Natur dieses der Verwesung unterworfenen Körpers zu denken, an die Tatsache daß wir alle als Leichen enden werden. Es dauert nur kurze Zeit, und wir sind siebzig, achtzig oder neunzig Jahre alt. Han Shan, ein alter chinesischer Einsiedler und Poet, sah dies ganz klar:

Ein Perlenvorhang vor der Jadehalle.

Darin eine schöne Dame. Herrlicher an Körper als Götter und Unsterbliche. Mit dem Blütengesicht des Pfirsichs oder der Pflaume. Frühlingsnebel deckt das östliche Haust, Herbstwinde wehen vom westlichen Tor, Und nach dem Hingang von dreißig Jahren Wird sie sein wie ein Stück ausgepreßtes Zuckerrohr.

Diese Art der Betrachtung schwächt die Sinnenlust, da wir die Nähe unseres eigenen Todes erkennen. Der Tod betrifft nicht nur einige und andere nicht. Wir empfinden nicht die Einmaligkeit und Kraft des Augenblicks, wenn wir nicht die Dringlichkeit unseres Todes fühlen.

Da ist auch eine starke Verbindung zwischen dem Ausmaß des Verlangens, welches wir empfinden, und dem Übermaß an Essen und Schlaf. Zurückhaltung beim Essen und Schlafen schwächt den Faktor Begehren und bringt größere Klarheit.

Übelwollen, Zorn, Abneigung, Haß; wieder ist die beste Art, sie zu überwinden, sich ihrer bewußt zu werden, achtsam zu sein. Sie sitzen, und ganz plötzlich sind

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Sie voller Übelwollen gegen eine Person oder Situation. Nehmen Sie Abstand und bemerken Sie: "Zorn, Zorn", ohne sich damit zu identifizieren oder mit sich zu rechten, weil Sie ärgerlich sind. Einfach betrachten. Er steigt auf und schwindet dahin. Zorn wird mächtig, wenn er durch Identifizieren genährt wird. "Ich bin wütend, und ich sollte auch wütend sein, weil mir jemand etwas angetan hat..." Als Alternative zu dem Bedürfnis, dem Übelwollen Ausdruck zu verleihen, betrachten Sie den Vorgang genau. Sie werden feststellen, daß er die Kraft, den Geist zu stören, verliert. Ein spezieller Weg, um Übelwollen zu überwinden, wenn es überwältigend ist, ist, Gedanken der Liebe aufsteigen zu lassen: allen Wesen überall Glück und Liebe zu wünschen, den Einzelpersonen, die Sie sehr mögen, und schließlich der besonderen Person, auf die Sie böse sind; umgeben Sie diesen Menschen mit liebenden Gedanken, auch wenn es Ihnen zu der Zeit schwierig erscheint. Langsam wird sich der Ärger auflösen, und der Geist wird wieder kühl und ausgeglichen. Eine sehr praktische Art, sich mit dem Übelwollen auseinanderzusetzen, ist, wenn Sie eine sehr heftige Abneigung gegen jemand empfinden, dem Betroffenen ein Geschenk zu machen. Sie können, wenn Sie ein Geschenk geben, nicht ärgerlich bleiben, da Sie dann freigebig und offen sind; es hilft die Spannung und Gereiztheit lösen. Es ist eine gute Art, den Geist von dem Feuer des Hasses zu befreien.

Vielleicht ist es noch einsichtsvoller, Ärger und Abneigung dadurch anzugehen, daß Sie das Karma-Gesetz überdenken: zu verstehen, daß wir alle die Erben unserer eigenen Taten sind. Jedes Wesen erfährt die Folgen seiner heilsamen und unheilsamen Taten. Wenn jemand etwas Unheilsames tut, sollten wir statt mit Ärger mit Einfühlungsvermögen reagieren und verstehen, daß die Person aus Unwissenheit handelt, in einer Art, die ihr Schmerzen und Leiden bringen wird. Es besteht kein Anlaß, ihr selbstverschuldetes Leiden noch zu vermehren; wir sollten mitfühlend versuchen, ihr die Bürde der Unwissenheit zu erleichtern.

Stumpfheit und Mattheit. Wieder ist die beste Art, sie zu überwinden, sie genau zu betrachten, die Eigenschaften Stumpfheit, Mattheit und Trägheit im Geiste gründlich zu untersuchen und zu durchleuchten. Dringen Sie ein. Durch diese Art der untersuchenden Achtsamkeit kann es geschehen, daß alle Schläfrigkeit und Müdigkeit in einem Augenblick verschwinden. Sie können sich schon einige Zeit gesagt haben: "Müde, müde", und dann, innerhalb eines Momentes, wird der Geist ganz wach und achtsam. Wenn Sie achtgeben und sich nicht mit dem Gefühl der Schläfrigkeit identifizieren, wird es meistens vorübergehen. Auch wenn Sie versuchen, achtsam zu sein, und trotzdem einnicken, können Sie etwas dagegen tun. Verändern Sie Ihre Haltung. Wenn Sie sitzen, stehen Sie auf und gehen Sie forsch einige Schritte. Oder, wenn Sie im Hause sind, gehen Sie hinaus. Frische Luft bringt neue Kraft. Betrachten Sie für einen Augenblick ein Licht, entweder ein elektrisches Licht oder Mondlicht oder Sternenschein. Licht hat eine aufweckende Wirkung. Begießen Sie sich mit

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kaltem Wasser. Versuchen Sie, rückwärts zu gehen. Stumpfheit und Mattheit sind vergänglich und können überwunden werden. Wenn Sie alle diese Dinge versucht haben und immer noch einnicken, dann ist es Zeit, daß Sie schlafen gehen. Aber bemühen Sie sich zuerst. Wenn Schläfrigkeit aufsteigt und wir jedesmal denken: "Na ja, schlaf ich ein bißchen", dann verstärken wir den Faktor Stumpfheit. Seien Sie resolut und energisch in bezug auf diese Hemmung.

Aufgeregtheit und Gewissensunruhe. Auch dabei ist es wichtig, achtsam zu sein. Betrachten Sie den unruhigen Geist, untersuchen Sie, was es mit diesem Geist auf sich hat, achten Sie genau auf die Art der Aufgeregtheit. Wenn Sie beim Sitzen aufgeregt werden und nicht gesammelt sind, dann nehmen Sie diesen Geisteszustand als Objekt der Achtsamkeit. Sitzen und beobachten Sie: "Unruhig, unruhig". Betrachten Sie ihn, ohne sich damit zu identifizieren. Es gibt "keinen", der ruhelos ist, es ist vielmehr der Ablauf eines Geistesfaktors. Er kommt und geht. Wenn eine ausgewogene Achtsamkeit vorherrscht, wird der Geist dadurch nicht gestört.

Ein anderer Weg ist, sich zu bemühen, den Geist zu sammeln, den Geist einspitzig zu machen. Dies ist das spezifische Gegenmittel für Aufgeregtheit. Wenn der Geist sehr unruhig ist, sollten Sie sich wieder der Achtsamkeit auf die Atmung zuwenden. Sie sollten dem Geist nur ein Objekt geben und eine bestimmte Zeit bei diesem Objekt bleiben, zwanzig Minuten, eine halbe Stunde, damit der Faktor der Sammlung wieder kraftvoll wird. Auch unbeweglich und ganz gerade in einer Haltung verharren ist beim Überwinden der Ruhelosigkeit von Nutzen.

Der letzte Feind ist Zweifel. Es ist wesentlich, festzustellen, worum es sich beim Zweifel handelt, da er ein unübersteigbares Hindernis auf dem Wege sein kann. Man gibt dann einfach auf. Wieder ist der beste und einsichtsvollste Weg, den Zweifel zu überwinden, ihn zu betrachten, sich ihm zu stellen, ihn anzunehmen. Wenn Zweifel aufsteigt, sollten Sie die volle Aufmerksamkeit auf den zweifelnden Geist richten, ohne sich damit zu identifizieren. Zweifel ist nicht das Selbst, nicht zu mir gehörend, ist nicht das Ich. Er ist lediglich ein Gedanke, ein Geistesfaktor. Wenn wir ihn erkennen und uns nicht mit ihm identifizieren, wenn der Zweifel kommt, verhalten wir uns abwartend und konstatieren: "Zweifel, Zweifel", und er geht dahin.

Eine andere Art, mit dem Zweifel fertig zu werden, ist, ein gut geschultes Verständnis zu haben für das, was wir tun, worum es sich bei dem Pfad der Einsicht dreht. Es besteht keine Notwendigkeit, alles blind zu glauben und zu akzeptieren. Das Begreifen des Dharma auf der intellektuellen Ebene kann eine große Hilfe beim Auflösen des aufsteigenden Zweifels sein. Wenn Zweifel

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kommt, sind Sie in der Lage, ihn klar zu sehen, durch Ihre eigene Erfahrung, Ihr eigenes Verständnis.

Manchmal besteht die Tendenz, die Hemmungen, wenn sie aufsteigen, zu verurteilen. Der verurteilende Geist ist selbst der Faktor der Abneigung. Jede Verdammung der Hemmungen stärkt den Feind. Das ist nicht der richtige Weg. Kein Aburteilen, kein Bewerten. Wenn die Hemmungen kommen, betrachten Sie sie nur. Achtsamkeit macht sie alle unwirksam. Sie mögen weiterhin aufsteigen, aber sie stören den Geist nicht, da wir nicht darauf reagieren.

Solange die geistigen Hemmungen mächtig sind, so lange ist es schwierig, Einsicht und Weisheit zu entwickeln. Während der ersten Tage gab es viel Unruhe, Zweifel und Begehren, bis der Geist anfing, sich zu beruhigen. Die Anfangsschwierigkeiten sind nicht der letzte Widerstand der Feinde. Sie werden wieder aufsteigen, wenn der Geist beginnt, in die tieferen Ebenen der Bedingtheit vorzudringen. Aber jetzt sollten Sie Vertrauen haben, daß Sie diese Faktoren in den Griff bekommen, nachdem Sie gesehen haben, wie sie aufsteigen und vergehen, kommen und gehen. Dies Verständnis, daß sie vergänglich sind, schenkt dem Geist eine kraftvolle Ausgeglichenheit. Bitte erhalten Sie die Bemühung und die Kontinuität der Bewußtheit; der Geist. der die Herrschaft der Hemmungen überwunden hat, ist unerschütterlich in seiner Ausgeglichenheit und Formbarkeit.

Was soll ich tun, wenn ich durch zuviel Bemühung verspannt werde?

Wenn Sie zuviel Spannung oder Verkrampfung während der Übung empfinden, dann gehen Sie nach draußen und betrachten die Bäume oder den Himmel. Es ist so schön hier, alles ist so weit. Gehen Sie nach draußen und gehen Sie ganz entspannt ein wenig umher, aber immer noch mit Achtsamkeit auf das, was Sie tun. In kurzer Zeit wird allein durch die Umgebung Ihr Geist abgekühlt sein. Buddha gab oft den Rat, in die Natur zu gehen, da sie den Geist beruhigt.

Manchmal kann ich den Atemvorgang nicht bemerken. Was soll ich tun?

Wenn der Geist still wird, wird der Atem ganz fein. Wenn Sie das Gewahrsein der Atmung verlieren, dann achten Sie auf die Körpergefühle oder die Körperhaltung oder einfach auf das Gewahrsein des Wissens, auch wenn kein bestimmtes Objekt da zu sein scheint. Wenn die Sammlung sich gut entwickelt, ist es möglich, daß Sie manchmal jegliches Gefühl für den Körper verlieren. Richten Sie die Achtsamkeit darauf. Auch das ist vergänglich. Der Atem kommt wieder.

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Wie steht es damit, wenn man Angst erkennt und versucht, die Ursache herauszufinden?

Das können Sie tun, aber es ist ein Vorgang ohne Ende. Die Ursache feststellen ist nicht loslassen. Sie wird wieder und wieder aufsteigen, und jedesmal werden Sie die neuen Ursachen ergründen müssen. Wenn Einsicht entwickelt ist, können Sie die Angst erkennen und sie loslassen. Wir brauchen nicht die Ursachen unserer Probleme festzustellen, wir sollten sie nur loslassen. Der meditative Geisteszustand ist die grundlegende Methode, um mit diesen negativen Dingen fertig zu werden. Sie sehen, sie erkennen und sich nicht damit identifizieren und loslassen. Es ist so einfach Sie brauchen nur Achtsamkeit und das Gewahrsein dessen, was im Augenblick geschieht.

Ich identifiziere mich weiterhin mit all den Hemmungen. Was ist die beste Art, dies zu vermeiden?

Die Tibeter haben ein Gleichnis, das ich als hilfreich empfunden habe. Sie vergleichen den Geist mit einem weiten, klaren Himmel, einem wolkenlosen Himmel. Alle Phänomene des Geistes und Körpers geschehen an diesem klaren Himmel. Sie sind nicht der Himmel selbst. Der Himmel ist klar und unberührt von allem, was geschieht. Die Wolken kommen und gehen, die Winde kommen und gehen, Regen und Sonnenlicht kommen und gehen, aber der Himmel bleibt klar. Machen Sie Ihren Geist dem Himmel gleich und lassen Sie alles aufsteigen und vergehen. Dann bleibt der Geist ausgeglichen und entspannt und sieht das Fließen.

Zehnter Morgen - Unterweisung: Bewußtsein

Eine der Grundlagen der Achtsamkeit ist Bewußtsein, die Fähigkeit zu wissen. Ein Weg, die Achtsamkeit auf das Wissen zu entwickeln ist, das Bewußtsein selbst als Meditationsobjekt zu nehmen. Bei jeder Bewegung des Körpers können Sie beginnen, die Fähigkeit des Wissens wahrzunehmen, da die physischen Objekte sehr deutlich sind. Entspannen Sie den Geist und versuchen Sie, die Fähigkeit des Wissens aufzuspüren, die zur selben Zeit aufsteigt wie die Bewegung. Es ist wichtig, daran zu erinnern, daß Wissen und Objekt zusammen aufsteigen. Sie können das Bewußtsein nicht vom Objekt trennen. Aber es ist möglich, die beiden

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Vorgänge zu unterscheiden, zu sehen, daß das Fließen der Objekte ein Vorgang ist und der Fluß des Bewußtseins ein anderer. Sie geschehen zusammen, haben aber zwei verschiedene Funktionen. Die Funktion des Bewußtseins ist zu wissen. Zum Beispiel, wenn wir gehen, weiß das Bein oder der Fuß nichts darüber. Es sind lediglich die materiellen Elemente, die ablaufen, Schwere oder Leichtigkeit, die das Erdelement sind, oder Bewegung, das Luftelement. Das Wissen um diese Elemente liegt im Geist oder Bewußtsein Die Bewegung ist da und das Wissen. Gleichzeitig mit der Bewegung steigt das Wissen darüber auf. Versuchen Sie nicht, daß Bewußtsein festzulegen, es genau zu definieren oder es einzuschränken. Es ist ein sehr subtiles, körperloses Objekt. Aber mit einem entspannten Geist können wir bereits den Ablauf des Bewußtseins aufspüren. Da es ein sehr subtiles Objekt ist, wird es den Geist zwingen, sehr aufmerksam zu sein. Klare Erfahrungen sind unmöglich, wenn der Geist nachlässig oder träge ist. Manchmal, wenn Sie sitzen, sollten Sie vielleicht die Aufmerksamkeit auf das Wissen lenken. Die Atmung, die wir als Ein-Aus oder Heben-Senken erfahren, ist lediglich ein materieller Vorgang. Das Wissen darum ist der Geist, das Bewußtsein. Wenn Sie still und gesammelt sind, dann richten Sie Ihre Achtsamkeit auf das "Wissen". Versuchen Sie nicht, es zu finden oder irgendwo im Körper ausfindig zu machen. Seien Sie sich auf entspannte Art des Wissensvorganges bewußt.

Eines der Erleuchtungsglieder ist das Ergründen des Dharma, womit die forschende Fähigkeit des Geistes gemeint ist, die untersucht und ergründet, wie die geistigen und körperlichen Elemente wirken. Zögern Sie nicht, den Geist zum Ergründen zu benutzen. Aber nicht mit Worten, nicht mit Gedanken und nicht mit Vorstellungen. Versuchen Sie ein Gespür, ein Gefühl für den Ablauf des Bewußtseins, der in Zusammenhang mit dem Objekt geschieht, zu bekommen. Diese Erfahrung befreit von dem Identifizieren mit dem Beobachter. Einsicht kommt durch die Erkenntnis, daß gesehen wird ohne einen Sehenden, wahrgenommen wird ohne einen Wahrnehmenden.

Zehnter Abend - Krieger

In den Büchern von Carlos Castaneda spricht Don Juan von der Notwendigkeit, daß weise Männer oder Frauen wie Krieger leben sollten. Die Vorstellung, ein Krieger zu sein, findet große Resonanz in der Meditationserfahrung. Ein Krieger nimmt alles im Leben als Herausforderung, er reagiert genau auf alles Geschehen, ohne Klage oder Bedauern. Was für die Menschen meist von großer Wichtigkeit ist, ist Bestätigung oder Gewißheit durch andere; was einem Krieger

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am meisten am Herzen liegt, ist die Unfehlbarkeit in seinen eigenen Augen. Unfehlbarkeit bedeutet, mit Sorgfalt und völliger Achtsamkeit zu leben. Was wir gerade tun, um uns selbst begreifen zu können, ist die edelste Tat, die getan werden kann. Es ist das Auslöschen von Gier, Haß und Nichtwissen im Geiste; und das Verstärken von Weisheit und liebendem Mitgefühl in uns selbst. Es ist schwierig und rar und bedarf großer Unfehlbarkeit. Dies bedeutet nicht notwendigerweise, daß wir in die mexikanische Wüste oder in eine Höhle im Himalaya gehen müssen. Es bedeutet vielmehr, daß wir die Eigenschaften des Geistes entwickeln müssen, die Ganzheit und Wachsamkeit in jedem Augenblick bewirken.

Das Buch Siddhartha von Hermann Hesse beschreibt sehr schön die Erscheinung eines Kriegers in einem ganz anderen Zusammenhang als dem von Carlos und Don Juan. Siddhartha sagte, daß seine Schulung ihm drei Kräfte gegeben habe: er könne denken, er könne warten und er könne fasten. Drei Geisteseigenschaften, drei Merkmale eines Kriegers. Die Fähigkeit zu denken bedeutet in diesem Zusammenhang; nicht unsicher oder verwirrt zu sein in bezug auf das Geschehen. Klarheit hinsichtlich des Körpers - sich der Haltungen bewußt zu sein, des Atems, des Wechselspieles der physischen Elemente und abmessen können, wieviel Essen und Schlaf wirklich notwendig sind. All die verschiedenen Arten von Körperenergien ins Gleichgewicht bringen. Klarheit in bezug auf den Geist-Empfindungen, Gedanken und die verschiedenen Geisteszustände. Nicht gefangen werden im Strudel des Geistes, im Fluß der Phänomene klar und ausgeglichen bleiben.

Ein anderer Aspekt der Denkkraft Siddharthas ist Mut: sich nicht den Weg durch vorgefaßte Meinungen über die Dinge blockieren zu lassen. Mutig und offen genug zu sein, um verschiedene Möglichkeiten zu akzeptieren. Siddharta glaubte nicht blindlings. Er glaubte weder seinen Freunden noch seinen Eltern, nicht einmal dem Buddha. Er wollte selbst die Wahrheit finden, und der Mut dazu eröffnete ihm ein weites Feld der Erfahrung; er blieb drei Jahre in einem Wald und praktizierte das asketische Leben; er erlebte eine wunderschöne Liebe mit Kamala, der Kurtisane; und er wurde hineingezogen in die Welt der Geschäfte und des Handels. Er war offen und mutig genug, alle Konsequenzen zu erfahren und anzunehmen, und wurde nicht mutlos durch engstirnige Gedankengänge. Die Kraft des Denkens ist die Kraft der Klarheit und des Mutes - experimentieren, untersuchen und das Geschehen prüfen.

In der Meditation wird der Mut eines Kriegers sowohl verlangt als auch entwickelt. Sie brauchen Mut, wenn Sie beim Sitzen Schmerzen haben und ihnen nicht ausweichen und sie nicht unterdrücken; wenn Sie nur sitzen und sich ihnen ganz stellen und die Angst überwinden. Sie brauchen Mut zum Sondieren, und dabei entdecken Sie die tiefsten Elemente von Geist und Körper. Zuerst kann es

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beunruhigend sein, da viele unserer geliebten Gewohnheiten über den Haufen geworfen werden. Eine Menge Mut ist nötig, um alles loszulassen und den Fluß der Vergänglichkeit zu erfahren. Sie brauchen Mut, um sich dieser grundlegenden und inhärenten Unsicherheit des geistig-körperlichen Vorgangs zu stellen. Die Tatsache zu akzeptieren, daß das, was wir sind, sich ständig, in jedem Augenblick, auflöst und dahinschwindet; daß es überhaupt keinen festen Standort gibt. Sie brauchen Mut, um zu sterben; um den Tod der Vorstellung vom Selbst zu erfahren. Es bedarf des Mutes und der Furchtlosigkeit eines unfehlbaren Kriegers, um diesen Tod zu erfahren während wir leben. Siddharta konnte denken und warten und fasten.

Warten bedeutet Geduld und Schweigen. Es bedeutet, sich nicht durch Begehren zum Handeln treiben zu lassen. Wenn wir nicht die Fähigkeit zu warten besitzen, wird jedes Verlangen, das im Geiste aufsteigt, uns zum Handeln zwingen, und wir bleiben an das Rad des Begehrens gefesselt. Manchmal wird Warten als Untätigkeit mißverstanden, als Nichtstun. Das ist es überhaupt nicht. Tschuang-Tse schrieb:

Das Nicht-Handeln des weisen Mannes ist nicht Nichtstun. Es ist nicht einstudiert. Es wird durch nichts erschüttert. Der Weise ist still, weil ihn nichts berührt, nicht weil er sich zwingt, still zu sein. Stilles Wasser ist wie Glas ... es ist eine vollkommene Fläche. Wenn Wasser schon so klar ist, so ebenmäßig, wieviel mehr der Geist des Menschen. Das Herz des weisen Mannes ist ruhig, es ist ein Spiegel für Himmel und Erde, ein Spiegel für alles. Leere, Stille, Ruhe ... Schweigen, Nicht-Handeln - dies ist die Ebene von Himmel und Erde. Dies ist vollendetes Tao. Weise Männer finden hier ihren Ruheplatz. In der Ruhe sind sie leer.

Warten bedeutet Stille des Geistes bei jedweder Aktivität. Wenn wir ständig damit beschäftigt sind, dem Dharma weiterzuhelfen, hindert dies uns daran, klar zu sehen, die Kraft und das Verständnis aufzunehmen, die aus der Stille kommen, und den inneren Dialog zu beenden. Denn solange der innere Dialog weitergeht, so lange bleiben wir in dem Gefängnis der Worte, die uns daran hindern, in einer offenen und spontanen Art und Weise auf die Welt zu reagieren - eine Welt, die völlig anders ist, als wir sie uns durch unsere vorgefaßten Ideen vorstellen. Den inneren Dialog beenden ist die Fähigkeit, zu warten und zu lauschen.

Es war das Lauschen auf die Stimme seines Herzens, das Siddhartha von seinem Vater zur Askese führte und dann aus dem Wald in ein weltliches Leben der Geschäfte und Liebe. Aber langsam wurde diese Kraft des Horchens getrübt durch die Hingabe an Sinnenlust. Er wurde so in das Begehren hineingezogen, daß er nicht mehr lauschen konnte. Voller Verzweiflung schleppte er sich an das Ufer eines Flusses und wollte sich gerade ertränken, als er aus dem Fluß, aus

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seinem Herzen, die Silbe "Aum" hörte. Dort am Flußufer blieb er viele Jahre und lernte wieder das Horchen und Warten.

Siddharta lauschte. Er war nun ganz Lauscher, ganz ins Zuhören vertieft, ganz leer, ganz einsaugend, er fühlte, daß er nun das Lauschen zu Ende gelernt habe. Oft schon hatte er all dies gehört, diese vielen Stimmen im Fluß, heute klang es neu. Schon konnte er die vielen Stimmen nicht mehr unterscheiden, nicht frohe von weinenden, nicht kindliche von männlichen, sie gehörten alle zusammen, Klage der Sehnsucht und Lachen des Wissenden, Schrei des Zorns und Stöhnen der Sterbenden, alles war eins, alles war ineinander verwoben und verknüpft, tausendfach verschlungen. Und alles zusammen, alle Stimmen, alle Ziele, alles Sehnen, alle Leiden. alle Lust, alles zusammen war der Fluß des Geschehens, war die Musik des Lebens. Und wenn Siddhartha aufmerksam diesem Fluß, diesem tausendstimmigen Liede lauschte, wenn er nicht auf das Leid noch auf das Lachen hörte, wenn er seine Seele nicht an irgendeine Stimme band und mit seinem Ich in sie einging, sondern alle hörte, das Ganze, die Einheit vernahm, dann bestand das große Lied der tausend Stimmen aus einem einzigen Wort - Vollendung.

Die dritte Kraft des Siddhartha war Fasten. Fasten heißt aufgeben, Abkehr, hingeben. Es bedeutet Energie und Bemühung und Kraft. Durch das Aufgeben entsteht Kraft und eine Leichtigkeit des Geistes. Oft glauben die Menschen, etwas aufzugeben oder zu fasten sei eine Bürde und eine Leidensquelle, sie erkennen nicht die Freude und Einfachheit des Unbelastetseins von unnötigen Besitztümern und unaufhörlichem Verlangen. Es bedarf nicht übermenschlicher Anstrengung, um aufzugeben; nur Energie, um Trägheit und alte Gewohnheiten zu überwinden. Durch diese Bemühung erfahren wir die Weite und Leichtigkeit des Geistes, die beim Loslassen vom Anhaften entsteht.

Fasten bedeutet Einfachheit. Eine der Freuden des Studiums in Indien war, obwohl es viele Schwierigkeiten in bezug auf Gesundheit und Nahrung und Unterkunft gab, die grundlegende Einfachheit des Lebens. Es war nicht belastet durch die vielen Dinge, die uns im Westen behindern. Durchreisende wunderten sich, daß wir auf so viele Dinge "verzichten'' konnten - Elektrizität und heißes, fließendes Wasser: sie verstanden nicht die Leichtigkeit dieses einfachen Lebens. Durch die Einfachheit des Lebens, durch das Aufgeben, vieles haben oder besitzen zu müssen, kommt Zufriedenheit und Frieden.

Fasten, Entsagung. Wir können in unserem Leben durch Freigebigkeit mit diesem Loslassen experimentieren, indem wir uns in grundlegender, sittlicher Zurückhaltung festigen und üben, die Dinge aufzugeben, die uns fesseln. Aufgeben können Sie auf allen Ebenen, nicht nur in unseren Beziehungen zu materiellen Objekten oder Menschen. Es gibt den taoistischen Begriff "Fasten

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des Herzens", der die Vollkommenheit inneren Aufgebens beschreibt. Tschuang-Tse schrieb:

Das Ziel des Fastens ist die innere Einheit. Das bedeutet hören aber nicht mit dem Ohr. Hören aber nicht mit dem Verstand vielmehr hören mit dem Geist, mit deinem ganzen Wesen. Hören mit den Ohren ist eines, hören mit dem Verstand ein anderes. Das Hören mit dem Geist dagegen ist nicht an eine bestimmte Fähigkeit gebunden, etwa an das Ohr oder an den Verstand. Deshalb verlangt das Hören mit dem Geist, daß wir alle anderen Fähigkeiten beiseite schieben. Wenn dies geschehen ist dann hören wir mit unserem ganzen Wesen, dann wissen wir, genau was richtig ist. Das Ohr und der Verstand können es uns nicht sagen. Wenn du aber mit dem Herzen fastest, dann verbannst du alle anderen Fähigkeiten weit von dir und du kennst keine Beschränkungen und keine Sorge mehr. Das Fasten des Herzens bewirkt Einheit und Freiheit.

Siddhartha konnte denken. Er konnte warten. Er konnte fasten. Dies sind die Eigenschaften des Kriegers, die entwickelt werden, wenn wir uns bemühen, uns vollkommen zu verstehen. Wenn Sie sitzen, wenn Sie gehen, wenn Sie den ganzen Tag über untadellos achtsam sind, dann werden diese Eigenschaften erweckt.

Don Juan spricht von persönlicher Macht. Wie verhält sich dies zur Übung?

Geisteskraft ist Macht. Nicht die Kraft, die zum Manipulieren benutzt wird, sondern die Kraft der durchdringenden Einsicht, die Kraft zu verstehen. Don Juan sagte, daß, sogar wenn einem die tiefsten Geheimnisse des Universums mitgeteilt würden, sie nur leere Worte wären, solange nicht genügend eigene Kraft vorhanden sei. Diese Macht bedeutet Kraft, Besonnenheit und die Fähigkeit, tief in das So-Sein der Dinge einzudringen. Sie entwickelt sich im Verlaufe der zunehmenden Sammlung des Geistes. Aus durchdringender Kraft kommt Einsicht; bei der Geisteskraft genügt ein einziges Wort, um neue Ebenen des Verständnisses zu öffnen. Während eines Meditationskurses ist es das ständige Üben, das diese Art der persönlichen Macht entwickelt.

Gibt es sichere Zeichen auf dem Wege, um Intuition und Einsicht von Einbildung unterscheiden zu können?

Intuition kommt aus dem stillen Geist; Einbildungen sind Vorstellungen. Das ist der große Unterschied. Das ist auch der Grund, warum die Entwicklung der Einsicht nicht aus dem Nachdenken über Dinge entsteht, sie kommt durch die Entwicklung der Geistesstille, in welcher ein klares Schauen, ein klares Sehen möglich ist. Der ganze Vorgang der Einsicht, die ganze Entwicklung des

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Verständnisses kommt zu Zeiten der Geistesstille. Dann ein plötzliches: "Aha, so ist es!" In den Zen-Lehren des Huang Po wird über die Einsicht als ein plötzliches, wortloses Verstehen gesprochen. Diese Art der Intuition ist von einer Gewißheit erfüllt, da sie nicht das Ergebnis eines Denkvorgangs oder einer Vorstellung ist, sondern vielmehr ein plötzliches, klares Erkennen des So-Seins der Dinge.

Während der Übung, wie verhält sich da das Benutzen des Geistes zum Prüfen und Erforschen zu allgemeiner Bewußtheit?

Bei manchen Arten der Einsichtsentwicklung wird eine gerichtete Bewußtheit benutzt. Wir können die Aufmerksamkeit auf diverse Aspekte des Vorgangs richten, etwa auf Körperhaltungen, Körperempfindungen oder Gedanken, als ein Weg, um ein bestimmtes Gebiet zu erforschen. Aber auch eine gerichtete Bewußtheit ist, sowie sie auf einem Gebiet ausgebildet ist, wirklich allgemeiner Art. Man entspannt sich und betrachtet, was geschieht, ohne zu werten, ohne Anhaften und Verurteilen. Manche sind sehr zaghaft beim Üben, sie suchen ständig nach Anweisungen, sie haben Angst, einen Fehler zu machen. Einsicht kommt durch Achtsamkeit, und entweder sind wir uns bewußt, was geschieht, oder nicht. Es ist unmöglich, auf falsche Art und Weise achtsam zu sein. Trainieren Sie den Geist, üben Sie Ihre Fähigkeit des Erforschens. Seien Sie äußerst achtsam darauf, wie Gedanken aus dem Nichts aufsteigen und in das Nichts verschwinden. Oder untersuchen Sie einen Schmerz, gehen Sie in ihn hinein. Trainieren Sie den Geist frei von Angst und in stiller Bewußtheit, denken Sie dabei nicht an Dinge. Der Geist kann sehr geschmeidig werden. Wenn Sie töpfern, wird der Ton durch das Bearbeiten weich und formbar. Wenn Bewußtheit und Sammlung entwickelt sind, besitzt der Geist auch diese Gestaltbarkeit und Flexibilität. Erforschen Sie alle Aspekte des geistig-körperlichen Vorgangs. Als ich in Indien war, wohnte ich im zweiten Stock eines Ashrams. Ich ging viele Male am Tag die Stufen hinauf und hinunter, jedesmal erforschte ich den Vorgang des Treppensteigens, wie sich die Kniee beugten, wie das Gewicht sich verlagerte. Es ist ein interessanter Vorgang. Bei allem, was Sie tun, sollte diese Art von Interesse vorhanden sein. Betrachten und erforschen Sie, wie die Dinge geschehen. Und dann wieder sitzen Sie bloß und tun nichts, üben die allgemeine Bewußtheit und betrachten die natürliche Entfaltung.

Wie fing dieser ganze Vorgang des Geistigen und Körperlichen an?

Es gibt eine Geschichte über einen Mann, der von einem giftigen Pfeil getroffen worden war. Seine Freunde kamen mit einem Arzt und wollten den Pfeil entfernen und die Wunde behandeln. Aber der Mann sagte: "Nein, ihr könnt ihn

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nicht herausnehmen, ich muß erst wissen, wer den Pfeil abschoß und woher er kam und aus welcher Baumart der Schaft des Pfeiles geschnitzt worden ist und von welchem Vogel die Pfeilfedern stammen." Ganz sicher würde dieser Mann sterben, bevor all seine Fragen beantwortet wären. Auch der Buddha sagte, daß eine Menge philosophischer Spekulationen über den Ursprung der Welt, den Ursprung des Universums, darüber, wie alles begann dem Manne gleiche, der von dem giftigen Pfeil getroffen worden war. Wir befinden uns in einer bestimmten Schwierigkeit; es ist die Schwierigkeit, ein Geist-Körper zu sein, der oft voller Ärger und Gier, Unwissenheit und Schmerz ist. Unsere Aufgabe ist es, den Pfeil zu entfernen, den Geist von diesen Eigenschaften zu reinigen und uns vom Leiden zu befreien. Die wichtigsten Fragen sind die, die sich auf das was wir im Moment erfahren, beziehen.

Warum steigt Gier auf?

Wenn wir etwas Angenehmes sehen, wollen wir es ergreifen, weil wir die Vergänglichkeit von allen Dingen nicht verstehen. Sobald wir achtsam werden, auf das achten, was geschieht, und sehen, wie alles aufsteigt und vergeht, werden Anhaften und Gier schwächer. Es gibt nichts, an das wir uns halten können. Es sind alles nur Seifenblasen. Durch die Erfahrung der Vergänglichkeit, das Auflösen aller kompakten Dinge entsteht das Loslassen, erreichen Sie den Zustand des Nicht-Haftens. Dies alles entsteht durch ständige Bewußtheit und Unfehlbarkeit.

Es ist anregend, ein Kämpfer zu werden. Es gibt niemanden, der es für uns tun kann. Jeder muß es für sich selber tun. Seien Sie in jedem Augenblick bewußt, achten Sie ganz und ausschließlich auf das, was geschieht. Es gibt nichts Mystisches dabei, es ist sehr einfach und direkt und geradeaus; aber es muß getan werden. Und das ist Meditation.

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Elfter Morgen - Das Konzentrationsspiel

Heute wollen wir ein Spiel machen. Es heißt das Konzentrationsspiel. Die Regeln sind folgende: Während der nächsten Stunde zählen Sie bitte "eins" bei jeder Ausatmung. Die nächste Ausatmung: zwei; bis zu zehn. Und lassen Sie keine Ausatmung aus. Bei jeder Ausatmung oder bei jedem Senken der Bauchdecke zählen Sie eine Zahl. Wenn Sie einmal das Zählen auslassen, weil Sie vergessen haben, bei welcher Zahl sie waren, müssen Sie zurück zu eins. Wenn Sie einmal das Zählen auslassen, weil Ihre Gedanken wandern und Ihr Geist nicht auf den Atem gerichtet ist - zurück zu eins. Ignorieren Sie alles andere.

Es gibt einige Dinge, die eintreten können. Die Atmung kann unregelmäßig werden, schnell oder langsam, flach oder tief. Bleiben Sie dabei. Eins bis zehn. Dann wieder von vorn. Es mag sein, daß Ihr Geist nach fünf Minuten denkt: "Dies ist dumm, ich werde nicht eine Stunde hier sitzen und bis zehn zählen." Zählen Sie weiter. Und falls Sie gerade wegen dieses Gedankens eine Ausatmung nicht wahrnehmen, zurück zu eins. Es mag sein, daß alle möglichen Schmerzen und Spannungen im Körper aufsteigen. Kümmern Sie sich nicht darum. Eins bis zehn. Dies ist der Weg, um ganz besonders den Geistesfaktor Einspitzigkeit zu stärken, den Geist zu trainieren, auf ein einziges Objekt gerichtet zu bleiben. Falls Sie dieses Spiel als nützliche Übung empfinden, können Sie es zeitweise beim Sitzen ausführen.

Zwölfter Abend - Die drei Pfeiler des Dharma:

Parami

Den Dharma zu üben und zu verstehen ist ein seltenes und kostbares Ding. Wenigen Menschen in der Welt ist es vergönnt. Die meisten Menschen drehen sich im Kreise, von Unwissenheit und Begehren getrieben, ohne zu wissen, daß es eine Möglichkeit gibt, dem Rad des Samsara, dem Rad von Gier und Haß zu entrinnen. Die Gelegenheit zum Üben entsteht wegen etwas, das im Pali "Parami" genannt wird. Parami ist die angesammelte Kraft der Reinheit im Geiste. Jeder Bewußtseinsmoment, der frei von Gier, Haß und Nichtwissen ist, übt eine reinigende Kraft auf das Fließen des Bewußtseins aus; während unserer vielen

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Wiedergeburten haben wir viele Kräfte der Reinheit in unserem Geist gesammelt.

Manchmal wird das Wort Parami etwas vage mit 'Verdienst' übersetzt. Dies wird aber leicht als Sammeln goldener Orden für gute Taten mißverstanden. Vielmehr ist Parami die Kraft der Reinheit im Geiste. Wenn eine große Anhäufung der Faktoren Gierlosigkeit, Haßlosigkeit und Wissen vorhanden ist, werden die Parami kraftvoll und haben alle Arten des Glücks zur Folge, angefangen von weltlichen Sinnenfreuden bis zur höchsten Glückseligkeit der Erleuchtung. Nichts geschieht zufällig oder ohne Grund.

Es gibt zwei Arten von Parami: die Reinheit der Sittlichkeit und die Reinheit der Weisheit. Die Kräfte der Reinheit, die in Zusammenhang mit Rechter Sittlichkeit stehen, verursachen eine frohe Umgebung, angenehme Lebensbedingungen, gute Beziehungen und die Gelegenheit, den Dharma zu hören. Zum Beispiel war das Zustandekommen dieses Seminars kein Zufall, es geschah, weil starke Kräfte der Reinheit in jedem von uns wirkten.

Die andere Art der Parami, die Reinheit des Wissens, entsteht durch das Üben des Rechten Verstehens und ermöglicht das Wachsen der Einsicht. Beide Arten von Parami, beide Kräfte der Reinheit, müssen entwickelt werden, damit wir die Möglichkeit haben, den Dharma zu praktizieren und dann die Wahrheit zu verstehen.

Es gibt drei Pfeiler des Dharma, drei Wirkensgebiete, welche die Paramis entwickeln und stärken. Der erste ist Freigebigkeit. Geben ist die aktive Auswirkung des Geistesfaktors Gierlosigkeit. Gierlosigkeit bedeutet loslassen, nicht anklammern, nicht ergreifen, nicht anhaften. Jedesmal wenn wir etwas mit jemandem teilen oder etwas verschenken, wird dieser heilsame Faktor gestärkt, bis er eine machtvolle Kraft in unserem Geiste wird. Buddha sagte, daß wir, wenn wir wie er die Früchte des Gebens kennen würden, kein Mahl einnehmen würden, ohne es mit jemandem zu teilen.

Das karmische Ergebnis der Freigebigkeit sind Überfluß und tiefe, harmonische Beziehungen zu anderen Menschen. Das, was wir haben, mit anderen zu teilen, ist eine schöne Art der Beziehung zu anderen, und unsere Freundschaften werden durch Freigebigkeit erhabener. Noch wichtiger ist, daß die Entwicklung der Gierlosigkeit eine starke Kraft für die Befreiung wird. Begehren und Anhaften in unserem Geist hält uns gefesselt. Wenn wir Geben üben, lernen wir loszulassen.

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Man sagt, es gibt drei Arten von Gebenden. Die ersten sind geizige Geber. Sie geben erst nach langem Zögern, und dann auch nur das Übriggebliebene, das Schlechteste, was sie haben. Sie denken: "Soll ich geben oder nicht? Vielleicht ist es auch zu viel?'' Und trennen sich schließlich von etwas, das sie gar nicht mehr haben wollen.

Freundliche Geber sind Menschen, die etwas geben, das sie selbst gebrauchen. Sie teilen das, was sie haben, und mit weniger Hin- und Herüberlegen, mit mehr Großzügigkeit.

Die höchste Art der Geber sind königliche Geber, die ihr Allerbestes geben. Sie teilen spontan und im Augenblick, ohne darüber nachdenken zu müssen. Geben ist der natürliche Ausdruck ihrer Natur. Gierlosigkeit ist so ausgeprägt in ihrem Geist, daß sie bei jeder Gelegenheit das am meisten Geschätzte in leichter und liebender Weise teilen.

Manchen Menschen fällt das Geben schwer; der Gierfaktor ist stark und das Anhaften sehr ausgebildet. Anderen fällt Freigebigkeit leicht. Es macht nichts. Von wo wir auch beginnen, wir fangen einfach an zu üben. Jede Tat der Freigebigkeit wird den Gierfaktor langsam schwächen. Offen alles teilen ist eine gute Art, in dieser Welt zu leben, und durch Übung können wir königliche Geber werden.

Es gibt zwei Arten des Bewußtseins, die bei unserem Tun beteiligt sind. Die eine heißt "vorbereitetes Bewußtsein" das ist der Geist, der überlegt und bedenkt, bevor er handelt. Die andere heißt "unvorbereitetes" und ist sehr spontan. Wenn eine bestimmte Handlung eingeübt ist, besteht nicht mehr die Notwendigkeit zum Nachdenken. Im Augenblick, ganz spontan, wird dies unvorbereitete Bewußtsein einsetzen. Durch Übung entwickeln wir die Art des Bewußtseins, wo Geben der natürliche Ausdruck des Geistes wird.

In einem seiner früheren Leben kam Buddha (als er noch ein Bodhisattva war, ein Wesen, das der Erleuchtung entgegengeht) auf die Spitze eines Felsens und sah eine Tigerin mit zwei Jungen. Die Tigerin war krank und hatte keine Milch, um ihre Jungen zu ernähren. Aus Mitleid mit der Tigerin und ihren Jungen, ohne Gefühl für oder Verhaftung an seinen eigenen Körper, warf er sich als Futter für die Tigerin vom Felsen, so daß sie kräftig werden würde und Milch für ihre Jungen hätte. Eine sehr königliche Gabe.

Es mag sein, daß wir nicht diese Höhen der Selbstlosigkeit erreichen, aber die Geschichte zeigt den Weg: die Entwicklung von Freigebigkeit aus Mitgefühl und Liebe zu allen anderen Wesen. In vielen Reden drängte der Buddha die Menschen dazu, das Geben zu üben, bis es ein müheloser Ausdruck des Verstehens werde.

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Freigebigkeit ist eine große Parami; sie wird als erste in der Liste der Vollkommenheiten des Buddha geführt. Und wenn sie entwickelt ist, wird sie ein Anlaß zu großem Glück in unserem Leben.

Der zweite Pfeiler des Dharma oder Bereich des reinigenden Wirkens ist sittliche Zurückhaltung. Für Menschen, die in der Welt stehen und einen Haushalt führen, bedeutet dies, die fünf grundlegenden Sittenregeln einzuhalten nicht töten, nicht stehlen, kein sexuelles Fehlverhalten begehen, keine falsche Rede führen und keine Rauschmittel nehmen die den Geist vernebeln und abstumpfen.

Alle Wesen wollen leben und glücklich sein, alle Wesen wollen frei von Schmerz sein. Das Leben zu erhalten, ist ein viel hellerer Geisteszustand, als es zu zerstören. Wir fühlen uns besser, wenn wir ein Insekt vorsichtig aus unserem Haus entfernen und es hinaus lassen, als wenn wir es töten. Wir sollten Ehrfurcht vor allen Lebewesen haben.

Nicht stehlen bedeutet, nichts zu nehmen, was uns nicht gegeben wird.

Das Vermeiden von sexuellem Fehlverhalten kann man leicht so kennzeichnen: Abstehen von sinnlichen Taten, die anderen Schmerz und Pein bereiten oder Aufregung und Unruhe bei uns selbst verursachen.

Abstehen von falscher Rede bedeutet nicht nur, die Wahrheit zu sagen, sondern auch das Vermeiden von unnötigen und dummen Gesprächen. Viel von unserer Zeit wird mit Geschwätz verbracht. Dinge steigen im Geiste auf, und wir reden darüber, ohne ihre Nützlichkeit zu bedenken. Zurückhaltung beim Reden ist sehr hilfreich, um den Geist friedlich zu machen. Keine rohe und häßliche Rede. Unsere Redeweise sollte gütig sein und Harmonie und Einheit unter den Menschen fördern.

Wenn Sie auf dem Pfad der Erleuchtung gehen, der Freiheit und Geistesklarheit entgegen, ist es nicht sehr sinnvoll, Dinge zu nehmen, die den Geist vernebeln und ihn abstumpfen. Es geschieht auch oft, daß rauschbedingte Sorglosigkeit unsere Absicht, die anderen Sittenregeln einzuhalten, schwächt.

Wichtigkeit und Wert der Sittenregeln gilt auf vielen Ebenen. Sie sind ein Schutz für uns, ein Schutz gegen das Entstehen unheilsamen Karmas. Alle diese Taten, von denen wir abstehen, enthalten als Antrieb entweder Gier, Haß oder Nichtwissen und bewirken karmisch weitere Schmerzen und Leiden. Während die Achtsamkeit noch entwickelt wird und sie manchmal nicht sehr ausgeprägt ist, wird der Entschluß, die Sittenregeln zu befolgen, als Erinnerung dienen, wenn wir etwa eine unheilsame Tat begehen wollen Zum Beispiel, Sie wollen eine Mücke

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töten, die Hand ist bereits erhoben, und gerade in diesem Moment wird die Kraft der Sittenregel, vom Töten abzustehen, einsetzen und der Anlaß zu größerer Bewußtheit werden.

Unheilsame Taten verursachen im Augenblick der Ausführung eine Bedrückung und Verfinsterung des Geistes. Jede heilsame Handlung, jedes Abstehen von unheilsamen Taten bringt Helle und Klarheit. Wenn Sie den Geist bei seinen verschiedenen Tätigkeiten betrachten, beginnen Sie zu fühlen, daß jede Tat, die auf Gier, Haß und Nichtwissen beruht, eine Bedrückung hervorruft. Wenn wir diese Sittenregeln als Lebensregeln einhalten, bleiben wir hell und der Geist wird offen und klar; so wird unser Leben weniger kompliziert und leichter. Auf dieser Ebene des Verstehens nehmen wir die Sittenregeln nicht als Gebote, sondern richten uns nach ihnen wegen ihrer Auswirkungen auf unsere Lebensqualität. Es gibt kein Gefühl des Zwanges dabei, da sie der natürliche Ausdruck eines klaren Geistes sind.

Auf dem geistigen Pfad haben die Sittenregeln eine noch tiefere Bedeutung. Sie befreien den Geist von Gewissensbissen und Beklemmung. Schuldgefühle wegen früherer Taten sind nicht sehr hilfreich, sie halten den Geist in Unruhe. Durch grundlegende Reinheit der Taten in der Gegenwart wird der Geist leichter ruhig und einspitzig. Ohne Sammlung ist Einsicht unmöglich. Und so wird aus der Grundlage der Sittlichkeit die Grundlage der geistigen Entwicklung.

Der dritte Bereich des reinigenden Wirkens ist Meditation. Meditation ist in zwei Hauptrichtungen unterteilt. Die erste ist die Entwicklung der Sammlung, die Fähigkeit des Geistes, auf ein Objekt gerichtet zu bleiben, ohne zu wanken oder abzuirren. Wenn der Geist gesammelt ist, entsteht eine starke Durchdringungskraft. Ein zerstreuter Geist kann nicht in die wahre Natur von Geist und Körper eindringen. Ein bestimmter Grad von Einspitzigkeit ist für die Entwicklung der Weisheit notwendig. Aber Sammlung allein ist nicht genug. Diese starke Geisteskraft muß zum Verständnis eingesetzt werden, das die zweite Art der Meditation ist, die Entwicklung der Einsicht. Das bedeutet, klar den Ablauf der Dinge zu erkennen, die wahre Natur aller Dharmas. Alles ist vergänglich und in Bewegung, von Augenblick zu Augenblick aufsteigend und vergehend. Bewußtsein, das Objekt, alle die verschiedenen Geistesfaktoren, der Körper: alle Erscheinungen haben Teil am Fluß der Vergänglichkeit. Wenn der Geist klar ist, erfährt er den ständigen Wechsel bis ins Kleinste: von Augenblick zu Augenblick werden wir geboren und sterben. Es gibt nichts, an das Sie sich halten können, nichts, das Sie ergreifen können. Kein Geisteszustand oder Körper, keine Situation außerhalb von uns kann ergriffen werden, da sich alles in jedem Moment verändert. Die Entwicklung der Einsicht bedeutet, den Fluß der Vergänglichkeit in uns zu erfahren, damit wir beginnen, loszulassen und uns nicht so verzweifelt an geistig-körperliche Phänomene klammern.

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Die Erfahrung der Vergänglichkeit führt zum Verständnis des dem geistig-körperlichen Vorgange innewohnenden Unbefriedigtseins: unbefriedigend in dem Sinne, daß er nicht in der Lage ist, ein dauerndes Glück zu vermitteln. Wenn wir glauben, daß der Körper der Anlaß zu unserem dauernden Frieden, zu Glück und Freude sein wird, dann erkennen wir nicht die unweigerliche Auflösung, die eintreten wird. Wenn wir älter und krank werden, verfallen und sterben, werden die Menschen, die stark am Körper haften, sehr zu leiden haben. Bei allen Dingen, die aufsteigen, ist der Verfall innewohnend. Alle Elemente der Materie, alle Elemente des Geistes steigen auf und schwinden dahin.

Das dritte Merkmal aller Dinge, welches durch die Entwicklung von Einsicht und Bewußtheit sehr klar erkannt wird, ist, daß es in all dem Fließen der Dinge kein "Ich", kein "Selbst" oder "Meiniges" gibt. Es fließen nur unpersönliche Phänomene dahin, leere Erscheinungen, ohne ein Selbst. Es gibt dahinter keine Entität, die das alles erfährt. Der Erfahrende, der Wissende, ist selbst ein Teil des Vorganges. Bei der Entwicklung der Einsicht durch die Übung der Achtsamkeit werden diese drei Merkmale erkennbar.

Stellen Sie sich vor, Sie haben einen Teich voller Unkraut. Sittliche Zurückhaltung üben ist so, als ob Sie zum Teich gehen und das Unkraut zur Seite schieben, um eine Handvoll Wasser zu trinken. Das Unkraut ist immer noch da, und wenn Sie Ihre Hand zurücknehmen, drängt es zurück und bedeckt den Teich wieder. In den Augenblicken der Sittlichkeit ist der Geist rein, sobald wir aber nachlässig werden, sind die Befleckungen sofort wieder da. Wenn Sie ein Gitter in dem Teich errichten, das das Unkraut auf der Außenseite hält, wird das Wasser innerhalb desselben klar zum Trinken sein, solange das Gitter da ist. Aber das Unkraut ist immer noch an der Außenseite vorhanden, und wenn das Gitter entfernt wird, gelangt es wieder überall hin. Das ist wie die Kraft der Sammlung im Geiste. Sie unterdrückt alle Befleckungen. Einsicht oder Weisheit ist so, als ob Sie zum Teich gehen und das Unkraut entfernen: Sie entfernen es Stück für Stück, bis der ganze Teich sauber ist. Wenn es auf diese Weise entfernt wird, wird es nicht zurückkommen. Einsicht ist ein Reinigungsprozeß wenn alles Negative in unserem Geist betrachtet, untersucht und schließlich ausgerissen worden ist, dann steigt es nicht mehr auf.

Weisheit ist der Höhepunkt des geistigen Pfades, der mit dem Üben der Freigebigkeit, der sittlichen Zurückhaltung und der Entwicklung der Sammlung beginnt. Auf dieser Grundlage der Reinheit entsteht durchdringende Einsicht in die wahre Natur des Geistigen und Körperlichen. Wenn wir im Moment völlig bewußt sind, wird alles, was sich in unserem Geist angesammelt hat, an die Oberfläche kommen. Alle Gedanken und Emotionen, alles Übelwollen, alle Gier und alles Begehren, alle Lust, alle Liebe, alle Energie, alles Vertrauen und alle Freude, alles, was es in unserem Geist gibt, beginnt in die bewußte Ebene zu

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dringen. Durch die Übung der Achtsamkeit, des Nichtanhaftens, Nichtwertens, dadurch, daß wir uns mit nichts mehr identifizieren, wird der Geist heller und freier.

Buddha gab einen Hinweis auf die relative Kraft der verschiedenen Parami-Bereiche. Er sagte, daß die Kraft der Reinheit des Gebens durch die Reinheit des Empfängers erhöht wird. Aber viel kraftvoller als sogar eine Gabe an den Buddha oder den ganzen Orden erleuchteter Mönche und Nonnen ist es, den Gedanken der Güte mit gesammeltem Geist zu üben. Doch noch kraftvoller als die Entwicklung des Gütegedankens ist das klare Erkennen der Vergänglichkeit aller Erscheinungen, weil dieser Einblick in die Vergänglichkeit der Anfang der Freiheit ist.

Eine Zeitlang verschenkte ich zu viel. Ich fühlte mich ausgelaugt durch das Geben. Könnten Sie etwas über die Art des Gebens sagen, wenn es zu solchen Gefühlen führt?

Wir befinden uns alle auf verschiedenen Ebenen. Wir sind nicht alle auf der Ebene des Bodhisattva, der sein Leben gab, um die Tigerin und ihre Jungen zu füttern. Sie haben vielleicht manchmal einen Impuls, etwas ähnliches zu tun, und es folgen dann viele Augenblicke des Bedauerns. Das ist nicht heilsam. Wir müssen genau erkennen, wo wir uns im Moment befinden, und die Freigebigkeit entwickeln, die dem entspricht. Sie wächst. Das Geben wird durch das Üben immer spontaner. Und wenn es sich in dieser Ausgewogenheit entwickelt, dann ist es auch voller Harmonie, und es folgt kein Bedauern.

Die Sittenregeln können eine Anleitung auf einer bestimmten Stufe sein, aber besteht nicht die Gefahr des Anhaftens? Können sie nicht Hemmungen werden, weil sie Vorstellungen sind? Es mag Handlungen geben, die aus Mitleid entstehen, aber gegen die Sittenregeln verstoßen, wie lügen, um jemandem zu helfen. Was passiert, wenn die Sittenregeln und die Eingebung in Konflikt geraten?

Alle diese Gebiete des reinigenden Wirkens sollten Sie so verstehen, daß die Geistesfaktoren, die sie fördern, wichtiger sind als das Handeln selbst. Wenn wir aus Mitleid handeln, dann ist es heilsam. Aber manchmal befinden wir uns nicht in einer Bewußtheit, wo wir alle Faktoren, die bei jeder Tat mitspielen, überblicken können. Bis wir die Stufe der Entwicklung erreichen, wo wir wirklich jeden Aspekt der Motivation unseres Handelns durchschauen, wo wir feststellen können, ob es heilsam ist oder unheilsam, sind die Sittenregeln eine sehr nützliche Richtschnur. Ein Mönch kam einmal zum Buddha und sagte, er könne nicht die mehr als zweihundert Regeln für die Mönche behalten, noch viel

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weniger nach ihnen leben. Buddha fragte: "Kannst du dich an eine Regel erinnern?" Der Mönch sagte, er glaube, er könne dies. Der Buddha sagte: "Sei achtsam." Alles andere kommt aus dieser Bewußtheit. Wenn Sie achtsam sind, entsteht die rechte Tat immer von selbst.

Ich sehe einen Konflikt daraus entstehen, daß man versucht, ein königlich Schenkender zu sein, und gleichzeitig sich abgesichert in dieser Welt fühlen möchte.

Die Entwicklung des königlichen Gebens heißt nicht notwendigerweise, daß wir hinausgehen und alles verschenken. Es bedeutet, mit großer Aufgeschlossenheit, der Situation entsprechend, zu geben. Wir haben eine bestimmte Verpflichtung uns selbst gegenüber, unsere Sachen zusammenzuhalten, damit wir die Übungen fortsetzen und die Erleuchtungsfaktoren entwickeln können. Die Art des Gebens hängt sehr von der Reife des Geistes ab. Sie sollten sich kein Bild davon machen, wie Sie geben sollten, und dann versuchen, danach zu leben. Nehmen Sie nur im gegenwärtigen Augenblick die Gelegenheit dazu wahr, den Faktor der Gierlosigkeit zu entwickeln. Es ist nicht schwierig, lassen Sie ihn sich von selbst entfalten. Wenn Sie an den Punkt kommen, wo Sie bereit sind, sich in den Abgrund zu stürzen, um die Tiger zu füttern, werden Sie es auch tun.

Mir ist das Nichtlügen nicht ganz klar. Wenn Sie etwas nicht in Worte kleiden, das Sie gerade denken, aber der Situation entspricht und wahr scheint, ist das Lügen?

Es gibt Dinge, die wahr sein können, eine richtige Wahrnehmung, die aber keine Hilfe für einen anderen Menschen bedeuten, weil er nicht in einer Lage ist, diese zu hören. Wir sollten die Wahrheit sagen, wenn es nützlich ist. Es ist schön und friedlich, in der Stille des Geistes zu verweilen. Aber das bedarf großer Achtsamkeit; wir sind ja an ständiges Reden gewöhnt. Die Worte strömen heraus, bevor wir gemerkt haben, daß wir die Absicht hatten zu sprechen. Es geschieht alles sehr mechanisch. Aber wenn die Achtsamkeit schärfer wird, beginnen wir, vor dem Reden bewußt zu sein - die Absicht zu sprechen steigt auf, und wir achten darauf. Dann können wir auch beurteilen, ob es wahr und gleichzeitig auch nützlich ist.

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Dreizehnter Abend - Johannes vom Kreuz / Franz

von Sales

In den Schriften einiger christlicher Mystiker finden wir Lehren, die auf unsere Übungen anwendbar sind. Aus dem Werk des heiligen Johannes vom Kreuz:

Es liegt nicht am mangelnden Willen, daß ich bisher nicht schrieb, denn fürwahr wünsche ich dir alles Gute; eher scheint es mir, daß bereits genug gesagt worden ist über das Notwendige, und das Fehlende (falls wirklich etwas fehlt) bedarf nicht der Briefe oder Gespräche - wovon es meist mehr als genug gibt -, sondern der Stille und Arbeit. Während Sprechen verwirrt, sammeln Stille und Arbeit die Gedanken und stärken den Geist. Sobald ein Mensch begreift, was ihm zu seinem Wohle gesagt worden ist, besteht für ihn keine Notwendigkeit mehr zum Zuhören oder Diskutieren; er muß ehrlich damit beginnen, dasjenige in Stille und Aufmerksamkeit zu verwirklichen, was er gelernt hat.

Die Aufgabe, die wir uns gestellt haben, ist nicht leicht, diese Schulung und Läuterung des Geistes. Es bedarf großer Geduld und Beharrlichkeit. Es geschieht nicht von selbst. Aber mit sanftem Beharren ist es möglich. Der heilige Franz von Sales schrieb:

Wenn Ihr Herz in die Irre geht oder sich abwendet, führen Sie es sachte zum Punkt der Betrachtung zurück... Und wenn Sie während Ihrer ganzen Stunde nichts anderes tun, als ganz sachte Ihr Herz wieder in die Hände zu bekommen, auch wenn es sich immer wieder abwenden möchte, sooft Sie es dorthin zurückbringen, so wäre Ihre Stunde doch gut angewendet.

Lassen Sie sich durch wandernde Gedanken und Tagträume nicht entmutigen. Jedesmal wenn Sie sich bewußt werden, daß der Geist abweicht, bringen Sie ihn sachte wieder zur Atmung oder den Empfindungen zurück. Ganz gleich, wie oft dies geschieht, wenn Sie jedesmal den wandernden Geist zurückbringen, ist die Stunde wohl verbracht. Seien Sie behutsam zu sich selbst. Bleiben Sie beharrlich. Wenn Sie es auch nicht bemerken, so findet doch eine große Verwandlung statt. Es ist wie eine Frucht, die am Baume reift. Wenn die Sonne darauf scheint, reift die Frucht, auch wenn Sie den Vorgang von einem Tag zum anderen nicht bemerken können. In der gleichen Weise gehen die Veränderungen und der Reifeprozeß in unserem eigenen Geist vor sich. Und wie der heilige Johannes vom Kreuz sagte, in Schweigen und Arbeit wird diese Veränderung zur Vollendung gebracht.

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Vierzehnter Abend - Die Vier Edlen Wahrheiten

Es gibt so viel Leiden in der Welt. Jeden Tag gibt es Millionen Menschen, die nicht genug zu essen haben, die den Schmerz des Hungers erleiden. Es gibt Millionen Menschen in der Welt, die nicht genug Kleidung haben oder kein Dach über dem Kopf, sie erleben das Leiden durch Kälte, Regen und Hitze. Es gibt so viele Millionen, die den Schmerz der Krankheit erleiden, sogar wenn es Heilmittel gibt, weil es ihnen nicht möglich ist, irgendeine Art der Behandlung zu bekommen. Es gibt die Leiden der Geburt. Den Schmerz der Mutter. Noch mehr Schmerz für das Kind, das geboren wird, das durch eine enge Öffnung gepreßt wird und die verletzenden Elemente der Außenwelt zu spüren bekommt. Der Körper wird krank, er wird elend, er wird alt und gebrechlich. Der Schmerz des Todes.

Es gibt so viele Wesen auf dieser Welt, die sich hilflos in den Händen von Feinden befinden, in den Händen von Menschen, die ihnen ein Leid zufügen wollen. In vielen Ländern werden gerade jetzt Gefangene brutal mißhandelt. Es gibt die Gewaltsamkeit des Krieges. Männer und Frauen, die genau wie wir Empfindungen haben, stehen hilflos dem Leiden gegenüber, unfähig etwas dagegen zu tun. Wir sind schon oft in derselben Situation gewesen, oft wird es uns noch in zukünftigen Leben geschehen. Eine kleine Umdrehung des karmischen Rades, und wieder sind wir solche Menschen. In unserem physischen Körper ist das Leiden im Keime enthalten. Wie oft haben wir das schon erfahren, und wie oft werden wir es noch erfahren?

Die materiellen Elemente unseres Körpers werden die vier großen Hauptelemente genannt. Sie werden wegen ihrer zerstörenden Kraft groß genannt. Die gleichen vier Elemente, aus denen unser Körper besteht, bilden auch die Erde und die Sonne, die Planeten und die Sterne. Es sind die gleichen Elemente, die wir in unserem Körper erfahren, die durch den Ablauf ihrer natürlichen Bedingungen verantwortlich sind für die Entstehung und Zerstörung ganzer Sonnensysteme und Milchstraßen. Die Macht dieser Elemente ist enorm. Für einen kurzen Zeitraum befinden sie sich in einer Art Gleichgewicht. So vergessen wir und erkennen nicht die ungeheure zerstörende Kraft, die ihnen innewohnt, bis sie, ihrer eigenen Natur folgend, aus dem Gleichgewicht kommen und Verfall verursachen, die Auflösung des Körpers, großes Leiden und Tod. Wir sind wie Kinder, die in einem brennenden Haus spielen. Kinder, die mit Spielzeug spielen, der momentanen Freude hingegeben, des Feuers um sie herum nicht achtend. Aber der Himmel ist gütig, er schickt seine Boten, um vor der Gefahr zu warnen, um auf Schmerz und Leid ringsherum zu zeigen:

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Sahst du nie unter den Menschen eine Frau oder einen Mann im Alter von achtzig, neunzig oder hundert Jahren, abgelebt, gekrümmt wie ein Dachsparren, gebückt, auf eine Krücke gestützt. schlotternden Ganges dahinschleichend, siech, mit verwelkter Jugend, mit abgebrochenen Zähnen und ergrauten Haaren, oder kahl? Und bedachtest du nicht: 'Auch ich bin dem Alter unterworfen, kann dem Alter nicht entgehen'?

Sahst du nie unter den Menschen eine Frau oder einen Mann, krank, elend, schwerleidend, sich im eigenen Kot und Urin herumwälzend, die von dem einen aufgehoben, von einem anderen wieder niedergelegt wurden? Und dachtest du nicht: 'Auch ich bin der Krankheit unterworfen, kann der Krankheit nicht entgehen'?

Sahst du nie unter den Menschen eine Frau oder einen Mann einen oder zwei oder drei Tage nach dem Tode, aufgeschwollen, blauverfärbt, mit Eiter bedeckt? Und dachtest du nicht: 'Auch ich bin dem Tod unterworfen, kann dem Tode nicht entgehen'?

Wir alle unterliegen genau denselben Dingen. Tod ist nicht nur für einige da und verschont andere. Er ist das Ende für uns alle. Dieser Tatsache können wir uns nicht verschließen.

Es gibt die Leiden des Geistes. Depression. Verzweiflung. Angst. Sorge. Ärger. Haß. Furcht. Lust. Kummer. Wie lange bleiben wir gebunden an diese lange Runde der Wiedergeburten, weiterhastend, getrieben durch Unwissenheit und Begehren? Das Leid dieser Endlosigkeit, jeden Morgen zu erwachen und Farben, Gerüche, Töne, Empfindungen und Gedanken wahrzunehmen, in endloser Wiederholung. Wir gehen durch den Tag, wir gehen schlafen, und wir erwachen und erleben die gleichen Farben und Geräusche und Gerüche und Geschmäcke und Empfindungen und Gedanken, immer und immer wieder.

Unausdenkbar ist ein Anfang dieser Daseinsrunde, nicht zu entdecken ein Beginn der von Unwissenheit gehemmten und von Begehren gefesselten Wesen, die immer wieder den Samsara durcheilen, durchwandern. Was glaubt ihr, was ist wohl mehr: Der Tränenstrom, den ihr auf dieser langen Daseinsrunde, mit Unerwünschtem vereint und von Erwünschtem getrennt, klagend und weinend vergossen habt, oder das Wasser der vier Weltmeere? Lange Zeiten hindurch habt ihr den Tod von Mutter und Vater, Sohn und Tochter erfahren, den Verlust von Verwandten und Schätzen erfahren, das Unglück der Krankheit erfahren. Und dabei habt ihr mehr Tränen vergossen, als sich Wasser in den vier Weltmeeren befindet. So habt ihr denn lange Zeiten hindurch Leiden erfahren, Qualen erfahren, Unglück erfahren und das Leichenfeld vergrößert, wahrlich genug, um sich von allen Daseinsgebilden abzuwenden, loszulösen und zu befreien.

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Wie Kinder, die in einem brennenden Haus mit Spielzeug spielen, vermeiden wir es, Schmerz und Leid in unserem Leben zu sehen. Wir schieben die Alten und Kranken in Heime ab, damit wir ihre Leiden nicht sehen müssen. Wir jagen die Bettler von der Straße, damit wir die Qual der Armut nicht sehen müssen. Wir verkleiden die Leichen, als ob sie zu einem Ball gingen, um nicht das Antlitz des Todes sehen zu müssen. Die erste Edle Wahrheit der Erleuchtung Buddhas ist die Wahrheit vom Leiden. Es hat keinen Zweck so zu tun, als ob sie nicht existiere. Ganz gleich, wie wir alles verdecken, der Körper wird alt und krank werden. Er wird sterben. Ganz gleich, wieviel Zerstreuung wir uns gönnen, es wird Ärger und Übelwollen und Frustration und Sorge und Spannung geben. Wir brennen vor Ärger, wir brennen aus Verlangen. Die erste Edle Wahrheit, die Wahrheit vom Leiden.

Buddha ging weiter. Er zeigte die Wahrheit vom Leiden und erklärte auch die Gründe dafür. Was ist es, das uns an dieses Rad des Leidens fesselt? Buddha erkannte, daß diese Fessel sich in unserem eigenen Geist befindet, es ist die Fessel des Anhaftens. Wir befinden uns auf diesem Rad der Schmerzen, weil wir uns aus Unwissenheit daran klammern.

Es gibt vier große Anhaftungen, die uns an das Rad gebunden halten. Die erste ist unser Haften an Sinnenlust. Ständig suchen wir bezaubernde Töne und Anblicke, betörende Düfte, köstliche Geschmäcke und angenehme Körperempfindungen. Das endlose Suchen nach momentanen bruchstückhaften Freuden. Sie ziehen uns an, als ob sie unsere Probleme lösen könnten, als ob sie dem Leiden ein Ende setzen könnten. Wir leben unser Leben, indem wir auf die nächsten vierzehntägigen Ferien, die nächsten Beziehungen, auf ein neues Objekt, das uns "gehört", warten; wir warten mit Verlangen auf das nächste Glück, das immer gerade außer Reichweite ist.

Es gibt eine Geschichte über Mullah Nasreddin, einen berühmten Sufi-Lehrer. Eines Tages ging er über den Markt und sah einen großen Büschel heißen Chili-Pfeffer zum Verkauf. Er kaufte ihn, ging nach Hause und begann ihn zu essen. Eine Weile später kamen seine Schüler und sahen den Mullah in Tränen, sein Mund und seine Zunge brannten. "Mullah, Mullah, warum essen Sie sie noch? " Als er einen weiteren nahm, sagte Nasreddin: "Ich warte auf einen süßen Pfeffer."

Die zweite große Anhaftung sind unsere eigenen Ansichten und Meinungen. Wir haben so viele Ansichten über Dinge, so viele vorgefaßte Meinungen. Anhaften an Ansichten ist eine sehr große Fessel. Es verhindert, daß wir die Dinge so sehen, wie sie wirklich sind; die Wirklichkeit wird durch die bunte Brille unserer eigenen ganz bestimmten Bedingtheit gefiltert. Als ein großer Meditationsmeister aus Thailand einmal gefragt wurde, welches das größte Hindernis für seine Schüler sei, sagte er: "Meinungen, Ansichten und

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Vorstellungen über alle Dinge, über sich selbst, über die Übung über die Lehren des Buddha. Ihr Geist ist angefüllt mit Meinungen über Dinge. Sie sind viel zu gescheit, um auf andere zu hören. Es ist wie mit Wasser in einer Tasse. Ist die Tasse mit schmutzigem, abgestandenen Wasser gefüllt, ist sie nutzlos. Erst nachdem das alte Wasser weggeschüttet worden ist, ist die Tasse wieder zu gebrauchen. Sie müssen Ihren Geist leer von Meinungen machen, dann werden Sie erkennen."

In dem Sutra des dritten Zen-Patriarchen heißt es: "Suche nicht die Wahrheit. Höre nur auf, Ansichten zu hegen." Wenn wir von diesem Anhaften ablassen, wird sich der ganze Dharma offenbaren. Alles wird da Sein. Wir müssen unsere vorgefaßten Ansichten darüber, wie die Dinge sind, wie wir sie gerne hätten, aufgeben. Wir müssen von dem Anhaften an unseren geliebten Meinungen abkommen. Dies ist die zweite große Fessel, die uns an das Rad des Samsara, das Rad des Leidens, bindet.

Die dritte Art des Anhaftens betrifft Regeln und Riten: das Denken, daß alles in Ordnung sein wird, wenn Sie ein Weihrauchstäbchen oder eine Kerze anzünden. All diese Riten, all diese Zeremonien, die Menschen ausführen in der Hoffnung, eine Kerze oder Weihrauch anzuzünden oder irgendeine Art von Gebet oder ein Mantra zu sprechen werde das Leiden beenden. Auch das Haften an Riten, geistige Selbstgerechtigkeit oder jede Art von geistigem Materialismus sind Behinderungen. Diese Anhaftungen sind eine große Fessel.

Die vierte Bindung und die subtilste, die am stärksten bedingte, ist unser Anhaften an den Glauben an ein Selbst, ein Ich, an etwas, das uns gehört. Der Glaube, daß eine beständige Entität in dem Geistigen und Körperlichen vorhanden ist, die dies alles erfährt. Wegen dieses Glaubens und weil wir das Selbst, das Ich befriedigen wollen, werden wir in alle möglichen unheilsamen Taten verwickelt, alle Arten von Gier und Haß, alle Arten der Unwissenheit, zur Erbauung des Selbst, das nicht einmal vorhanden ist. Unser Anhaften an die Vorstellung eines Selbst ist so groß, daß alles, was wir tun, sich darum dreht, und wir so die Fesseln stärken, die uns an diese Leidensfülle binden.

Die zweite Edle Wahrheit der Erleuchtung Buddhas ist die Ursache des Leidens: Begehren und Anhaften. Begehren nach Sinnenfreuden, das Hegen von Ansichten und Meinungen, der Glaube, daß Regeln und Riten und Zeremonien das Leiden aufheben werden, und das sehr ausgeprägte Anhaften an die Vorstellung eines Selbst oder Ich. Keiner zwingt uns zum Anhaften. Es gibt keine Kraft oder Macht außerhalb von uns, die uns an das Rad von Leben und Tod gefesselt hält. Es ist nur das Anhaften an unserem eigenen Geist.

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Es gibt eine Art von Affenfalle, die in Asien gebraucht wird. Eine Kokosnuß wird ausgehöhlt und an einem Seil an einen Baum oder einem Stock in der Erde befestigt. Der Boden der Nuß wird aufgeschlitzt und etwas süßes Futter hineingelegt. Das Loch ist gerade so groß, daß ein Affe seine ausgestreckte Hand hindurchschieben kann, aber eine geschlossene Faust nicht zurückgezogen werden kann. Der Affe riecht die Süßigkeit, steckt seine Hand hinein, um das Futter zu ergreifen, und kann sie dann nicht wieder herausziehen. Die geschlossene Faust geht nicht durch den Schlitz. Wenn die Jäger kommen, gerät der Affe in Panik, kann aber nicht entfliehen. Keiner hält den Affen gefangen, außer der Kraft seiner eigenen Anhaftung. Er braucht nur seine Faust zu öffnen. Aber die Kraft der Gier in seinem Geist ist so stark, daß es kaum einen Affen gibt, der loslassen kann. Es ist das Begehren und Anhaften in unserem eigenen Geist, das uns gefangen hält. Wir brauchen nur die Hände zu öffnen, unser Selbst, unser Anhaften loszulassen, und wir sind frei.

Die dritte Edle Wahrheit der Erleuchtung Buddhas ist das Ende des Leidens, das Ende der Schmerzen. Nirvana ist der Zustand jenseits des geistig-körperlichen Vorgangs und nicht all dem Leiden unterworfen, das diesem innewohnt. Freiheit. Frieden. Ruhe. Kühle. Befreiung. Ein Absetzen der Last.

Es gibt zwei Arten von Nirvana. Das erste ist das augenblickliche Nirvana, frei von Befleckungen, frei von Gier, Haß und Unwissenheit, ein Auslöschen dieser Feuer im Geiste von Augenblick zu Augenblick. Jeder Moment, der frei von Befleckungen ist, ist ein Augenblick der Kühle und des Friedens. Die andere Bedeutung von Nirvana ist der Zustand völlig jenseits des Daseinsvorgangs, das Ende der Leidenslast, das Auslöschen des Feuers.

Es gibt ein Beispiel über Wesen, die in einer sehr unfruchtbaren Wüste leben. Es gibt wenig Wasser, nicht genug zu essen und keinen Schutz gegen die gnadenlose Sonne. Weil diese Menschen nichts anderes kennen, halten sie es für einen befriedigenden Ort zum Leben. Aber dann reist einer von Ihnen in ein anderes Land, wo Kühle und Überfluß herrschen, wo es Wasser, Essen und Unterkunft gibt, und er erkennt seine ärmlichen Lebensbedingungen, das Leiden an dem Ort, wo er früher lebte. Im Vergleich mit dem Frieden und der Stille und dem Schweigen des Nirvana ist der endlose geistig-körperliche Vorgang, das endlose Aufsteigen und Vergehen eine solche große Last, ein solch großes Leiden. Die dritte Edle Wahrheit ist die Erfahrung, die Buddha andeutete, als er sagte, daß es kein größeres Glück gäbe als den Frieden.

Der Buddha zeigte auch den Weg zu dieser Erfahrung. Es ist keine geheimnisvolle Lehre, die nur Wenigen vorbehalten ist. Die vierte Edle Wahrheit der Lehre Buddhas ist der Edle Achtfache Pfad, der zeigt, wie Sie die Last absetzen können.

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Es ist kein extremer Pfad. Selbstqual gehört nicht dazu. Sie brauchen sich nicht in eine Höhle zurückzuziehen. Es ist weder eine Selbstkasteiung noch ein Frönen der Sinnenfreuden, die uns gefesselt halten. Es ist der mittlere Weg. Bewußt sein. Bewußt erkennen, wie die Dinge geschehen. Wach und ausgeglichen sein. Achtsam sein. Kein Anhaften. Kein Verurteilen. Ohne Identifizierung mit den Dingen als Ich oder Selbst. Befreiung des Geistes von Befleckungen von Augenblick zu Augenblick.

Die Wahrheit vom Leiden muß erkannt werden. Die Wahrheit von der Entstehung des Leidens muß verstanden werden. Die Wahrheit von der Aufhebung des Leidens muß erfahren werden. Und der Pfad zum Ziel muß von jedem Einzelnen gegangen werden. Buddhas Erleuchtung löste seine Probleme, sie löste nicht unsere, außer uns den Weg zu zeigen. Es gibt keine magische Formel, die uns vom Leiden erlöst. Jeder von uns muß seinen eigenen Geist reinigen, denn es sind die Verhaftungen in unserem Geist, die uns gefesselt halten.

Fünfzehnter Nachmittag - Vorsatz auf halbem

Wege

Bei den Sitzübungen ist das Stillhalten des Körpers eine große Hilfe, um die Stille des Geistes zu erreichen. Um die Sammlung zu stärken, sollten Sie am Anfang einiger Sitzübungen den Vorsatz fassen, Ihre Haltung in dieser Stunde nicht zu verändern. Die ersten Male mag es schwierig sein, aber wenn der Vorsatz ehrlich ist, können Sie sitzen und alles betrachten, was immer es ist. Auch wenn der Geist ruhelos wird oder reagiert oder angespannt oder mit Abneigung gegen einen Schmerz erfüllt ist, ist es trotzdem wertvoll, diesen Vorsatz zu fassen und ihm nachzukommen. Der Sammlungs- und Bemühungsfaktor werden gestärkt, und nach den ersten stündlichen Übungen werden Sie feststellen, daß es leichter wird, still zu sitzen.

Halten Sie den Geist so, daß er keinem Objekt gegenüber Widerstand an den Tag legt. Dann wird nichts zum Hemmnis oder Hindernis. Alle Objekte des Geistes oder Körpers, äußerlich oder innerlich, ziehen vorüber in dem klaren Bereich der Bewußtheit. Bewegen Sie den Geist nicht auf ein Objekt zu oder von einem Objekt weg: das Nicht-Tun des Geistes. Es wird dann eine vollkommene Stille und Ausgeglichenheit entstehen, in der Sie klar, im Augenblick, das

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Aufsteigen und Vergehen der Atmung, der Empfindungen, der Gedanken, der Gefühle, der Töne, der Düfte und der Bilder erkennen.

Seien Sie sich des Fließens der Vergänglichkeit bewußt. Es gibt nichts zum Ergreifen, nichts zum Festhalten. Es gibt eine Stelle am Ende von Mount Analogue, welche die Kraft dieses Fließens zeigt und wie Sie sich verhalten sollten:

Bleiben Sie auf einem Abhang niemals stehen. Auch dann nicht, wenn Sie denken, Sie haben festen Fuß gefaßt; wenn Sie sich Zeit dafür nehmen, durchzuatmen und den Himmel zu betrachten, wird der Untergrund sich nach und nach unter Ihrem Gewicht verschieben. Der Kies wird unmerklich rutschen, und plötzlich wird er unter Ihnen wegbrechen und Sie schleudern wie ein Schiff. Der Berg wartet nur darauf, Ihnen eine Falle zu stellen.

Sie sollten nicht anhalten, auch nicht für einen Augenblick, um zu versuchen, sich irgendwo festzuhalten. In jedem Augenblick, wo wir versuchen uns anzuklammern, werden wir eingeholt und überschwemmt von unseren Gedanken, Ansichten und Vorstellungen.

Etwa die Hälfte unseres Seminars ist nun vorüber; manchmal geschieht es, daß in der Mitte eines Seminars, wie lang es auch sein mag, der Geist schwerfällig wird. Er wird ein wenig faul, nachlässig und ruhelos. Der Geist meint, er habe sich die ganze Zeit sehr angestrengt und jetzt könne er sich ein bißchen ausruhen von seinen Anstrengungen.

Achten Sie auch darauf. Jetzt ist die Zeit, um die Bemühung zu verstärken, nicht, um nachzulassen. Denken Sie daran, wieviel Sie in den ersten beiden Wochen erreicht haben. Denken Sie an den Anfang und wie schwierig es war, auch nur für eine Stunde still zu sitzen. Eine große Geisteskraft hat sich entwickelt, eine Triebkraft aus Sammlung und Achtsamkeit. Am Anfang des Seminars wurde der Grundstein gelegt, die groben Hemmungen wurden überwunden, die Hemmungen, die uns daran hindern, auch nur für eine Stunde still zu sitzen. Diese anfänglichen Schwierigkeiten sind mehr oder weniger erfolgreich abgebaut worden. Der Geist hat sich beruhigt. Er beginnt zu durchdringen, er beginnt zu erkennen, wie der geistig-körperliche Vorgang abläuft. Einsicht reift heran. Es ist schwierig, all dies bei uns selbst zu bemerken, da die Veränderungen fast unmerklich von Augenblick zu Augenblick stattfinden. Aber die Übung vertieft sich langsam. In der noch verbleibenden Zeit kann noch mehr geschafft werden. Es bedarf großer Energieanspannung, damit der Geist nicht träge wird. Erneuern Sie die Bemühung, Schweigen zu bewahren. Schweigen schenkt Energie. Es läßt eine Klarheit entstehen, in der alle Aspekte des Geistes genau erkannt werden. Wenn wir jedesmal, wenn

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Ruhelosigkeit oder Trägheit oder Faulheit aufsteigt, zu sprechen beginnen, wird die Gelegenheit verpaßt, sie zu durchschauen. Schweigen ermöglicht uns, aufmerksam zu verfolgen, was geschieht, all die Höhen und Tiefen zu sehen. Es ist nicht der Sinn der Meditation, sich einen Monat lang in einen Zustand der Seligkeit hineinzubegeben. Es geht darum, den gesamten Bereich von Geist und Körper zu erfahren. Voll und ganz alle Schmerzen und Wehen, all die seligen Empfindungen, all die Zeiten der Einspitzigkeit, all die Ruhelosigkeit und Langeweile zu erfahren. Aus Schweigen wächst der Bereich des Alleinseins, in dem alles klar erkannt werden kann. Häufiges Sprechen zieht nach unten. Wir werden ruhelos; wir beginnen zu reden; dadurch wird es noch schwieriger, sich zu konzentrieren, und der Geist wird noch ruheloser. Durch Bemühung, durch das Erwecken der Energie und durch die Einsamkeit, die wir um uns schaffen, wird die Übung intensiviert. Niemand kann sicher sein, daß die Gelegenheit zur Übung sich wieder bieten wird. In dieser Umgebung herrschen ganz besondere Bedingungen für uns. Es ist ein vollkommener Ort, um sich selbst zu entdecken, um herauszufinden, wer wir sind. Verschenken Sie nicht diese Gelegenheit.

Eine weitere große Hilfe beim Erwecken der Achtsamkeit ist das Langsamerwerden. Bewegen Sie sich langsamer. Den ganzen Tag lang sollten Sie jede Bewegung des Körpers zum Meditationsobjekt machen. Von dem Augenblick an, wo Sie aufstehen, bis zu dem Moment, wo Sie einschlafen, beachten Sie alles ganz klar, sehr genau; jede Bewegung beim Baden, beim Anziehen, beim Essen. Gewohnheitsmäßig erledigen wir alles in großer Hast, fallen in den nächsten Moment hinein oder in die nächste Handlung, ständig in Bewegung. Bemühen Sie sich, sich in den Moment zu geben. Es besteht kein Grund zur Eile. Wir müssen nirgendwo hingehen. Der alleinige Sinn unseres Aufenthaltes hier ist, die Fähigkeit zu entwickeln, das Geschehen im Augenblick zu bemerken. Drängen oder überanstrengen Sie sich nicht. Geben Sie sich hinein, ohne zu planen oder etwas zu erwarten. Halten Sie den Geist entspannt, aber gesammelt und aufmerksam. Der Geist wird in immer tiefere Schichten eindringen. Das Bewahren des Schweigens und das Langsamerwerden helfen nicht nur uns, sondern allen anderen um uns herum. Wenn wir jemanden dahineilen sehen, wird das Gleiche bei uns erweckt. Wenn wir jemanden sehen, der achtsam ist, werden wir selbst mehr erwachen. Seien Sie sich bewußt, wie wertvoll und hilfreich Sie für andere sind. Ein Seminar ist besonders ausgewogen; im Schweigen und Alleinsein arbeiten wir an uns selbst und haben doch an der unterstützenden Ausstrahlung der Gruppe teil.

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Sechzehnter Abend - Karma

Buddha wurde einmal gefragt, warum einige Menschen reich geboren werden und andere arm; warum einige Menschen gesunde Körper haben und andere krank sind. Warum sind einige Menschen sehr schön und andere häßlich? Warum haben einige viele Freunde und andere keine? Woher kommen all diese Unterschiede, die wir bei den Menschen sehen können? Er antwortete, daß alle Wesen die Erben, die Eigner ihres eigenen Karma sind. Tatsächlich sind unsere früheren Taten der Leib, aus dem wir geboren werden. Das Leben, wie wir es in der Gegenwart erfahren, ist das Ergebnis der angesammelten Kraft aller unserer früheren Taten.

Weiter erklärte Buddha, welche Taten welche bestimmten Ergebnisse erzeugten. Er sagte, daß Wesen, die das Leben anderer nehmen, nur kurze Zeit leben. Wesen, die vom Töten abstehen, haben einen langen Lebensweg. Menschen, die andere verletzen, anderen Lebewesen Schmerz zufügen, erfahren Verfall und Krankheit. Die, welche andere nicht verletzen, die Gewaltlosigkeit üben, haben eine gute Gesundheit. Er sagte, daß die, welche gierig und geizig sind, sehr arm sein werden. Die Wesen, die Freigebigkeit üben, mit offenen Händen austeilen, werden alles im Überfluß haben. So wirkt das Gesetz von Ursache und Wirkung. Jede Handlung erzeugt eine bestimmte Wirkung.

Menschen, die harte und häßliche Reden führen, mit bösen Worten, werden zu häßlichen Erscheinungen. Jene, die liebende, gütige und ausgeglichene Reden führen, werden als Wirkung Schönheit besitzen. Wir alle sind die Erben unserer früheren Taten. Jene Wesen, die sich schlecht benehmen, wie Ehebruch begehen oder stehlen, haben als Wirkung Umgang mit unklugen Menschen, haben nicht viele gute Freunde und kommen nicht in Berührung mit dem Dharma. Jene, welche die grundlegenden Sittenregeln einhalten, werden in schöner Umgebung wohnen, sie werden viele gute Freunde haben und viel Unterstützung auf dem Wege finden. Jene, die sich niemals fragen, was der Sinn des Lebens ist, die niemals ihren Geist erforschen, die nie die wahre Natur der Dinge zu ergründen und zu verstehen versuchen, werden träge und unverständig geboren. Jene Menschen, die Fragen stellen, die erforschen und untersuchen, die versuchen die Antwort auf die Geheimnisse des Lebens zu finden, werden sehr weise. Hier zeigt sich wieder das Gesetz von Ursache und Wirkung.

Es gibt niemanden oben im Himmel, der uns eine bestimmte Rolle zuteilt, eine bestimmte Art zu leben. Wenn wir begreifen, wie das Gesetz des Karma sich auswirkt, können wir beginnen unser eigenes Schicksal zu formen. Es gibt einen Pfad, der zu all den glücklichen und schönen Erfahrungen führt, und einen, der

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zum Leiden führt. Wenn wir die Pfade erkennen, sind wir frei zu entscheiden, welchen wir gehen wollen.

Es gibt vier Hauptgruppen des Karma, die in unserem Leben wirken. Die erste heißt wiedergeburterzeugendes Karma. Es ist die Kraft jener Taten, die wir ausführen, welche die Macht haben, die Wiedergeburt zu bestimmen. Die Art der Taten entscheidet darüber, ob wir in der Menschenwelt oder in niederen Welten, im Himmel oder in der Brahmawelt wiedergeboren werden.

Die nächste Art des Karma heißt unterstützendes Karma. Es sind jene Taten, die das wiedergeburterzeugende Karma unterstützen. Zum Beispiel, nehmen wir an, wir haben ein gutes wiedergeburterzeugendes Karma und werden in der Menschenwelt wiedergeboren. Das ist eine gute Wiedergeburt, eine glückliche Existenzebene. Unterstützendes Karma sind alle jene Handlungen, die unsere Erfahrungen als Mensch angenehm machen. Es verstärkt gutes wiedergeburterzeugendes Karma und ist die Ursache von vielen Arten des Glücks.

Die dritte Gruppe heißt unterdrückendes Karma. Es unterdrückt das wiedergeburterzeugende Karma. Nehmen wir an, wir haben das gute Karma der Wiedergeburt als Mensch, aber erleiden viel Unangenehmes, viel Schmerz und Pein. Das ist die Auswirkung des unterdrückenden Karma. Die Wiedergeburt war gut. Das notwendige Karma zur Wiedergeburt als Mensch war heilsam, aber wenn ein starkes unterdrückendes Karma vorhanden ist, entstehen unangenehme Situationen. Dies wirkt auch entgegengesetzt. Stellen Sie sich vor, ein Wesen ist als Tier wiedergeboren Das ist ein schlechtes wiedergeburterzeugendes Karma; es ist eine Wiedergeburt in niederen Welten. Das unterdrückende Karma kann dieses Leben als Tier sehr angenehm machen, wie es bei vielen Haustieren der Fall ist. Diese Tiere haben mehr Bequemlichkeit als viele Menschen in der Welt. Dies starke Karma unterdrückt das schlechte Wiedergeburtskarma. Es wirkt sich nach beiden Seiten aus.

Die letzte heißt zerstörendes Karma. Es zerstört das Fließen der anderen Kräfte. Stellen Sie sich vor, Sie schießen einen Pfeil in die Luft. Der Pfeil hat eine bestimmte Antriebskraft und fliegt, wenn er nicht behindert wird, bis er an einer bestimmten Stelle in der Ferne zu Boden fällt. Zerstörendes Karma ist wie eine Kraft, die den Pfeil mitten im Fluge anhält und ihn zu Boden schlägt. Es gibt Wesen, die früh sterben. Ihr wiedergeburterzeugendes und unterstützendes Karma mögen gut gewesen sein, aber irgendwie, durch eine frühere Tat, unterbricht starkes zerstörendes Karma den Flug des Pfeils und verhindert das Wirken der anderen karmischen Kräfte.

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Es gibt eine Geschichte über einen Mann zu Buddhas Zeiten, die ein Wirken des Karma aufzeigt. Er gab einem voll erleuchteten Arahat eine Gabe Nahrung. Nachdem er die Gabe überreicht hatte, begann er es zu bedauern. Es wird gesagt, daß er in sieben Leben hintereinander als Millionär geboren wurde als Wirkung seiner Essensgabe. Es ist sehr verdienstvoll, einem völlig erleuchteten Wesen eine Gabe zu geben. Aber als Wirkung all dieser Augenblicke des Bedauerns lebte der reiche Mann als Geizhals, außerstande die Früchte seines Reichtums zu genießen. Verschiedene Arten von Karma bringen verschiedenartige Ergebnisse hervor, gemäß unseren wechselnden Geisteszuständen.

Es ist wichtig, das wiedergeburterzeugende Karma zu verstehen, da es bestimmt, auf welcher Existenzebene wir wiedergeboren werden. Es ist das Karma, das im letzten Lebensaugenblick wirkt. In dem Moment des Sterbens, genannt Sterbebewußtsein, gibt es vier Arten von Wiedergeburtskarma, die aufsteigen können:

Das erste heißt gewichtiges Karma, es kann entweder heilsam oder unheilsam sein. Unheilsames gewichtiges Karma ist z.B., einen Buddha zu verletzen oder ein voll erleuchtetes Wesen zu töten, seine Mutter oder seinen Vater zu töten oder die Teilung in Mönchsorden zu verursachen. Alles dies kommt an erster Stelle gegenüber anderen Taten bei der Bestimmung der Wiedergeburt. Sie kommen unbedingt zum Tragen. Das heilsame gewichtige Karma bezieht sich darauf, wenn jemand die Sammlung entwickelt und die Stufe der Vertiefung erreicht hat und sie bis zu seinem Tode aufrecht erhält. Das Ergebnis dieses Karma ist die Wiedergeburt in den Brahmawelten. Es hat Vorrang vor anderen Taten. Das andere heilsame gewichtige Karma ist die Erfahrung der verschiedenen Stadien der Erleuchtung. Es setzt nicht unbedingt den Ort der Wiedergeburt fest, aber die Wiedergeburt wird in den oberen Ebenen stattfinden. Es verhindert die Wiedergeburt in den niederen Welten.

Das Karma, das einsetzt, wenn keine gewichtigen Taten da sind, um Früchte zu tragen, heißt sterbensnahes Karma, es ist das Karma der Taten, die direkt vor dem Sterben ausgeführt werden. Mit anderen Worten, wenn Sie in den Augenblicken des Sterbens an eine Ihrer guten Taten denken oder jemand Sie an heilsame Taten erinnert, wird die Wiedergeburt durch dieses Karma bestimmt. Zu Buddhas Zeiten lebte ein Mörder, der gerade als er gehängt werden sollte, sich an das eine Mal erinnerte, als er Sáritputta, dem Hauptschüler Buddhas, Gaben gegeben hatte. Sein letzter Gedanke galt der Gabe. Obwohl er so viele unheilsame Taten in seinem Leben begangen hatte, war das Ergebnis dieses letzten heilsamen Bewußtseinsmomentes die Wiedergeburt in den himmlischen Welten. Es wirkt auch entgegengesetzt. Es ist nicht so, daß das gute oder schlechte Karma, das wir angesammelt haben, uns nicht folgt. Es ist so, daß das todesnahe Karma, die direkte Tat oder Erinnerung im Augenblick

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vor dem Tode den Vorrang hat. Es bestimmt das nächste Leben. Aber das Bewußtsein ist manchmal zum Zeitpunkt des Todes sehr schwach, und es kann sein, daß es nicht möglich ist, den Geist zu lenken oder sich absichtlich an bestimmte Vorfälle zu erinnern.

Wenn kein sterbensnahes Karma vorhanden ist, tritt das häufig geübte auf. Die Taten, die wir zu Lebzeiten wiederholt ausgeführt haben, steigen dann im Augenblick des Todes im Geist auf. Wenn jemand oft getötet hat, wird der Gedanke daran im Todesmoment als Ergebnis des häufig-geübten Karma auftreten. Oder wenn jemand viel Gutes getan hat, freigebig gewesen ist oder sehr viel meditiert hat, wird es geschehen, daß er sich einer dieser Taten erinnert oder vielleicht vor seinen Augen ein Bild aufsteigt, wie er auf seinem Meditationskissen sitzt. Dieses Karma wird dann die nächste Geburt bestimmen.

Wenn kein gewichtiges Karma, kein todesnahes Karma, kein starkes häufig-geübtes Karma vorhanden ist, steigt die vierte Art auf, um die Wiedergeburt festzulegen, sie heißt aufgespeichertes Karma. Wir alle sind mit unzähligen heilsamen und unheilsamen Karma ausgestattet, und wenn kein starkes häufig-geübtes Karma vorhanden ist, dann kann irgendeine Tat aus der Vergangenheit im Sterbemoment aufsteigen.

Ein Beispiel für den Ablauf dieser Karma-Arten: Eine Herde Vieh lebt frei in einer Scheune. Wenn am Morgen das Tor geöffnet wird, wird der kräftigste Bulle als erster hinausgehen. Er wird sich einfach hinausdrängen und alle anderen zur Seite schieben. Wenn kein starker Bulle da ist, wird die nächste, die aus dem Tor kommt, die Kuh sein, die sich am dichtesten bei dem Tor befindet. Sie wird einfach hinauslaufen. Nehmen Sie nun an, daß kein Tier nahe am Tor ist. Dann wird die Kuh, die üblicherweise als erste hinausgeht, welche die Gewohnheit hat, die anderen anzuführen, als erste hinausgehen. Und wenn keine Kuh die Gewohnheit hat, als erste hinauszugehen, dann wird irgendeine Kuh aus der Herde zuerst durch das Tor gehen. So wirkt das Karma in unserem letzten Augenblick: das gewichtige, das todesnahe, das häufig-geübte und das aufgespeicherte Karma.

Es gibt einen Faktor, der uns mehr und mehr zum Licht und zu höher und höheren Arten des Glücks führt, und dieser ist Achtsamkeit. Achtsamkeit hat als Wirkung heilsames gewichtiges Karma, Erleuchtung. Aus Achtsamkeit ergibt sich auch ein gutes todesnahes Karma. Wenn wir im Sterbemoment sehr aufmerksam sind, wird der Geist ausgeglichen und frei von Befleckungen sein. Achtsamkeit ist ein starkes häufig geübtes Karma. Wenn sie jeden Tag geübt wird und wir durch sie bedingt sind, wird sie im Todesmoment aufsteigen. Diese Achtsamkeit, diese Art des Geistes, die wir jetzt erzeugen, ist eine äußerst

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starke Kraft. Sie wird ein bestimmender Faktor bei der Art des Karma sein, die im Todesmoment wirkt.

Können Wesen der niederen Welten Karma erzeugen? Zum Beispiel, kann ein Hund Karma erzeugen, dadurch, daß er liebevoll und zärtlich oder häßlich und aggressiv ist?

Alle Wesen erzeugen Karma, Tiere eingeschlossen. Es gibt sehr angriffslustige Tiere. Es gibt bei ihnen Angst, Wut und Haß. Es gibt einige sehr schöne Tiere, die voller Liebe sind. Es hängt alles von der Eigenschaft des Geistes ab.

Gibt es ein Familien-Karma?

Es gibt etwas, das kollektives Karma genannt wird. Zum Beispiel verursacht jede nationale politische Handlung ein bestimmtes nationales Karma. Wir teilen das Karma anderer, wenn wir ihren Taten zustimmen. Wenn wir geistig dem Wirken eines anderen zustimmen, dann wird eine karmische Kraft freigesetzt. Im Kriege können Sie sehen, wie es sich verhält. Einige Menschen sind dafür, also haben sie teil am Karma. Andere sind es ganz und gar nicht, sie teilen nicht das kollektive Karma. In Indien hatte ich einen Freund aus Holland. Er beschrieb seine Familie während des Zweiten Weltkrieges. Er sagte, daß sie irgendwie immer genug zu essen hatten. Obwohl das ganze Land sehr karg lebte und Mangel an Nahrung herrschte, litten bestimmte Menschen hier und dort nicht so sehr. Sie konnten das Wirken des kollektiven Karma bei Menschen sehen, die nicht an unheilsamen Taten einer Nation oder einer Gruppe teilnehmen oder sie nicht billigen, und die dann auch nicht die Ergebnisse zu spüren bekommen; oder im Zustimmen zu heilsamen Handlungen und Absichten, das dann heilsames Karma ansammelt.

Manchmal verwirren mich die Worte, die Sie verwenden.

Vergessen Sie einfach die Beispiele. Greifen Sie zurück auf Ihre Erfahrung der Achtsamkeit. Wenn ein Gedanke im Geist auftaucht, gibt es zwei Möglichkeiten: der Gedanke kann aufsteigen, und Sie können sich völlig darin verwickeln, ohne zu wissen, daß Sie denken. Oder Achtsamkeit kann gegenwärtig sein und die Bewußtheit, daß Denken stattfindet. Wenn in bezug auf Gedanken und alle anderen Objekte Achtsamkeit vorhanden ist, dann kommen und gehen sie, werden klar erkannt, und der Geist steht ausgeglichen hinter ihnen.

Bei allen Worten, die gebraucht werden, werden einige von Ihnen verstanden werden, andere nicht; es macht nichts. Benutzen Sie die Worte oder Begriffe, die Ihnen die Dinge klar werden lassen; lassen Sie die anderen. Die Erfahrung dessen, was geschieht, ist wichtig, nicht der Glaube an oder das Aufnehmen von

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etwas, das gesagt wird. Alles Verstehen kommt aus dem Schweigen des Geistes, nicht aus einem Kommentar über das, was geschieht.

Es ist der Zuckerguß auf dem Kuchen, der einen verlockt, den Kuchen zu essen.

Nehmen Sie den farbigen Zuckerguß, den Sie mögen. Und essen Sie dann den Kuchen! Es gibt eine Geschichte, die vielleicht nützlich sein könnte: Ein Professor machte einmal eine Seereise in einem kleinen Boot, und eines Abends ging er zu einem alten Matrosen und fragte ihn: "Na, alter Knabe, was wissen Sie über Ozeanographie? - Der alte Matrose wußte nicht einmal, was das Wort bedeutete. Der Professor sagte: "Sie haben ein Viertel Ihres Lebens vergeudet! Hier sind Sie nun, befahren die See und wissen nichts über Ozeanographie!" Am nächsten Abend ging der Professor zu dem alten Mann und sagte: "Na, alter Knabe, was wissen Sie über Meteorologie?" Und wieder hatte der alte Matrose das Wort noch nie gehört. "Die Wissenschaft vom Wetter." - "Ah, darüber weiß ich nichts." - "Oh, Sie haben die Hälfte ihres Lebens vergeudet! Am nächsten Abend geht der Professor zu dem alten Mann: "Was wissen Sie über Astronomie?" - "Nichts." - "Hier sind Sie auf dem Meere, brauchen die Sterne zum Navigieren und Sie wissen nichts über Astronomie, Sie haben drei Viertel Ihres Lebens vergeudet." Am nächsten Abend kommt der alte Matrose bei dem Professor angerannt und sagt: "Professor, was wissen Sie über Schwimmologie?" Der Professor sagt: "Oh, nichts, ich habe nie schwimmen gelernt." - "Ach, ein Jammer, das Boot sinkt, Sie haben Ihr ganzes Leben vergeudet!"

Es ist die Schwimmologie, die wichtig ist.

Siebzehnter Nachmittag - Unterweisung:

Entspannen / Abtreiben des Geistes

Wenn Sie irgendwo im Körper Schmerzen empfinden, haben Sie oft die Tendenz, sich als Reaktion darauf an einer anderen Stelle zu verspannen. Es ist gut, wenn Sie in Abständen den ganzen Körper entspannen, ein Glied nach dem anderen, und all die angesammelte Spannung, die sich als subtile Reaktion auf unangenehme Empfindungen einstellt, loslassen. Dann wird es leichter, sich wieder zu sammeln und das Fließen zu betrachten.

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Machen Sie das Beste aus den Stunden mit dem Vorsatz, sich nicht zu bewegen, und verbringen Sie eine Stunde, ohne die Haltung zu verändern. Dieser Vorsatz stärkt den Geist auf verschiedene Arten. Die Faktoren der Bemühung und der Energie werden sehr stark, und die Unbeweglichkeit des Körpers stärkt die Sammlung und Achtsamkeit. Im allgemeinen reagiert unser Körper auf alle kleinen Störungen oder unangenehme Empfindungen mit einem geringfügigen Haltungswechsel. Wir sind meistens völlig unachtsam bei diesem Vorgang. Wir empfinden eine kleine Störung und verändern unsere Haltung ein wenig. Wenn wir den Vorsatz haben, uns eine Stunde nicht zu bewegen, kommen wir nicht umhin, uns all dieser unangenehmen Momente und unserer bedingten Reaktionen darauf bewußt zu werden. Die Stunden mit dem Vorsatz können öfter durchgeführt werden. Wenn Sie sich dabei wohl fühlen, dann können Sie den Vorsatz bei jedem Sitzen fassen.

Wenn die Sammlung besser wird, ist es manchmal möglich, daß der Geist in einen angenehmen traumgleichen Zustand abgleitet. Es wird Abtreiben des Geistes genannt. Sie können sich lange in diesem Zustand befinden. Seien Sie wachsam, lassen Sie die Achtsamkeit nicht abweichen. Wenn Sie fühlen, daß Sie in eine Art von Traumzustand des Geistes geraten, dann bemühen Sie sich, die Achtsamkeit zu schärfen, so daß Sie sich ganz klar bewußt sind, was im Moment geschieht. Auf diese Art wird der Weisheitsfaktor entwickelt, Sie erfahren das momentane Aufsteigen und Dahinschwinden der Gedanken, der Empfindungen, der Geisteszustände und der Atmung. Gestatten Sie dem Geist nicht, abzutreiben. Bei einer langen Meditation mag das geschehen. Seien Sie wachsam. Dies ist die Grundlage der Weisheit. Bleiben Sie vollkommen aufmerksam.

Achtzehnter Abend - Reinheit und Glück

Es gibt eine Geschichte von Mark Twain über einen Mann, der in den Himmel gelangte. Als er ankam, wurden ihm ein Paar Flügel und eine Harfe gegeben. Einige Tage bewegte er sich mit Hilfe der Flügel fort; er zupfte an den Saiten der Harfe und versuchte, himmlische Musik hervorzuzaubern. Beides wurde ihm ziemlich lästig, schließlich erkannte er, daß man im Himmel nicht wirklich Flügel braucht, um sich vorwärts zu bewegen, und daß nur auf den Wunsch nach Musik hin himmlische Musikanten erscheinen und Musik machen. So legte er seine Flügel und seine Harfe ab und begann sich zu vergnügen.

Genauso geht es uns manchmal. Wir bauen uns Schranken auf durch vorgefaßte Meinungen über Reinheit und Glück. Wir belasten uns mit unnötigen Flügeln oder

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Heiligenscheinen oder Harfen und meinen, die Glückseligkeit hinge davon ab, bestimmte Dinge zu besitzen oder uns in einer bestimmten Weise zu benehmen. Wenn wir unsere beschränkten Anschauungsweisen beiseite lassen, ist es uns möglich, uns zu öffnen und tiefere Erfahrungen der Freude zu haben.

Es gibt viele verschiedene Arten von Glück, und jede einzelne steigt gemäß einer bestimmten Stufe der Reinheit auf. Sinnenfreuden sind die erste Art des Glückes, die man genießen kann: schöne Dinge sehen und schöne Töne hören; herrliche Geschmäcke und Düfte genießen und wunderbare Körperempfindungen haben. Als Menschen haben wir viele Augenblicke dieser Sinnenfreuden, und obwohl sie vergänglich sind, bringen sie doch eine Art von Freude, Helligkeit und Glück. Eine noch höhere Art der Sinnenfreuden wird in der Kosmologie bestimmter himmlischer Welten beschrieben, wo alles schön und angenehm ist. Die Wesen haben leuchtende Körper ohne Schmerzen oder unangenehme Empfindungen und verlustieren sich in Grotten an Sinnenfreuden jeder Art. Es gibt da aus Edelsteinen gebaute Paläste, himmlische Musikanten, göttliche Nymphen und sogar himmlische Yogis. Es wird gesagt, daß Maitreya, der kommende Buddha, jetzt in einer dieser himmlischen Welten lebt und die Wesen dort im Dharma unterweist. Himmlisches Glück ist von sehr hoher Art.

Der Pfad zu dieser Glückseligkeit der Sinnenfreuden führt durch die Reinheit der Sittlichkeit, der ersten Stufe der Läuterung. Reinheit der Sittlichkeit bedeutet, freigebig zu sein, königlich zu geben, die Sittenregeln auf sich zu nehmen und Gier, Haß und Nichtwissen zu überwinden. Es ist die Art der Reinheit der Taten, die den Grund dafür legt, daß Wesen alle Arten der Sinnenfreuden auf der weltlichen Ebene und - wie man sagt, auch in den himmlischen Welten genießen.

Es gibt eine noch höhere Art der Glückseligkeit als das Glück des Himmels. Das ist das Glück und die Verzückung der Sammlung. Ein Geist, der eine starke Einspitzigkeit entwickelt hat, genießt eine übersinnliche Ekstase, die den flüchtigen Sinnenfreuden weit überlegen ist. Dies ist ein Geist, der sich von Sinnenobjekten zurückgezogen hat und völlig in ein Objekt versunken ist. Es ist eine viel beständigere Freude als der Genuß verschiedener Sinnenobjekte, die recht schnell kommen und gehen.

Es gibt einige Geisteszustände, die durch die Kraft der Sammlung entwickelt werden können, sie heißen "Die Gefilde des Brahma" oder "Die Göttlichen Verweilungszustände". Sie werden so genannt, weil sie die Geistesart der Wesen in den Brahmawelten sind; die höchsten und erhabensten Bereiche, die erfahren werden können.

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Der erste der Göttlichen Verweilungszustände ist allumfassende Güte. Nicht Liebe zu bestimmten Menschen aus Anhangen oder Besitzenwollen; vielmehr eine Liebe, die aus dem Geiste strahlt und allen Wesen überall Glück, Frieden und Freude wünscht. Ein Geist, der diese Stufe der Sammlung erreicht hat, ist in der Lage, Liebe unbegrenzt in alle Richtungen zu strahlen.

Die zweite dieser Eigenschaften ist Mitgefühl mit den Leiden aller Wesen - das Fühlen und Sorgen um das Elend und die Schmerzen anderer. Der dritte "Göttliche Verweilungszustand" ist Mitfreude, das bedeutet, daß das Glück anderer miterlebt wird; voller Freude zu sein, wenn wir glückliche Menschen sehen. Ein Gegensatz zu den mehr verbreiteten Zuständen von Neid, Eifersucht oder Konkurrenzkampf. Der Geist, der sich über das Glück anderer freut, ist hell und strahlend.

Die letzte dieser vier Eigenschaften ist Gleichmut das vollkommene Gleichgewicht des Geistes, ungestört durch Heimsuchungen, Höhen und Tiefen, Freude und Leid. Ein Geist, der ausgewogen und ruhig bleibt. Das Glück der unendlichen Liebe und des Mitleidens, der unbegrenzten Mitfreude und des Gleichmutes beginnen wir zu erfahren, wenn der Geist einspitzig wird. Wie sich Reinheit der Sittlichkeit auf unsere Handlungen bezieht, so bezieht sich die Reinheit des Geistes auf die Kraft der Sammlung.

Es gibt eine noch größere Freude als die der Brahmawelten, der tiefen Sammlung. Das ist die Vipassaná Glückseligkeit oder das Glück der Einsicht. Der Geist, der klar erkennt, tief in die wahre Natur der Dinge eindringt, erfährt sehr deutlich das Aufsteigen und Vergehen der Phänomene. Vipassaná-Glück ist allen anderen weit überlegen, weil in der Klarheit dieser Erkenntnis ein Vorgeschmack der Freiheit liegt. Es ist nicht einfach ein Hineingeben in sinnliche Freuden oder ein Versenken in meditative Zustände oder gesammelte Freude. Es ist das Glück des klaren Erkennens, wobei der Geist leuchtend wird und das Bewußtsein in seiner Klarheit zu strahlen beginnt. Es ist so, als ob Sie einen Kristallbecher polieren, bis er klar wurd und funkelt. Durch die Übung der Bewußtheit, durch Vipassaná, erreicht der Geist dieselbe Strahlkraft und genießt das außerordentliche Gefühl der Glückseligkeit, das aus tiefer Einsicht steigt.

Es gibt eine Stufe der Reinheit, genannt Reinheit der Ansicht, die das Aufsteigen des Vipassaná-Glückes ermöglicht. Reinheit der Ansicht bedeutet Freiheit von der Ansicht oder Vorstellung eines Selbst. Wir sind ein sich entfaltender geistig-körperlicher Vorgang, in ständigem Werden. Buddha hielt einmal eine kurze Lehrrede, die er "Alles" nannte. Sie heißt "Alles", weil er alles in sechs Sätzen beschrieb.

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"Das Auge und die Sehobjekte; das Ohr und die Töne; die Nase und die Gerüche; die Zunge und die Geschmäcke; der Körper und die Empfindungen; der Geist und die Geistesobjekte oder Ideen."

Das ist alles, es gibt nichts außer diesen. Oft sagte der Buddha, daß die ganze Welt in diesem sechs Klafter großen Körper eingeschlossen sei. Wenn wir diese Objekte und ihre Sinnengrundlagen verstehen, dann verstehen wir auch, wie die sechs Arten des Bewußtseins mit ihren jeweiligen Objekten beständig aufsteigen und vergehen: das Erkennen von Gesehenem, Tönen, Gerüchen und Geschmäcken, Empfindungen und Ideen. Unser ganzes Universum besteht aus einer sehr schnellen Aufeinanderfolge von Hören, Sehen, Riechen, Schmecken, Empfinden und dem Erfahren verschiedener Geistesobjekte. Sechs Objekte und sechs Arten des Bewußtseins, die sie erkennen: aus diesem kontinuierlichen Vorgang bestehen wir. Es steht keiner dahinter, dem all dies widerfährt. Es gibt keine beständige Wesenheit, von der gesagt werden kann: "Dies bin ich", weil jedes Bewußtsein und das dazugehörige Objekt von Augenblick zu Augenblick aufsteigt und vergeht.

Es gibt eine sehr treffende Aussage des Buddha über diese Lehre: "In dem, was gesehen wird, ist nur das Gesehene; in dem, was gehört wird, ist nur das Gehörte; in dem, was empfunden wird (Geruch, Geschmack oder Berührung), ist nur das Empfundene; in dem, was gedacht wird, ist nur das Gedachte." Nichts außer diesen, kein Selbst, dem es geschieht.

Sehen, Hören, Schmecken, Riechen, Körperempfindungen, Geistesobjekte. Unsere ganze Existenz besteht aus dem Ablauf dieser sechs Vorgänge. Es gibt viele Namen, die wir an die Dinge hängen. Unzählige Vorstellungen beschreiben unsere Erfahrungen. Aber das Auge sieht nur Farbe und Form, es sieht keine Namen. Was das Ohr hört, sind Töne. Wir geben den verschiedenen Arten von Geräuschen viele Namen, aber was wirklich geschieht, ist, daß Schwingungen auf unser Ohr treffen und dadurch bedingt das Hörbewußtsein aufsteigt. Eine sehr einfache Beziehung zwischen Ursache und Wirkung. Im Hause ist keiner. Die Schnelligkeit der Aufeinanderfolge bewirkt die Illusion, daß dies alles Jemandem geschieht. Wenn der Geist still ist, beginnen wir, die Reinheit der Ansicht zu erfahren, und erkennen, daß unser ganzes Sein nur ein Ablauf des Vorganges von Erkennen und Objekt ist, frei von der Vorstellung eines Selbst. Durch die Vertiefung der Reinheit werden wir eins mit dem Fließen und versuchen nicht, uns daran zu klammem. Reinheit der Ansicht ist die Klarheit des Begreifens, welche die Dinge sieht, wie sie wirklich sind; es ist der Anfang einer sich verändernden Vision. Es ist das Glück, zum ersten Male wirklich Freiheit zu schmecken. Das Verstehen des Ablaufs der Dinge wird das Tor zur höchsten Art

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des Glückes: das Glück des Nirvana, Erleuchtung. Es ist der Friede, die Ruhe, die Kühle jenseits des geistig-körperlichen Vorgangs. Es ist die große Schönheit des Dharma, daß alle verschiedenen Arten des Glückes unser werden, wenn wir nach der höchsten Freiheit trachten.

Wie würden Sie das Glück des Nirvana beschreiben?

Es gibt drei Arten von Glück im Nirvana. Sie können sie als verschiedene Aspekte der Freude auffassen, die durch das Ende des Leidens auftreten, dem völligen Aufhören des Schmerzes.

Als wir in Indien lebten, wohnten wir auf dem Gipfel eines Berges, und der Bazar, die Läden, waren eine halbe Wegstunde über einen recht steilen Pfad den Berg hinab entfernt. Die Einkäufe mußten meistens auf dem Rücken getragen werden. Eine Anzahl alter tibetischer Frauen trug riesige Holzbalken den Berg hinauf. Sie schleppten sich, gebückt durch die Last auf ihrem Rücken, den ganzen Weg den Berg hinauf. Stellen Sie sich das Gefühl der Erleichterung vor, als sie den Gipfel erreicht hatten und ihre Last ablegen konnten! Welch ein enormes Gefühl der Freude es ist, von solcher Last befreit zu sein.

Das Glück des Nirvana ist die Erlösung von der Last des Leidens. Es ist die höchste Art des Glückes. Um eine klare Vorstellung davon zu haben, worum sich der Pfad dreht und was die Erfahrung der Erleuchtung beinhaltet, ist es sicher hilfreich, die verschiedenen Arten des Glückes im Nirvana und ihre Funktionen näher zu beleuchten.

Die erste ist der Höhepunkt des Glückes der Einsicht, der Weisheit, des klaren Erkennens, Pfadbewußtsein genannt. Der erste Schimmer von Nirvana, das erste Erlebnis des Nirvana. Dieses Pfadbewußtsein hat die Funktion, alle Befleckungen auszulöschen, wie ein Blitz vom Himmel. Damit ist nicht nur die Unterdrückung der Befleckungen wie bei der Sammlung gemeint, sondern das völlige Herausreißen, die völlige Zerstörung bestimmter Geistesfesseln. Beim ersten Anblick werden drei der zehn Fesseln, die uns an das Samsara binden, zerstört. Diese sind Zweifel, der Glaube an Regeln und Riten (als Mittel zur Erfahrung der Erleuchtung) und der Glaube an ein Selbst. Sie werden durch diesen einzigen Augenblick des Pfadbewußtseins, der das Nirvana zum Objekt hat, völlig aus dem Fließen des Bewußtseins getilgt.

Sofort danach folgt die zweite Art des Nirvana-Glückes, das Fruchtbewußtsein. Man erfährt die Frucht des Pfadmomentes, auch hier ist das Objekt Nirvana. Bei der Fruchterreichung werden keine weiteren Dinge aufgehoben, dies geschah

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im ersten Moment. Der Zustand des Fruchtbewußtseins ist die Erfahrung des Friedens im Nirvana. Jene, die eine starke Einspitzigkeit entwickelt haben, können nach Wunsch in das Fruchtbewußtsein eintreten. Sie setzen sich und nehmen sich vor, in diesem Zustand eine halbe Stunde oder eine Stunde oder zwei Tage zu verharren. Es wird gesagt, daß man in diesem Frieden des Nirvana bis zu sieben Tage verbringen kann. Schweigen, Kühle, Erlösung, Freiheit. Wenn man aus dem Zustand der Fruchterreichung herauskommt, muß man wieder auf dem Pfad der Einsicht gehen, da noch weitere Befleckungen latent im Geiste vorhanden sind. Genau wie wir es jetzt machen, wird die Übung fortgesetzt. Sie sehen das Aufsteigen und Vergehen aller Phänomene, Sie gehen durch alle Stadien hindurch. Sie erfahren den zweiten Pfadbewußtseinsmoment, der weitere Befleckungen auslöscht. Viermal steigen Pfadmomente auf, die einer nach dem anderen die Fesseln zerstören, die uns an das Rad gebunden halten.

Die höchste Art der Nirvana-Erfahrung heißt Parinirvana: der Augenblick, in dem ein voll Erleuchteter stirbt. Es gibt keine Wiedergeburt mehr, es gibt nichts Treibendes, nichts Zwingendes, um wiedergeboren zu werden. Es ist so, als ob ein großes loderndes Feuer erlischt. Das Ausgelöschtsein des Feuers, das Ende des Brennens ist ein Zustand des Friedens, des Schweigens und der Kühle. Die höchste Art des Glückes. Manchmal sorgen sich Menschen darum, daß sie zu schnell verlöschen, sie wollen noch einen Film oder noch eine Sinnesfreude genießen oder kurze Zeit im Himmel verbringen. Wenn Sie auf das höchste Glück zielen, kommen alle anderen Arten des Glückes von selbst.

Ist es möglich, nachdem man als Mensch geboren ist, in der Tierwelt wiedergeboren zu werden? Und kann man wieder zurück?

Der Grund, warum die Geburt in der Menschenwelt so außerordentlich günstig ist, ist der, daß, wenn Sie einmal in niederen Ebenen wiedergeboren sind, es unglaublich schwierig sein soll, wieder in höheren Ebenen geboren zu werden. Es ist nicht unmöglich, aber es dauert sehr lange. Buddha gab ein Beispiel dafür. Stellen Sie sich vor, daß eine blinde Schildkröte auf dem Grund eines großen Ozeans lebt. Irgendwo auf der Oberfläche des Ozean treibt ein hölzerner Ring auf den Wellen; der Wind bläst ihn hin und her. Die blinde Schildkröte kommt alle hundert Jahre einmal an die Oberfläche. Die Chance, daß die blinde Schildkröte ihren Kopf durch den hölzernen Ring steckt, ist größer als die Möglichkeit, daß ein Wesen aus den niederen Welten in der Menschenwelt wiedergeboren wird. Das ist der Grund, warum unser jetziges Leben so kostbar ist und nicht vergeudet werden sollte.

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Mir fällt es schwer zu verstehen, wie man wissen kann, was vor der Geburt und nach dem Tode geschieht.

Dies kann auf zwei Arten verstanden werden. Der beste Weg für uns ist, zu verstehen, wie der Vorgang von Moment zu Moment abläuft. Wie Geburt und Tod in jedem Augenblick vor sich gehen, wie das Bewußtsein aufsteigt und vergeht. Das Vergehen des Bewußtseins ist Tod. Es wird nichts aus diesem Bewußtseinsmoment in den nächsten hinübergetragen. Durch die Erfahrung der Einsicht, durch Meditation können wir das momentane Leben und Sterben erfahren; dies gibt uns ein intuitives Verständnis des Sterbe- und Wiedergeburtsbewußtseins, das in genau derselben Weise abläuft. Es ist außerdem möglich, durch die Entwicklung tiefer Sammlung alle möglichen psychischen Kräfte zu entfalten. Viele Wesen aller religiösen Traditionen haben diese Kräfte entwickelt, und eine der Fähigkeiten ist, nicht nur andere Existenzebenen zu sehen, sondern auch zu sehen, wie die Wesen sterben und wiedergeboren werden. Es gibt Menschen, die diese Art des Sehens besitzen. Mein Lehrer, wenn er über diese Dinge sprach, erklärte die himmlischen Welten und die Möglichkeiten der psychischen Kräfte, aber er schloß immer mit den Worten: "Sie brauchen es nicht zu glauben. Es ist so, aber Sie brauchen es nicht zu glauben." Wir brauchen keinerlei Glauben zu akzeptieren, um Einsicht in unsere wahre Natur zu entfalten. Weisheit kommt nur dadurch, daß wir exakt und durchdringend bewußt sind, frei von Glaube und Vorstellung.

Neunzehnter Nachmittag - Verehrung

Eine der geistigen Fähigkeiten und eine starke Hilfe auf dem Wege ist Vertrauen oder Zuversicht. Wenn wir Vertrauen in unser Tun haben, werden alle die unruhigen Zweifel, die unsere Bemühungen stören können, unwirksam.

Es gibt mehrere verschiedene Arten von Vertrauen, die aufsteigen können. Das am wenigsten heilsame ist das Vertrauen auf oder die Verehrung von jemandem oder etwas, nur weil es uns ein gutes Gefühl vermittelt. Wir haben ein angenehmes Gefühl, fühlen uns berauscht und vertrauen dann eben auf die Person oder Sache. Es ist leicht, bei dieser Art der Zuneigung blind zu werden. Eine höhere Art des Vertrauens steigt auf, wenn wir bestimmte Eigenschaften wie Weisheit, Liebe und Mitleid bei einer Person erkennen und würdigen. Diese Art des Vertrauens ist hilfreich, da die Würdigung ein Erkennen der heilsamen

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Eigenschaften des Geistes ist und uns anregt, dieselben Eigenschaften bei uns selbst zu entwickeln.

Es gibt auch das Vertrauen und die Verehrung, die aus unserer eigenen Erfahrung der Wahrheit kommen. Wenn wir beginnen, auf immer höheren Stufen zu erfahren, wie Geist und Körper wirken, empfinden wir große Freude und Vertrauen in den Dharma. Es ist weder auf blinde Gefühle noch auf die Würdigung der Eigenschaften eines anderen gegründet, sondern entsteht aus der Einsicht in die Natur der Wirklichkeit. Dies führt zu dem höchsten Geistesvertrauen, das durch die Erfahrung der Erleuchtung kommt. Wenn Sie bis zur letzten Wahrheit durchdringen, wird das Vertrauen unerschütterlich.

Als der Buddha im Sterben lag, fragte Ananda, wer nach seinem Tode ihr Lehrer sein würde. Er antwortete seinem Schüler: "Seid eure eigene Leuchte. Seid eure eigene Zuflucht. Nehmt zu nichts Äußerem Zuflucht. Haltet fest an der Wahrheit als ein Licht. Haltet fest an der Wahrheit als eine Zuflucht. Sucht nicht die Zuflucht bei anderen, außer bei euch selbst. Und jene, Ananda, die entweder jetzt oder nach meinem Tode sich selbst eine Leuchte sind, die nicht zu Äußerem Zuflucht nehmen, sondern festhalten an der Wahrheit als ihr Licht, festhalten an der Wahrheit als ihre Zuflucht und nicht Zuflucht suchen bei anderen außer sich selbst, jene sind es, welche die höchsten Höhen erklimmen werden; aber sie müssen sich bemühen zu lernen."

Einundzwanzigster Abend - Bedingte Entstehung

Um der Geheimnisse von Geburt, Alter und Tod willen kommen Buddhas in diese Welt. Es gibt keine Existenzebene, in welcher diese Realitäten nicht vorhanden sind, und der alleinige Anlaß der Erleuchtung Buddhas war, ihre Wurzeln zu ergründen. Der tiefgründigste Teil der Lehren Buddhas ist vielleicht die Beschreibung, wie dieses Rad des Lebens, des Todes und der Wiedergeburt unablässig weiterrollt. Die Einsicht in alle Verbindungen dieser Existenzkette wird in dem Gesetz der Bedingten Entstehung dargestellt.

Dies Gesetz der Bedingten Entstehung hat zwölf Verbindungsglieder. Die beiden ersten beziehen sich auf die Ursachen im vorigen Leben, welche die Geburt in diesem Leben bedingen. Das erste dieser Verbindungsglieder ist Unwissenheit. Unwissenheit bedeutet, die Wahrheit nicht zu erkennen, den Dharma nicht zu verstehen, die vier Edlen Wahrheiten nicht zu kennen. Weil wir die Dinge nicht klar erkennen, weil wir die Tatsache des Leidens und dessen Ursache und den

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Weg zur Aufhebung des Leidens nicht sehen, bedingt die Kraft der Unwissenheit das nächste Glied in der Kette: Willenstätigkeiten des Körpers, der Sprache und des Geistes, angetrieben durch heilsame und unheilsame Geistesfaktoren. Willenstätigkeit ist durch Unwissenheit bedingt; da wir nicht die Wahrheit verstehen, verwickeln wir uns in alle möglichen Arten von Tätigkeiten. Die karmische Kraft dieser Handlungen bedingt das dritte Glied in der Kette.

Das dritte Glied ist das Wiedergeburtsbewußtsein; das ist der erste Bewußtseinsaugenblick in diesem Leben. Weil Nichtwissen die Kraft des karmischen Handelns in unserem vorigen Leben bedingte, steigt das Wiedergeburtsbewußtsein im Augenblick der Empfängnis auf. Wollen oder Absicht ist vie der Samen; Wiedergeburtsbewußtsein wie das Aufgehen dieser Saat. Eine durch Ursache und Wirkung bedingte Beziehung. Aus Unwissenheit entstanden alle Taten, alle Arten von Karmaformationen. Aufgrund der Karmaformationen steigt das Wiedergeburtsbewußtsein auf, der Anfang des Lebens. Wegen der ersten Bewußtseinsmomente in diesem Leben steigen die geistig-körperlichen Phänomene auf, alle materiellen Elemente, alle Geistesfaktoren. Weil der geistig-körperliche Vorgang aufsteigt, entwickeln sich die Sinnengrundlagen. All dies geschieht während der Entwicklung des Embryos, vor der Geburt.

Das Wiedergeburtsbewußtsein im Augenblick der Empfängnis bedingt das Aufsteigen der geistig-körperlichen Phänomene. Dadurch steigen alle sechs Sinnengrundlagen auf, die fünf physischen Sinne und das Bewußtsein, die wiederum das Aufsteigen der Berührung bedingen, Berührung zwischen dem Sinnesorgan und seinem entsprechenden Objekt: das Auge und Farbe, das Ohr und Ton, die Nase und Geruch, die Zunge und Geschmack, der Körper und Empfindungen, der Geist und Gedanken oder Ideen. Berührung bedeutet das Zusammentreffen eines Objektes durch das entsprechende Sinnestor mit dem Bewußtsein, entweder des Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens, Berührens oder Denkens. Bedingt durch die Sinne steigt Berührung auf. Durch den Kontakt zwischen Auge und Farbe, Ohr und Ton und den anderen Sinnen und ihren Objekten steigt Gefühl auf. Gefühl bedeutet die Eigenschaft des Angenehmen, Unangenehmen oder Weder-Angenehm-noch-Unangenehmen, die jeder Bewußtseinsmoment, jeder Augenblick eines Kontaktes beinhaltet. Ob es Berührung durch die fünf körperlichen Sinnentore oder durch das Bewußtsein ist, Gefühl ist immer da und wird darum ein allgemeiner Geistesfaktor genannt. Bedingt durch Berührung steigt Gefühl auf, entweder angenehmes, unangenehmes oder indifferentes.

Aufgrund des Gefühls steigt das Begehren auf. Begehren heißt nach Objekten verlangen, sie erwünschen. Was ist es, das wir begehren? Wir begehren angenehme Anblicke und Töne, angenehme Geschmäcke und Düfte, angenehme

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Berührungen und Gedanken, oder wir wünschen unangenehme Objekte loszuwerden. Begehren steigt bedingt durch Gefühle auf. Wir beginnen, diese sechs verschiedenen Objekte dieser Welt zu ersehnen, oder wir wünschen sie zu vermeiden. Gefühl bedingt Begehren. Begehren bedingt Anhaften. Weil wir die sechs Sinnenobjekte, das Bewußtsein eingeschlossen, begehren, greifen wir nach ihnen, klammern uns an sie, haften wir an ihnen. Anhaften ist bedingt durch Begehren.

Durch Anhaften werden wir wieder in Karmaformationen verwickelt und wiederholen die Willenstätigkeiten, die in unserem vorigen Leben das Wiedergeburtsbewußtsein dieses Lebens bedingten. Gefühl bedingt Begehren. Begehren bedingt Anhaften und Anhaften bedingt den ständigen Werdeprozeß, schafft die Energie, die der Samen ist für das Wiedergeburtsbewußtsein im nächsten Leben. Aufgrund dieses karmischen Werdeprozesses, bedingt durch Anhaften, gibt es weitere Geburt.

Durch Geburt bedingt ist Krankheit und Leid. Es gibt Verfall und Schmerzen. Es gibt Leiden. Es gibt den Tod. Und so dreht sich das Rad immer weiter, eine unpersönliche Kette ursächlichen Zusammenhaltes.

Buddhas Problem, und auch unser aller Problem, ist, den Weg aus diesem Kreislauf der Bedingtheit zu finden. Es wird gesagt, daß er am Abend seiner Erleuchtung das Gesetz der Bedingten Entstehung rückwärts durchging, um den Punkt der Befreiung zu finden. Wodurch gibt es Alter, Krankheit und Tod? Durch Geburt. Wodurch gibt es Geburt? Durch all die Werdeprozesse, durch all die Willenstätigkeiten, deren Antrieb Gier, Haß und Unwissenheit sind. Wodurch sind wir in diese Arten des Tuns verwickelt? Durch Anhaften. Wodurch gibt es Anhaften? Durch das Begehren im Geiste. Wodurch gibt es Begehren? Durch das Gefühl, das entweder angenehm oder unangenehm aufsteigt. Wodurch gibt es Gefühl? Durch die Sinnengrundlagen und alle geistig-körperlichen Phänomene.

Wir können jetzt nichts daran ändern, ein geistig-körperlicher Vorgang zu sein. Das ist bedingt durch Unwissenheit in der Vergangenheit und die Geburt. Es gibt keine Möglichkeit, die Berührung zu vermeiden, auch wenn dies wünschenswert wäre. Wenn Berührung stattfindet, gibt es keine Möglichkeit, das Aufsteigen des Gefühls zu vermeiden. Durch Berührung wird Gefühl aufsteigen, es ist ein allgemeiner Geistesfaktor. Aber gerade an diesem Punkt kann die Kette unterbrochen werden.

Wenn wir das Gesetz der Bedingten Entstehung begreifen, wie aufgrund eines Dinges ein anderes aufsteigt, können wir damit beginnen, die Kette der Bedingtheit zu durchbrechen. Wenn angenehme Dinge aufsteigen, klammern wir uns nicht daran. Wenn unangenehme Dinge aufsteigen, verurteilen wir nicht.

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Wenn indifferente Dinge aufsteigen, sind wir nicht vergeßlich. Buddha sagte, der Weg der Vergeßlichkeit ist der Weg des Todes. Und der Pfad der Weisheit und Bewußtheit ist der Weg zum Todlosen. Wir haben die Freiheit, diese Kette zu durchbrechen uns von dem bedingten Handeln zu befreien. Es bedarf kraftvoller Achtsamkeit, in jedem Augenblick, um zu verhindern, daß Gefühle Begehren hervorrufen.

Wenn Unwissenheit im Geiste vorherrscht, bedingt das Gefühl Begehren. Wenn etwas Angenehmes da ist, wollen wir es haben; wenn etwas unangenehmes da ist, möchten wir es loswerden. Wenn aber statt Unwissenheit im Geiste Weisheit und Achtsamkeit zugegen sind, dann erfahren wir das Gefühl, reagieren jedoch nicht gewohnheitsmäßig oder zwanghaft darauf, indem wir ergreifen oder abwehren. Wenn die Gefühle angenehm sind, nehmen wir sie achtsam wahr, ohne anzuhangen. Wenn Sie unangenehm sind, nehmen wir sie achtsam wahr, ohne zu verurteilen. So bedingen Gefühle nicht mehr das Begehren, dann sind wir achtsam, haben Abstand und lassen los. Wenn kein Begehren da ist, ist auch kein Anhaften vorhanden; ohne Anhangen gibt es keine Willenstätigkeiten, die zum Werden führen. Wenn wir diese Energien nicht erzeugen, gibt es keine Wiedergeburt, keine Krankheit, kein Alter und keinen Tod. Wir werden frei. Werden wir nicht mehr von Unwissenheit und Begehren getrieben, wird die ganze Leidensfülle beendet.

Jeder Augenblick der Bewußtheit ist ein Hammerschlag auf die Kette der Bedingtheit. Wenn wir sie mit der Kraft der Weisheit und Bewußtheit schlagen, wird die Kette schwächer und schwächer, bis sie zerbricht. Wir durchdringen hier die Wahrheit vom Gesetz der Bedingten Entstehung und befreien unseren Geist.

Ich stelle fest, daß, seitdem ich übe, mir die Schönheit des Dharma mehr und mehr bewußt wird, die Art, wie die Dinge sich verhalten.

Das höchste Glück ist das Glück des Vipassaná, das Glück der Einsicht, das Erkennen des Ablaufs der Dinge. Es ist ein sehr glücklicher Zustand, wenn Sie bereits mit dem Geist eines Anfängers erkennen, daß jeder Augenblick neu und frisch ist. Eine große Lebensfreude entsteht aus dem Geist eines Anfängers, aus einem nicht-bedingten Geist, einem Geist, der direkt erfährt und nicht Gedanken über alles hat. Buddha hat gesagt, daß der Geschmack des Dharma alle anderen Geschmäcke übersteigt. Wenn Sie sehen, wie alles abläuft, wenn Sie eingestimmt sind, in Einklang, eins mit dem Tao, dann ergibt sich daraus ein großes Gefühl der Klarheit, des Verstehens und der Schönheit.

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Auf dem Wege zur Vollendung der Harmonie gibt es eine sehr tiefe Erfahrung des Unbefriedigtseins, des Leidens, das diesem vergänglichen Daseinsvorgang innewohnt. Viele Menschen hier haben einen Vorgeschmack dieses Unbefriedigtseins gehabt. Die Überwindung dieser Perspektiven wirkt sich günstig auf das Nicht-Anhaften aus. Wenn Sie sehr tief die Leiden von Geist und Körper erfahren, dann erkennen Sie ganz klar den Wert des Loslassens, Sie haften nicht länger. Sie sehen nichts, was des Begehrens wert ist. Aus dieser Art des Abstandes entwickelt der Geist ein harmonisches Gleichgewicht, und dann betrachten Sie das ganze Fließen mit Gleichmut und einem sehr klaren und friedvollen Bewußtsein.

Muß man sterben, um erleuchtet zu werden?

Erleuchtung ist der Tod von Gier, Haß und Unwissenheit. Der Grund für unsere Angst vor dem Tod ist der, daß wir nicht verstehen, wie der Daseinsvorgang hier und jetzt abläuft, und so entsteht in einem ungeübten Geist Angst, wenn er dies aufgeben soll. In Wahrheit stirbt keiner, da niemand hinter dem Vorgang steht. Was geschieht ist Geburt und Tod, Geburt und Tod von Augenblick zu Augenblick... in Gang gehalten durch die Kraft von Begehren und Anhaften. Die Bedingtheit überwinden, den Geist von Anhaften und Begehren befreien bedeutet den Zustand des Friedens erfahren, der die ganze Zeit vorhanden ist, den wir aber nicht erkennen, weil die Kraft des Anhaftens uns daran hindert. Es ist wie bei diesem Affen, der festhält; nichts fesselt ihn, außer der Kraft des Begehrens in seinem eigenen Geist. Er braucht nur seine Hand zu öffnen und sie herauszuziehen. Wir brauchen nur loszulassen.

Zweiundzwanzigster Abend - Tod und Güte

Ein oft gebrauchtes Bild, um die Übung in der Einsicht zu beschreiben ist das eines Seiltänzers. Während Sie auf dem Seil gehen, erkennen wir ganz klar, daß die Hauptsache ist, auf das Gleichgewicht zu achten, vollkommene Balance beizubehalten. Während wir auf dem Seil gehen, streifen etliche Dinge an uns vorbei, verschiedene Anblicke, Geräusche, Empfindungen, Ideen und Erkenntnisse. Falls diese angenehm sind, geht die bedingte Tendenz des Geistes dahin, danach zu greifen und zu versuchen, sie festzuhalten und zum Bleiben zu bewegen. Wenn die Anblicke oder Töne unangenehm sind, geht die Tendenz des Geistes dahin, in Abneigung zu versuchen, sie wegzuschieben. In beiden Fällen hangen wir an und verlieren beim Anhangen das Gleichgewicht und fallen.

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Beide, die positive und die negative Reaktion, sind gleichermaßen gefährlich. Alles, wie herrlich oder beängstigend es auch sein mag, das uns veranlaßt, das vollkommene Gleichgewicht des Geistes zu verlieren, wird uns zu Fall bringen. So arbeiten wir immer und immer wieder daran, einen Geist zu entwickeln, der bei allen Objekten nicht mit Anklammern oder Verurteilen, Haften oder Abneigung reagiert. Wir entwickeln einen Geist, der an nichts haftet, an absolut nichts, der alles kommen und gehen läßt.

Nicht-Anhaften wächst aus tiefer Einsicht in die Vergänglichkeit. Auf einer bestimmten Stufe dieser Einsicht wird die Unausweichlichkeit und Nähe unseres Todes erkannt. In der Bhagavad-Gita wird die Frage gestellt: "Von allen Wundern der Welt, welches ist das wundervollste?"

Die Antwort: "Daß kein Mensch, obwohl er um sich herum andere sterben sieht, glaubt, daß er selbst sterben wird."

Manchmal, wenn wir unser Schicksal vergessen, engagieren wir uns zu sehr beim Sammeln von Dingen, bei Anhaftungen und Besitztümern, mit dem Wunsch, etwas Besonderes zu werden. Wir verwickeln uns in viele Handlungen des kleinen Geistes und nehmen unsere Ambitionen, unsere Wünsche und uns selbst sehr ernst. Wir verlieren die Perspektive des Großen Geistes, wir verlieren die Perspektive des Todes.

Don Juan gebraucht dies als eindrucksvolle Lehre, wenn er darüber spricht, den Tod als Ratgeber zu nehmen; immer sich den bevorstehenden Tod vor Augen zu halten, ohne Reue, Traurigkeit oder Sorgen, sondern mit Klarheit und Bejahung Das Gegenwärtighalten unseres Todes gibt jedem Augenblick, jeder Handlung Kraft, Gnade und Erfüllung.

Jeder von uns hat tief eingegrabene Verhaltensmuster, die sich bei allem, was wir tun, bemerkbar machen; oft sind es destruktive Gewohnheiten wie Ärger oder Selbstmitleid. Aber auf dieselbe Weise können wir lernen, im Geiste die Bewußtheit des Todes zu bewahren und sie bei allen unseren Handlungen mitsprechen zu lassen. Wenn wir den Tod als Ratgeber annehmen, leben wir jeden Augenblick mit der Kraft und Fülle die wir in unser letztes Bemühen auf Erden legen würden.

Wenn wir uns den Tod immer vor Augen halten, lassen wir uns weniger auf die Dinge ein und lassen uns weniger von der Befriedigung und Erfüllung unserer verschiedenen Wünsche des Augenblickes treiben. Wenn wir nicht so sehr von unseren Wünschen und Einbildungen eingenommen sind, neigen wir weniger dazu, uns an Dinge zu klammern, und wir stehen der Liebe und Freigebigkeit offener gegenüber. Die Bewußtheit des Todes schafft uns den Raum der Klarheit, in dem

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wir den Vorgang von dem, wer wir sind und wer es ist, der stirbt, begreifen können.

Auf dieser Stufe ist die Einsicht in die Vergänglichkeit die Bewußtheit über die von Augenblick zu Augenblick vergehende, zeitgebundene Natur aller Phänomene. Das Geistige und Körperliche, unser ganzes Universum steigt auf und vergeht, stirbt und wird wiedergeboren in jedem Moment. Wir arbeiten an der Entwicklung eines Geistes, der ruhig und still ist, der unbewegt im Angesichte solcher ungeheuren Veränderungen ist.

Die ganze Übung entwickelt sich organisch aus dem Gewahrsein über das Geschehen im gegenwärtigen Moment, ohne Reaktion darauf. Ein Meditationslehrer in Indien hat gesagt, daß man nur sitzen braucht und wissen muß, daß man sitzt, und der ganze Dharma wird sich offenbaren. Sie werden die Entfaltung der Naturgesetze ganz klar erkennen, und dann wird der Dharma wahrhaftig Ihnen zu eigen.

Während dieser organischen Entwicklung, die aus dem Gleichgewicht und der Enthaftung kommt, werden sich viele schöne und befreiende Eigenschaften des Geistes langsam einstellen. Eine dieser Eigenschaften ist liebende Güte (Metta). Liebende Güte zu sich selbst, in dem Sinne, daß Sie sich selbst gegenüber nachsichtig und nicht wertend sind und Weite und Leichtigkeit des Geistes haben, und starke liebende Güte anderen gegenüber, ohne Ergreifen, Begehren oder Anhaften. Sie ist keine bedingte Liebe - jemanden lieben, weil er bestimmte Eigenschaften oder Merkmale hat, und wenn diese sich wandeln, die Liebe schnell fallen zu lassen; sie ist keine "handelnde Liebe" - "Ich werde dich lieben, wenn du mich auch liebst."

Die Liebe, die aus der Weisheit kommt, ist ohne Bedingungen, allumfassende liebende Güte - ein Gefühl der Freundschaft und Wärme für alle Wesen überall. Nicht nur für diejenigen, die in einer besonderen Beziehung zu uns stehen; gemeint ist ein wahrhaft grenzenloses Gefühl. Wir suchen nicht bei anderen Erfüllung, nehmen keine zweckbedingten Beziehungen auf, sondern strahlen diese unbegrenzte Eigenschaft der liebenden Güte aus.

Eine andere Eigenschaft, die sich dann sehr stark einstellt, ist das Mitgefühl. Es ist nicht Selbstmitleid oder Mitleid mit anderen. Es bedeutet, den eigenen Schmerz zu empfinden und den Schmerz bei anderen zu erkennen. Das Pali-Wort "Kilesa" wird im allgemeinen mit Befleckung übersetzt, es heißt genauer genommen "geistige Qual". Die Erfahrung von Zorn, Gier und allen Befleckungen ist schmerzhaft, dies wird uns klar, wenn wir sie beim Aufsteigen betrachten und sehen, wie sie unseren Geist und Körper beeinflussen. Wenn in uns das Verständnis des Dharma wächst, empfinden wir Mitgefühl mit uns selbst, wenn

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sie aufsteigen, anstatt Abschätzen und Selbstverurteilen, und wir erkennen den Schmerz, den andere erfahren, wenn diese Zustände in ihnen aufsteigen. Wenn wir dieses Netz des Leidens erkennen, in das wir alle verstrickt sind, entwickeln wir Güte und Mitgefühl füreinander.

Die höchste Manifestation dieser Eigenschaften erscheint als Ausdruck der Leerheit - ohne ein Selbst. Wenn es kein "Ich" gibt, gibt es auch kein "anderes"; das Gefühl der Trennung verschwindet, und wir erfahren die Einheit und Ganzheit aller Dinge.

Albert Einstein schrieb: "Ein menschliches Wesen ist ein Teil des Ganzen, das von uns Universum genannt wird, ein Teil, der durch Zeit und Raum begrenzt ist. Er empfindet sich, seine Gedanken und Gefühle als etwas, das vom anderen getrennt ist, was eine Art optischer Täuschung seines Bewußtseins ist. Diese Täuschung ist ein Gefängnis für uns, sie begrenzt uns auf unsere persönlichen Wünsche und auf Zuneigung zu einigen wenigen Menschen, die uns am nächsten sind. Unsere Aufgabe muß es sein, uns aus diesem Gefängnis zu befreien, indem wir den Kreis des Mitgefühls erweitern, um alle Lebewesen und die ganze Natur in ihrer Schönheit einzuschließen."

Wolken aus Gier, Haß und Unwissenheit verdunkeln das natürliche Strahlen von Liebe und Güte und Mitgefühl in unserem Geist. Wenn wir beginnen, diese Wolken durch die Entfaltung der Einsicht zu vertreiben, werden die Eigenschaften der liebenden Güte ihrer Natur gemäß hervorstrahlen.

Es gibt eine bestimmte Übung, die der Buddha lehrte, um diese Geisteszustände zu einer starken Kraft in unserem Leben zu machen. Sie heißt "Metta-Bhavana" oder Entfaltung der Güte. Vipassaná wird durch diese Übung bereichert, durch die Weite und Leichtigkeit, die sie im Geiste hervorbringt. Sie stärkt die Fähigkeit zu erkennen, ohne zu werten, und hilft uns, die bei geistigen Übungen sehr oft vorkommende Tendenz zu vermeiden, zu verurteilen, wer wir sind, und auf eine haftende Art jemand anders sein zu wollen.

Auf dem ganzen Wege erkennen Sie, daß die Mittel und das Ziel das Gleiche sind. Um Frieden, ausgewogene Bewußtheit und Liebe zu erreichen, bemühen wir uns jeden Augenblick darum; diese Faktoren auszudrücken.

Meistens wird die Meditation der liebenden Güte für fünf oder zehn Minuten am Beginn oder am Ende (manchmal beides) des Sitzens geübt. Am Beginn bringt sie uns eine Weite und Bejahung, die wir dann in das Reine Beobachten mit hinübernehmen, und am Ende ist der Gütegedanke oft noch stärker, da der Geist gesammelt ist.

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Die Methode ist sehr einfach. Nehmen Sie eine bequeme Sitzhaltung ein. Um den Geist von Spannungen und Übelwollen zu befreien, beginnen Sie damit, daß Sie um Vergebung bitten und auch selbst verzeihen: "Wenn ich jemanden in Gedanken, Worten oder Taten beleidigt habe, bitte ich um Vergebung. Und ich vergebe voll und ganz jedem, der mich verletzt oder beleidigt hat." Dies schweigend ein- oder zweimal zu wiederholen ist eine gute Methode, den Geist von jeglichen Resten des Übelwollens oder Grolles zu reinigen.

Dann richten Sie einige Minuten liebende Gedanken auf sich selbst: "Möge ich glücklich sein, möge ich friedvoll sein, möge ich frei von Leiden sein, möge ich glücklich sein, friedvoll, frei von Leiden", und Sie konzentrieren sich dabei auf die Bedeutung der Worte. Es ist schwierig, echte Liebe für andere zu empfinden, bevor wir uns selbst akzeptieren und lieben. Es ist gleich, welche Worte Sie dabei verwenden. Wählen Sie Sätze, die Ihnen etwas sagen. Sie werden zu einem Mantra der Liebe.

Fahren Sie mit der Übung fort und beginnen Sie, die Gedanken und Gefühle auf andere auszudehnen: "Wie ich glücklich sein möchte, mögen auch alle anderen Wesen glücklich sein. Wie ich friedvoll sein möchte, so mögen auch alle anderen Wesen friedvoll sein. Wie ich frei von Leiden sein möchte, so mögen auch alle anderen Wesen frei von Leiden sein." Wiederholen Sie dies einige Male im Geiste und beginnen Sie, liebende Güte nach außen auf alle Wesen zu richten. Die Worte können zusammengefaßt werden in eine rhythmische Wiederholung für fünf oder zehn Minuten: "Mögen alle Wesen glücklich sein, friedvoll, frei von Leiden."

Sie können auch diese Gedanken auf bestimmte Personen richten, entweder auf solche, die Ihnen sehr nahe stehen und die Sie sehr mögen, oder auf jene, gegen die Sie Ärger oder Groll empfinden, um sich ihnen sanftmütig zu nähern. Stellen Sie sich die Menschen im Geiste vor, während Sie die Worte wiederholen. Schließen Sie damit, daß Sie wieder die Gedanken der liebenden Güte auf alle Wesen überall richten.

Zuerst mag es Ihnen scheinen, als ob es eine mechanische Übung sei, aber während Sie üben und versuchen, sich auf die Bedeutung der Worte zu konzentrieren, auf den Sinn Ihrer Wünsche für alle anderen, wird das Gefühl der Liebe und des Mitgefühls langsam anwachsen und stark werden.

Können Sie ein wenig mehr darüber sagen, wie Metta oder Liebe und Einsicht sich verbinden?

Die Entwicklung der liebenden Güte ist eine Konzentrationstechnik; sie sammelt den Geist im Gefühl der Liebe. Sie wirkt auf der Vorstellungsebene, mit der Vorstellung "Sein". Sie ist eine sehr heilsame Verwendung dieser Vorstellung,

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und sie schafft einen Bereich, in dem die Achtsamkeit mit noch größerer Klarheit wirkt. Sie benutzen die Sammlung, um eine Leichtigkeit des Geistes zu entwickeln, um in noch tiefere Ebenen des Begreifens vorzudringen.

Können Sie etwas mehr über Klarheit sagen?

Sie haben vielleicht schon Zeiten in der Meditation erlebt, wo Ihr Geist scharf und klar ist und in jedem Augenblick das Geschehen aufgreift. Die Umrisse sind klar, im Gegensatz zu Zeiten der Verwirrung oder des Mangels an Klarheit, wenn Sie die Dinge nicht genau erkennen können und alles etwas verschwommen ist. Es ist wie ein schlecht beleuchtetes Zimmer: Wenn wir ein helles Licht anzünden, wird alles klar erkennbar. Wenn nur wenig Helle im Geist herrscht, können Sie die Dinge nicht deutlich sehen, Sie haben zwar einen allgemeinen Begriff davon, aber ohne klare Durchdringung. Wenn große Helligkeit im Geiste vorhanden ist, wird alles klar; dann wird der Vorgang deutlich, leicht erkennbar. Diese Helligkeit ist das Licht der Bewußtheit, der Achtsamkeit.

Kann man nicht an dieser Klarheit haften?

Das können Sie. Das nennt man dann Verfälschung der Einsicht. Sie müssen sich die Klarheit selbst bewußt machen, damit Sie nicht daran haften, sich nicht damit identifizieren. Klarheit ist ebenfalls nur ein Teil des Ablaufs. Wenn Achtsamkeit und Sammlung zum erstenmal stark werden, geschieht es oft, daß die Menschen an diesem Punkt denken, sie seien erleuchtet, daß nichts mehr zu tun sei. Es fühlt sich so gut an und es ist soviel Licht und Liebe und Freude und Ruhe und Frieden da. An diesem Punkt ist die Hilfe des Lehrers notwendig: "Weiter meditieren."

Bleibt die Klarheit durch alle Veränderungen hindurch erhalten, oder ist sie auch wieder etwas, das kommt und geht?

Je weiter die Übung fortschreitet, desto länger bleibt die Klarheit erhalten, jedoch ganz bestimmt nicht ohne Unterbrechung. Sie ist ein Geistesfaktor, der durch Übung stärker wird. Sie erfahren fortgeschrittene Stufen der Klarheit, auch wenn Freude und Entzückung nicht mehr dabei auftreten. Es gibt auch Klarheit im Zustande des Leidens. Sie werden Zeiten erleben, wo Sie sowohl die großen Leiden als auch die Freuden des Ablaufs erfahren. In beiden kann Klarheit sein. Der Pfad, wie Don Juan sagt, bedeutet, seine eigene Ganzheit zu erreichen. Nicht nur einen Teil zu erfahren, sondern das Glück, das Leid, die Klarheit, alles. Voll und ganz die Einheit dessen zu erfahren, wer wir sind.

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Berührt die Meditation der liebenden Güte nur den Bereich unseres eigenen Geistes?

Die Kraft eines liebenden Gedankens, wenn er durch einen sehr stark gesammelten Geist ausgestrahlt wird, ist sehr groß. Es gibt eine Geschichte über den Buddha und seinen Vetter Devadatta, der Buddha töten und selbst Oberhaupt des Ordens werden wollte. Devadatta wußte, daß er Buddha nicht auf die herkömmliche Weise töten konnte; also richtete er es so ein, daß ein riesiger, verrückter Elefant den Weg hinunterraste, den Buddha beschritt, um Gaben zu erhalten. Er dachte, daß entweder der Buddha davonlaufen und sich bloßstellen würde, oder er zu Tode getrampelt würde. Am nächsten Tag, als Buddha den schmalen Pfad entlang ging, stachelte Devadatta den Elefanten an. Der Buddha lief nicht davon. Er stand einfach mit gesammeltem Geist da und sandte liebevolle Gedanken auf den heranstürmenden Elefanten. Es wird gesagt, daß der Geist des Elefanten vollständig ruhig wurde durch die Kraft der liebenden Güte, und die Überlieferung will es, daß der Elefant zu Buddhas Füßen im Staub der Straße niederkniete.

Wie drückt man Metta am besten aus?

Mitgefühl und Liebe bedeuten nicht, daß Sie einem vorgeschriebenen Handlungsablauf folgen. Sie bedeuten, daß Sie ihr Bestes tun, um mit Liebe und Mitgefühl, der jeweiligen Situation entsprechend, zu handeln. Sie sollten nicht in jeder Situation nach einer Anweisung für eine besondere Handlungsweise suchen, sondern völlig ehrlich mit sich selbst sein, mit dem, was Sie fühlen. Zuerst scheint die Metta-Übung oft mechanisch zu sein. Metta ist ein Geistesfaktor, nicht irgendein mysteriöses Ding, das wir haben oder nicht haben. Man kann Metta mit Achtsamkeit oder Sammlung oder Weisheit oder Gier oder Ärger vergleichen. Wenn Sie üben, wird sie stärker, wenn Sie nicht üben, wird sie schwächer. Am Anfang geschieht es nicht ohne Bemühung, sie tritt nicht spontan auf, aber wenn Sie sie entwickeln, wird Ihnen die liebende Güte leicht fallen, und sie steigt dann von selbst auf.

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Fünfundzwanzigster Abend - Tao

Es gibt eine alte taoistische Geschichte über einen Baum. Der Baum war alt und krumm; jeder Ast war gewunden und knorrig. Jemand, der an dem alten und schiefen Baum vorbeikam, bemerkte zu Tschuang-Tse, was für ein unnützer Baum es doch sei; weil der Stamm und die Äste so verwachsen waren, war der Baum zu nichts zu gebrauchen.

Tschuang-Tse antwortete:

Der Baum auf dem Bergkamm ist sein eigener Feind... Den Zinnbaum kann man essen, deshalb wird er abgehauen. Der Lackbaum ist nützlich, deshalb verstümmeln sie ihn. Jedermann weiß, wie nützlich es ist, nützlich zu sein. Niemand scheint zu wissen, wie nützlich es ist, unnütz zu sein.

Seine Nutzlosigkeit beschützte den Baum. Niemand wollte ihn zu irgend etwas gebrauchen, so wurde er auch nicht abgehauen und lebte bis ins hohe Alter, seine eigene Natur erfüllend.

"Niemand scheint zu wissen, wie nützlich es ist, unnütz zu sein." Was bedeutet es, unnütz zu sein? Es bedeutet, leer von dem Drang zu sein, etwas zu werden, etwas Besonderes zu sein, den Geist von solchen Gedanken des Erreichenwollens zu befreien. Unnütz zu werden bedeutet, sich entspannt zurückzulehnen und unserer eigenen Natur zu gestatten, sich leicht und einfach zu entfalten. Es gibt einen berühmten Mönch in Thailand, der diese Einstellung des Geistes und auch des ganzen Dharma in einem kurzen Satz zusammenfaßte. Er sagte: "Es gibt nichts zu erreichen, nichts zu tun und nichts zu besitzen." Nichts Besonderes. Alles ist vergänglich, alles fließt, alles ist in ständiger Veränderung. Wenn wir uns von dem Drang befreien können, jemand Besonderes auf eine bestimmte Art zu sein oder bestimmte Dinge besitzen zu wollen - überhaupt frei sind von diesem Begehren, zu tun oder zu sein oder irgend etwas zu haben -, dann können wir uns hineingeben in die natürliche Entfaltung des Dharma.

Es gibt viele taoistische Schriften, die sich mit dem Unsichtbarsein in dieser Welt befassen. Eine Geschichte beschreibt einen chinesischen Prinzen, der auf Affenjagd ging. Als er in den Wald kam, zerstreuten sich die Affen auf den Bäumen sehr schnell. Ein Affe lief nicht fort, er saß einfach auf dem Ende seines Astes. Der Prinz nahm seinen Pfeil und schoß auf ihn, aber mit großer Behändigkeit ergriff der Affe den Pfeil mitten in der Luft, bevor er ihn treffen

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konnte. Daraufhin gab der Prinz allen seinen Jägern den Befehl, zu schießen. Sie schossen alle ihre Pfeile gleichzeitig ab, und der Affe wurde getötet.

Weil der Affe seine Geschicklichkeit herausfordernd demonstrierte und stolz auf seinen Trick war, wurde dies der Anlaß für seine Zerstörung. Genauso ist es mit uns, wenn wir etwas in der Absicht tun, uns wichtig zu machen oder zu demonstrieren, wie gut und tüchtig und fabelhaft wir sind, oder wenn eine Projektion aus der Vorstellung des Selbst kommt, wird diese Handlung genau die entgegengesetzten Kräfte freisetzen und uns Verkrampfung und Konflikte bringen. Unsichtbar durch die Welt zu gehen bedeutet, unsere Fähigkeiten und Qualitäten nicht wichtigtuerisch in den Vordergrund zu schieben, keine Show abzuziehen. Es ist eine Geisteshaltung, die ohne das Gefühl eines Ich wirkt, ohne das Bedürfnis, sich wichtig zu machen, ohne sich vorzuschieben. Einfach im Augenblick im Einklang mit dem Geschehen ist.

Eines der Dinge, die mir besonders auffielen, als ich mit der Meditation begann, war die Tatsache, daß viele Taten von dem Bedürfnis, ein besonderes Image zu pflegen, hervorgerufen wurden: mich in einer bestimmten Art zu kleiden, mich auf eine bestimmte Art Menschen gegenüber zu verhalten; alles drehte sich um eine Vorstellung von mir selbst, die ich geschaffen hatte und mich dann bemühte aufrechtzuerhalten. Ein Bild von uns selbst mit herumzutragen ist eine große Last und bringt nur Anstrengung und Spannung durch den Gegensatz zwischen dem, was wir wirklich im Moment sind, und dem Bild, das wir aufrechterhalten wollen. Das ist nicht unsichtbares Handeln, das ist nicht Handeln mit der grundlegenden Leerheit des Selbst, welches bedeutet, sich in den Dharma zu geben, in das Tao. Wir müssen nichts Besonderes sein, nichts Besonderes tun, nichts Besonderes besitzen. Wir können die Bilder von uns selbst fallen lassen, die Projektionen loslassen und alle Verspannungen, die durch sie auftreten. Wir sollten uns hineingeben und alles sich von selbst entfalten lassen, ohne eine vorgefaßte Meinung darüber zu haben, wer wir sind.

Suzuki Roshi gibt in seinem Buch "Zen-Geist, Anfänger-Geist" ein gutes Beispiel für die Leichtigkeit und Spannweite eines solchen Geistes. Er sagt, der beste Weg, eine Kuh unter Kontrolle zu halten, sei, ihr eine ausgedehnte Weide zu geben. Es ist schwierig, eine Kuh in einem engen und begrenzten Raum zu kontrollieren. Aber wenn wir ihr eine ausgedehnte Weide geben, dann wird die Weite des Raumes sie unter Kontrolle halten. So ist es auch die beste Art, den Geist unter Kontrolle zu halten, ihm ein weites Feld zu geben. Es besteht keine Notwendigkeit, ihn einzusperren oder zu beschränken oder in einem engen Raum zu begrenzen. Lehnen Sie sich zurück und lassen Sie ihn sein, wie er ist, frei von Streben, frei von Gedanken, irgend etwas erreichen zu wollen. Geben Sie ihm ein ausgedehntes Feld und beobachten Sie seine Entfaltung. Die Einstellung, etwas haben und werden zu wollen, überträgt sich sehr oft auf die geistigen Übungen.

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Wenn wir die Vorstellung haben, etwas erreichen zu wollen, ist dies ein großes Hindernis für die Übung. Es bedeutet, daß die Leerheit der Entwicklung, die Leerheit des Tao nicht verstanden wird.

Es gibt einen Schriftsteller namens Wei Wu Wei, der sehr schlüssig die Idee des Sich-Hineingebens ohne Streben ausdrückt. Er sagt: "Was wir suchen, ist, was sucht." Es ist nicht etwas, das außerhalb von uns ist, nach dem wir die Hand ausstrecken oder das wir festhalten oder das wir erreichen wollen. Er sagt: "Es gibt nur eine Frage, und das Fragen ist die Antwort." Das Fragen ist das, was im Moment geschieht. Und das ist die Antwort auf die Frage. Die Antwort ist nicht etwas "da draußen", das wir finden oder entdecken müssen. Die Antwort auf die eine große Frage, wer wir sind, ist das Fragen selbst.

Hierdurch verstehen wir besser das System der Zen-Meditation und -Lehre, die das Koan, ein scheinbar unlösbares Problem, verwendet. Wir stellen dem Geist ein Problem, das keine rationelle Lösung hat, wie zum Beispiel: "Wie ist das Geräusch einer klatschenden Hand?" Solange wir eine Antwort durch die Auflösung des Problems suchen, so lange verstehen wir den Vorgang nicht. Die Problemstellung, das Fragen des Koans ist die Antwort. Und tatsächlich ist die Lösung des Koans überhaupt keine besondere Antwort. Es ist die Fähigkeit, voll und ganz auf den Augenblick einzugehen. Das ist unsere ganze Übung: ganz und gar im Moment zu sein - im Fragen und im Antworten. Keine Lösung durch das Herbeiwünschen eines bestimmten Zustandes oder eines bestimmten Gedankens oder einer Vorstellung des Verstehens zu suchen, sondern völlig im Moment den Vorgang zu erfahren.

Die größten Hindernisse beim entspannten Hineingeben sind das Anhaften an Bildern des Selbst und die Vorstellungen darüber, wer wir sind und wie wir sein möchten. Sie komplizieren nur ganz unnötig die einfache Erfahrung von dem, was geschieht. Oft verfangen sich Menschen auf dem geistigen Pfade in ein Bild. Ein Bild, von dem sie glauben, es bedeute, ein Yogi oder ein Meditierender oder eine geistige Person zu sein; sie erschaffen sich selbst dadurch die Schwierigkeit, dieser vorgefaßten Meinung über Handlungen und Verhalten nachleben zu müssen.

Als ich in Indien studierte, hatte ich drei verschiedene Lehrer. Mit jedem von ihnen zu arbeiten brachte die wichtige Erfahrung, daß es keine bestimmte Art zu sein gibt. Erleuchtung wird nicht durch eine bestimmte Art der Persönlichkeit ausgedrückt. Diese Lehrer waren sich ganz unähnlich in Bezug auf ihre Persönlichkeit und Lebensart. Jeder einzelne war die Verkörperung der Weisheit, Liebe und Kraft, ohne irgendein Bild, wie diese Verkörperung ausgedrückt werden sollte.

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Wei Wu Wei sagte, Demut sei das Nichtvorhandensein von einem, der stolz ist. Es ist nicht die Frage eines gewissen Auftretens oder einer Persönlichkeit. Wahre Demut ist Leersein vom Selbst. Jeder meiner Lehrer zeigte diese "Abwesenheit" in seiner eigenen natürlichen Art. Den Dharma sich in so vielen unterschiedlichen Arten manifestieren zu sehen war eine große Hilfe bei dem Begreifen, daß es nicht eine bestimmte Art gibt, wie wir sein müssen. Wir müssen keine bestimmten Persönlichkeiten werden, um uns zu läutern, sondern uns entspannt hineingeben und unser Wesen sich ganz seiner Art gemäß ausdrücken lassen, den Dharma sich entfalten lassen. Es gibt nichts zu tun, nichts zu werden und nichts zu besitzen. In diesem Geisteszustand können wir ungezwungen tun, sein und besitzen.

Es gibt eine Zen-Geschichte über das Freisein von Vorstellungen über sich selbst und andere, in welcher der Gouverneur von Kyoto einen großen Zen-Lehrer besucht. Sein Bedienter überreichte eine Karte, auf der sein Name stand, gefolgt von den Worten "Gouverneur von Kyoto". "Ich habe mit einer solchen Person nichts zu schaffen", sagte der Meister, "sage ihm, er soll gehen." Der Bediente gab die Karte mit Entschuldigungen zurück. "Das war meine Schuld", sagte der Gouverneur und kratzte die Worte "Gouverneur von Kyoto" aus. "Frage den Meister noch einmal." - "Oh, er ist es", bemerkte der Meister, als er die Karte sah, "ja, den möchte ich sehen."

Als er sich als "Gouverneur von Kyoto" vorstellte, war er sehr weit vom Dharma entfernt. Als er sich als das, was er im Moment war, vorstellte, frei von einem Bild, frei von Vorstellungen, war er im Einklang mit dem, was geschah, und in der Lage, dem großen Zen-Meister zu begegnen. Die Fähigkeit mit anderen zu verkehren, ohne die Begrenzungen durch Ideen, ermöglicht sehr fruchtbare Beziehungen. Oft schieben wir uns selbst und andere in kleine geistige Kästchen oder Abteilungen - "Jemand ist so und so, ich weiß, was sie wollen!" Durch die Nebel der Vorstellungen sind unsere Beziehungen sehr statisch. Alles verändert sich in jedem Augenblick; unser Geist, unser Körper, die Situation um uns herum. Wir sollten beweglich sein, frei von Vorstellungen und Bildern des Selbst; so können wir die Veränderungen akzeptieren, und unser Verständnis für unsere Beziehungen zu anderen bleibt offen und unbehindert.

Vieles in unserem Leben dreht sich um die Vorstellung des Selbst, um den Versuch, ihr nachzuleben oder sie zu befriedigen. Diese Energie überträgt sich auf unsere geistigen Übungen, wenn wir mit dem Geiste versuchen, irgendwie das Ego zu bekämpfen, und dabei die Vorstellung haben, das "Selbst" sei etwas, was wir loswerden müssen. Mit dem Selbst zu kämpfen bedeutet, daß wir den Ablauf der Dinge nicht begriffen haben. - Wei Wu Wei schrieb eine Parabel, die "Die Gans" heißt:

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Das Ich zerstören? Vertreib es, schlag es, beleidige es, sag ihm, wo es hingehen kann. Sehr spaßig, sicher. Aber wo ist es? Muß es nicht erst gefunden werden? Muß man nicht erst eine Gans fangen, bevor man sie braten kann?

Die große Schwierigkeit hier ist, daß es keine gibt.

All die Bemühungen, all die Energie, um das Ego auszumerzen... und es ist überhaupt nicht vorhanden. Es gibt nichts, worum Sie sich bemühen könnten, und es ist nichts da, das Sie los werden müßten. Wir brauchen nur aufzuhören, jeden Augenblick das Selbst in unserem Geiste zu erschaffen. Im Moment zu sein, frei von Vorstellungen, frei von Bildern, frei vom Anhangen. Einfach und leicht sein. In dieser Unsichtbarkeit, bei dieser Mühelosigkeit gibt es keine Kämpfe und Spannungen.

Es gibt ein schönes Gedicht, das die Möglichkeit beschreibt, so zu leben:

Was ist unter einem "wahren Menschen" zu verstehen? Die wahren Menschen der Vorzeit hatten keine Angst, wenn sie mit ihren Ansichten allein standen. Sie vollbrachten keine Heldentaten; sie schmiedeten keine Pläne. Im Misslingen hatten sie keinen Grund zur Reue, im Gelingen keinen Grund zum Selbstgefühl ... Die wahren Menschen der Vorzeit schliefen ohne Träume, erwachten ohne Besorgnis. Ihre Speise war schlicht, sie atmeten tief ... Die wahren Menschen der Vorzeit kannten nicht die Lust am Geborensein und nicht den Abscheu vor dem Sterben. Ihr Eintritt war ohne Freude, ihr Abgang ohne Widerstreben. Gelassen kamen sie, gelassen gingen sie. Sie vergaßen nicht, woher sie kamen, und fragten nicht, wohin sie gehen würden. Noch bahnten sie sich grimmig ihren Weg durchs Leben. Sie nahmen das Leben, wie es kam, freudig; Sie nahmen den Tod an, wenn er kam, ohne Bedenken, und kehrten ins Jenseits zurück. Sie wollten das Tao nicht beeinträchtigen. Sie versuchten nicht, dem Tao durch ihr Menschliches zu Hilfe zu kommen. So sind jene, die wir wahre Menschen nennen. Sie hatten einen freien Geist, ohne Gedanken, eine klare Stirn und ein heiteres Antlitz. Waren sie kühl? Nur so kühl wie der Herbst. Waren sie warm? Nicht wärmer als der Frühling. Alles, was von ihnen strömte, kam ruhig wie die vier Jahreszeiten.

Wie können wir uns bemühen, ohne zu streben?'

Die Bemühung ist genau die, frei von Streben zu sein; sich entspannt und achtsam in den Moment zu geben. Manche von Ihnen haben es vielleicht schon erfahren, daß Sie nicht mehr durch Projektionen und Vorstellungen gestört werden, wenn die Bewußtheit wächst. Wenn Ihr Geist sich in diesem Bereich befindet, gibt es nichts zu tun. Wenn Sie sich hinsetzen, ist es eben Sitzen, und ohne Bemühung sind Sie sich dessen bewußt, was immer geschieht.

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Es scheint mir, daß es im Moment der vollkommene Ausdruck meines Dharma ist, ein unachtsamer Träumer zu sein. Aber obwohl ich geduldig bin, warte ich darauf, daß es aufhört, und sehe darüber hinweg; es scheint alles zu sein, was ich tun kann...

Es gibt eine Einsicht, die daraus entsteht, daß Sie wissen, daß Sie Tagträumen. Wenn Sie auch nur einen kleinen Einblick in den wandernden Geist haben, so haben Sie damit schon die Möglichkeit zu leben, ohne sich in diese Vorstellungen und Schatten zu verwickeln.

Wie wählt man seinen Lebensunterhalt?

Am besten geschieht es aus der Bewußtheit der entsprechenden Notwendigkeit heraus, und nicht durch irgendeinen Ausdruck des Selbst. Anstatt einer Idee, die wir von uns selbst haben, nachzuleben, können wir das tun, was dem Augenblick entspricht, bereit zum Dienen und angeregt durch Liebe und Mitgefühl. Dann fließt alles einfach und leicht. Wir müssen nichts Besonderes tun, sein oder haben.

Wie ist es mit dem Planen dessen, was getan werden muß?

Der planende Geist wirkt im Augenblick. Seien Sie sich des planenden Geistes als Ausdruck des gegenwärtigen Augenblicks bewußt. Sie sollten bei dem sein, was gerade geschieht, den Gedankenvorgang und den Vorstellungsapparat im Umgang mit der Welt einsetzen, aber die Füße auf dem Boden lassen und erkennen, daß alles nur im Jetzt ist. Handeln Sie, ohne an den Früchten des Handelns zu haften.

Wenn ich rede, habe ich eine Menge Vorstellungen darüber, was ich sagen möchte. Ich möchte gerne wissen, wie es ist, wenn man wirklich zuhört und achtsam spricht.

Es gibt nur einen Weg, dies herauszufinden. Es ist die Botschaft des Zen-Koans. Ein Zen-Meister gibt seinem Schüler die Aufgabe Mu, und der Schüler sitzt auf seinem Kissen und beschäftigt sich damit. "Mu, Mu, Mu... Was werde ich ihm sagen, wenn er fragt, worum es sich dreht? ...Mu, Mu..." Oder was immer der Koan ist. Dann geht er hinein zur Unterredung mit dem Meister und denkt die ganze Zeit: "Was werde ich nur sagen?" Wenn ihn der Meister fragt, was er über Mu entdeckt hat, sucht er unsicher nach einer Antwort. Der Meister schlägt ihm über den Kopf. Er ist überhaupt nicht im gegenwärtigen Moment gewesen. Die Antwort auf die Frage ist überhaupt keine Antwort, außer genau im Moment zu sein. Jede absolute Erwiderung, leer von einem Selbst, ist die Antwort auf die Frage. Das Fragen ist die Antwort. Was wir suchen, ist das

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Suchende. Alles geschieht im Moment. Aber unser Geist sucht ständig nach einer leichten Antwort, die uns jemand geben kann. Wenn ich die Antwort weiß, dann habe ich "es". Deshalb werden Sie über den Kopf geschlagen. Über den Kopf geschlagen werden geschieht im gegenwärtigen Moment, ist genau hier.

Wie steht es mit Musik hören?

Musik ist ein gutes Beispiel dafür, daß Sie den Moment verpassen, wenn Sie aus ihm herauskommen. Wenn Sie Musik hören und der Geist zu denken beginnt, bleibt die Musik für Sie nicht stehen. Während Sie denken, können Sie nicht hören. Es kann eine gute Übung sein, bei dem Fließen der Töne zu verweilen. Die Vergänglichkeit zeigt sich ganz klar. Musik ist nicht etwas einzelnes, sondern ein ständiges Aufsteigen und Vergehen.

Es scheint einen Unterschied zu geben zwischen Bewußtheit und Vertiefung. Ich kann in Musik versunken sein, ohne achtsam zu sein; eben sehr im Moment, jedoch ohne Bewußtheit darüber.

Das ist der Unterschied zwischen Sammlung und Achtsamkeit. Sie können sehr zielgerichtet auf die Musik sein, ohne besonders achtsam zu sein, obwohl etwas Achtsamkeit vorhanden sein wird. Vorherrschend ist der Faktor der Einspitzigkeit, wodurch der Geist nicht abweicht. Fügen sie einfach scharfe Achtsamkeit hinzu, und dann haben Sie die ganze Übung.

Wie läutern wir uns?

Das Fabelhafte an der ganzen Übung ist, daß die Bewußtheit selbst läuternd wirkt. Es ist nicht so, daß wir ein bestimmtes Programm für uns aufstellen: "Ich werde rein sein", was sich in etwa selbst widerspricht. Die Bewußtheit über das Geschehen im Moment ist das, was reinigt; es gibt nichts zu erreichen oder zu sein, nichts Besonderes zu tun oder zu haben; nur ein entspanntes Sitzen mit Bewußtheit.

Einige der größten Wesen in all den Jahrhunderten haben gelehrt, Bücher geschrieben, Musik gespielt, Kunst geschaffen und dergleichen. Ist all das nicht Ausdruck ihres Selbst?

Wenn Sie unsichtbar sind, wenn kein Wunsch, etwas zu sein oder etwas zu haben, da ist, dann können Sie in Wirklichkeit alles tun oder sein oder haben. Es ist vollkommen wahr, daß viele der größten erleuchteten Wesen sehr spontan ihr Verständnis der Dinge, den Dharma durch Kunst und Literatur ausgedrückt haben; aber sie hatten nicht die Absicht, etwas zu demonstrieren oder zeigen zu wollen. Es war einfach ein Teil der Entfaltung, ein sehr spontaner und intuitiver Ausdruck, und kam keineswegs aus einer Vorstellung des Ich oder Selbst oder

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"Seht her". Viele der großen Meister waren Künstler oder Dichter; aber die Kunst, die Kreativität, kam aus der Leerheit.

Kann man immer noch den Wunsch haben, etwas zu tun, anderen zu helfen, und dabei nicht selbstsüchtig sein?

Es gibt ein semantisches Problem bei der Verwendung des Wortes "Begehren", um zwei verschiedene Zustände zu beschreiben. Eines ist das Begehren der Gier und des Ergreifens, und das andere ist das Begehren der Motivation. Das Begehren der Motivation kann aus der Leerheit, aus Weisheit, aus Liebe und Mitgefühl kommen. Diese Art der Motivation ist völlig verschieden von den Taten, die aus Ergreifen oder der Vorstellung des Selbst kommen. Nach seiner Erleuchtung lehrte der Buddha fünfundvierzig Jahre lang. Viel Tun war damit verbunden, aber kein Täter dahinter. Es war ein Entfalten des Dharma. Und genauso werden wir uns in unseren Leben, auf unsere eigene Art, entfalten; wir bringen unsere Persönlichkeit zum Ausdruck, unsere eigene Natur. Wenn wir es ohne die Einstellung tun können "Ich muß dies tun, um jemand zu werden, um berühmt oder reich zu werden", es sich nur im Moment entfalten lassen, dann wird alles möglich. Es ist ein gewaltiges Sich-Öffnen in die Freiheit. Wenn wir frei bleiben von Bildern über uns selbst und den Vorstellungen des Ich, dann bleiben wir sehr viel mehr offen und intuitiv gegenüber den wechselnden Situationen. Wenn wir aber eine Vorstellung von uns selbst haben, daß wir auf eine ganz bestimmte Art und Weise sind, dann wirkt diese Vorstellung wie Scheuklappen, und wir folgen auf einem sehr schmalen Pfad dem bestimmten Bilde oder der Vorstellung und reagieren nicht auf die wechselnden Situationen um uns herum. Wenn wir offen und empfänglich bleiben, verläuft der ganze Vorgang als harmonisches Ineinanderwirken. Es besteht keine Notwendigkeit, uns durch ein Bild über uns selbst zu begrenzen. Bleiben Sie beweglich. Bleiben Sie offen.

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Sechsundzwanzigster Abend -

Erleuchtungsfaktoren

Der Buddha beschrieb sehr klar den Pfad zur Befreiung. Dieser Weg zur Freiheit besteht aus der Entwicklung von sieben Geistesfaktoren, welche die sieben Faktoren der Erleuchtung genannt werden. Wenn alle diese verschiedenen Geistesfaktoren entwickelt und zur Reife gebracht werden, wird der Geist von allen Arten der Fesseln, von allen Arten der Leiden befreit. All die verschiedenen geistigen Wege beschäftigen sich mit der Entwicklung des einen oder anderen Gliedes der Freiheit, oder mit allen sieben.

Der erste Faktor der Erleuchtung ist Achtsamkeit. Achtsamkeit ist die Fähigkeit zu bemerken, sich bewußt zu sein, was im Moment geschieht, und den Geist vom Vergessen abzuhalten. Buddha sagte, er kenne keinen anderen Faktor, der so stark auf die Förderung der heilsamen Geisteszustände und den Abbau der unheilsamen wirke wie die Achtsamkeit. Es gibt nichts Besonderes, was wir tun müssen, um die unheilvollen Zustände auszuschalten oder die heilsamen zu fördem, außer uns des Momentes bewußt zu sein. Bewußtheit selbst ist die reinigende Kraft.

In einer berühmten Rede sagte Buddha, daß die Entwicklung der vier Grundlagen der Achtsamkeit der einzige Weg zur Freiheit sei. Bewußtheit ist von vielen verschiedenen Glaubensrichtungen mit vielen verschiedenen Namen belegt worden, aber nicht der Name ist wichtig. Die Entwicklung dieser Art von Wachheit, von Aufmerksamkeit, von Achtsamkeit, ist der Weg.

Es gibt vier Grundlagen oder Anwendungen der Achtsamkeit. Die erste ist Achtsamkeit auf den Körper: die Atmung, Empfindungen, verschiedene Bewegungen und Körperhaltungen. Wir werden uns bewußt über und empfindsam für die wechselnden Aspekte unserer körperlichen Existenz.

Die zweite Grundlage der Achtsamkeit ist Gefühl, die Eigenschaft des Angenehmen, Unangenehmen oder Neutralen, die in jedem Augenblick des Bewußtseins aufsteigt. Bei jedem Objekt gibt es ein entsprechendes Gefühl. Wenn diese Gefühle vorherrschen, wenn die Eigenschaft des Angenehmen oder Unangenehmen ausgeprägt ist, werden sie zu den Meditationsobjekten. Gefühle sind wichtig, da sie die Faktoren sind, die unser Anhaften und Werten bedingen. Aufgrund der angenehmen Gefühle begehren wir die Objekte. Durch unangenehme Gefühle bedingt verurteilt der Geist mit Abneigung und Haß. Die zweite Anwendung der Achtsamkeit besteht darin, daß Sie diese Gefühle

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bemerken, wenn sie aufsteigen und vergehen, ohne bei den angenehmen zu haften und ohne die unangenehmen zu verurteilen.

Die dritte Grundlage der Achtsamkeit ist Bewußtsein. Sie sind sich der wissenden Fähigkeit bewußt, mit all ihren begleitenden Geisteszuständen. Wenn Ärger im Geiste aufsteigt, sind Sie sich des ärgerlichen Geistes bewußt; wenn Begierde da ist, sind Sie sich des gierigen Geistes bewußt, oder des ängstlichen Geistes. Sie nehmen wahr, wie das Bewußtsein von all den verschiedenen Faktoren gefärbt wird, ohne zu ergreifen oder abgeneigt zu sein, ohne zu verurteilen, ohne zu werten oder zu erklären. Ärger ist nicht das Ich, nicht das Selbst, er ist lediglich ein Geistesfaktor, der in diesem Moment das Bewußtsein färbt. Reagieren Sie nicht darauf, betrachten Sie ihn, wie er aufsteigt und vergeht. Durch die Geisteshaltung der allgemeinen Betrachtung hat kein Geisteszustand mehr die Kraft, den Geist zu beunruhigen. Sie gehören alle zu dem vorbeiziehenden Schauspiel. Es gibt nichts, worüber Sie sich begeistern können, und nichts, was Sie bedrücken könnte. Sie sind achtsam und bewußt.

Die letzte der vier Grundlagen ist die Achtsamkeit auf den Dharma, das Gewahrsein der Wahrheit, des Gesetzes, die Bewußtheit über die drei Existenzmerkmale und die vier Edlen Wahrheiten. Wir erkennen das Leiden und den Grund des Leidens, das Ende des Leidens und den Weg zu diesem Ende. Wir sind achtsam auf diese Arten der Einsichten, wenn sie aufsteigen. Die Achtsamkeit auf den Dharma.

Es gibt viele Vipassaná-Methoden, die sich auf einen oder mehrere dieser Bereiche der Achtsamkeit konzentrieren. Durch jede von ihnen wird der Geist in den Zustand des klaren Erkennens, der Ausgewogenheit versetzt. Verschiedene Methoden mögen verschiedenen Menschen lieber oder angenehmer sein, es hängt von Temperament, Persönlichkeit, Lebensbedingungen und Bedingtheiten ab. An der Technik selbst sollten Sie nicht haften, wichtig ist die Achtsamkeit, die entwickelt wird.

Das zweite Glied der Erleuchtung wird Gesetzesergründung genannt. Sie ist die Eigenschaft des Geistes, die den geistig-körperlichen Vorgang ergründet, untersucht und analysiert, und zwar nicht mit Gedanken, sondern mit einem stillen, friedlichen Geist. Intuitiv und erfahrend untersuchen wir, wie der ganze Vorgang abläuft. Sie ist eine andere Bezeichnung für den Weisheitsfaktor, für das Licht des Geistes, das alles, was geschieht, beleuchtet. Wenn die Ergründung entwickelt ist, erkennen Sie, daß alles in unserem Geist und Körper sich in ständiger Bewegung befindet. Es gibt nichts Beständiges, alles steigt auf und vergeht unentwegt. Beide, Bewußtsein und Objekte, kommen und gehen. Es gibt keinen festen Boden, keinen Ort der Sicherheit. Alles befindet sich in ständiger Veränderung. Durch diesen Faktor der Ergründung wird die Erfahrung

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der Vergänglichkeit tief in unser Verstehen integriert. Wir erfahren auf den höchsten Stufen, daß der Geist nur ein fortwährendes Fließen der Phänomene, Gedanken, Bilder, Empfindungen, Stimmungen ist; daß der Körper eine Ansammlung von Schwingungen, von Gefühlen ist, nichts Festes, nichts, an das wir uns klammern können. Durch die Erfahrung der Vergänglichkeit kommt ein tiefes intuitives Begreifen, daß es nichts im Geistigen und Körperlichen gibt, das dauerndes Glück vermittelt. Keine dauernde Befriedigung, Erfüllung oder Vollkommenheit ist möglich, da sich alles in ständiger Auflösung befindet. Es ist so, als ob Sie Glück oder Sicherheit in einer Seifenblase suchen. Im Moment der Berührung vergeht sie. Auflösung von einem Augenblick zum anderen. Innewohnende Unsicherheit. Und zusammen mit der Vergänglichkeit und der unbefriedigenden Natur der Dinge wird auch die Unpersönlichkeit erkannt. Nirgendwo im Geiste und Körper kann man eine beständige Wesenheit finden, die Selbst oder Ich genannt werden kann. Hinter dem Vorgang ist niemand, auf den es sich bezieht.

"In dem Gesehenen ist nur das Gesehene; in dem Gehörten nur das Gehörte; in dem Gefühlten ist nur, was empfunden wird; in dem Gedachten ist nur das Gedachte." Es gibt nur dies Fließen des Vorganges. Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen, Denken. Unser gesamtes Universum besteht aus diesen sechs Vorgängen. Leere Phänomene ziehen dahin. Ohne ein Selbst, ohne ein Ich. Alle diese Merkmale werden auf einer hohen Ebene intuitiv wahrgenommen, während sich der Faktor der Ergründung entwickelt. Die Weisheit erleuchtet den Geist.

Eine der äußerlichen Hilfen bei der Entwicklung des Weisheitsfaktors, sagt man, sei die persönliche Reinheit, die Reinheit unseres Körpers, unserer Kleidung und Umgebung. Als Beispiel wird eine Spirituslampe angeführt. Wenn Glas, Docht und Spiritus unsauber sind, wird das Licht, das von der Lampe kommt, weder klar noch hell scheinen. Aber wenn das Glas glänzt und der Docht und der Spiritus sauber sind, wird das Licht der Lampe sehr hell sein; dann ist es leicht, klar zu sehen.

Der dritte Erleuchtungsfaktor ist Willenskraft oder Bemühung. Nichts geschieht ohne Bemühung. Was immer wir auch in der Welt erreichen wollen, ob wir Geld haben wollen oder Fertigkeiten auf einem Gebiet, immer muß eine gewisse Menge an Bemühung an den Tag gelegt werden. Zur Zeit entwickeln wir das Höchste und Beste. Bemühung und Willenskraft sind nötig Der Buddha zeigte nur den Weg, jeder von uns muß diesen Weg selbst gehen. Es gibt keinen, der ein anderes Wesen erleuchten kann. Die Befleckungen Gier, Haß und Unwissenheit existieren in unserem eigenen Geist. Niemand hat sie dort hineingelegt. Niemand kann sie herausnehmen. Wir müssen uns selbst läutern. Die Willenskraft muß von jedem einzelnen eingesetzt werden, um auf dem Pfad

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der Reinheit zu gehen. Willenskraft ist ein machtvoller Faktor; wenn er gefördert und entwickelt wird, überwindet er die Stumpfheit, Trägheit und Faulheit des Geistes. Wann immer Schwierigkeiten oder Probleme auf dem Wege auftauchen, wird das Einsetzen der Bemühung alles in Gang bringen. Sie ist eine große Unterstützung, ein integraler Teil des Weges zur Freiheit.

Das vierte Glied der Erleuchtung ist Verzückung. Verzückung bedeutet intensives Interesse am Objekt. Sie ist als begeisterte Freude bezeichnet worden. Ein freudvolles Interesse an dem, was geschieht. Ein Beispiel: Ein Mensch wandert viele Tage durch eine Wüste, unwohl und müde, schmutzig und durstig. Nicht allzu weit weg sieht er einen großen See mit klarem Wasser. Das Interesse seines Geistes an diesem Wasser, die Freude, die er empfindet, ist dem Erleuchtuntgsfaktor Verzückung vergleichbar. Verzückung ist eine Weite des Geistes, die aus dem Abstand kommt, frei von Ergreifen, Anklammern und identifizierendem Verwickeltsein ist.

Eine Art, diesen Faktor zu entwickeln, ist, über die zehn Vollkommenheiten der Erleuchtung Buddhas nachzudenken. Die Vollkommenheit der Freigebigkeit. Ein Geben, das von dem Bedürfnis zu helfen hervorgerufen wird, erleichtert die Schmerzen und Leiden aller Wesen. Der Buddha überlegte sich nicht, ob einige Menschen es wert waren oder nicht. Allumfassendes Geben. Die Vollkommenheit der Sittlichkeit. Absolutes Nichtverletzen aller Wesen. Entsagung. Willenskraft. Weisheit. Nachsicht, Geduld, fortwährende Beharrlichkeit. Geduld ist eine große Tugend auf dem geistigen Pfade. Liebende Güte. Wahrhaftigkeit. Entschlossenheit. Gleichmut. Alle diese geistigen Eigenschaften wurden vollkommen in der Erleuchtung Buddhas. Der Faktor Entzückung wird in unserem Geist anwachsen, wenn wir über den Buddha meditieren und darüber nachdenken, daß wir die gleichen Eigenschaften entwickeln. Bei jedem Geben, bei jeder nachsichtigen und wahrhaftigen Handlung und bei allen anderen Taten haben wir Teil an der Vollkommenheit der Buddhaschaft. Die Betrachtung unserer eigenen Entwicklung, unserer eigenen heilsamen Taten bringt unserem Geist Freude. Denken Sie über den Dharma nach, die vier Edlen Wahrheiten, die Tatsache der Vergänglichkeit und Unpersönlichkeit - alles zeitlose Merkmale der Existenz, wahr zu jeder Zeit und für alle Menschen. Meditieren Sie über die Wahrheit des Dharma, über Ihre eigene Erfahrung mit ihm und seine einladende Eigenschaft des "Komm und sieh", und nicht: "Du mußt glauben". Die Würdigung des Gesetzes, des Tao, bringt dem Geist große Freude und fördert den Faktor der Verzückung. Durch erwartungsvolle Freude bei der Ergründung der Wahrheit wird ein leichter und heiterer Geisteszustand entwickelt.

Der fünfte Faktor der Erleuchtung ist Gestilltheit. Ein Beispiel für diese Art der Ruhe: Jemand geht aus dem heißen Sonnenlicht in den Schatten eines großen Baumes. Die Kühle, die diese Person empfindet, ist wie der Faktor Gestilltheit,

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wenn alle Leidenschaften gedämpft sind; ein kühler Geist, der nicht vor Lust oder Ärger brennt.

Der sechste Faktor der Erleuchtung ist Sammlung. Sammlung bedeutet die Fähigkeit des Geistes, einspitzig auf ein Objekt gerichtet zu bleiben, ohne zu flackern oder abzuweichen. Der ungesammelte Geist bleibt oberflächlich, wandert von einem Objekt zum anderen. Sammlung gibt dem Geist Stärke und durchdringende Kraft. Es gibt zwei Arten der Sammlung. Die eine wird dadurch entwickelt, daß sie auf ein einzelnes Objekt gerichtet wird und dann die Konzentration bis zum Punkt der Versenkung gebracht wird. Diese Art der Einspitzigkeit ist die Grundlage für viele psychische Kräfte. Die andere Form der Sammlung, die zur Entwicklung der Einsicht benutzt wird, wird momentane Sammlung genannt. Der Geist wird gleichmäßig und einspitzig auf wechselnde Objekte gerichtet. Es ist diese Art der Sammlung, die zusammen mit allen anderen Faktoren der Erleuchtung zur Freiheit führt.

Das letzte Glied der Erleuchtung ist Gleichmut. Gleichmut bedeutet Ebenheit des Geistes. Wenn alles gut geht, keine wilde Begeisterung. Wenn etwas daneben geht, keine Depressionen. Gleichmut ist Unparteilichkeit gegenüber allen Phänomenen, Sie behandeln alle gleich. Das Beispiel für Gleichmut ist die Sonne, die auf die Erde scheint. Die Sonne wählt nicht, auf einige Dinge zu scheinen und auf andere nicht. Sie scheint auf alles gleichmäßig. Der Faktor Gleichmut bedeutet, ja zu sagen und offen zu sein gegenüber allen Objekten. Ein Weg, diesen Faktor des Gleichmutes zu entwickeln, besonders im Umgang mit anderen, ist, sich vor Augen zu halten, daß alle Wesen die Eigner, die Erben ihrer eigenen früheren Taten sind. Wenn wir sehr glückliche Wesen sehen, dann können wir ihr Glück würdigen und uns an ihrem Glück erfreuen, aber wir tun es mit einem gleichmütigen Geist, weil wir wissen, daß sie die Früchte ihrer früheren Taten ernten. Wenn wir Wesen leiden sehen, dann empfinden wir Mitleid und bemühen uns, ihre Leiden zu lindern, aber mit einem ebenmäßigen Geist, weil wir wissen, daß es das Wirken des Gesetzes, des Dharma, ist. Gleichmut ist nicht Gleichgültigkeit, sondern vielmehr eine ausgeprägte Ausgeglichenheit des Geistes. In der Meditation, wenn der Geist bis in die kleinsten Feinheiten der ständig wechselnden Vorgänge eindringt, wird alles durch den Faktor Gleichmut ausgewogen gehalten, in vollkommener Gelassenheit.

Dies sind die sieben Eigenschaften der Erleuchtung, die durch unsere Übung zur Reife gebracht werden müssen. Drei von ihnen sind erweckende Faktoren und drei sind beruhigende. Weisheit, Willenskraft und Verzückung erwecken den Geist; sie machen ihn wach und aufmerksam. Gestilltheit, Sammlung und Gleichmut beruhigen den Geist und machen ihn still. Sie alle müssen in Harmonie zueinander stehen: Wenn der Geist zu sehr erweckt wird, wird er ruhelos; wenn der Geist zu sehr beruhigt wird, wird er schläfrig. Der Faktor Achtsamkeit ist

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so voller Energie, daß er nicht nur alle anderen Faktoren erweckt und stärkt, sondern sie auch in ihrem richtigen Gleichgewicht hält.

Die Entwicklung des Bewußtseins auf diesem Pfad kann uns mit außergewöhnlicher Inspiration und mit Mut erfüllen. Stellen Sie sich einen Geist vor, der Achtsamkeit, Weisheit, Willenskraft, Verzückung, Gestilltheit, Sammlung und Gleichmut zur vollen Entwicklung gebracht hat. Dieser Geist strahlt und ist voller Freude. Das ist es, was wir tun. Die Faktoren der Erleuchtung bringen nicht nur Glück im Augenblick, sondern sie neigen sich alle dem Nirvana, der Erleuchtung, der Freiheit zu.

Manchmal können wir leicht von einem Tag zum anderen vergessen, was wir tun, wenn wir uns mit der Ruhelosigkeit, den Schmerzen, der Pein und dem wandernden Geist beschäftigen. Aber was von Augenblick zu Augenblick unmerklich, jedoch fortschreitend, sicher und beständig geschieht, ist die Entwicklung und das Wachsen dieser Erleuchtungsglieder. Es ist etwas sehr Großes, was hier vor sich geht. Es ist die edelste Entwicklung des Bewußtseins.

Kommt Erleuchtung stufenweise oder blitzartig?

Beides. Erleuchtung ist immer plötzlich, in dem Sinne, daß sie ein intuitives Verstehen ist. Sie ist nicht etwas, das Ihrem Denken entspringt. Sie kommt aus einem schweigenden Geist, ein intuitives, plötzliches, wortloses Verstehen. Aber diese Art des intuitiven Verstehens geschieht nicht zufällig. Es gibt eine bestimmte Ausgewogenheit des Geistes, die entwickelt worden ist und die dieses plötzliche Verstehen möglich macht.

Und nach diesem Verstehen, handelt die Person dann dementsprechend? Es scheint, als habe ich jetzt etwas Verständnis, aber ich scheine nicht dementsprechend zu handeln.

Schon die Tatsache, daß Sie etwas bewußter sind, verändert die Art und Weise, wie Sie handeln. Die Bewußtheit ist voller Kraft. Wenn Sie einmal einen flüchtigen Blick aus dem Betrachten des Geschehens erhascht haben, ist es sehr schwierig, sich in derselben alten Weise wieder in etwas zu verwickeln, auch wenn Sie dieselben Handlungen ausführen. Es ist so, als ob eine kleine Stimme im Hintergrund sagt: "Was tust du da? Dies kleine bißchen Bewußtheit, das entwickelt worden ist, wirkt als mächtige Kraft. Und langsam wird das Verständnis mehr und mehr in unsere Handlungen integriert.

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Ich habe eine Frage über die Vergänglichkeit des Glückes. Es gibt Menschen in der Welt, die ständig in der Liebe Gottes leben, und sie scheinen immer Freude auszustrahlen.

Dies muß auf zwei Arten verstanden werden: erstens, alle Zustände sind augenblicklich vergänglich; das heißt, Glück ist nicht ständig im Geiste, da auch der Geist von Moment zu Moment aufsteigt und vergeht. Deshalb ist es in diesem sehr grundlegenden Sinne, auf der Ebene der Bewußtseinsmomente, vergänglich. Es gibt nichts Beständiges, nichts Statisches. Im zweiten Sinne: es gibt Menschen, die pflegen die Liebe zu Gott, sie pflegen die Verbindung mit Gott, Gotteserkenntnis, durch die Entwicklung der Sammlung. Sie mögen eine lange Zeit diese Art von Glück genießen. Obwohl sich der Zustand in Bewegung befindet, ist es doch ein recht kontinuierlicher. Aber auch dies, als ein Zustand von längerer Dauer, ist vergänglich. Solange die Bedingungen für die Liebe Gottes vorhanden sind, solange die Sammlung gepflegt wird, so lange trägt dies seine karmischen Früchte. Aber wenn Unwissenheit latent im Geiste vorhanden ist, wird dieser Zustand der Wonne nur anhalten, solange die Kraft der Sammlung dahinter steht, und dann wird der Geist wieder in Zustände verfallen, wo er getrübt wird durch Gier, Haß und Nichtwissen. Durch die Kraft des gesammelten Geistes können die Befleckungen unterdrückt werden, und solange man gesammelt ist, ist alles schön und glücklich. Sobald der Geist aus dem Zustand der gesammelten Verzückung herauskommt, werden die Faktoren, die ausgeschaltet und im Geiste unterdrückt waren, wieder wirksam. Deshalb ist es wichtig, die Befleckungen durch Einsicht voll und ganz aufzuheben, damit sie nicht mehr im Geiste aufsteigen können.

Warum bleibt ein Buddha nicht unter den Menschen, wenn er doch voller Mitgefühl ist?

Ein Buddha ist die Verkörperung des Dharma, des Gesetzes; er gehört zu seinem Wirken. Nach der Geburt müssen Tod und Verfall unweigerlich folgen. Ob Sie erleuchtet sind oder nicht, dies ist ein Teil der natürlichen Entfaltung. Aber die Wahrheit selbst ist zeitlos, und nachdem uns der Pfad zum Verständnis gewiesen ist, brauchen wir uns nicht auf irgend jemand außerhalb von uns zu verlassen.

Ich habe bemerkt, daß Liebe nicht einer der Erleuchtungsfaktoren ist. Wie steht es mit der Gefahr, trocken und kalt zu werden?

Es ist wichtig, die verschiedenen Bedeutungen von Liebe zu verstehen. Die erste Ebene ist die, die wir schon besprochen haben, die handelnde Liebe. Wir lieben jemand, weil wir etwas dafür bekommen. Die zweite Art der Liebe ist ein Wohlwollen für alle Wesen, eine allumfassende liebende Güte, die allen Wesen überall Glück und Freude wünscht. Dies ist eine unbegrenzte und bedingungslose

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Art der Liebe. Aber sie dreht sich immer noch um Vorstellungen, das heißt um die Vorstellungen von Mann und Frau, von Wesen. Diese Vorstellungen sind keine absoluten Wirklichkeiten. Was wir wirklich sind, ist eine Ansammlung von Elementen, die in jedem Augenblick aufsteigen und vergehen. Es gibt eine dritte Art der Liebe, höher noch als die allumfassende liebende Güte. Diese Liebe ist die natürliche Harmonie, die durch die Vernichtung der Grenzen, die aus der Vorstellung eines Selbst kommen, entsteht. Kein "Ich", kein "Anderer". Es ist Liebe, die der Weisheit entspringt, und auf dieser Ebene sind "Liebe" und "Leerheit" dieselbe Erfahrung. Dann gibt es nicht mehr die Vorstellung "Ich liebe". Sie ist frei von der Vorstellung des Ich, des Selbst. Wenn Sie die höchste Stufe der Liebe erfahren, stellen Sie auch alle anderen Ebenen dar. Sehen Sie sich die großen Lehrer an, die Sie kennen, sie sind voller Liebe und Licht, haben jedoch nicht die Vorstellung, daß sie so sein sollten; es ist der natürliche Ausdruck des Dharma.

Neunundzwanzigster Abend - Buddhistische Wege

Buddha lehrte nicht Buddhismus. Er lehrte den Dharma, das Gesetz. Er lehrte nicht die Satzungen eines Glaubens oder eines Dogmas oder einer Lehre, die blind akzeptiert werden müssen. Durch seine eigene Erleuchtungserfahrung zeigte er für jeden von uns den Weg, damit wir die Wahrheit in uns selbst finden können. Während der fünfundvierzig Jahre, die er lehrte, gebrauchte er viele verschiedene Worte und Vorstellungen, um auf die Wahrheit hinzuweisen. Die Worte oder Vorstellungen sind nicht die Wahrheit selbst; sie deuten lediglich auf eine bestimmte Art der Erfahrung hin. Zu Buddhas Zeiten verwechselten die Menschen, durch die Kraft seiner Weisheit und Erfahrenheit, im allgemeinen nicht die Worte mit der Erfahrung. Sie hörten, was der Buddha zu sagen hatte, blickten nach innen und erfuhren die Wahrheit in ihrem eigenen Geist und Körper.

Im Laufe der Zeit begannen die Menschen immer weniger zu üben und verwechselten die Worte mit der Erfahrung. Verschiedene Richtungen entstanden, die über Ansichten diskutierten. Es ist so, als ob man bei dem Versuch, das Licht einer Vollmondnacht zu erklären, auf den Mond zeigt. Den Finger statt des Mondes zu betrachten bedeutet, das Zeigen nicht zu verstehen. Wir sollten nicht den Finger mit dem Mond verwechseln und nicht die Worte, die auf die Wahrheit deuten, für die Erfahrung selber halten.

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Als der Dharma nach China kam, entwickelte er sich in eine bestimmte Richtung durch eine Verbindung der Lehren des Buddhismus und des Taoismus. Einer derjenigen, der die Entwicklung und Richtung der Ch'an (später Zen)-Schule am meisten beeinflußte, war der sechste chinesische Patriarch, Wei Lang. Obwohl man ihm nachsagt, daß er des Lesens und Schreibens nicht kundig gewesen sei, war sein Geist so geläutert und durchdringend, daß er, nachdem er eine Zeile des Diamant-Sutra gehört hatte, erleuchtet war. Oft lasen ihm die Menschen Schriften vor, damit er ihnen die eigentliche Bedeutung erklären konnte.

Er gab eine sehr klare Beschreibung davon, was die verschiedenen buddhistischen Lehren oder Fahrzeuge wirklich bedeuten.

Buddha Predigte die Lehre von den 'Drei Fahrzeugen' und ebenso von dem 'Höchsten Fahrzeug'. Beim Versuch dies zu verstehen, solltest du deinen eigenen Geist untersuchen und ganz unabhängig von Dingen und Phänomenen handeln. Der Unterschied dieser vier Fahrzeuge existiert nicht im Dharma selbst, sondern bloß in der Leute Geist. Zu sehen, zu hören und das Sutra aufsagen, ist das Kleine Fahrzeug. Den Dharma kennen und dessen Sinn verstehen, ist das Mittlere Fahrzeug. Den Dharma in die Praxis umsetzen, ist das Große Fahrzeug. Alle Dharmas vollauf zu verstehen, sie vollkommen in sich aufgenommen zu haben, von allen Anhaftungen frei zu sein und sich im Besitz von nichts zu befinden, ist das Höchste Fahrzeug.

In allen Traditionen, ob es in Indien, in Burma, in China, in Japan, in Tibet oder Amerika ist, überall gibt es jene, die an den Worten haften, die das Sutra aufsagen. Das ist das Kleine Fahrzeug. Wenn wir die Worte Taten werden lassen und den Dharma erfahren, dann gehen wir durch die Fahrzeuge hindurch, bis wir an nichts mehr anhaften, nichts mehr besitzen und den Dharma voll und ganz leben, von Augenblick zu Augenblick. Das ist das Höchste Fahrzeug des Dharma, die Vollkommenheit der Übung. Dies ist in keiner Lehre enthalten, es ist in der Entwicklung des Verstehens von jedem Wesen enthalten.

Als sich historisch verschiedene Ausdrucksformen des Dharma entwickelten, haben große Lehrer viele gute Methoden benutzt, um die Menschen anzuleiten, in ihren eigenen Geist hinein zuschauen, den Dharma in sich selbst zu erfahren. Einige der alten, bekannten Worte, die als Vorstellungen eine große Fessel geworden waren, wurden auf neue Art verwendet, um den Menschen zu ermöglichen, die Realität des Augenblicks zu erkennen.

Zum Beispiel hilft das Verstehen der verschiedenartigen Verwendung des Wortes "Buddha" sehr bei dem Begreifen der einzelnen Traditionen, die das Wort unterschiedlich verwenden. Erstens bezieht sich Buddha auf die historische Person, Siddhartha Gotama, die voll erleuchtet wurde. Aber auch der

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Geist frei von Bef1eckungen ist damit gemeint, Buddha-Geist, Buddha-Natur. Der Geist, der frei ist von Gier, Haß und Unwissenheit.

Es gab bis dreihundert Jahre nach dem Tode Buddhas keine Buddha-Statuen. Die Übung der Menschen war das Bild Buddhas, es bestand keine Notwendigkeit, es zu veräußerlichen. Aber nach einiger Zeit, nachdem die Übung verloren ging, begannen die Menschen den Buddha außerhalb ihres eigenen Geistes zu stellen, zurück in Zeit und Raum. Nachdem das Konzept veräußerlicht war und Bilder gemacht wurden, begannen große Lehrer, die andere Bedeutung Buddhas wieder zu unterstreichen. Es gibt ein Wort: "Wenn du einen Buddha siehst, töte ihn." Ein sehr erschreckender Ausspruch für Menschen, die vor einem Bild Weihrauch verbrennen und beten. Wenn Sie im Geiste eine Vorstellung von einem Buddha außerhalb von Ihnen selbst haben, töten Sie diese, lassen Sie sie los. Es gab einen intensiven Dialog darüber, wie man die eigene Buddha-Natur verwirklicht, während eines Lebens Buddha wird und in den eigenen Buddha-Geist blickt; es kam neues Leben in die Übungen.

Gotama Buddha erinnerte die Menschen wiederholt daran, daß die Erfahrung der Wahrheit aus dem eigenen Geist kommt. Es gibt die Geschichte über einen Mönch, der sehr eingenommen war von der physischen Gegenwart des Buddha, über den man sagt, daß er sowohl die körperliche als auch die geistige Vollkommenheit darstellte, daß er bei jeder Gelegenheit sich dicht neben ihn setzte und seine physischen Formen betrachtete. Nach einiger Zeit wies Buddha ihn zurecht. Er sagte dem Mönch, er könne diese Körperform hundert Jahre lang betrachten und werde doch nicht den Buddha sehen. Wer den Dharma sieht, sieht auch den Buddha. Der Buddha ist innen. Es ist die Erfahrung der Wahrheit. Wir müssen immer im gegenwärtigen Moment sein, in der Erfahrung des Jetzt.

Wieder Wei Lang:

Wir sollten innerhalb der Geistesessenz nach Buddhaschaft trachten und sollten nicht außerhalb unser danach suchen. Derjenige, der von seiner Geistesessenz nichts weiß, ist ein gewöhnlicher Mensch. Der, welcher in seiner Geistesessenz erleuchtet ist, ist ein Buddha.

Nicht Buddha als historische Person, sondern Buddha als Freiheit von Befleckungen, als Reinheit des Geistes. Das ist der Buddha, zu dem wir alle werden müssen.

Eine andere Vorstellung, die oft mißverstanden wird aufgrund unterschiedlicher Traditionen, ist die Vorstellung des Bodhisattva. Das Wort "Bodhisattva" hat zwei verschiedene Bedeutungen. In einem ganz bestimmten Sinne bezieht es sich auf ein Wesen, das gelobt hat, die höchste Erleuchtung zu erringen, wie es

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Siddhartha Gotama in seiner langen Entwicklung zur Vollkommenheit tat. Es gibt eine zweite Bedeutung von Bodhisattva, und diese bezieht sich auf alle Kräfte der Reinheit im Geiste. In der Mahayana- und der tibetischen Tradition gibt es ein ganzes Pantheon von Bodhisattvas, Sinnbilder der Kräfte in unserem Geiste. Manjusri ist der Bodhisattva der Weisheit. Avalokiteshvara ist der Bodhisattva des Mitgefühls: Erscheinungen der Kräfte der Reinheit im Geiste. In jedem Augenblick der Weisheit werden wir zu Manjusri, in jedem Augenblick des Mitfühlens werden wir Avalokiteshvara. Wenn wir Bodhisattva so begreifen, erweitert sich die Bedeutung der Bodhisattva-Gelübde.

In dem einen Sinne ist es das Gelübde, mit dem man sich der höchsten Erleuchtung eines Buddha verschreibt. Über Siddhartha Gotama wird gesagt, daß er während einer seiner Leben in der Gegenwart eines anderen Buddha die Möglichkeit hatte, erleuchtet zu werden; aber er war so inspiriert durch die Gegenwart des Buddha und so durchdrungen von Mitgefühl für die Leiden aller Wesen, daß er gelobte, seine eigene Erleuchtung hinauszuschieben, um alle Eigenschaften der Buddhaschaft zur Vollkommenheit zu bringen. Obwohl die Geistesfreiheit eines erleuchteten Wesens und eines Buddhas dieselbe ist, ist die Kraft und Tiefe der Weisheit und des Mitgefühl eines Buddhas größer, weil er eine unmeßbar längere Evolution hinter sich hat. Eine andere Bedeutung des Bodhisattva-Gelübdes ist sehr klar von Wei Lang beschrieben worden:

Wir geloben, unzählige lebende Wesen zu befreien. Was bedeutet dies? Dies will nicht heißen, daß ich, Wei Lang, sie nun befreien werde. Und wer sind diese lebenden Wesen in unserem Geiste? Sie sind der befleckte Geist, der trügerische Geist, der üble Geist und alle diese Arten von Geisteszuständen - alle diese sind lebende Wesen. Sie alle haben sich durch ihre eigene Geistesessenz zu befreien.

Das Gelübde, alle lebenden Wesen zu befreien, kann als ein Erlöser aller Wesen in uns verstanden werden; wir befreien den zornigen Geist und den unwissenden Geist und den gierigen Geist und den lustvollen Geist. Alle diese Zustände sind Wesen, die aufsteigen und vergehen. Und wir geloben, alle diese Wesen zu erlösen und diesen geistigen Vorgang von allen Befleckungen und Unreinheiten zu befreien.

Ein anderer traditioneller Unterschied der verschiedenen Richtungen hängt mit der Vorstellung von Nirvana und Samsara zusammen. Eine Schule ist der Meinung, daß Nirvana von dem geistig-körperlichen Vorgang getrennt ist; und eine andere hält Nirvana und Samsara für eins. Wie vertragen sich diese beiden sich scheinbar widersprechenden Darlegungen miteinander? Es gibt einen Weg, dies zu verstehen: Stellen Sie sich einen Hurrikan vor, einen sehr heftigen Wind, der sich mit hoher Geschwindigkeit dreht. Im Zentrum dieses Sturmes mit

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hoher Windstärke gibt es eine Zone der Ruhe und Stille, das Auge des Hurrikans. Aus einer Perspektive ist das Auge des Hurrikans sehr verschieden von den Winden. Alles ist still, ruhig, völlig anders als der Wirbelwind, der sich um das Auge dreht. Aus einer anderen Perspektive können wir sehen, daß beide, der Sturm und das Auge, Teile einer Einheit sind und als ein Ganzes beschrieben werden können. In demselben Sinne sind Samsara und Nirvana aus einer Perspektive sehr verschieden voneinander. Eines ist der fortwährende Vorgang der Veränderung und das andere ist Stille und Frieden. Aus einer anderen Perspektive bilden sie zusammen eine Einheit und sind in diesem Sinne eins. In der Erfahrung des Dharma werden die Worte klar. Solange wir noch auf der theoretischen Vorstellungsebene bleiben, scheinen die Worte verschiedener Richtungen auf verschiedene Wahrheiten zu deuten. In Wirklichkeit sind sie verschiedene Finger, die alle auf denselben Mond zeigen.

Es gibt ein kraftvolles Aufzeigen der Wahrheit in einer Beschreibung des Geistes in einem hohen tibetischen, tantrischen Text. Versuchen Sie die Worte zu erfahren, anstatt darüber nachzudenken:

In der Tat gibt es keine Zweiheit; es ist irrig, von einer Vielheit auszugehen. Ehe diese Zweiheit nicht überwunden und Eins-Sein verwirklicht wird, kann die Erleuchtung nicht erreicht werden. Die Gesamtheit von Samsara und Nirvana, die beide nicht voneinander zu trennen sind, machen unseren Geist aus. Der Mensch wandert in Samsara umher, weil er sich an weltlichen Vorstellungen orientiert; es steht ihm frei, diese anzunehmen oder zurückzuweisen. Daher kann nur eine Dharma-Praxis, die sich von jeglicher Anhaftung losgesagt hat, den ganzen Gehalt dieser Lehren erfassen.

Wenn es auch Einen Geist gibt, so hat er doch keinerlei Existenz.

Wenn man nach der eigentlichen Natur seines Geistes sucht, so ist er zwar unsichtbar, aber doch ziemlich faßbar. In seinem eigentlichen Zustand ist der Geist unverhüllt und makellos; er ist nicht aus irgend etwas gewirkt als aus Leerheit, er ist klar, mit nichts angefüllt, ohne Zweiheit, durchsichtig, zeitlos, mit nichts vermischt, von nichts gehindert, ohne Färbung; er ist nicht als ein getrenntes Ding wahrzunehmen, sondern als Einheit aller Dinge, jedoch nicht aus diesen zusammengesetzt; er hat nur einen Geschmack und übersteigt jegliche Unterscheidung.

Dieser Eine Geist entstammt tatsächlich der Leerheit, und es fehlt ihm jegliche Grundlage. Der eigene Geist ist ebenso weit und leer wie der Himmel. Schaue tief in deinen eigenen Geist, damit du erkennen kannst, ob sich dies so verhält oder nicht. Objektive Erscheinungsformen, die nichts anderes sind als eine Bewegung aus ständiger Veränderung, so wie die Luft am Himmel, haben nicht die

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Kraft, dich zu fesseln und an sich zu ziehen. Schaue tief in deinen eigenen Geist, damit du erkennen kannst, ob sich dies so verhält oder nicht. Alle Erscheinungsformen sind nichts anderes als deine eigenen Vorstellungen; sie entstehen aus sich heraus im Geiste und lassen sich mit Spiegelbildern vergleichen. Schaue tief in deinen eigenen Geist, damit du erkennen kannst, ob sich dies so verhält oder nicht. Da alle äußeren Erscheinungsformen aus sich heraus aufsteigen und von ihrem Wesen her so freifließend wie die Wolken am Himmel sind, vergehen sie wieder an ihrem jeweiligen Orte. Schaue tief in deinen eigenen Geist, damit du erkennen kannst, ob sich dies so verhält oder nicht.

Da sich auch der Dharma nur in deinem Geiste befindet, ist nur dies ein Ort für die Meditation. Da sich auch der Dharma nur in deinem Geiste befindet, gibt es keinen anderen Platz der Wahrheit für die Einhaltung eines Gelübdes. Da sich auch der Dharma nur in deinem Geiste befindet, gibt es nirgendwo sonst einen Dharma, mit dessen Hilfe Befreiung erlangt werden kann.

Der eigne Geist ist durchscheinend. Da er keine Eigenschaften hat, läßt er sich mit einem wolkenlosen Himmel vergleichen. Jener Geisteszustand, der jegliche Zweiheit überschreitet, bringt die Befreiung. Wieder und wieder, schaue in deinen eigenen Geist.

Wenn der Dharma wahrhaftig verstanden wird, wird es klar, daß die Essenz aller Übungen, die zur Freiheit führen, dieselbe ist; das heißt, einen Geist zu entwickeln, der an überhaupt nichts mehr haftet. Keine Vorlieben. Keine Unterscheidungen. Kein Werten. Kein Anhaften. Kein Verurteilen. Die Übung ist dieselbe, ob sie nun durch die Worte des sechsten Patriarchen in China oder den indischen Siddhartha Gotama ausgedrückt wird.

Tilopa, ein großer indischer Weiser und der Gründer einer der tibetischen Linien, lehrte seinem Schüler Naropa dieselbe Ausgewogenheit des Geistes, die hier Mahamudra genannt wird.

Mahamudra liegt jenseits aller Worte und Symbole. Dir aber, Naropa, der du ernsthaft und voller Hingabe bist, kann dies gesagt werden: Die Leerheit bedarf keiner Stütze, Mahamudra ruht auf nichts. Du zerbrichst die Fesseln und erreichst auf diese Weise die Befreiung, ohne daß du eine Anstrengung unternehmen mußt - bleibe einfach ganz gelöst und natürlich. Wenn du deinen Geist mit dem Geist beobachtest, so hebst du jegliche Unterscheidung auf und erreichst Buddhaschaft.

Weder die Wolken, die am Himmel wandern, noch die unterscheidenden Gedanken, die durch den Geist ziehen, haben Wurzeln oder ein Zuhause. Wenn du einmal den wahren Geist erkennst, so hört jegliche Unterscheidung auf.

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Es bilden sich Formen und Farben im Raum, aber damit ist der Raum noch nicht schwarz oder weiß gefärbt. Alle Dinge entstehen aus dem wahren Geist heraus. Weder Tugend noch Laster können diesen Geist beflecken.

Unternimm nichts mit dem Körper, sondern entspanne dich einfach. Halte Deinen Mund verschlossen und verharre im Schweigen. Mache deinen Geist leer und denke an nichts. Laß deinen Körper zur Ruhe kommen - einem hohlen Bambusrohr vergleichbar. Wenn du nichts mehr weggibst oder aufnimmst, kannst du auch deinen Geist zur Ruhe bringen. Mahamudra ist wie der Geist, der an nichts mehr anhaftet. Wenn du auf diese Weise praktizierst, wirst du die Buddhaschaft erlangen, wenn die rechte Zeit dafür gekommen ist.

Derjenige, welcher das Begehren aufgibt und nicht an diesem oder jenem anhaftet, erkennt die wahre Bedeutung dessen, was in den Schriften steht.

Zuerst spürt ein Yogi, daß sein Geist wie ein Wasserfall herabstürzt. Im Mittellauf fließt er, wie der Ganges, langsam und sanft dahin. Am Ende ist er wie ein großer, unermeßlicher Ozean, wo das Licht von Sohn und Mutter zu einem verschmilzt.

"Derjenige, welcher das Begehren aufgibt und nicht an diesem oder jenem anhaftet, wird die wahre Bedeutung dessen erfahren, was in den Schriften steht." - "Entwickle einen Geist, der an nichts anhaftet." Das Aufgeben des Ergreifens, das Aufgeben des Anhaftens: der Weg zur Freiheit.

Die Tradition des Dharma, die in Japan aus der Linie von Wei Lang und anderen Patriarchen entstand, brachte sehr schöne Schriften als Ausdruck des Weges hervor, manchmal sehr humorvoll. Eine Geschichte illustriert dieselbe Wahrheit vom Nichthaften und Nichtanklammern, in einer dem Zen sehr gemäßen Weise:

Ein Universitätsprofessor besuchte einmal einen japanischen Meister und stellte viele Fragen über Zen. Der Meister reichte Tee, füllte die Tasse des Gastes - und fuhr dann fort einzuschenken. Der Professor beobachtete das Überfließen und bemerkte, daß die Tasse voll und kein Platz mehr für Tee da sei. "Genau wie diese Tasse", antwortete der Meister, "sind Sie so voll von Ihren Ansichten und Meinungen, daß da kein Platz für neues Begreifen ist. Um die Wahrheit zu erfahren, müssen Sie erst Ihre Tasse leeren."

Wir können niemals die Wahrheit erfahren, solange noch ein Anhaften an Meinungen und Ansichten da ist. "Suche nicht die Wahrheit. Höre nur auf, Meinungen zu haben." Wenn wir das Anhaften an unsere vorgefaßten Meinungen aufgeben, wird sich in der Stille des Geistes der ganze Dharma offenbaren.

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Jeder von uns muß seine Tasse leeren, seinen Geist von Anhaften an Ansichten und Glauben frei machen.

Es ist so viel Schönheit und Klarheit in den unterschiedlichen Arten, wie sich der Dharma darstellt. Wir haben Glück, daß wir nicht in einer Kultur aufgewachsen sind, die durch eine bestimmte Weise bedingt ist, soweit wir offen genug bleiben, sie alle zu hören und zu würdigen. Sie weisen alle auf dieselbe Wahrheit hin, auf die Erfahrung des Dharma in uns.

Der Buddha gab den Rat: "Glaube nicht einfach an etwas, weil es dir gesagt worden ist oder weil es herkömmlich ist oder weil du selbst es dir so vorstellst. Glaube nicht nur aus Respekt vor deinem Lehrer an das, was er dir sagt. Welchen Weg du auch immer gehst, wenn du ihn gründlich untersuchst und feststellst, daß er zum Wohle und Glück aller Wesen führt, dann folge ihm wie der Mond dem Weg der Sterne."

Es verwirrt mich, daß ich keine Meinungen haben soll. Ich meine, da draußen in der Welt muß man sich so oft entscheiden...

Machen Sie von der Ebene der Unterscheidungen und Neigungen Gebrauch, wenn es angebracht ist, aber bedenken Sie dabei, daß es die Vorstellungsebene des Geistes ist, nicht die Ebene der absoluten Wahrheit. Benutzen Sie den Gedankenvorgang, ohne daran zu haften. Wie es in der Bhagavad-Gita erklärt wird, handeln Sie ohne Anhaften an die Früchte der Taten. Auf die gleiche Art kann unser Geist frei vom Anhangen an Unterscheidungen und Neigungen sein, und doch können wir sie einsetzen, wenn sie im Umgang mit der Welt notwendig sind.

Wie ist es mit Yoga, Tai Chi, Töpfern, Weben oder dergleichen als Teil der geistigen Übung?

Alles wird möglich, wenn man es mit Bewußtheit macht, mit Klarheit, ohne Anhaften, ohne Ergreifen ; die ganze Welt, alle 10 000 Freuden und 10 000 Leiden sind da, um erfahren zu werden. Die Tätigkeit selbst ist kein Maßstab für Tiefe oder Oberflächlichkeit. Der Maßstab ist der Zustand des Geistes bei der Tätigkeit. Ein Tai Chi-Meister kann in völliger Übereinstimmung mit dem Dharma sein, bei völliger Gestilltheit des Geistes. Eine andere Person kann genau dieselben Übungen mit Verspanntheit und Streben machen. Es gibt so viele schöne Beispiele über alle Arten von Tätigkeiten, die als Ausdruck der Vollkommenheit des Geistes dienen. Viele Dinge werden möglich, wenn der Geist frei ist.

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Es gibt eine Vorstellung, daß man auf dem Wege erst durch Hinayana und dann Mahayana und dann Vajrayana hindurchgeht, von einem Fahrzeug zum anderen, um bei jedem andere Erfahrungen zu machen.

In dem Sinne, wie Sie meinen, sind Hinayana, Mahayana und Vajrayapa Stufen auf einem Wege zur Erkenntnis. Welchen Weg Sie auch gehen, diese Stufen werden da sein. Ob Sie einer burmesischen, japanischen oder tibetischen Richtung folgen, in jeder werden Sie durch Hinayana-, Mahayana- und Vajrayanastufen gehen müssen. Verwirrung tritt auf, weil diese Begriffe sich auch auf die verschiedenen historischen Traditionen beziehen. Die Leute verwechseln die Stufen auf dem Wege mit den verschiedenen historischen und kulturellen Ausdrucksformen des Dharma. Aus diesem Grunde sind diese Vorstellungen vielleicht nicht besonders hilfreich. Es gibt viele Stufen auf dem Wege. Sie müssen erfahren werden. Sie mit Namen zu belegen, ist nur äußerlich und bringt möglicherweise Mißverständnisse. Es gibt nur das, was ist, die Entfaltung des Dharma in uns selbst. Wir gehen durch sehr viele Erfahrungen hindurch. Die Erfahrung, nicht die Vorstellungen und Namen darüber, ist von größter Wichtigkeit.

Es gibt verschiedene Traditionen der Meditation in verschiedenen Ländern. Wären auch sie nur andere Weisen des Fortschrittes auf dem Wege?

Achtsamkeit kann mit jedem Objekt entwickelt werden. sie können Achtsamkeit auf Gedanken, auf den Körper, auf äußerliche Objekte, auf innere Objekte, auf sie alle oder auf eine Kombination davon entwickeln. Die verschiedenen Techniken und Methoden sind verschiedene Arten der Entwicklung der Achtsamkeit. Die Bewußtheit ist die Essenz aller Übungen, das Gleichgewicht des Geistes, aus dem die Erleuchtung kommt. Alle Dinge sind vergänglich, und Einsicht kann mit jedwedem Objekt entwickelt werden. Sie können die Erleuchtung mitten in einem Gedanken, mitten in einem Schmerz, während Sie essen oder gehen, zu jeder Zeit erfahren, da sie aus dem vollkommenen Gleichgewicht des Geistes kommt und nicht dadurch, daß Sie sich an ein bestimmtes Objekt halten.

Manche Lehrer sprechen von den Gefahren der psychischen Kräfte bei geistigen Übungen. Was bedeutet das?

Die Macht des Geistes kann entwickelt werden. Sie ist nicht Weisheit. Macht und Weisheit sind zwei sehr verschiedene Dinge. Es kann gefährlich sein, diese Kräfte zu entwickeln, bevor man eine hohe Stufe der Erleuchtung erreicht hat, weil sie unter Umständen nur die Vorstellung des Selbst, des Ego verstärken und manipulativ verwendet werden können. Macht kann sehr heilsam eingesetzt werden, wenn man eine feste Grundlage in Sittlichkeit und Verstehen hat. Aber

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es ist nicht notwendig, diese Kräfte zu entwickeln. Es gibt viele erleuchtete Wesen ohne psychische Kräfte, und es gibt viele Wesen mit diesen Kräften, die nicht erleuchtet sind. Bei manchen Menschen vereinen sich Weisheit und Macht.

Im Dhammapada spricht Buddha oft von dem Zustand der Erreichung der Arahatschaft. Bezieht sich das auf die Erfahrung der Erleuchtung?

Ja, es bezieht sich auf die völlige Vernichtung von Gier, Haß und Unwissenheit im Geiste, die durch die Nirvana-Erfahrung geschieht. Die erste Erfahrung des Nirvana, der erste Schimmer der absoluten Wahrheit entfernt einige der Fesseln aus dem Geiste; einige bleiben. Und während der Pfad weiter beschritten wird, werden weitere Fesseln aufgelöst. Ein Arahat ist ein Wesen, aus dessen Geist alle Fesseln verschwunden sind. Auf die gleiche Weise bedeutet die Idee der Buddhaschaft in diesem Leben Freiheit von Gier, Haß und Unwissenheit. In der Erfahrung der Wahrheit wird die Einheit des Dharma verstanden. Entwickeln Sie einen Geist, der an nichts anhaftet. Dies ist die Essenz aller Lehren. Es wird ganz einfach, wenn man übt.

Was braucht man, um tiefe Erfahrungen der Einsicht zu entwickeln? Muß es etwas Besonderes sein?

Nur eins ist notwendig: sich dessen bewußt zu sein, was im Augenblick geschieht. Wenn wir irgendeine Vorstellung davon haben, was geschehen sollte, dann erfahren wir nicht voll und ganz den Augenblick. Die Übung ist, achtsam auf all die wechselnden Zustände des Geistes und Körpers zu sein, ohne anzuhaften, ohne zu werten und ohne sich mit ihnen zu identifizieren. Das ist der Weg vom Anfang bis zum Ende. Dann entfaltet er sich von selbst; es gibt nichts, das wir tun müssen, damit etwas geschieht. Die Leute glauben nicht, wie einfach es ist. Oft ist das Bedürfnis da, es zu komplizieren und zu glauben, daß wir einige phantastische Geisteszustände erleben müßten. Wir sollten uns eher sehr aufmerksam still verhalten und das Fließen werden.

Ich dachte, daß einige Wege das Dienen gegenüber anderen Menschen mehr betonen als die eigene Befreiung zuerst.

Alle Pfade drehen sich darum, daß man die illusorische Natur des Selbst erkennt, der Selbstsucht ein Ende setzt. Der natürliche und organische Ausdruck des Dharma ist Liebe und Mitgefühl, anderen zu helfen und für sie zu sorgen. Dies hat nichts mit dem Fahrzeug oder dem Pfad oder dem Gelübde zu tun; es ist der natürliche Ausdruck der Weisheit. Wenn wir das Anhaften an die Vorstellung aufgeben, daß dies "ich" bin und das "der Andere" ist, beginnen wir die Einheit aller Wesen zu erfahren, und aus diesem Verständnis kommen Liebe und Dienen.

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Wenn wir mit der Übung weiterkommen, erübrigt sich dann die Frage nach den verschiedenen Wegen?

Ein Freund von mir schrieb ein Gedicht, das mit diesen Zeilen endet:

Größeres Fahrzeug, kleineres Fahrzeug.

Unwichtig! Alle Fahrzeuge werden abgeschleppt Auf Kosten des Eigentümers.

Dreissigster Morgen - Schlußworte

Sie können nicht immer auf dem Gipfel bleiben. Sie müssen wieder herunterkommen. Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Was oben ist, weiß, was unter ihm ist, aber was unten ist, weiß nicht, was oben ist. Man steigt hinauf und sieht; man kommt herunter und sieht nicht mehr, aber man hat gesehen. Es gibt eine Kunst des Verhaltens in den niederen Regionen durch die Erinnerung an das, was man oben gesehen hat. Auch wenn man nicht mehr sieht, kann man sich wenigstens noch immer erinnern. Mount Analogue

Jetzt stellt sich die Frage, wie wir intensive Meditation in unser tägliches Leben integrieren können. Auf der einen Ebene ist die Antwort sehr einfach: Bleiben Sie achtsam. Auch wenn es viele Ablenkungen gibt und viel durch die Sinnentore hereinkommt, wenn es kein Anhaften hervorruft, kein Werten, keine Erwartungen darüber, wie alles sein sollte, wird der Geist klar und ausgeglichen bleiben. Achtsamkeit ist der größte Schutz.

Es gibt einige Dinge, die helfen werden, das Gleichgewicht und die Stille des Geistes zu bewahren. Das Wichtigste ist die tägliche Sitzübung. Wenn Sie zweimal täglich je eine Stunde (oder mehr) ohne Unterbrechung sitzen, wird die Sammlung und Achtsamkeit, die während dieses Monats entwickelt worden ist, gestärkt.

Nachdem Sie ein Intensivseminar gerade beendet haben, mag es leicht sein, täglich eine oder zwei Stunden zu sitzen, aber wenn Sie Ihre alltäglichen Aktivitäten in der Welt wieder aufnehmen, wird es schwieriger werden, dies beizubehalten. Disziplin und Bemühung werden notwendig sein Stellen Sie die Sitzübung an die erste Stelle im Ablauf des Tages, jeden Tag; ordnen Sie die

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anderen Dinge um die Meditation herum an, anstatt die Sitzübung zwischen andere Dinge einzuschieben. Sie werden merken, daß die tägliche Meditation einen großen verändernden Einfluß auf Ihr Leben haben wird.

Es ist hilfreich, wenn Sie jeden Tag zur selben Zeit meditieren können, zu einer Zeit, wo Sie von niemandem gestört werden. Wenn Sie sich angewöhnen, täglich zu einer bestimmten Zeit zu sitzen, wird die Gefahr geringer, daß Sie nicht regelmäßig üben. Der rechte Zeitpunkt kann am frühen Morgen gleich nach dem Aufstehen liegen, als ein Weg, um die Haltung der Achtsamkeit für den Tag aufzunehmen, und dann auch in einer Abendstunde, um Geist und Körper auszukühlen und zu entspannen. Es kann auch ein anderer Zeitraum sein, der Ihnen gelegen ist. Probieren Sie es aus. Wichtig ist das stete üben. Eine regelmäßige Sitzübung ist von unbeschreiblichem Wert.

Es gibt noch andere Dinge, die Sie tun können, um die Übung in Ihr Leben zu integrieren. Seien Sie bei bestimmten Dingen, die Sie täglich tun, achtsam, zum Beispiel beim Essen. Bemühen Sie sich, täglich eine Mahlzeit schweigend einzunehmen. Dadurch entsteht eine Zeit der Entwicklung der klaren Bewußtheit, und alle Tendenzen des Geistes werden belebt, die in diesem Monat entwickelt worden sind. Durch die Wiederholung der Achtsamkeitsübung wird die gesammelte Kraft der früheren Übungen herangezogen.

Während des Ablaufs der täglichen Aktivitäten gehen wir sehr viel. Nehmen Sie dies als Meditation. Wenn Sie gehen, brauchen Sie nicht das langsame "Heben, Vorwärtstragen, Aufsetzen" zu machen, außer wenn es gerade angemessen ist; Sie können sich einfach alle Bewegungen des Körpers bewußt machen oder die Berührung bei jedem Schritt. Noch einmal, probieren Sie es aus.

Erinnern Sie sich an die Atmung in Augenblicken voller Streß oder Verspannungen während des Tages. Mit offenen Augen, ohne das Meditieren zu zeigen, achten Sie entweder auf das Heben-Senken oder das Ein-Aus, auch wenn es nur für ein paar Minuten ist. Der Geist wird gesammelt und ruhig werden. Nach einiger Zeit werden Sie feststellen, daß die Achtsamkeit erhalten bleibt, ganz gleich, was Sie auch tun. Der Dharma ist die Ganzheit unseres Lebens. Er bedeutet nicht, nur zu sitzen oder intensiv zu meditieren. Der Dharma ist alles, und wir sollten in Harmonie mit diesem Verständnis leben.

Die Samen der Weisheit und des Mitgefühls, die gepflanzt und entwickelt worden sind, sind kraftvoll. Sie werden mannigfaltige und unerwartete Früchte tragen. In Zeiten, wenn Sie sich sehr verwickelt in und gefangen von den Dingen der Welt fühlen, werden Augenblicke tiefer Bewußtheit aufsteigen, in denen Sie sich selbst und das Melodrama klar sehen werden. Seien Sie einfach und gelöst.

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In einem stillen und friedvollen Geist entfaltet sich der Dharma auf natürliche Weise.

Einige Gedächtnisstützen werden hilfreich bei unseren Bemühungen sein, jeden Augenblick den Dharma zu leben. Die erste ist, sich an die Wahrheit über die Vergänglichkeit zu erinnern. Denken Sie sowohl an Ihren eigenen bevorstehenden Tod als auch an die ständig wechselnde Natur aller Erscheinungen in jedem Moment. Bleiben Sie sich des Fließens bewußt, der Tatsache, daß alles in ständigem Wandel ist, und der Geist wird in jeder Situation ausgewogen und gelassen sein. Sie werden feststellen, daß Sie sich Ihnen selbst und anderen gegenüber weniger beurteilend verhalten und weniger zu starrer Einteilung der Menschen und Situationen neigen. Sie werden die Möglichkeit erfahren, in einer mehr offenen und leeren Weise zu leben, auf jeden Moment spontan zu reagieren, ohne die Belastung durch Projektionen und vorgefaßte Meinungen aus der Vergangenheit.

Die zweite Gedächtnisstütze ist Liebe und Mitgefühl. Wenn Sie mit Ihren Eltern, Ihren Freunden oder Fremden verkehren, vergessen Sie nicht, daß es auf der höchsten Ebene kein "Ich" und keine "Anderen", kein "wir" und "sie" gibt; es gibt nur ein Eins-Sein, eine Einheit der Leere. Aus dieser Leere strahlt die liebende Güte für alle Wesen. Viele schmerzliche Komponenten in unseren Beziehungen zu anderen Menschen fallen weg, wenn wir mehr Liebe und Mitgefühl in unser Leben bringen.

Der Buddha gab uns ein Beispiel, wie diese offene Sanftmut des Geistes uns friedvoll und ausgewogen hält. Wenn Sie einen Löffel Salz in ein Glas Wasser tun, wird das ganze Wasser nach Salz schmecken. Wenn Sie aber dieselbe Menge Salz, oder sogar noch viel mehr, in einen großen Teich geben, bleibt der Geschmack unverändert. Auf dieselbe Weise hat jedes verletzende Element eine starke und störende Wirkung, wenn der Geist eingeengt und unbeweglich ist. Wenn der Geist weit und offen ist, werden sogar sehr kräftige negative Einwirkungen ihn nicht beeinflussen. Liebende Güte ist eine nachsichtige und allumfassende Eigenschaft, mit der wir alles in unserem Leben durchdringen sollten.

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Die dritte Gedächtnisstütze ist Demut oder Unsichtbarkeit. Es besteht keine Notwendigkeit, seinen Platz in der Welt als Herr oder Frau Geistvoll einzunehmen, als jemand Besonderes. Wie Tschuang-Tse schrieb:

Wer sich vom Tao

führen läßt, der fügt anderen keinen Schaden zu. Aber er weiß nicht, daß er 'sanft' und 'gut' ist. Wer sich vom Tao leiten läßt, der geht nicht auf in tausend Tätigkeiten, aber er verachtet auch nicht jene, die das tun. Er kratzt kein Geld zusammen und bildet sich nichts auf seine Armut ein. Er geht seinen Weg und verläßt sich nie auf andere; auch rühmt er sich nicht, daß er allein geht. Er folgt nicht der Menge, doch tadelt er keinen, der viele Menschen um sich braucht. Rang und Namen beeindrucken ihn nicht, Unglück und Schande werfen ihn nicht um. Er fragt nicht ständig: 'Ist das recht?' Und 'ja' und 'nein ' kommen ihm selten über die Zunge. Deshalb sagten die Alten: "Wer im Tao ist, bleibt namenlos. Die vollkommene Tugend bringt nichts hervor. 'Nicht-Ich' ist das wahre Ich. Und der größte Mensch ist Niemand."

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Sie werden feststellen, daß Ihr Leben um so leichter und einfacher wird, je unsichtbarer Sie sind. Wieder Tschuang-Tse:

Wenn jemand einen Fluß überquert

und sein Kahn mit einem leeren Boot zusammenstößt, wird er, selbst wenn er zu Wutausbrüchen neigt, sich nicht lauthals erregen. Aber wenn er in dem anderen Boot jemanden erblickt, dann wird er ihm zurufen: Wirf dein Ruder herum! Hört der andere den Ruf nicht, wird unser Mann wieder rufen, wird er noch einmal schreien. Am Ende bricht er in Flüche aus, und dies alles nur deshalb, weil in dem anderen Boot einer sitzt. Wäre das andere Boot nämlich leer, würde unser Mann nicht schreien und nicht fluchen.

Wenn du den Fluß des Lebens

in einem leeren Boot überqueren kannst, dann wird dir niemand widersprechen, und niemand wird dir schaden.

Leeren Sie Ihr Boot, gehen Sie offen und leer und liebend durch das Leben, und niemand wird Ihnen widersprechen, und niemand wird Ihnen schaden.

Viele von Ihnen haben gefragt, wie man anderen vom Dharma erzählen kann. Eine der wichtigsten Eigenschaften ist, wenn es um die Entwicklung des Teilhabens auf allen Ebenen geht, daß Sie sehr gründlich lernen zuzuhören, empfindsam den Anderen und den Situationen gegenüber zu sein. Wenn Sie wirklich aufmerksam sind, wird in dieser Geistesstille die rechte Art der Kommunikation sichtbar. Klammern Sie sich nicht an irgendeinen bestimmten, vorgestellten Ausdruck des Dharma oder an eine vorgefaßte Meinung über das Sein. Halten Sie sich an nichts fest. Manchmal ist eine ganz gewöhnliche Art der Unterhaltung angebracht, man spricht einfach und gelöst. Eine große Fertigkeit ist notwendig, um das Zuhören zu lernen. Seien Sie offen und akzeptieren Sie andere. Aufnahmefähigkeit und Unpersönlichkeit machen ein hohes Maß an Verstehen und Teilen möglich.

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Wörtlich bedeutet Vipassaná, Dinge klar zu sehen, nicht nur unseren eigenen geistig-körperlichen Vorgang, obwohl das grundlegend ist, sondern alles klar zu sehen, andere Menschen, Beziehungen und Situationen. Zu leben ohne Gier, ohne Haß, ohne Unwissenheit, das ist der Weg. Mit Bewußtheit zu leben, mit Wachsamkeit und Ausgeglichenheit, und mit Liebe. Wir sind die sich entfaltende Wahrheit, und ein Monat in Zurückgezogenheit oder ein Leben mit Übungen verbracht ist nur der Anfang der großen Aufgabe des wahren Verstehens.

Großes Wissen ist allumfassend; geringes Wissen ist begrenzt. Große Worte inspirieren; kleine Worte sind leeres Stroh... Wenn wir wach werden, öffnen sich unsere Sinne. Wir verfangen uns in unseren Tätigkeiten, und unser Geist wird verwirrt. Manchmal sind wir unschlüssig, manchmal verschlossen, manchmal sind wir unmutig. Kleine Übel machen Angst, große verursachen Panik. Unsere Worte fliegen wie Pfeile dahin, als ob wir wüßten, was richtig und falsch sei. Wir klammern uns an unsere eigenen Ansichten, als ob alles davon abhinge. Und doch haben unsere Ansichten keine Dauer: wie Herbst und Winter ziehen sie langsam dahin. Der Strom hat uns ergriffen, und wir können nicht umkehren. Wir winden uns in Schleifen wie ein alter verstopfter Abflußgraben; wir gehen dem Tode entgegen und können unsere Tugend nicht wiedergewinnen. Wie Musik aus einem hohlen Schilfrohr klingend oder Pilze aus der dunklen, warmen Erde sprießend, erscheinen Freude und Ärger, Trübsal und Glück, Hoffnung und Angst, Unentschlossenheit und Kraft, Demut und Übermut, Begeisterung und Unmäßigkeit unentwegt, Tag und Nacht, in uns. Keiner weiß, woher sie kommen. Machen Sie sich keine Sorgen! Lassen Sie alles sein! Wie können wir alles an einem Tage verstehen?