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Aus der Perspektive ihrer Tessiner Schriftstellerwerkstatt er-zählt Eveline Hasler vom Alltagsleben in der Schweiz, vonder Entstehung ihrer Bücher und von den Reisen, die sie Jahrfür Jahr unternimmt. Stets spürt man dabei den wachen, kri-tischen Geist, das menschliche Engagement und die dezidiertweibliche Perspektive.Die hier versammelten Kolumnen und Kurztexte sind in denvergangenen vier Jahren in der >Schweizer Illustrierten<, in>Cash<, der >Neuen Zürcher Zeitung< und im >Brückenbauer<erschienen.

Eveline Hasler wurde in Glarus/Schweiz geboren. Sie stu-dierte Psychologie und Geschichte in Fribourg und Paris. Be-kannt wurde sie zunächst mit ihren Kinderbüchern, die inzahlreiche Sprachen übersetzt sind. Für ihren Roman >DerRiese im Baum< (1988) wurde sie mit dem Schubart-Litera-turpreis ausgezeichnet. 1 994 erhielt die im Tessin lebendeAutorin den Meersburger Droste-Preis für ihr Gesamt-schaffen. Weitere Werke: >Anna Göldin. Letzte Hexe< (1982),>Ibicaba. Das Paradies in den Köpfen< (1985), >Die Wachs-flügelfrau< (1991), >Der Zeitreisende. Die Visionen des HenryDunant< (1994), >Die Vogelmacherin. Die Geschichte vonHexenkindern< (1997), Romane; >Auf Wörtern reisen<, Ge-

dichte.

Eveline Hasler

Der Jubiläums-Apfelund andere Notizen vom Tage

Deutscher Taschenbuch Verlag

OriginalausgabeSeptember 1 99 8

© 1998 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,München

Umschlagkonzept: Balk & BrumshagenUmschlagbild: Ausschnitt eines Stillebens (1619)

von Ludovico di SusioSatz: Fotosatz Reinhard Amann, Aichstetten

Gesetzt aus der Sabon Antiqua 10/I2,25' (QuarkXPress)Druck und Bindung: C.H. Beck'sche Buchdruckerei,

NördlingenGedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier

Printed in Germany • ISBN 3-423-12557-8

Inhalt

Grünkraft 7

Versteht der Schweizer den Schweizer? 10

Das Herz auf dem rechten Fleck 13Von der Magie der Bilder 16Der Jubiläums-Apfel 19Warum Bücher nach Lesern lechzen 22

Willkommen im Mausoleum, Madame Curie 25Überschengenlicher Freiheitsdrang 2.7Nikis Engel 29Das Tor zur Hölle 32Das »Fräulein« muß sitzen 34Die Zukunft im Rückspiegel 37Von Emigranten, heißen Liedern und Revoluzzer-Liebe 40Wieviel Spannung braucht der Mensch? 46

Auf Nebenwegen im Tessin 48Wertlose Weiblichkeit 51Bermuda-Dreieck des Geistes 53Wie wird man eine Hexe los? 55Sind Sie auch bahnsinnig? 57

Sommernachtsträume 59Orte der Kraft 6z

Multikulturell auf belgische Art 65Kultur und Unkultur 67Inseltage 70Bewegung am Rande Europas 73

Auf dem oberitalienischen Markt 76Hol's der Renditegeier! 79Vom vergifteten Suchen 82Venedig wird uns überleben 85Engel und Internet 88

Vom Geruch der Geschichten 92.Die Pillenkinder 96Die ver-rückten Tage 99Der Affe im Parlament rotVon Blumen in frostiger Zeit 105Der neue Luxus 1o8Friede auf Erden 110Alle schenken Bücher 112

Vom Himmel hoch, da komm' ich her 114

Grünkraft

Liebe Leserin, lieber Leser, lassen Sie alles stehen und liegen,gehen Sie hinaus und tanken Sie Grünkraft! Wie? Es wirddoch noch irgendwo einen Baum vor Ihrer Tür geben? Oderein paar Grasbüschel? Eben habe ich nach dem Anhörender Nachrichten den Eindruck bekommen, der Planet Erdegleiche dank unserer Verschlimmbesserungen einem leckenAtomkraftwerk: explosiv, giftig, eine tickende Zeitbombe.Aber draußen vor der Haustür habe ich festgestellt, daß ausallen Ritzen der lecken Welt Gras sprießt, aus Mauern bre-chen prächtige Unkräuter mit violetten Sternchen, Halmedurchdringen selbst Asphalt und Beton. So habe ich dieLungen vollgepumpt mit Grünkraft und mich beruhigt: DasFrühlingswunder hat sich wieder ereignet, danke, Natur,danke, Grünkraft!

Grün ist eine ganz besondere Farbe. Sie belebt, nährt dasHerz, das hat schon im i2. Jahrhundert die weise Nonne Hil-degard von Bingen festgestellt. Nach dem langen Winterbin ich süchtig nach Grün. Also ab in die Mottenschränkemit den Winterklamotten, fort mit Schwarz und Braun undMausgrau, das Leitmotiv des Frühlings aufnehmend, kaufeich mir einen grünen Pullover. Wie ein Laubfrosch, sagtmeine jüngste Tochter mit jenem wohlbekannten spöttischenSeitenblick, wie sie nur Töchter auf ihre Mütter werfenkönnen.

Frösche? Sie spielen seit Wochen in unserem Tessiner Dorf

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eine wichtige Rolle. In die Fahrstraße hinter dem Dorf wur-den geheimnisvolle Tunnel eingelassen. Zettel am Geländerklärten die Passanten auf: Die liebestollen Amphibien solltendie lebensgefährliche Autostraße meiden und die Unter-führungen zu ihren Laichtümpeln benutzen. Lange Zeit fandkein einziger Frosch den Weiher am Waldrand. Hatten dieAmphibien die Zettel nicht lesen können, oder fehlten in denTunnel die Verkehrsampeln? fragte man sich in der Dorfbarbeim Espresso. Doch an einem Morgen kamen sie an: Diemeisten Weibchen trugen schon Männchen auf dem Rücken,sie torkelten mit der Last durch den Schlick zum Wasser.Rücksichtsvoll nahmen die Autofahrer den Fuß vom Gas-pedal, die Mitfahrer ertrugen die Erschütterungen über denBuckeln des Tunnels, um das Liebesleben der Frösche undKröten nicht zu stören. Was für ein Amphibien-Eldoradoneben der alten Waldmühle, wo der Puppenspieler JakobFlach gewohnt und Glauser mit einem Krimi-ManuskriptZuflucht gefunden hatte! Für einmal, wenigstens auf ein paarMeter der Fahrstraße, erhielten die Tiere den Vorrang: Hom-mage an die Grünkraft, an den Frühling.

Grün, grün wolle sie essen gehen, sagte meine zu allen Jah-reszeiten grün angehauchte älteste Tochter, kein Spaghetti-Kotelett-Tiramisu-Lokal, sie wolle ihre ungesund essendenEltern mitnehmen zu den Kräutertöpfen der Meret. DieseKräutertöpfe fanden sich nach dreihundert Kurven in einerehemaligen Nudelfabrik am Ende der atemraubenden Brük-ke, die sich über den Isorno spannt. Sonntags stehen in derGaststube Töpfe und Näpfe, gefüllt mit abenteuerlich kom-binierten Speisen à discrétion. Die Schüsseln mit dem Wild-kräutersalat faszinierten mich, ungläubig starrte ich aufLöwenzahn, Gänseblümchen, Sauerampfer, Taubenkropf,Veilchen, Schlüsselblumen: Grünzeug, von dem ich bisher

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annahm, es sei den hüpfenden Lämmerherden und denZiegen des Pedemonte vorbehalten. Als ich meine Tochtermit Selbstverständlichkeit zuschlagen sah, begann ich zuessen ... Was für eine knackige Geschmacksvielfalt!

Strotzend von Grünkraft, blätterte ich zu Hause im Buchmit dem Titel >Hildegard von Bingen< von Ingrid Riedelund stieß auf ein Loblied der Nonne: »O edelstes Grün, daswurzelt in der Sonne und leuchtet in klarer Heiterkeit ...«Hildegard gibt den Rat, sich auf einer grünen Wiese aus-zustrecken, sich von den Säften und Kräften durchströmenund regenerieren zu lassen. Was schon im i z. Jahrhundert zuempfehlen war, ist wohl Ende des zo. Jahrhunderts eine Not-wendigkeit.

Stellen Sie also den Fernseher ab, drücken Sie auf denKnopf des Radios, schließen Sie das Buch, in dem Sie ebendiese Kolumne gelesen haben, gehen Sie hinaus, kippen SieIhren mentalen Müll auf eine Wiese und tanken Sie Grün-kraft! Ein Stückchen Wiesenbord von z x I Metern reicht aus,belegen und beliegen Sie es, Ihr Auto beansprucht schließlichmehr Parkplatz.

Versteht der Schweizer den Schweizer?

»Warum lebst du im Tessin?« werde ich jetzt oft gefragt. Ichkönnte die Frage abwimmeln und sagen, hier finde ich mehrRuhe zum Schreiben, aber ich weiß, die Frage läßt sich nichtschlüssig beantworten, denn ich habe ein Liebesverhältnis zudieser Gegend, und wer erklärt schon Liebe?

Jede Woche bin ich in der kleinen Gemeinde mit Männernund Frauen zusammen, die diese Wahl, vielleicht vor Jahrenschon, getroffen haben: Wir vertiefen unsere Italienisch-kenntnisse bei Anna Paola, einer Mailänder Professorin. Allekönnen wir uns zwar in der italienischen Sprache für denHausgebrauch ausdrücken, es reicht für Gespräche über All-tägliches und für die Einkäufe im einzigen Dorfladen. MitAnna Paola aber öffnen sich weitere Türen und Fenster zurSprachkultur, die zu dieser Gegend, die wir lieben, gehört.

Immer mehr geht mir auf: Eine Sprache gehört intensiv zueiner Landschaft mit ihren Menschen, ihrer lange gewachse-nen Geschichte und Kultur. In der Schweiz herrscht Freizü-gigkeit, ich darf mich überall niederlassen, aber wenn ich ineinem anderen Kulturkreis wohnen möchte, bin ich der Gast;ich bin es, die sich anzupassen hat. Daß diese Anpassung, dasVertiefen einer Sprache Spaß machen kann, erfahren wir jedeWoche mit Anna Paola: Heute, an diesem kalten Februartag,lesen wir einen Text von Natalia Ginzburg. Dann üben wirden Congiuntivo, er geht nur schwer in die Köpfe, und Eva,die lebhafte Elsässerin, die jeden Freitag extra aus dem

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Onsernonetal zur Lektion kommt, spricht das »Spero che micapisca« mit einem leichtfüßigen, französischen Akzent.

Immer wieder geht mir auf: Eine Sprache ist nicht einfachein Kleid, das man sich nach Belieben überziehen kann. Ge-rade das ist das Überraschende, daß man sich auch einbißchen verwandelt, wenn man eine andere Sprache spricht.Eine Sprache hängt eng zusammen mit einer anderen Denk-art, sie vermittelt eine andere Sichtweise. So macht man,eine andere Sprache sprechend, eine kleine Reise in seineinneren Möglichkeiten.

Vor dem Fenster unseres Schulzimmers sind heute die Pal-men mit Schnee bedeckt. Wie gut, daß wenige wissen, wieschön das Tessin gerade im Winter ist: Nie sind die Hügelsanfter, die Dörfer intimer, der See voller Spiegelungen derrötlichen Wälder. An Ostern kommen die ersten Touristen.Sie suchen das intensivere Licht, die wärmende Sonne, findenaber, wenn sie hellhörig sind, mehr als das. Denn die Schweizbietet auf kleinstem Raum vier Kulturen an, das macht sie soeinzigartig. Aber gerade diese Kleinräumigkeit scheint ihreTücke zu haben, viele glauben, nach drei Auto- oder Bahn-stunden noch zu Hause zu sein, sie haben keine Augen undkein Musikgehör für (und keinen Respekt vor?) der anderenKultur. So wurde ich im letzten Frühling Zeugin des folgen-den Gesprächs:

»Echlivodemdöt!« Die Verkäuferin, ratlos, blickt auf denZeigefinger des jungen Mannes, tippt schließlich auf einender Käselaibe: »Taleggio?« Der Kunde schüttelt den Kopf:»Nei, däsäbdötäne.«

Daß nicht jeder Deutschschweizer italienisch kann, ist zuverzeihen, aber warum spricht er im Tessin einfach, wie ihmder Schnabel gewachsen ist?

Glücksache, wenn er, vor allem in den touristischen Zen-

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tren, verstanden wird, aber die jungen Tessiner und West-schweizer lernen in der Schule Schriftdeutsch, der Transfer zuden schweizer-deutschen Idiomen ist für sie ohne längerenAufenthalt in der Deutschschweiz eine Überforderung.

Auch hier in den Dörfern lieben die Tessiner ihren Dialekt,sie sprechen ihn aber nie mit Fremden.Wer höflich ist, hält sichnicht für den Nabel der Welt. Es fällt auf, daß die Schweizernicht mehr so sprachkundig sind wie früher. Noch vor einpaar Jahrzehnten waren wir in der Welt dafür berühmt, daßwir uns in verschiedenen Sprachen ausdrücken können. Nunscheinen die Sprachkenntnisse rapide zu schrumpfen, auch dasSchriftdeutsche bereitet vielen Deutschschweizern Mühe. Be-herrschen wir bald nur noch ein rudimentäres McDonald's-Englisch oder die Computersprache?

Die Mehrheit der Bürger hat neulich für den Sprachartikelgestimmt, doch wir können die Probleme unserer Vierspra-chigkeit nicht an den Bund delegieren. Ein neues Bewußtseinmuß entwickelt werden, Respekt vor der Würde der Sprach-minderheiten, für den Reichtum der viersprachigen Schweiz.

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Das Herz auf dem rechten Fleck

»Nicht mit dem linken Bein aufstehen« — was in meiner Kind-heit schon für einen gewöhnlichen Tag galt, empfahl sich,wollte man im neuen Jahr glücklich werden, besonders fürden Neujahrsmorgen! Diese ungeschriebene Regel verwirrtemich. Meine linke Hand griff überall zuerst zu, war da nichtauch, ehe ich mich's versah, das linke Bein beim Aufstehenflinker? Mußte denn alles, was mit links zu tun hatte, Pechbringen? »Pfui, gib die schöne Hand!« sagte man dem Kind,wenn es mit der linken grüßte. »Wie nimmst du nur alles solinkisch in die Hand!«, wenn es einen Apfel schälte.

Meine Linkslastigkeit begann mich erst im dritten Schul-jahr zu drücken. Wir bekamen einen neuen Lehrer, in Glarushieß er nur der Caramel-Frigg — wenn ich mich recht erin-nere, war Fritz sein Vorname —, und er hatte einen Hang fürKaramellen Marke Caramel Mou. Caramel-Frigg gehörte zujenen Vertretern der Lehrerzunft, die überzeugt waren vonder alleinigen Rechtschaffenheit der Rechtshändigen. VomPult aus, Karamellen kauend, inspizierte er seine schreiben-den Schüler. Schon am ersten Tag entdeckte er Unbotmäßi-ges: eine rechte Hand, die müßig auf dem Heft lag und tat, alssei sie eine linke. Eine linke Hand, die mit subversiver Selbst-verständlichkeit schrieb wie eine rechte.

Caramel-Frigg pflanzte sich vor mir auf und sagte, so et-was Verkehrtes, Unrechtes dulde er nicht!

Was blieb der Neunjährigen anderes übrig, als sich dem

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Rechtsdrall der Caramel-Friggschen Welt zu fügen? Hatteman doch sogar Galilei in die Knie gezwungen, beim Ab-schwören soll er gemurmelt haben: »Und sie bewegt sichdoch«, aber davon vernahm ich erst viel später.

Während die Welt des neuen Lehrers in Ordnung kam, ge-riet meine mit der Umerziehung in Unordnung. Manche derwackligen Buchstaben erschienen im Schriftbild seitenver-kehrt, andere Buchstaben stahlen sich einfach aus den Wör-tern heraus. Dumpf trauerte ich dem paradiesischen Zustandnach, als im Kindergarten alles noch recht und gut gewesenwar, links, oben, unten. Auch in den ersten zwei Schuljahrenhatte man mich gewähren lassen, denn der junge LehrerZimmermann hatte einen Artikel gelesen, der davor warnte,Linkshänder umzuerziehen: Im Kopf müßten sonst Zentrenwandern, von einer Hirnhälfte zur andern. Auf den besagtenArtikel hin ließ Herr Zimmermann mein Hirn in Ruhe, unddie Welt der Buchstaben ging mir wunderbar auf. Vermutlichhatte der Lehrer in jenen Jahren auch viel von der Jagd aufalles Andersartige gehört, auf Juden, Zigeuner, Linksden-kende. Da war es bis zu den Rothaarigen und Linksschrei-benden nur noch ein kleiner Sprung, das ahnte 'wohl LehrerZimmermann, und ich verdankte ihm zwei ungestörte Jahre.

Das änderte sich abrupt mit Caramel-Frigg. Nach seinerUmerziehung wußte ich manchmal nicht mehr, wo rechtsund links war.

Die rechte Hand ist die, wo der Daumen links ist, sagtedann der Lehrer.

Die Klasse, für jede Aufheiterung dankbar, brüllte. Ich waraus der Norm gefallen. Ver-rückt ist, wer im Widerspruch zurMehrheit lebt.

Schulkameraden, aber auch Gegenstände für »rechte« Men-schen gemacht, trieben mit mir ihren Spott. Am Hafen von

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San Francisco habe ich zum ersten Mal ein Geschäft fürLinkshänder gesehen: Kaffeetassen, Zahnbürsten, Rüstmes-ser, alles mit Linksdrall, für den Normalverbraucher ein per-verses Sammelsurium.

Meine Kinder haben meine Linkshändigkeit nicht geerbt,mir fehlt die Erfahrung, was man in den modernen Schulenmit den Linkshändern macht. Vermutlich denken die meistenLehrer heute so wie der damals junge Lehrer Zimmermann?

Beängstigend nur, daß die Jagd auf das Andersartige undNichtnormierte immer wieder aufflackert. Hat man nichtnoch in jüngster Zeit die Gedanken der Linksdenkendenfichiert?

Seit der Caramel-Frigg-Ära schreibe ich rechts. Das Fleischschneide ich mit der rechten Hand, das Frühstücksbrotstreiche ich links. Noch heute verwechsle ich oft links undrechts, taste, in jahrelang von mir bewohnten Räumen, aufder falschen Seite nach dem Lichtschalter. Ich blättere mit derLinken in der Zeitung. Nach dem Konzert klatsche ich mitder linken Hand in die rechte.

Die Linke setzt sich also immer wieder durch. Trotzdemhabe ich das Herz auf dem rechten Fleck.

Links natürlich.

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Von der Magie der Bilder

Auf die Fotos meiner Indienreise habe ich mit Spannung ge-wartet, nun liegen sie vor mir. Ich bin enttäuscht. Sie kom-men nicht an meine inneren Bilder heran, die farbenprächti-ger sind, dreidimensional und bewegt: die wie Prinzessinnengekleideten Straßenkehrerinnen von Jaisalmer, die Kühe inden Straßen von Jaipur, die, sich ihrer Heiligkeit bewußt, ge-lassen im chaotischen Verkehr stehen, die Männer vor denverfallenen Prunkhäusern von Mandawa mit ihren Turbanenin den Farben des Sonnenuntergangs. Den biologischen Ab-lauf des Sehens hat die Wissenschaft erforscht, aber wiekommt es, daß sich gewisse Bilder in uns unzerstörbar fest-setzen? Daß wir unser Inneres austapezieren können mitBildern?

Philomène, die im Zürich der zwanziger Jahre ihr Rüst-zeug als Malerin bei Sophie Täuber-Arp geholt hat, machtmit ihren bald 93 Jahren keine weiten Reisen mehr, doch voneiner frühen Indienreise hat sie Eindrücke gespeichert. AusJaipur habe ich ihr einen telefonischen Gruß nach Itschnachgeschickt. Sofort erinnerte sie sich an das Hotel, das einst einMaharadscha-Palast gewesen war, an seine Hallen und Wan-delgänge. Das alles war in ihr noch aufgezeichnet und abruf-bar. Sie beschrieb mir die Rosen, die sie damals gemalt hatte,erwähnte den besonderen Wuchs, das intensive Rot. Im Parkin Jaipur findet man sie nicht mehr, doch in Philomènes Vor-stellung blühen sie seit drei Jahrzehnten weiter.

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Philomène malt, obwohl sie heute fast blind ist, immernoch. »Deine Bilder sind großzügiger geworden, abstrakter«,habe ich ihr kürzlich gesagt, »wie schaffst du das nur, wodoch deine Augen kaum mehr Bilder einlassen?« — »Ich brau-che die Blumen nicht zu sehen, ich habe sie inwendig«, sagtesie mir.

Wieder wie früher besser sehen, ja, das möchte sie schon.Ein Augenarzt, so erzählte sie mir, habe kürzlich an ihrerHornhaut mit Laser gearbeitet, darauf hat sie für zwei Stun-den wieder etwas sehen können. Doch gebracht habe es ihrwenig. Zu Hause hat sie ihr eigenes Spiegelbild erschreckt:»Vor lauter Runzeln habe ich mein Gesicht nicht gesehen«,lachte sie. »Ich sehe mich inwendig immer noch jung.«

Jung ist sie geblieben dank ihrer Fähigkeit, Bilder spei-chern zu können, ein innerer Vorrat, von dem sie im Alterzehrt. Sie kann diese Bilder zwischen ihren vier Wänden ab-rufen, sie bewegt sich zwischen ihnen, läßt sich von ihnen be-wegen. Die Neugierde ist geblieben: Ist der Palast der Windeimmer noch rosafarben? Spielen abends die Puppenspielernoch unter den Bäumen? Grüßen sich die Inder immer noch,indem sie sich mit ihren Turbanen voreinander verneigen?

Philomène ist eine begehrte Gesprächspartnerin. Sie kannintensiv zuhören, denn sie ist immer interessiert daran, Neuesaufzunehmen. Wenn sie sich zu den Dingen des Lebens äu-ßert, entwirft sie eine eigenwillige Weltschau von großerLeuchtkraft. Sie muß nun nicht mehr reisen, um Bilder zusammeln. Eine neue Blüte am Blumenstock, ein Gruß durchsTelefon, ein kleiner Besuch wird ihr zum Erlebnis.

Verhindern Bilder, daß wir uns selber im Dunkeln einker-kern? Äußeres und inneres Sehen: Mit beiden Vorgängen hatsich der Chemiker und LSD-Erfinder Albert Hofmann be-faßt. Bei ihm lese ich, daß unser Sehapparat aus dem riesigen

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Spektrum von Wellenlängen im Universum nur den schma-len Ausschnitt zwischen 0,4 und 0,7 Tausendstelmillimeterwahrnimmt; diese verschiedenen Wellenlängen erleben wirals Farben. Hofmann schreibt: »Das farbige Bild der Weltexistiert draußen nicht: Es entsteht im Innern des einzelnenMenschen auf einem psychischen Bildschirm. Die natur-wissenschaftliche Betrachtung des Sehens bringt uns diewunderbare, grundlegende Tatsache ins Bewußtsein, daßjeder Mensch ein eigenes selbsterschaffenes Bild der Welt insich trägt.«

»Schauen muß man, nicht sehen«, sagt Philomène zu mir.Ich nicke flüchtig und suche in meiner Handtasche nach demBusfahrplan. Sie bemerkt meine Unruhe und fügt lächelndhinzu: »Das Wichtigste für das richtige Schauen ist die Lang-samkeit.«

Der Jubiläums-Apfel

Er feiert in diesem Jahr Jubiläum. Er, der mein unentbehr-licher Gehilfe geworden ist, mein Intimo, hütet er doch meineGeheimnisse, meine sonst noch niemand bekannten Ge-danken und Texte. Haben Privatsekretäre der Feudalzeit nurannähernd ähnliches geleistet?

Auf Knopfdruck steht der meine zu allen möglichen undunmöglichen Zeiten zur Verfügung, er hilft meinem lädiertenGedächtnis nach, speichert für mich die in den Archivengefundenen Trouvaillen, bringt System und Ordnung inmein Chaos. Sein Auge wacht. Verstoße ich gegen eine Regel,macht er mich, zu meinem Vorteil natürlich, aufmerksam miteinem ungeduldigen »Mei, mei!«. Manchmal, besondersbeim Ausdrucken, nerven mich seine betulichen Ermahnun-gen, doch Rügen müssen, um wirksam zu bleiben, auf dieNerven gehen. Schon als Kind im Glarnerland wurde ichmit einem solchen »Mei, mei!« auf meine Fehler aufmerksamgemacht.

Zugegeben, ich greife, wenn er nicht hinschaut, gerne zufrüheren, primitiven Methoden zurück. So schreibe ich, ge-wissermaßen hinter seinem Rücken, meine ersten Entwürfeund Brainstormings von Hand. Wie soll er, der erst Zwanzig-jährige, kapieren, daß es eine Lust ist, ein leeres Blatt mitkrakligen, spinnbeinigen Buchstaben zu überziehen? Auchhalte ich trotz seiner ordentlichen Dossiers an meinen flie-genden Zetteln fest, denn das Rascheln von Papier, das Wüh-

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len in Notizen regt mich an wie eine Tasse starker Kaffee undbringt mich auf Ideen.

Ideen? Trotz seiner Perfektion muß ich sie immer noch sel-ber haben, die scheinen nicht in sein System zu gehen, aberdie Evolution schreitet vermutlich auch in dieser Beziehungrasch voran.

Mein Intimo ist, genaugenommen, schon der vierte seinerArt, ich blieb jedoch, aus Überzeugung und Bequemlichkeit,seinem Typ treu. Was soll man sich, wenn man schon zu-frieden ist, umgewöhnen? Ist denn auch ein anderer auf jedenKnopfdruck bereit, so geduldig, so benutzerfreundlich aufeine technisch Unterbelichtete einzugehen?'

Mein Intimo Nummer 1, den ich vermutlich um 1984 inmeinen Dienst nahm, war damals ein heißer Tip von meinemSohn. Er empfahl mir die Anschaffung wohl in der Hoff-nung, die technisch unbegabte Mutter würde sich damitnicht anfreunden können und das für ihn unerschwinglicheGerät, einmal im Haus, gleite dann langsam, aber sicher inseinen Besitz über. Aber mein Sohn hatte sich da getäuscht.Nach ein paar Abstürzen entstand zwischen dem neuen Ge-hilfen und mir bald eine innige Beziehung. Ich hatte damalsgerade ein chaotisches Buchmanuskript auf dem Schreib-tisch. Nach einer Brasilienreise, die mir neue Erkenntnissegebracht hatte, war das Bündel Blätter voller Einfügun-gen, Klebstreifen, überschriebenen Seitenzahlen und vollmysteriöser Korrekturen, es grauste mir, es noch einmal ab-zuschreiben, um die Nerven und Augen meiner Verlagsleutezu schonen.

Mein Intimo brachte es zustande, das Manuskript in Kürzezu verwandeln, und ein primitiver Drucker, der stundenlangratterte, druckte das Ganze, o Wunder, auf perforierten Pa-pierbahnen zu einer Art dicker Klopapierrolle aus. Im Verlag

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