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4º|2010 Sri Lanka nach dem Krieg VOICE Tamilische Minderheit hat wenig Hoffnung auf einen echten Frieden.

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Sri Lanka nach dem Krieg

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4º|2010

Sri Lanka nach dem Krieg

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Tamilische Minderheit hat wenig Hoffnung auf einen echten Frieden.

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VOICE|4-2010 Gesellschaft für bedrohte Völker Schweiz

Editorial Tausende Tote und Verletzte, hunderttausende Men-schen vertrieben und in Flüchtlingslagern oder Gefäng-nissen interniert, riesige Landstriche von Minen ver-seucht. Das war die Lage im Norden Sri Lankas nach dem militärischen Sieg der sri-lankischen Armee über die Tamil Tigers im Mai 2009. Beide Parteien hatten sich in dem seit rund 30 Jahren andauernden Konflikt, insbe-sondere in dessen letzten Monaten, schwere Verlet-zungen des humanitären Völkerrechts und der Men-schenrechte zuschulden lassen kommen.

Mehr als ein Jahr später ist in der internationalen Öf-fentlichkeit über Sri Lanka fast nichts mehr zu hören. Doch was ist mit den Hunderttausenden von Vertrie-benen geschehen − davon die allermeisten Angehörige der tamilischen Minderheit? Wie und wo leben sie heu-te? Es ist nicht einfach, an unabhängige Informationen über die aktuelle Lage im Norden Sri Lankas zu gelan-gen. Die wenigen internationalen Organisationen, die mit Erlaubnis der sri-lankischen Regierung im Norden des Landes tätig sein dürfen, können sich zu so heiklen Themen wie der menschenrechtlichen Lage der tamili-schen Minderheit kaum äussern.

In der Voice berichten ein Journalist, der länger in Sri Lanka recherchiert hat und eine dort stationierte UNHCR-Mitarbeiterin über die Lage vor Ort. Wir haben zudem Tamilinnen und Tamilen in der Schweiz gefragt, wie sie die heutige Lage in ihrem Heimatland einschät-zen.

Ein Fazit: Solange die Gleichberechtigung der tamili-schen Minderheit im sozialen, wirtschaftlichen und po-litischen Bereich nicht gewährleistet ist, ist ein fried-liches Zusammenleben in Sri Lanka kaum vorstellbar. Für die sri-lankische Regierung bleibt viel zu tun.

Franziska Stocker, Leitung Kommunikation

Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) ist eine internationale Menschenrechtsorganisation, die sich für verfolgte Minderheiten und indigene Völker einsetzt. Sie dokumentiert Menschenrechtsverletzungen, informiert und sensibilisiert die Öffentlichkeit und nimmt die Interessen der Betroffenen gegenüber Behörden und Entscheidungsträgern wahr. Sie unterstützt lokale Bemühungen zur Stärkung der Menschenrechte von Minderheiten und indigenen Völkern und arbeitet national und international mit Organisationen und Per - sonen zusammen, die ähnliche Zielsetzungen verfolgen. Die GfbV hat beratenden Status beim Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) der UNO und beim Europarat.

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Die Besiegten

Der Bürgerkrieg in Sri Lanka ist seit mehr als einem Jahr zu Ende. Die Tami-len fürchten eine neue Kolonisierung. Ein Bericht von Monde diplomatique-Journalist Cédric Gouverneur.

Gravierende Auswirkungen für Indigene

Als Vertreterin der GfbV reiste Rebecca Sommer für zwei Monate in den bra-silianischen Amazonas, um die Situati-on der verschiedenen vom Bau des Belo Monte-Staudamms betroffenen indigenen Völker zu dokumentieren.

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Herausgeberin: Gesellschaft für bedrohte Völker Schweiz, Wiesenstrasse 77, CH-3014 Bern, Tel. 031 311 90 08, Fax 031 311 90 65, E-Mail: [email protected], Web: www.gfbv.ch, Spendenkonto PC 30–27759–7 Redaktion: Verantwortlich: Franziska Stocker, Mitarbeit: Rahel Zürrer, Christian Bosshard, Flavia Fries Gestaltungskonzept / Layoutsupport: Clerici Partner AG, Zürich Layout: Franziska Stocker Titelbild: Tamilische intern Vertriebene im Lager «Menik Farm», Distrikt Vavuniya, Sri Lanka, April 2009 (Foto: UNHCR/Z. Sinclair) Bild Rückseite: Roma in einem bleiverseuchten Flüchtlingslager in Mitrovica, Kosovo (Foto: Franziska Stocker) Er-scheinungsweise: vierteljährlich Auflage: 8700 Exemplare Einzelnummer: CHF 5.– zzgl. Versandkosten, Insertionstarif auf Anfra-ge Nächste Ausgabe: Mrz. 2011, Redaktions- und Inserateschluss: 1. Feb. 2011 Copyright: © 2010 Gesellschaft für bedrohte Völker Schweiz. Die Wiedergabe von Artikeln ist bei Angaben der Quelle und Belegexemplaren an die Herausgeberin erlaubt Druck: gdz AG, Zürich, gedruckt auf FSC-Papier ZEWO: Die GfbV trägt das ZEWO-Gütesiegel für gemeinnützige Institutionen. Es steht für einen zweckbestimmten und transparenten Umgang mit Spenden.

Inhaltsverzeichnis

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DieBesiegten

Tamilische Stimmenaus der Schweiz

Interviewmit Jennifer Pagonis

Kurzinfos

GfbV-Projekte und -Kampagnen

Gravierende Auswirkungenfür Indigene

Service Bücher, Filme, Ausstellungen

Tamilische Stimmen aus der Schweiz

Die GfbV hat in der Schweiz lebende Tamilinnen und Tamilen gefragt, wie sie die Situation in Sri Lanka einschätzen.

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Die Besiegten

Seit dem März 2008 drängten die Regierungstruppen in Sri Lanka die tamilische Unabhängigkeitsbewegung LTTE (Libera-tion Tigers of Tamil Eelam) immer weiter in die Defensive. Die tamilische Zivilbevölkerung der eroberten Gebiete wurde in La-ger umgesiedelt, insgesamt bis zu 300 000 Menschen. Allein im Lagerkomplex «Menik Farm», im nördlichen Distrikt Vavuni-ya lebten zeitweilig 228 000 Tamilen. Ein Jahr nach der mili-tärischen Niederlage der Befreiungstiger vom Mai 2009 warten (im August 2010, Anm. der Red.) noch immer 70 000 Flücht-linge hinter Stacheldraht auf die Erlaubnis, in ihre Dörfer zu-rückzukehren. Ein Lagerkommandant erklärt, warum es absolut notwendig war, so viele Tamilen zu verhaften: «Wir mussten die Zivilisten von den Terroristen trennen, von denen sie als Geiseln benutzt wurden. Natürlich dauert es einige Zeit, bis wir sie in ihre Heimat zurückschicken können, schon weil wir da die Minen räumen müssen.»

Im Lager Menik Farm sieht man kaum junge Männer; die meisten sitzen im Gefängnis, weil man sie für Anhänger der Befreiungstiger hält. Auf 11 000 bis 13 000 wird die Zahl der Gefangenen geschätzt, denen man Verbindungen zur LTTE vor-wirft. «Sie werden nach dem Grad ihrer militärischen Aktivität eingestuft», erklärt Professor Rajiva Wijesinha, ein Vertrauter des Präsidenten. «Gegen höchstens tausend läuft ein Ermitt-lungsverfahren», schätzt der Mann, der bis Februar 2010 Staatssekretär im Ministerium für Katastrophenschutz und Menschenrechte war.

Die meisten Kämpfer der Befreiungstiger haben sich ergeben oder wurden in ihren Verstecken aufgespürt, auch aufgrund von Hinweisen aus der tamilischen Bevölkerung. Die Menschen hat-ten genug von dem grausamen Durchhaltewillen der Tiger im Angesicht der unausweichlichen Niederlage. «Aus jeder Familie haben sie bis zu zwei Kinder rekrutiert», berichten Überleben-de. «Und sie feuerten auf jeden, der versuchte, in die von der Armee kontrollierten Gebiete zu fliehen.»

Singhalesische Touristen posieren als SiegerEin unabhängiger Experte, der Zugang zu Lagern der LTTE-Ge-fangenen hat, klagt über die staatliche Informationspolitik: «Die Regierung veröffentlicht keine Namenslisten. Auch die Fa-milien erfahren nicht, wer verhaftet wurde und warum, und wo ihre Kinder interniert sind. Das löst natürlich Besorgnis aus in einem Land, in dem Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren üb-lich sind.» Selbst das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) darf die Gefangenen nicht besuchen.

Die Region Vanni im Norden des Landes wurde zwei Jahr-zehnte lang von der LTTE kontrolliert und erst Anfang 2009 von den Regierungstruppen zurückerobert. Seither ist das Gebiet

vollständig abgeriegelt, auch ausländische Medienvertreter hatten bis vor kurzem keinen Zutritt. An der Fernstrasse A 9, die durch Vanni führt, erblickt man alle paar hundert Meter eine Bunkeranlage; zu beiden Seiten der Strasse wurden die Bäume gefällt, um keine Deckung für Hinterhalte zu bieten. Überall stehen Minen-Warnschilder. Das Militär dominiert die Szene; die wenigen Zivilisten, die man zu Gesicht bekommt, hausen meist in Zelten neben ihren zerstörten Häusern.

Auf dieser Strasse herrscht viel Verkehr: Dutzende von Bus-sen bringen singhalesische Reisende in den Norden, der für sie so lange unzugänglich war. Die Regierung fördert den Aus-flugstourismus, der meistens in der Kleinstadt Kilinochchi en-det. Die frühere «Hauptstadt» des selbst ernannten und dikta-torisch geführten «Teilstaats» der Befreiungstiger ist nur noch ein Trümmerfeld.

Jetzt posieren vor der spektakulären Ruine die angereisten Mönche und ihre Angehörigen zum Erinnerungsfoto, dann stei-

gen sie wieder in die beflaggten Busse mit den Bannern, auf denen der Präsident und seine «ruhmreiche Armee» gepriesen werden. Abgesehen von einem Kriegerdenkmal gibt es in Kili-nochchi nur ein neues Gebäude: Zum grossen Missfallen der Einheimischen, die Hindus oder Christen sind, liess die Armee sogleich einen buddhistischen Tempel errichten.

Solche Siegerposen verstören auch die Tamilen, die aus dem Lager Menik Farm entlassen werden, nicht wissen, was aus ih-ren Angehörigen geworden ist, und von den internationalen Hilfsorganisationen am Leben erhalten werden: «Wir sind durch die Hölle gegangen, und jetzt werden wir auch noch gedemü-tigt«, sagt Nayan, ein Anhänger der Tiger, der vor der letzten Offensive der Regierungstruppen fliehen konnte. Bei Mullaitivu hatte die Luftwaffe die LTTE gnadenlos unter Beschuss genom-men − und damit auch tausende von Zivilisten, die von den Tigern als Schutzschild missbraucht wurden. «Die Tiger haben sich bis zur letzten Patrone gewehrt. Dann vergifteten sie sich mit Zyanid, die Kapseln trug jeder um den Hals. Wir lagen un-ter Dauerbeschuss. Meine Mutter starb vor meinen Augen.»

Bei den Singhalesen dagegen herrscht grosse Begeisterung über den Sieg. Man ist froh, nicht länger in der Furcht vor

Der Bürgerkrieg in Sri Lanka ist seit mehr als einem Jahr zu Ende. Die Tamilen fürchten eine neue Kolonisierung. Ein Bericht von Cédric Gouverneur.

«Die Tamilen haben die Hoffnung aufgegeben.»

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Selbstmordanschlägen leben zu müssen. Obwohl viele Singha-lesen mit Tamilen befreundet sind − was sie manchmal lieber verheimlichen −, betrachten sie den Konflikt als «Kampf gegen den Terrorismus». Und sie glauben tatsächlich, dass die Armee die Tamilen von der Zwangsherrschaft einer Bande von Krimi-nellen befreit hat, wie es ihnen die Medien jahrelang einge-trichtert haben. Mit der Niederlage der Befreiungstiger gilt dieses Kapitel nun als abgeschlossen. Nach einem Vierteljahr-hundert sollen wieder Frieden und Harmonie auf der Insel herr-schen. Dann könnten auch die Touristen und die Investoren nach Sri Lanka zurückkehren.

Eine ziemlich optimistische Vorstellung, wenn man bedenkt, dass der Separatismus ja nicht erst mit den Bombenanschlägen der LTTE begann, sondern eine Reaktion auf die Diskriminie-rung der Tamilen durch die Regierung in Colombo war - und das war schon vor dreissig Jahren so.

Der Stacheldraht um das Lager Menik Farm ist für Tamilen ein weiteres Indiz, dass sie als Bürger zweiter Klasse gelten. Trotz des totalitären Machtmissbrauchs der Tiger und der Re-krutierung von Kindersoldaten sind die Gefühle vieler Tamilen gegenüber der LTTE noch immer ambivalent. Shanti Satchitha-nandam, Vorsitzende der tamilischen NGO Viluthu («Vorwärts»), die selbst unter den Tigern zu leiden hatte, hört die Leute im-mer wieder sagen, die Tiger hätten ihnen immerhin eine Stim-me verliehen: «Sie haben das Gefühl, dass die LTTE, trotz all ihrer Fehler, für sie gekämpft hat. Jetzt sind sie sprachlos und wie gelähmt.»

Nach der Eskalation der Kämpfe zwischen den Regierungsstreitkräften und den Tamil Tigers treffen Tausende tamili-sche Flüchtlinge im Lager «Menik Farm» ein (April 2009).Fo

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«Die Tamilen haben die Hoffnung aufgegeben«, meint ein langjähriger Aktivist. «Wenn ich jünger wäre, würde ich jetzt ins Exil gehen. Dreissig Jahre politischer Kampf (von den 1950er Jahren bis zu Beginn der 1980er Jahre) waren umsonst, und dreissig Jahre bewaffneter Kampf ebenso. Weder die Ver-handlungen noch die militärischen Auseinandersetzungen ha-ben uns etwas gebracht. Also müssen wir jetzt unter militä-rischer Besatzung in einem buddhistischen singhalesischen Land leben. Die Armee wird den Norden und Osten so schnell nicht wieder aufgeben.»

Rechtsextremistische buddhistische Mönche Unweit der Insel Kayts liegt das Eiland Nainativu. Es ist zum Pilgerort für tausende singhalesischer Touristen geworden, weil hier der Tempel von Nagadipa liegt, den schon Buddha besucht haben soll. Ein Offizier meldet stolz: «Gestern hatten wir 10 500 Besucher.» Zufrieden zeigt sich auch ein buddhi-stischer Würdenträger in orangefarbenem Gewand, der aus dem Süden angereist ist: «Die tamilischen Terroristen haben den Tempel zerstört, die Armee hat ihn jetzt wiederaufgebaut. Nach all den Jahren kehrt endlich der Buddhismus hierher zu-rück.»

Dazu muss man wissen, dass viele buddhistische Mönche der extremen Rechten anhängen und der festen Überzeugung sind, dass Sri Lanka allein den buddhistischen Singhalesen gehöre. Einige Mönche, die für das Parlament kandidierten, liessen sich auf ihren Wahlplakaten zusammen mit Soldaten abbilden. Kein

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Wunder, dass die christlichen und hinduistischen Tamilen in dem Pilgerstrom nach Nainativu eine Art verdeckten «Kolonia-lismus» sehen.

In der Hauptstadt Colombo werden Oppositionelle Stimmen und mutmassliche Unruhestifter von den «White Vans», weisse Kleinlaster ohne Nummernschild, die ungehindert durch jede Polizeisperre kommen und vor allem nachts unterwegs sind, ab-geholt und zum Schweigen gebracht. Auf diese Weise «ver-schwand» am 24. Januar 2010 der Journalist und Karikaturist Prageeth Eknaligoda, als er gerade sein Büro verliess. Men-schenrechtler, Anwälte und Journalisten erhalten Morddro-hungen, sie werden als Verräter und Gefolgsleute der Tiger be-schimpft.

Seit Präsident Mahinda Rajapakse durch die Wahlen vom 26. Januar 2010 im Amt bestätigt wurde, hat er den Druck auf die Opposition und die unabhängigen Medien deutlich verstärkt. Sein Herausforderer bei den Präsidentschaftswahlen, der frühere Generalstabschef Sarath Fonseka, sitzt seit Februar in Haft und muss sich vor einem Militärgericht verantworten.

Sieg über die TamilenMahinda Rajapakse hat geschafft, woran seine Vorgänger ge-scheitert waren: die LTTE, eine der gefährlichsten Guerillaorga-nisationen der Welt, zu vernichten. Viele Beobachter gehen davon aus, dass die Missachtung der Menschenrechte für den militärischen Sieg entscheidend war.

Die Siegerposen des Regimes wirken allerdings fast lächer-lich: Das Bild des Präsidenten ziert einen neuen 1000-Rupien-Schein, auf der Rückseite sieht man Soldaten die Landesflagge aufpflanzen − eine Kopie der Szene von 1945 mit den US-Ma-rines auf der Insel Iwo Jima. Auf Versöhnung ist bei so viel nationaler Inbrunst nicht zu hoffen, meint der tamilische In-

tellektuelle Jehan Perera: «Für die Singhalesen ist der Norden jetzt erobertes Gebiet. Solange der Konflikt andauerte, haben sie die Tiger gefürchtet. Der Waffenstillstand bedeutete dann eine Art Gleichberechtigung zwischen Singhalesen und Tamilen. Jetzt aber entsteht zwischen Siegern und Besiegten ein Herr-schaftsverhältnis.»

Das Scheitern der Tiger «bot die Chance auf eine plurali-stische demokratische Gesellschaft, in der die Rechte der Ein-zelnen geachtet werden», meint Jehan Perera. «Aber jetzt wird der entgegengesetzte Weg eingeschlagen, und der geht Rich-tung Malaysia: ein autoritäres Regime mit eingeschränkter De-mokratie, in der die Bürgerrechte der wirtschaftlichen Entwick-lung untergeordnet werden.»

Gekürzte Version eines am 13.8.2010 in Le Monde diplomatique erschienenen

Artikels von Cédric Gouverneur. www.monde-diplomatique.de

Intern vertriebene Tamilen machen sich auf den Weg in ein Flüchtlingslager in Va laichenai. Fo

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Unabhängige Untersuchung gefordertInsbesondere in den letzten Monaten des 30-jährigen Bürger-kriegs in Sri Lanka wurden von beiden Kriegsparteien Verbre-chen gegen die Menschlichkeit und weitere gravierende Ver-letzungen des humanitären Völkerrechts begangen. Bis heute lehnt die Regierung in Sri Lanka eine unabhängige Untersu-chung der Kriegsgeschehen ab, wie sie die Europäische Uni-on und zahlreiche Menschenrechtsorganisationen − darunter auch die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) − gefordert haben. Ein dauerhafter Frieden in Sri Lanka ist nur möglich, wenn zudem auch die Straflosigkeit beendet und somit die Kriegsverbrechen konsequent geahndet werden und die poli-tische, soziale und kulturelle Gleichberechtigung der tamili-schen Minderheit gewährleistet werden.

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Tamilische Stimmen aus der Schweiz

Die GfbV hat in der Schweiz lebende Tamilinnen und Tamilen gefragt, wie sie die Situation in Sri Lanka einschätzen. Einige wollten aus Angst vor möglichen Repressionen gegenüber ihren Ange-hörigen in der Heimat anonym bleiben.1. Markandu Thamarai Chelvy, 43, Raumpflegerin: «Die Situation vor Ort ist immer noch schlimm. Tamilische Frauen haben Angst in der Nacht.»2. Santhirakhonar Rathakrishnan, 54, Surprise-Verkäufer: «Der Krieg ist zwar beendet, doch das Militär ist noch überall. Das Militär kontrolliert alles.»3. Navaseevan Markandu, 49, Verkäufer: «Die In-formationen, die nach aussen dringen, stimmen nicht. Der Krieg ist vorbei, aber für die Tamilen

vor Ort hat sich nichts verbessert. Die Situation der Tamilen kann sich nur ändern, wenn andere Länder oder z.B. die EU Druck auf die sri-lan-kische Regierung ausüben.»4. N.N.: «Die momentane Situation in Sri Lanka ist schrecklich. Sri Lanka wird von einem komplett diktatorischen und korrupten Regime regiert. Ein politischer Wechsel ist aussichtslos. Solange diese Regierung an der Macht bleibt, kann sich nichts verbessern für die Tamilen.»5. Graziella Rogers, 23, Miss Earth 2009: «Ich bin traurig zu sehen, wie sehr sich Tamilen und Singhalese hassen. Ich bin zerstört darüber, über wie viele Jahre sich der Krieg nun schon hinzieht. Und ich bin verärgert darüber, dass

niemand bereit ist, zumindest einen Kompromiss zu finden zum Wohle der Kinder und zum Wohle Sri Lankas. Es ist Zeit, dass wir uns nicht mehr Tamilen und Singhalesen nennen, sondern Sri Lanker.»6. N.N., 31, Verkäuferin: «Wenn ich an Sri Lanka denke, denke ich vor allem an meine Familie.»7. Raveendran Velautnam, 44, Küchenhilfe: «Tamilen in Sri Lanka haben Angst, da Menschen spurlos verschwinden. Die Situation ist jetzt aber ein bisschen besser.»8. N.N., Verkäuferin: «Die Situation in Sri Lanka macht mich sehr traurig. Es gibt viele Kinder, die keine Eltern mehr haben. Es ist wichtig, dass andere Länder helfen.»

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«Es gibt eine riesige Anzahl von Vertriebenen»

Frau Pagonis, wie viele Vertriebene gibt es in Sri Lanka?Seit den 1980er Jahren gab es mehrere Migrationswellen in Sri Lanka. Wir sprechen von ungefähr 300 000 Menschen die vor April 2008 ihr zuhause verlassen mussten und von etwa 280 000 Menschen, die jetzt in der letzten Phase des Krieges vertrieben wurden, also zwischen April 2008 und Mai 2009. Wir werden uns im Gespräch wohl eher auf diese zweite Gruppe konzentrieren, aber wir dürfen nicht vergessen, dass es in Sri Lanka immer wieder konfliktbedingte Migrationsströme gab und es deshalb mittlerweile eine riesige Anzahl an Vertrie-benen gibt. Für diese Menschen muss ebenfalls eine dauer-hafte Lösung gefunden werden. Zudem gibt es ungefähr 146 000 sri-lankische Flüchtlinge auf der ganzen Welt, wovon 100 000 in Indien leben.

Aus welcher Gegend Sri Lankas stammen die Vertriebenen hauptsächlich?In der letzten Phase des Krieges kamen die Binnenflüchtlinge vor allem aus dem Norden Sri Lankas, der Krieg hatte im Osten etwas früher aufgehört. Etwa 280 000 Menschen gelangten zu dem grössten Lager für intern Vertriebene, der Menik Farm in der Gegend von Vavuniya.

Heute, mehr als ein Jahr nach dem Ende des Konflikts, ha-ben 85 Prozent aller Vertriebenen dieser letzten Phase die Flüchtlingslager verlassen. Es leben heute noch ungefähr 27 500 in der Menik Farm. Das Flüchtlingslager in Jaffna bietet noch 1226 ein vorübergehendes zuhause. Im Ganzen leben also noch ungefähr 28 700 Personen in Flüchtlingslagern. Die Anzahl Vertriebener in den Lagern konnte also drastisch ge-senkt werden.

Was können Sie uns zu den Bedingungen in den Flücht-lingslagern sagen?Ich denke, dass die internationale humanitäre Gemeinschaft alles Mögliche versucht hat, um die nötigen Angebote für die Vertriebenen bereitzustellen. Durch die Zusammenarbeit zwi-schen der UNO, internationalen und lokalen Nichtregierungsor-ganisationen sowie der Regierung wurde versucht, die wich-tigsten Bedürfnisse wie z.B. Zugang zu Wasser, ärztliche Versorgung und Unterricht für Kinder abzudecken. Ich will da-mit nicht sagen, dass alles perfekt abgelaufen ist, aber ange-sichts der schwierigen Voraussetzungen, der enorm grossen Anzahl an Menschen, kann dennoch von einem kleinen Erfolg gesprochen werden.

Mit dem Ende des Krieges in Sri Lanka im Mai 2009 gab es Hunderttausende von Vertriebenen. Jennifer Pagonis vom UNO-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) spricht über die riesige humanitäre Herausforderung. Sie kann sich jedoch nicht zu menschenrechtlichen Fragen äussern.

Die stetige Abnahme der Vertriebenen, die in Menik Farm lebten, ist zum einen natürlich als positive Entwicklung zu be-urteilen. Auf der anderen Seite aber verlassen auch immer wie-der Menschen das Lager, die vorher auf irgendeine Weise Auf-gaben im Flüchtlingslager übernommen hatten. So waren z.B. Lehrer im Lager, die während ihrer Zeit im Flüchtlingslager un-terrichtet hatten. Es ist also schwierig, alle Angebote aufrecht zu erhalten.

Zu den Menschen, die jetzt noch im Lager ausharren: Ja, zum Teil sind sie sicherlich in einer dramatischen Lage und die kommende Monsun-Saison stellt ein grosses Problem dar. Es muss unbedingt dafür gesorgt werden, dass diese Menschen eine adäquate Unterkunft bekommen während dieser Zeit.

Wieso dauerte es so lange, bis die Vertriebenen die Lager verlassen und wieder in ihre Dörfer zurückkehren konnten?Eine Erklärung für den langsamen Prozess ist sicherlich das Entminen der betroffenen Gebiete. In einem ersten Schritt sol-len die Wohnzonen entmint werden, als zweite Priorität sind

dann die Agrarzonen an der Reihe. Das Entminen der landwirt-schaftlichen Felder ist extrem wichtig, da die Menschen für ihren Lebensunterhalt oft von der Landwirtschaft abhängen. Man muss bedenken, dass es sich um sehr grosse Flächen han-delt, die vermint sind. Das Entminen kann nicht innerhalb von einer Nacht abgeschlossen werden. Selbstverständlich wollten

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Die Rückkehr der Vertriebenen in ihre Heimatdörfer wird durch die Ver-minung grosser Gebiete stark behindert.

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wir nicht, dass Menschen in Gebiete zurückkehren, die noch nicht entmint wurden.

Verminte Felder sind also der Hauptgrund dafür, dass Men-schen zum Teil über ein Jahr in diesen Flüchtlingslagern festgehalten wurden?Ja, das ist einer der Hauptgründe. Ein anderes wichtiges Anlie-gen des UNO-Flüchtlingskommissariats (UNHCR) ist, dass wir es möglichst vermeiden wollen, dass die Vertriebenen nochmal in eine vorübergehende Bleibe müssen. In der Menik Farm

kann man Platz schaffen. Es ist besser, ein solch grosses Lager zu haben, als sogenannte «Transit-Lager», von denen es im Norden des Landes rund zehn Stück gibt. In diesen informellen Lagern ist es sehr schwierig sicherzustellen, dass die Men-schen die nötige Unterstützung erhalten.

Ein weiteres Problem für die Rückkehr der Vertriebenen ist, dass ihre Grundstücke zum Teil vom Militär besetzt oder vom Militär als Hochsicherheitszone erklärt werden, was es den Menschen verunmöglicht, in ihre ursprüngliche Heimat zurück-zukehren. Die Vertriebenen müssen warten bis die Regierung Wohnzonen freigibt. Die Regierung organisiert die Rückkehrbe-wegung der Flüchtlinge und nicht das UNHCR. Deshalb muss die Regierung in einem ersten Schritt das Land freigeben be-vor die Vertriebenen wieder nach Hause gehen können.

Welches sind die Hauptprobleme derjenigen, die in ihre Dörfer zurückgekehrt sind?Ich denke, das grösste Problem für die Vertriebenen ist es, sich wieder eine neue Lebensgrundlage aufzubauen. Ein weiteres wichtiges Anliegen ist der rechtliche Besitz ihrer Grundstücke. Einige dieser Menschen haben seit Jahren am gleichen Ort ge-wohnt, es fehlen ihnen jedoch Dokumente, um dies zu bewei-sen. Sie müssen also versuchen gültige Dokumente zu erhalten, um ihr Land zu sichern. Da diese Gegend unter Kontrolle der

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Die stellvertretende Delegierte des UNO-Flüchtlingskommissariats (UNHCR) für Sri Lanka, Jennifer Pagonis

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«Das Land der Vertriebenen ist zum Teil vom Militär besetzt.»

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Erschwerte Kritik

Die Hauptaktivitäten des UNHCR in Sri Lanka bestehen da-rin, den intern Vertriebenen eine Notunterkunft zur Ver-fügung zu stellen. Weiter unterstützt die UNO-Organisati-on die freiwillige Rückkehr der Vertriebenen in ihre Dörfer. Neben dem UNHCR wurden von der sri-lankischen Regie-rung nur wenigen internationalen und lokalen Organisati-onen Zugang zu den Flüchtlingslagern im Norden Sri Lan-kas gewährt. Selbst Organisationen wie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) hatten nicht die gan-ze Zeit Zugang zu allen Flüchtlingslagern und gewisse Ge-fängnisse dürfen bis heute nicht vom IKRK besucht werden.

Da über die Situation der intern Vertriebenen im Norden Sri Lankas wenig unabhängige Informationen nach aussen drin-gen, plante die GfbV ein Interview mit einer Organisation, welche dort tätig ist. Es zeigte sich jedoch als sehr schwie-rig, bei den betreffenden Organisationen jemanden zu finden, der dazu bereit war − zu gross die Sorge, damit die eigene Anwesenheit und Arbeit vor Ort zu gefährden. Auch UNHCR-Mitarbeiterin Jennifer Pagonis stellte klar, dass sie sich nur zur humanitären, nicht aber zur allgemeinen menschenrecht-lichen Situation der Tamilen in Sri Lanka oder zur Rolle der sri-lankischen Behörden äussern könne.

Kritische Stimmen zur Rolle der Regierung kommen deshalb meist von Organisationen, welche nicht direkt vor Ort tätig sind. Das Centre for Alternative Policy (CPA) kritisiert bei-spielsweise, dass die Anzahl der Vertriebenen in den Lagern zwar drastisch zurückgegangen sei, die Vertriebenen aber, so-bald sie die Lager verliessen, keinerlei Unterstützung von Sei-ten der Regierung mehr erhielten. Die Vertriebenen würden von der Regierung meist ohne jegliche Informationen über die Bedingungen in ihren Heimatsorten zurückgeschickt. Ein-mal angekommen, könnten sie dann aber oft nicht zu sich nach Hause zurückkehren, weil z.B. der Ort vom Militär be-setzt werde, und müssten nochmals eine vorübergehende Bleibe suchen. Sie verlören ihren Status als «Vertriebene» und somit ihren Anspruch auf staatliche Hilfe. Die rasante Abnahme der Vertriebenen in den Lagern wird von der Regie-rung als grosser Erfolg präsentiert.

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Kurzinfos

Abstimmung vom 28. November: 2xNEIN zur SVP-Ausschaffungsinitia-tive und zum GegenvorschlagDie Ausschaffungsinitiative der SVP und der vom Parlament beschlossene Gegen-vorschlag laufen auf dasselbe hinaus: Sie wollen die rechtliche Ungleichbe-handlung von AusländerInnen in der Verfassung verankern. Die SVP ist im

permanenten Wahlkampf − und den be-treibt sie seit Jahrzehnten mit Millionen von Franken und auf dem Rücken von MigrantInnen und Asylsuchenden. Auf die Abstimmung hin buhlen nun auch die «Parteien der Mitte» mit dem Gegen-vorschlag um einen Teil am fremden-feindlichen Wahlkampfkuchen. Ob nun die Aus schaf fungsinitiative oder der Ge gen vor schlag − das Ergebnis wäre in beiden Fällen das Gleiche: eine Drei-Klassen-Justiz. Nur mit einem 2xNEIN verhindern wir nicht nur diese Rechtsun-gleichheit und wehren uns gegen eine drohende Sippenhaft, sondern wir set-zen uns auch für unsere seit Jahren in der Schweiz lebenden Secondos und Ter-

Minderheiten und indigene Völker in aller Welt1 2

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Tamilische intern Vertriebene im Lager «Menik Farm», Distrikt Vavuniya, Sri Lanka, April 2009.

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Tamil Tigers stand und somit auch unter deren «Administrati-on», stehen die Menschen nun oft mit Dokumenten da, die von der sri-lankischen Regierung nicht anerkannt werden. Was kann die internationale Gemeinschaft tun, um die Lage der Vertriebenen zu verbessern?Jeder hier vor Ort versucht das Bestmögliche, aber es sind nicht alle Bedürfnisse der vielen Vertriebenen gedeckt. Wir ha-

ben zum Beispiel immer Engpässe bei unseren finanziellen Ressourcen. Es gibt aber immer noch Vertriebene, die darauf warten, nach Hause gehen zu können und wir möchten gerne in der Lage sein, ihnen beim Wideraufbau zu helfen. Obwohl alle in der internationalen Gemeinschaft wissen, wie wichtig es für die Vertriebenen ist, eine Notunterkunft zu erhalten, hatten wir grosse Schwierigkeiten, Vertriebenen, deren Häuser im Krieg zerstört wurden, mit einem vorübergehenden Dach über dem Kopf zu versorgen.

Das UNHCR und weitere Organisationen betreiben einen ho-hen Aufwand, damit die Bedürfnisse und die Anliegen der Men-schen in Sri Lanka in dieser extrem schwierigen Phase auf in-ternationaler Ebene nicht vergessen werden.

Interview: Rahel Zürrer, GfbV

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Kurzinfos

Minderheiten und indigene Völker in aller Welt1. Mandäer, Irak (Foto: GfbV-Archiv)

2. Montagnards, Vietnam

(Foto: Montagnard Foundation)

3. Nymylanen (Küstenkorjaken), Russland

(Foto: Erich Kasten)

4. Soiot, Russland (Foto: Brian Donahoe)

zas ein. Denn: Auch diese «Papierlisch-weizerInnen» wären von den beiden Vor-lagen direkt betroffen.GfbV-Parole: 2xNEIN, Stichentscheid: Gegenvor-

schlag

Demokratische Republik Kongo: UNO veröffentlicht Bericht über schwere MenschenrechtsverletzungenDer UNO-Bericht gleicht einem Inventar des Schreckens, das auf 555 Seiten 617 schwere Menschenrechtsverletzungen dokumentiert, die zwischen März 1993 und Juni 2003 im Kongo verübt wurden. Zwischen Juli 2008 und Juni 2009 hatte die UNO 1280 Zeugen interviewen las-sen, deren Aussagen in dem Bericht do-kumentiert wurden. Bislang fehlt es der kongolesischen Regierung und den ebenfalls involvierten Nachbarstaaten am politischen Willen, die Verantwort-lichen für die Verbrechen zur Rechen-schaft zu ziehen. 220 kongolesische Menschenrechtsorganisationen haben sich ausdrücklich für die Veröffentli-chung des Berichts ausgesprochen. Sie versprechen sich davon neue Impulse, um die Verantwortlichen für schwere Menschenrechtsverletzungen wirksam zur Rechenschaft zu ziehen. Quelle: GfbV Deutschland

Tansania: Weltnaturerbe Serengeti gefährdetDie Serengeti im Norden Tansanias ist einer der berühmtesten Nationalpärke der Welt und UNESCO-Weltnaturerbe. Das fast 15 000 Quadratkilometer grosse

Schutzgebiet ist alljährlicher Schauplatz einer der grössten Tierwanderungen Afrikas. In Jahrtausenden hat sich hier ein Lebensraum mit einer sehr viel-fältigen Flora und Fauna herausgebildet, wie es sie kaum anderswo auf der Welt noch anzutreffen gibt. Im Juli 2010 sorgte der tansanische Präsident Jakaya Kikwete für einen internationalen Eklat, als er ankündigte, dass ab 2012 eine zwei spurige Schwer verkehrs strasse durch die Serengeti gebaut werden soll. Die Strasse würde den nördlichen Teil des Gebiets völlig abschneiden und die Wanderung der Gnus verhindern. Neben ökonomischen und ökologischen Beden-ken würde eine solche Strasse auch ne-gative Auswirkungen für die indigenen Völker, welche dieses Gebiet bewohnen, mit sich bringen.Quelle: Freunde der Serengeti

Schweiz: Deklarationspflicht für Holz und HolzprodukteJede Person in der Schweiz, die Holz oder Holzprodukte an Dritte abgibt, ist seit dem 1. Oktober 2010 verpflichtet, Holzart und Holzherkunft zu deklarieren. Das Büro für Konsumentenfragen (BFK) hat für alle Interessierten auf seiner In-ternetseite eine Datenbank mit Angaben zum wissenschaftlichen Namen, den für die Deklaration nötigen Handelsnamen der Holzarten, deren Verbreitungsgebie-ten sowie Verweisen auf das Arten-schutzübereinkommen CITES angelegt (www.konsum.admin.ch). Die GfbV hat sich seit langem für eine Deklaration von Holzprodukten eingesetzt. Denn

eine nachhaltige Holznutzung ist auch im Interesse von indigenen Völkern oder Minderheiten, deren Lebensraum in Wald gebieten liegt. Quelle: Eidgenössisches Volkswirtschaftsdeparte-

ment (EVD), GfbV

Transnationale Unternehmen: Ver-pflichtungen der Schweiz zum Schutz der MenschenrechteDie Internationale Juristenkommission (ICJ) hat im Auftrag einer Koalition von zehn Schweizer NGOs − darunter die GfbV − im Sommer 2010 eine Studie ver-öffentlicht, die untersucht, ob die Schweiz ihren Verpflichtungen zum Schutz der Menschenrechte und der Um-welt vor Fehlverhalten und Verstössen durch Unternehmen nachkommt. Die Studie deckt Lücken in der bestehenden schweizerischen Gesetzgebung und Poli-tik auf und skizziert verschiedene Re-formvorschläge, damit die Schweiz künf-tig ihre internationalen Verpflichtungen in vollem Umfang erfüllen kann. Laut ICJ braucht die Schweiz eine politische Strategie, um die Verantwortlichkeiten von Unternehmen im Bereich der Men-schenrechte und des Umweltschutzes zu stärken. Gesetzeslücken sollten gezielt geschlossen werden. Dem in der Schweiz derzeit entstehenden Kompetenzzen-trum für Menschenrechte könnte hier eine beratende Rolle zukommen. Die ICJ schlägt zum Beispiel vor, dass alle Fir-men einen Jahresbericht abliefern müs-sen, worin sie über ihre interne Men-schenrechtspolitik informieren. Quelle: GfbV Schweiz

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Roma Kosovo: Während mehr als zehn Jahren lebten in der im Norden Kosovos gelegenen Stadt Mitrovica über 200 Roma-Familien in Flüchtlingslagern, die auf einem bleiverseuchten Gelände errich-tet worden waren. Die LagerbewohnerInnen zeigten schon früh massive Gesundheitsschädigungen aufgrund der Schwermetallbela-stung. Der internationale Druck, der über die Jahre von der GfbV und anderen Nichtregierungsorganisationen aufgebaut wurde, hat dazu beigetragen, dass inzwischen die Finanzierung für die Umsied-lung sämtlicher Roma-Familien bereitsteht und mit dem Bau der Häuser begonnen wurde. Rund 50 Familien konnten bereits in ihr Heimat gebiet südlich von Mitrovica zurückkehren.

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Roma Frankreich: Im Juli 2010 hatte der französische Präsident Nicolas Sarkozy angekündigt, die Hälfte der etwa 600 illegalen Roma-Lager in Frankreich innerhalb von drei Monaten räumen zu lassen. Die Lager wurden dabei als potentieller Nährboden von Menschenhandel und Prostitution bezeichnet. Die GfbV kritisierte dies als eine pauschale Vorverurteilung einer ganzen Volks-gruppe und befürchtete eine Verstärkung der Fremden-feindlichkeit gegenüber den Roma. Sie forderte, dass die Abschiebungen umgehend eingestellt werden müssten und dass die europäischen Länder gemeinsam geeignete Programme zur Unterstützung dieser grössten europä-ischen Minderheit initiieren.

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Niger: Auf Einladung der GfbV nahm Azara Jalawi, Tuareg-Aktivistin aus Niger, an einem internationalen Kongress über indigene Völker und Uranabbau in Basel teil, wo sie über die alarmierenden Zustände in ihrer Heimat berichtete. Die im Norden Nigers gelegene Regi-on Arlit, die hauptsächlich von Tuareg bewohnt wird, ist stark von den negativen Auswirkungen der Urangewin-nung durch den französischen Grosskonzern Areva ge-prägt. Die Hauptprobleme der Tuareg sind die schwierige wirtschaftliche Lage und die verheerenden gesundheit-lichen Schädigungen durch den Uranabbau. Die GfbV for-derte gemeinsam mit Jalawi, dass Areva die Lebensbe-dingungen für die Bevölkerung verbessert und dass eine unabhängige Untersuchung über die Folgen der Verstrah-lung durchgeführt wird.

Afghanistan I: Seit 2004 hat die GfbV mit einem afgha-nischen Menschenrechtsnetzwerk von 70 Organisationen zusammengearbeitet. Am Anfang stand die gemeinsame Erarbeitung eines Menschenrechtshandbuches. Dann lag der Fokus vermehrt auf der Ausbildung und Begleitung im Projektmanagement, auf der Gleichstellung zwischen Män-nern und Frauen innerhalb des Netzwerkes und auf der Unterstützung bei der Planung von Kampagnen z.B. gegen Gewalt an Frauen. Nach fast sieben Jahren wird diese enge Zusammenarbeit beendet, da das Netzwerk nun über das nötige Know-How verfügt. Ein enger Kontakt wird aber be-stehen bleiben und die GfbV wird sich wann immer möglich für die Rechte der Minderheiten in Afghanistan einsetzen.

Afghanistan II: Welches Budget hat der Staat für Gesundheitsversorgung und Primarschulen vorge-sehen? Welche Massnahmen bestehen, um der Gewalt gegen Frauen entgegenzuwirken? Zugang zu solchen Informationen ermöglichen es der Zivilgesellschaft, für die Respektierung grundlegender Menschenrechte in ihrem Land einzutreten. Aus diesem Grund hat das von der GfbV unterstützte afghanische Menschen-rechtsnetzwerk einen Entwurf für ein Gesetz über den Zugang zu Informationen erarbeitet. Wichtige Ministerien und ParlamentarierInnen haben diesem Entwurf während einer Konferenz im Juni in Kabul öffentlich ihre Unterstützung zugesichert.

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Um die möglichen Auswirkungen des ge-planten Megastaudamms Belo Monte auf die dort lebende indigene Bevölkerung zu untersuchen und ihre Einstellung zu diesem Vorhaben in Erfahrung zu brin-gen, reiste ich während zwei Monaten den im Amazonasbecken gelegenen Fluss Xingu auf- und abwärts. Ich erfuhr im-mer mehr über die Pläne des Staudamm-konsortiums Norte Energia. Ein riesiger Flussbogen des Xingu in der Form eines Hufeisens − die Volta Grande − soll durch einen neuen Kanal, der die beiden Enden des Hufeisens verbindet, umgangen wer-den. Damit würden hunderte Kilometer des Xingu abgeschnitten. Die Volta Grande würde so zu einem nahezu ausge-trockneten, unbefahrbaren Flussbett. Davon wären die dort lebenden indi-genen Völker der Arara und Juruna be-troffen sowie auch die Kayapó-Xicrin, welche an einem Zufluss der Volta Gran-de leben. Die drei Völker würden dadurch auf einen Schlag ihren Zugang zum Was-serweg sowie ihre Hauptnahrungsquelle Fisch verlieren.

Auch isolierte Völker gefährdetSeit den 1970er Jahren weiss man, dass es in der Region der Xicrin und Asurini auch unkontaktierte Indigene gibt, wel-che in freiwilliger Isolation leben. Nie-mand weiss allerdings, wieviele es sind, welche Sprache sie sprechen und wie und wo sie genau leben. Gegen Ende meines zwei monatigen Aufenthalts in Brasilien besuchte ich die indigenen Asurini, welche in einem Gebiet angren-zend an die Xicrin leben. Sie erklärten mir, dass sie gegen den Bau des Belo Monte-Staudamms seien, denn sie be-fürchteten, dass unkontaktierte Indi-genengruppen dann gezwungen seien, in ihr Gebiet vorzudringen, das bereits unter grossem Druck von illegalen Sied-lern steht. Sie hätten schon mehrfach

Begegnungen mit in freiwilliger Isolati-on lebenden Indigenen gehabt. Der Asu-rini-Jäger Apewu Asurini schilderte mir eine solche Begegnung im Detail: Eines Nachts nach einem erfolgreichen Jagdtrip sei er in seiner Hängematte im Freien im tiefen Dschungel eingeschla-fen, als er plötzlich Schritte hörte. Er habe sofort erkennen können, dass es sich um Schritte von Menschen und nicht um die eines Tiers handelte. In seiner Sprache habe er gerufen: «Wer ist da?». Es sei keine Antwort gekommen, das Geräusch der Schritte jedoch ver-stummt. Dann habe er Vogelrufe aus al-len Richtungen gehört und Angst be-kommen. Die Geräusche hätten auf eine grosse Gruppe von Menschen hingedeu-tet, er aber sei alleine gewesen. Dann näherten sich das Knacken von Zweigen und das Rascheln der Blätter von allen Seiten. Er sei mit einer Kokosnuss be-worfen worden, und viele weitere seien gefolgt. Er habe mit dem Gewehr in die Luft geschossen, worauf die Leute in Angst davongerannt seien. Er sei zu sei-nem Boot geeilt und so rasch wie mög-lich in sein Dorf zurückgefahren. (Sehen Sie dazu ein You tube-Video von Rebecca Sommer: http://www.youtube.com/watch?v=DOGMpcUXSEI)

Isolierte Völker sind bei einem allfäl-ligen Bau des Belo Monte zweifellos am stärksten gefährdet. Ohne die Demarkati-on ihrer Territorien und die sorgfältige

Überwachung und Durchsetzung dieser Grenzen stehen diese Menschen ohne jeg-lichen Schutz da − sie werden von nie-mandem vertreten. Die GfbV wird deshalb ihr Möglichstes tun, um sicherzustellen, dass diese Völker nicht vergessen werden. Rebecca Sommer, GfbV Int.-Delegierte bei der UNO

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Gravierende Auswirkungen für IndigeneAls Vertreterin der GfbV reiste Rebecca Sommer für zwei Monate in den brasilianischen Amazonas, um die Situation der verschiedenen vom Bau des Belo Monte- Staudamms betroffenen indigenen Völker zu dokumentieren. Ein Reisebericht.

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Rebecca Sommer untersuchte die möglichen Aus-wirkungen des Staudamms auf die Asurini.

Neuer GfbV-Mitarbeiter Christian Bosshard ist seit dem 17. August 2010 neuer Mit-arbeiter im Bereich Kommunikation. Nach dem Studium der Ethnologie an der Universität in Bern hat er in Berlin und Biel in NGOs wie Amnesty International oder der Swiss Academy for Development Erfahrungen in den Bereichen Fundraising und Öffentlichkeitsarbeit gesammelt. Christian Bosshard lebt mit seiner Partnerin und seinem Sohn in Biel.

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Tribunal zu bringen. An zwei Abendver-anstaltungen in Bern und Zürich erzählt Rebiya Kadeer von ihrer Arbeit.24. November, 19.30 Uhr, Hotel Kreuz, Zeug-hausgasse 41, Bern26. November 2010, 19.30 Uhr, Kulturzentrum Songtsen House, Albisriederstrasse 379, Zü-rich. Eintritt: CHF 15.-

«VerWandlung – Alltag, Kunst und Religion bei Amazonas-Indianern»

In dieser Ausstellung im Histo-rischen und Völkerkundemuseum

St. Gallen werden sehr alte sakrale und Alltagsgegenstände des südamerika-nischen Tieflandes wie Federschmuck, Maskenanzüge, Blasrohre, Keramiken und Siebe aus eigenen Beständen prä-sentiert. Sie geben einen Einblick in die Verwandlungskünste, die Besonder-heiten indigener Kunstfertigkeit sowie die Lebens- und Vorstellungswelt indige-ner Völker aus Brasilien, Venezuela, Ko-lumbien, Ecuador, Peru, Bolivien und Pa-raguay. VerWandlung − Alltag, Kunst und Religion bei Amazonas-Indianern, Historisches und Völker-kunde-Museum St. Gallen, Dauerausstellung.

«Ohne Frauen – Keinen Frieden»: 10 Jahre UNO-Resolution 1325

Anlässlich des zehnjährigen Jubi-läums der UNO-Resolution 1325

«Frauen, Frieden und Sicherheit», die eine vermehrte Einbindung von Frauen in Friedensprozesse fordert, organisiert die Organisation «FriedensFrauen welt-weit» in Bern eine Ausstellung und ver-schiedene Nebenveranstaltungen zum Thema. Daten: 1.11.2010 − 20.11.2010 in BernProgramm: www.1000peacewomen.org

Bosnien: «Srebrenica 360°»Das ostbosnische Städtchen Sre-brenica erlangte 1995 traurige Be-

rühmtheit: Serbische Nationalisten er-mordeten während des Bosnienkrieges 8’000 muslimische Männer und Knaben. Der Genozid von damals ist 15 Jahre später noch präsent. Im Dokumentarfilm «Srebrenica 360°» kommen Menschen aus Srebrenica zu Wort. Sie erzählen vom harten Leben, von der Arbeitslosig-keit, von der Hoffnung auf ein fried-liches Zusammenleben – und von ihrer Sehnsucht nach Gerechtigkeit.Srebrenica 360°, Conny Kipfer und Renate Metzger-Breitenfellner, Schweiz, 2009.21. November 2010, 17 Uhr, Kino Cinématte, Bern. Einführung von Ruth-Gaby Vermot-Man-gold, Präsidentin der GfbV. Anschliessend Ge-spräch mit den Filmemacherinnen.

Türkei: «Bal − Honey»Der Spielfilm «Bal» lässt uns ein-tauchen in eine Natur, die im

Schwinden begriffen ist. Seit kurzem besucht der sechsjährige Yusuf die Grundschule, wo er Lesen und Schreiben lernt. Sein Vater Yakup ist Bienenzüch-ter. Als die Bienen überraschend aus der Gegend verschwinden, ist die Lebens-

grundlage der Familie in Frage gestellt. Yakup bricht deshalb ins entfernte Ge-birge auf; Yusuf verschlägt es gänzlich die Sprache. Semih Kaplanoglu, der schon mit früheren Werken aufgefallen war, erhielt für «Bal» in Berlin den Gol-denen Bären.Bal − Honey, Semih Kaplanoglu, Türkei, 2010. Ab 18. November im Kino

«GfbV-Kalender Lebenszeichen 2011»«Autonomie und Selbstbestimmung» sind zentrale Anliegen von Minderheiten und indigenen Völkern und das Leitmo-tiv des neuen Kalenders der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV). Um ihre kul-turelle Identität zu bewahren, müssen viele indigene Völker und Gemein-

schaften um ihre Anerkennung und ihr Recht auf Selbstbestimmung kämpfen. Auf den Rückseiten des Kalenders schil-dern Betroffene Probleme, Erfolge oder Rückschläge im Ringen um ein selbstbe-stimmtes Leben.Kalender: 13 Farbbilder, Format 44x32 cm, rückseitig Texte zum Thema und zahlreiche farbige Fotos; Bestellung: [email protected] oder telefonisch: 031 311 90 08; Preis: CHF 35.-; Mit dem Kauf eines Kalenders unterstützen Sie unsere Menschenrechtsarbeit.

China: Begegnung mit der Menschen-rechtsaktivistin Rebiya Kadeer Die wohl bekannteste Menschenrechts-aktivistin Chinas, Rebiya Kadeer, kämpft seit Jahren für die Rechte der Uiguren, einer muslimischen Volksgruppe im Nordwesten Chinas. Aufgrund ihrer Tä-tigkeit als Menschenrechtsaktivistin sass sie über fünf Jahre im Gefängnis. Heute lebt sie im amerikanischen Exil. Von dort aus setzt sie sich leidenschaftlich für die Rechte ihrer uigurischen Landsleute ein und sammelt Beweise, um die Verant-wortlichen für willkürliche Verhaftungen und Exekutionen in China vor ein UNO-

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Eine Stimme für Verfolgte.www.gfbv.ch