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4 :: Interview mit Yoko Tawada Sie kommen aus einem literarischen Elternhaus. Wie hat diese Umgebung Sie geprägt? Ohne Bücher gäbe es mich gar nicht. Denn meine Eltern haben sich während ihres Literaturstudiums kennengelernt. Meine Mutter war in einem buddhisti- schen Tempel aufgewachsen, ihr Vater war dort Priester. Die japanischen Kinder waren während des Krieges gezwungen, an den Staatsshintoismus zu glau- ben und stets bereit zu sein, für den Kaiser zu sterben. Und von heute auf morgen hieß es dann: Das war nichts, das gilt nicht mehr. Diese Erfahrung hat meine Mutter zu einem Menschen gemacht, der an keine Ideologie und keine Religion glaubt. Die Literatur gab ihr dann neuen Halt im Leben. In der Nachkriegszeit herrschte Aufbruchsstimmung in Japan, eine neue Gesellschaft sollte entstehen. Immer mehr Frauen stu- dierten an den Universitäten. So lernten meine Eltern sich kennen. Mein Vater machte sich später als Buch- händler selbständig und importierte europäische Fachbücher. Aus irgendeinem Grund nannte er seine kleine Firma »Elbe Shoten« (Elbe-Buchhandlung) – lange bevor ich dann nach Hamburg ging. Ich weiß nicht, warum er ausgerechnet die Elbe als Patin wählte; ich fand damals den Rhein oder die Donau literarisch interessanter. Was waren Ihre ersten Bücher? Schon als ich zwei Jahre alt war, hat mich der Hund im Bilderbuch mehr interessiert als der Hund als Stoff- tier. Ich lernte früh lesen und habe unzählige Kinder- und Jugendbücher verschlungen. Darunter auch viele europäische. Ab der 4. Klasse habe ich jeden Tag ein Buch gelesen. Ich wusste, wie schwedische Kinder spielen, wovon englische Kinder träumten. Aber als ich 1982 das erste Mal nach Europa kam, habe ich es doch als fremd empfunden. In den Büchern fehlen die kör- perlichen Empfindungen – wie Deutschland riecht, das stand nicht drin. Es schmeckt auch alles anders hier. Die Äpfel etwa sind wunderbar säuerlich. Die Luft ist trocken, und selbst wenn sie mal feucht ist, handelt es sich um eine völlig andere Feuchtigkeit als in Japan. Und das Licht erst, das ist ganz verschieden, und es lässt jedes Ding anders zur Geltung kommen, von der Kaffeetasse bis zum Himmel. Sie haben dann ebenfalls Literatur studiert. Ja, und zwar mit dem Schwerpunkt auf russischer Literatur. Das war die erste europäische Literatur, die für Japan wichtig wurde. Futabate Shimei, der Ende des 19. Jahrhunderts Turgenjew übersetzte, hat dafür einen neuen Stil erfunden. Der wurde zur Basis der modernen japanischen Literatur. Welche russischen Autoren haben Sie besonders beeindruckt? Schon als Schülerin war ich besessen von Dosto- jewskji. Er war wie eine Droge und hatte eine direkte Wirkung auf mein Gehirn, aber nicht auf mein Schrei- Vom Schreiben in der Fremde Seit dreißig Jahren schon ist Yoko Tawada fast ständig unterwegs, zwischen Europa und Asien wie zwischen den Sprachen und Kulturen. Die in Berlin lebende Autorin schreibt sowohl auf Japanisch wie auf Deutsch. Ihre Texte erkunden das fruchtbare Niemandsland zwischen Gedicht und Essay, Essay und Erzählung, Erzählung und Gedicht. Die Fragen stellte Stefan Schomann

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4 :: Interview mit Yoko Tawada

Sie kommen aus einem literarischen Elternhaus.Wie hat diese Umgebung Sie geprägt?

Ohne Bücher gäbe es mich gar nicht. Denn meineEltern haben sich während ihres Literaturstudiumskennengelernt. Meine Mutter war in einem buddhisti-schen Tempel aufgewachsen, ihr Vater war dortPriester. Die japanischen Kinder waren während desKrieges gezwungen, an den Staatsshintoismus zu glau-ben und stets bereit zu sein, für den Kaiser zu sterben.Und von heute auf morgen hieß es dann: Das warnichts, das gilt nicht mehr. Diese Erfahrung hat meineMutter zu einem Menschen gemacht, der an keineIdeologie und keine Religion glaubt. Die Literatur gabihr dann neuen Halt im Leben. In der Nachkriegszeitherrschte Aufbruchsstimmung in Japan, eine neueGesellschaft sollte entstehen. Immer mehr Frauen stu-dierten an den Universitäten. So lernten meine Elternsich kennen. Mein Vater machte sich später als Buch-händler selbständig und importierte europäischeFachbücher. Aus irgendeinem Grund nannte er seinekleine Firma »Elbe Shoten« (Elbe-Buchhandlung) –lange bevor ich dann nach Hamburg ging. Ich weißnicht, warum er ausgerechnet die Elbe als Patin wählte;ich fand damals den Rhein oder die Donau literarischinteressanter.

Was waren Ihre ersten Bücher?Schon als ich zwei Jahre alt war, hat mich der Hund

im Bilderbuch mehr interessiert als der Hund als Stoff-

tier. Ich lernte früh lesen und habe unzählige Kinder-und Jugendbücher verschlungen. Darunter auch vieleeuropäische. Ab der 4. Klasse habe ich jeden Tag einBuch gelesen. Ich wusste, wie schwedische Kinderspielen, wovon englische Kinder träumten. Aber als ich1982 das erste Mal nach Europa kam, habe ich es dochals fremd empfunden. In den Büchern fehlen die kör-perlichen Empfindungen – wie Deutschland riecht, dasstand nicht drin. Es schmeckt auch alles anders hier.Die Äpfel etwa sind wunderbar säuerlich. Die Luft isttrocken, und selbst wenn sie mal feucht ist, handelt essich um eine völlig andere Feuchtigkeit als in Japan.Und das Licht erst, das ist ganz verschieden, und eslässt jedes Ding anders zur Geltung kommen, von derKaffeetasse bis zum Himmel.

Sie haben dann ebenfalls Literatur studiert.Ja, und zwar mit dem Schwerpunkt auf russischer

Literatur. Das war die erste europäische Literatur, diefür Japan wichtig wurde. Futabate Shimei, der Endedes 19. Jahrhunderts Turgenjew übersetzte, hat dafüreinen neuen Stil erfunden. Der wurde zur Basis dermodernen japanischen Literatur.

Welche russischen Autoren haben Sie besondersbeeindruckt?

Schon als Schülerin war ich besessen von Dosto-jewskji. Er war wie eine Droge und hatte eine direkteWirkung auf mein Gehirn, aber nicht auf mein Schrei-

Vom Schreiben in derFremde

Seit dreißig Jahren schon ist Yoko Tawada fast ständig unterwegs, zwischen Europa und Asien wie zwischen den Sprachen und Kulturen. Die in Berlin lebende Autorin schreibt sowohl auf Japanisch wie aufDeutsch. Ihre Texte erkunden das fruchtbare Niemandsland zwischenGedicht und Essay, Essay und Erzählung, Erzählung und Gedicht.

Die Fragen stellte Stefan Schomann

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Porträt :: 11

Wer ihm schon mal begegnet ist, nennt ihn meistSasa. Einfach Sasa. Als wäre er ein netter Kumpel, derkleine Bruder, irgend etwas in der Art. Es mag daranliegen, dass sein Nachname – Stanisic, was man unge-fähr wie Stanischitz aussprechen sollte – nicht ganzleicht von der Zunge geht. Daran, dass der Chamisso-Preisträger aus dem vergangenen Jahr erst 31 ist, unddamit der bisher jüngste Schriftsteller, dem die Aus-zeichnung verliehen wurde. Oder auch daran, dass erauf die Art und Weise hübsch und freundlich und coolaussieht, wie Angehörige des ehemals nur starken Ge-schlechts das inzwischen glücklicherweise dürfen,wenn sie wollen. Vielleicht eine Art literarisches Jung-männerwunder, analog zum literarischen Fräulein-wunder der späten Neunziger Jahre? Weil er aucheiner der erfolgreichsten aller bisherigen Chamisso-Preisträger ist – sein Roman Wie der Soldat das Gram-mofon repariert wurde bisher in fast dreißig Sprachenübersetzt, hat einige weitere Preise gewonnen underntet überall sehr positive Kritiken –, befindet er sichderzeit häufig unterwegs auf Lesereise, auf Schreib-reise, auf Forschungsreise, »auf allen Kontinenten, bisauf den eisigen«.

In Kolumbien zum Beispiel, wo er kürzlich denText »Besser scheitern« verfasst hat, der natürlich vonSamuel Beckett inspiriert ist und von dem eigenenUnvermögen handelt, sich angesichts der chaotischenZustände in der Stadt Cartagena einigermaßen ange-messen zu verhalten, und mit der Unmöglichkeit, sieangemessen darzustellen. »Ich scheitere, weil ich wie-der nur reproduziere, aus Geschichten anderer meine

eigenen Geschichten mache«, schrieb Sasa Stanisic inseiner Kolumne für das Popkulturorgan Umagazine,die auch auf seiner eigenen Website www.kuenstlicht.de(Untertitel: Schule des Krachenlassens) nachzulesenist – und eine durchaus gelungene Form bewussten undgekonnten Scheiterns vorführt.

Der jüngste Eintrag samt Fotos dort stammt ausAustralien, wo er einen imaginären Trinkwettkampfzwischen einer Gruppe Schriftsteller und einer briti-

Angeln im Flussder menschlichenMöglichkeiten

Sasa Stanisic ist jetzt schreibendin der ganzen Welt unterwegs

Von Ulrike Frenkel

Freundlich und cool: Das literarische »Jungmännerwunder«?

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12 :: Sasa Stanisic

schen Reisegesellschaft inszeniert, »eine große Britinbrüllte eine ganze Seite Ulysses in unsere Richtung, wirantworteten kryptisch in unserer mit Gurr-Lauten ver-setzten Verkaufszahlensprache«, heißt es kurz vordem erfundenen, komischen Showdown, der, wie mandanach erfährt, der puren Langeweile in Perth zu ver-danken ist. Fantasie steht dem 1978 in Visegrad imheutigen Bosnien-Herzegowina geborenen Autor zumFüllen von Leerstellen mehr als ausreichend zur Ver-fügung, das hat er bereits in Wie der Soldat das Gram-mofon repariert vorgeführt, in einem originellen Feuer-werk aus gewählten Worten, funkelnden Bildern, ver-störenden Beobachtungen, einem großen, schwarz-bunten Wortgemälde, das versucht, was wirklich warzu bewahren, was möglich gewesen wäre mit Verstandund Gefühl und Humor zu evozieren.

Der eigentlich unerträglichen Wirklichkeit setztder junge Autor dabei seine Begabung als »Fähigkeiten-zauberer« entgegen, der die Dinge schöner sehenkann, ohne sie zu beschönigen, der sie mit zärtlichemBlick und hartem Verstand lebendig macht und zumTanzen bringt, und genau das betrachtet auch seinkindlicher Erzähler Aleksandar zunächst als Aufgabe.Er folgt der Weisung seines Großvaters: »Die wertvoll-ste Gabe ist die Erfindung, der größte Reichtum die

Fantasie«, sagt Opa Slavko, sozusagen der best boyund der literarische Gewährsmann für diese überbor-dende Geschichte aus dem Jugoslawienkrieg.Aleksandar ist dieser europäischen Katastrophe eben-so wie Sasa Stanisic im Alter von vierzehn Jahren inRichtung Deutschland entkommen, nachdem die ser-bischen Truppen seine Heimatstadt Visegrad einge-nommen hatten und er und die Eltern dort nicht mehrsicher waren. Er ist halb Serbe, halb Bosnier, ebensowie Sasa Stanisic, der dem Ich-Erzähler einige Zügeseiner selbst, einige Begebenheiten aus seinem Lebengeliehen hat, um sie mit erfundenen Ereignissen zuversetzen und das Ganze dann literarisch zu überhö-hen: Zu sinnlichen Geschichten über eine freie, wildeKindheit in Gärten und am Fluss und deren Ende, übereine skurrile Verwandtschaft und deren Auseinander-brechen, über Feste und Fußballspiele und deren Zer-störung durch blutige, grausame Bruderkämpfe. »Ichbin Halbhalb«, lässt der Autor Aleksandar auf demSchulhof lernen. »Ich bin Jugoslawe – ich zerfalle also«.Und bevor er die schmerzliche Erfahrung verdrängthat, dass die eigene Identität von anderen Menschenbeschädigt werden kann, dass man dann im bestenFalle sein Innerstes, seine Erinnerung, retten kann,lässt er ihn aufschreiben, wie es gewesen sein könntein der kleinen Stadt im Osten Bosniens, die ja schoneinmal literarischer Schauplatz war.

Auch Ivo Andric erzählt in seinem Roman DieBrücke über die Drina vom Zusammenleben verschie-dener Völker in Visegrad und von ihren Kämpfen

»Ich bin ein Literaturnomade…«

Mit besonderer Hingabe liest Sasa Stanisic seine Texte, die einem üppigen Fundus an fantasievollen Geschichten entstammen.

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untereinander, wenn auch lange bevor und ganz andersals Sasa Stanisic das tut. Der Jüngere kennt den Textdes großen Vorgängers gut, er ist überhaupt ein fleißi-ger Leser der Klassiker vieler Länder. »Ich bin einLiteratur-Nomade. Mir ist nichts fremd, vom ScienceFiction-Schinken bis zur barocken Lyrik. Ich kann inden meisten Genres etwas Verwertbares finden, irgend-eine Art Vergnügen oder Erkenntnis gewinnen«, sagter. Aber auch wenn er den Fluss seiner Kindheit alsOrt des Glücks beim Angeln und Baden und als Ort desGrauens, als die Strömung später die Kriegstoten mitsich reißt, schildert, schreibt er das eben nicht auf Ser-bokroatisch wie Andric und auch nicht auf Bosnisch,sondern auf Deutsch. (»Ich mag das Bosnisch sehr, weiles mich schon beim Sprechen stärker nachzudenkenzwingt als das Deutsch, das wesentlich selbstverständ-licher, unreflektierter kommt«). Er hat die Sprache erstim Alter von vierzehn Jahren gelernt, in einer Heidel-berger Schule, in der zu seinem Glück Sprachförder-kurse für ausländische Schüler gegeben wurden. »Manhat uns nicht überfordert, sondern erst behutsamsprachlich aufgebaut und erst dann an den eigentlichenUnterricht herangeführt«. Außerdem habe ein Lehrerdort schon seine frühen dichterischen Versuche unter-stützt, sagt Stanisic, der nach dem Abitur Deutsch alsFremdsprache und Slawistik studierte und nach einemArbeitsaufenthalt in den USA am Deutschen Literatur-institut in Leipzig eingeschrieben war.

Dort konnte er mit Dozenten und Kommilitonen anseinen Texten feilen. »Ich hätte ein anderes, schlechte-

res Buch geschrieben,wenn ich nicht inLeipzig studiert hätte«,davon ist er überzeugt.Sein burlesker Stil, seine unkonventionelle, aufregendschöne Ausprägung der deutschen Sprache dürftensofort aufgefallen sein, wobei er als Schriftsteller nichtgerne auf einen Lernprozess reduziert werden möchte.Für ihn und andere deutsche Schriftsteller ausländi-scher Herkunft gelte wohl: »Die Sprache ist die Brücke,auf der wir zum Buch hingelaufen sind« sagt er, und:»Für mich ist das Schreiben an sich eine fremde Spra-che.« Gleichwohl hat die Tatsache, dass er zwei Spra-chen, zwei Heimatländer, zwei Kulturen erfahrenmusste und konnte (»die Musik ist auch eine interes-sante Empfindung – ein bosnisches/serbisches/kroati-sches Lied wird mich des Öfteren wahnsinnig traurigmachen, ja zu Tränen rühren, das ist einem deutsch-sprachigen Lied noch nicht einmal ansatzweise gelun-gen«), seine Literatursprache deutlich und kostbargeprägt, genauso deutlich ist er aber auch ein Kind derPopkultur, des Films, des Comics und des Computers,und, nicht zu vergessen, des Sports. Am meisten, sagter, habe er in Heidelberg beim Kicken am Nachmittagvon seinen neuen Freunden gelernt.

Der Fußball spielt auch in Wie der Soldat dasGrammofon repariert eine wichtige Rolle, eine Schlüs-selszene, in der die gegnerischen Kriegsparteien umLeben und Tod mit dem Ball kämpfen, rutscht vomSpielerischen ins albtraumhaft Ernste. »Das dient als

:: Wie der Soldat das Grammofonrepariert. Roman. München: LuchterhandVerlag, 2006

Viele Gesten unterstreichen seine Erzählungen, die oft biografische Elemente aus dem ehemaligen Jugoslawien enthalten.

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14 :: Sasa Stanisic

Parabel für die ganze Absurdität eines so genanntenBruderkrieges, und auch da ändert sich das Spiel, so-bald es um Leben und Tod geht«, sagt Stanisic. SowohlKrieg wie auch Sport basierten zwar »auf dem Aufein-andertreffen zweier Gegner, aber Krieg kennt kein FairPlay und Sport im Normalfall keinen abgrundtiefenHass.« Das interessiert ihn, und eigentlich hatte er vor,zwei seiner Hobbys wissenschaftlich zu einer Disser-tation über Literatur und Fußball zu verknüpfen – es istihm aber Einiges dazwischen gekommen. Die vielenLesereisen, die Reaktionen aus aller Welt auf Wie derSoldat das Grammofon repariert: »Ich habe von deut-schen Schülern Vorschläge für neuartige Anführungs-zeichen für ›nichtgesagtes Denken‹ (auch Aleksandarmacht sich darüber Gedanken) bekommen. Bosnischeund serbische und kroatische Leser kommen zu denLesungen und erzählen mir ihre Geschichten, schrei-ben das Buch so unendlich weiter. Von amerikanischenDozenten habe ich E-Mails bekommen, sie würden dasBuch in ihren Seminaren besprechen, und als ich gera-de dachte, das gibt’s doch gar nicht, kam so eine ähnli-che Nachricht auch aus Japan« – so geht es einem, dermit seiner ganz eigenen, sensiblen Sprache andereMenschen berührt. Und er schreibt weiter, eigentlichfast ständig, oben genannte Kolumnen, die er »neben-bei als Zeitvertreib macht, oft ist das Zeug, das ich aufwww.kuenstlicht.de stelle, zu persönlich oder zubruchstückhaft, um auf Papier Sinn zu machen«, findeter. Aber das muss man nicht glauben, denn viele derTexte, zum Beispiel die über seinen vor einiger Zeit

gestellten Einbürgerungsantrag und die damit verbun-denen deutschen Verwaltungsabsurditäten spielengekonnt und witzig mit dem intimen Charakter vonInternetäußerungen. Außerdem hat er im vergangenenJahr das Theaterstück »Go West« verfasst, das amGrazer Schauspielhaus uraufgeführt wurde, als musi-kalische Collage über eine singende Familie, die ausÖsterreich in die USA auswandert und dort unter ande-rem Sigmund Freud, Louis Armstrong und MichaelJackson trifft. Gerade wurde die Bühnenfassung vonWie der Soldat das Grammofon repariert in Freiburgaufgeführt. Für einen neuen Roman möchte er sichaber noch Zeit lassen, dem neuen Leben in Berlin, woer gerade hingezogen ist, Raum geben. »Seit heute binich Berliner und ich wünsche uns Berlinern eine hoheJahresdurchschnittstemperatur«, schreibt er. Gleich-wohl, der Laptop bleibt bei ihm immer an, manchmal,gibt er zu, »muss ich mich selbst zwingen, auf ›Ozean‹zu schalten«. Wie sich das anfühlt? Wenn wir Glückhaben, können wir auch darüber einmal etwas vonSasa Stanisic lesen. ::

»›Die wertvollste Gabe ist die Erfindung‹, sagt Opa Slavko«.

Gut besucht war die Lesung mit Sasa Stanisic im vergange-nen Sommer im Park der Robert Bosch Stiftung.

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Workshops /Schullesungen :: 15

»Mit Knistern in den Lüften flattert ein Flugblattheran worauf geschrieben, hier käme uns ein Vogelgelogen«. Wie bitte? Ein Vogel kommt uns »gelogen«?Sollte es nicht »geflogen« heißen? Oder »gelegen«?Oder ist das alles »gelogen«, weil der Vogel in Wahrheitein Flugblatt ist, das zwar flattert, aber doch nur lügt?

Wie dem auch sei – der letzte Satz von Zehra ÇıraksProsagedicht Bussard ist alles andere als eindeutig, undselbst wenn man den gesamten Bussard-Text kennt,wird er nicht eindeutiger. Aber er ist schön. Der feh-lende Buchstabe im Wort kann entlarvend sein, kannunerwartete Bedeutungen freilegen. So wie hier. Genaudas erfuhren mehr als zwanzig – nebenbei gesagt:höchst motivierte – Neuntklässler der Ludwig-Aurba-cher-Hauptschule in Türkheim, als sie Anfang März anZehra Çıraks Lyrik-Workshop in der InternationalenJugendbibliothek im Münchner Schloss Blutenburgteilnahmen. Und sie erfuhren manches mehr: zum Bei-spiel, dass sich Gedichte nicht unbedingt reimen müs-

Sprache ist ein Wunderwerk

Schüler treffen Chamisso-Preisträger

Von Klaus Hübner

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sen. Anhand ihrer eigenen Poeme führte die Chamisso-Preisträgerin des Jahres 2001 den Schülern die Viel-fältigkeit lyrischen Sprechens vor Augen und Ohren.Nach ihrer inspirierenden Einleitung wurden dieJugendlichen dann selbst aktiv: »Schreibe ein Gedichtüber etwas, das dir wichtig ist!«, lautete die Aufgabe.Jeder schrieb ein Wort auf, das ihn gerade besondersbeschäftigte. Auf der Basis dieser Wörter wurden dieSchüler in kleinere Gruppen aufgeteilt und die genann-ten Begriffe um ein weiteres Wort ergänzt. Plötzlichwar das erste Gedicht fertig, und Schritt für Schritt ent-standen zahlreiche lustige und bewegende Texte zuganz unterschiedlichen Themen, von Liebe und Freund-schaft über Strandwanderungen und die Sehnsuchtnach dem Wochenende bis hin zu den Freuden desMofa-Fahrens. Die meisten Schüler statteten ihr Ge-dicht noch liebevoll mit Illustrationen aus und konnteneine schöne Erinnerung an einen gelungenen Workshopmit einer echten Dichterin mit nach Hause nehmen.

Die Robert Bosch Stiftung vergibt nicht nur jähr-lich den Adelbert-von-Chamisso-Preis, sondern siebegleitet die Preisträger auch nach dessen Verleihung.Dieter Berg, der Vorsitzende der Geschäftsführung derStiftung, nennt in seinem Grußwort zum Katalog VieleKulturen – eine Sprache, in dem die Preisträger derletzten 25 Jahre ausführlich vorgestellt werden, alserstes und vorrangiges Beispiel für diese Begleitförde-rung »zahlreiche von der Stiftung unterstützte Lesun-gen, vornehmlich an Schulen«. Das korrespondiertbestens mit vielen anderen, ebenfalls schwerpunktmä-ßig den Schülern in Deutschland zugedachten Aktivitä-ten des Preisgebers. Was also lag näher, als einige derzur 25. Verleihung nach München eingeladenen frühe-ren Preisträger mit Schülern zusammenzubringen?

Mit viel Engagement nahmen die Schülerinnen und Schülerder Ludwig-Aurbacher-Hauptschule an dem von Zehra Çırakgeleiteten Workshop teil.

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Workshops /Schullesungen :: 17

Zsuzsanna Gahse, die den Chamisso-Preis 2006bekommen hatte, fand bei ihrer Lesung allerdings einganz anderes Publikum vor als Zehra Çırak: fast hun-dert bestens vorbereitete und äußerst interessierteSchülerinnen der Kollegstufe des Schwabinger Sophie-Scholl-Gymnasiums. Die Preisträgerin las ausgewähltePassagen aus ihren jüngsten Prosabänden durch unddurch, Instabile Texte /zu zweit und Oh, Roman. DieSchülerinnen erfuhren die Sprache als ein Wunder-werk und erlebten hautnah, welche Bereicherung derRaum zwischen mehreren Sprachen darstellen kann.Dass das poetische Arbeiten mit einer Sprache, geradeauch im Kontext anderer Idiome, beileibe keine Hexe-rei ist, dass es Spaß macht und mehr als das, dass dabeiUnerwartetes, Wundersames, alle Sinne zu neuen Emp-findungen hin Öffnendes herauskommen kann – dasalles und noch viel mehr konnte man bei dieser Lesunglernen und spüren. Wunderbar locker und leicht wurdesie absolviert, stets klug gelenkt von der äußerst char-manten, auf die jeweilige Frage und Situation sensibeleingehenden Autorin. Die Schülerinnen waren faszi-niert, stellten durchwegs pointierte Fragen und nichtdie bei Autorenlesungen leider üblichen, bedauerten,dass so ein Ereignis in ihrer Schule viel zu selten statt-finde, und räumten in Sekundenschnelle den Tisch mit

den bereitgestellten Preisträger-Katalogen ab. DieAutorin war hoch zufrieden, die Schulleitung eben-falls, und die Bitte, bald wieder einmal für eine solcheSchulveranstaltung zu sorgen, war unüberhörbar.

Dante Andrea Franzetti schien es da schwerer zuhaben. Der aus Zürich angereiste Chamisso-Preisträgerdes Jahres 1994, der mit seinen gerade einmal fünfzigJahren schon auf ein beachtliches Werk zurückblickenkann, las im Münchner Literaturhaus einige mit Be-dacht ausgewählte Prosastücke und diskutierte da-rüber mit etwa fünfzehn Schülern aus berufsbildendenSchulen der Stadt. Und siehe da – auch hier fanden dierichtigen, nämlich die an Literatur im Allgemeinen undam eigenen Schreiben im Besonderen höchst interes-sierten Schüler den Weg zu einem Chamisso-Preisträ-ger, und auch hier mit erheblichem Gewinn für beideSeiten. Franzetti zeigte, immer im Dialog mit den eifrig(nach-)fragenden Teilnehmern, nicht nur die Unter-schiede zwischen Alltagssprache und literarischemSprechen, sondern entwickelte im Lauf des Gesprächsgar so etwas wie eine höchst aufschlussreiche Poetolo-gie seines Schreibens. Die, wie bei Zehra Çırak oderZsuzsanna Gahse auch, ganz wesentlich von aktiv ge-lebter Mehrsprachigkeit und von völlig selbstver-ständlich erfahrener kultureller Vielfalt samt dem ihrinnewohnenden Konfliktpotenzial geprägt ist. Das vonFranzetti spontan, aus dem Gruppengespräch herausEntwickelte hat mit Sicherheit dazu beigetragen, dassdie Teilnehmer seinen jüngsten Roman Mit den Frauenmit geschulteren Sinnen als zuvor wahrnahmen – amEnde des Workshops erhielten alle anwesenden Be-rufsschüler ein Exemplar dieses kleinen Meisterwerksgeschenkt, und das auch noch mit einer Widmung sei-nes Urhebers! Die Begeisterung war auch hier mit Hän-den zu greifen, und der Tenor lautete: Eine derartkreative, augenöffnende und produktive Abwechslungvom Schulalltag hat man nur allzu selten! Mehr davon!Was einmal mehr zeigt – der Erfolg der drei MünchnerVeranstaltungen bestätigt zahlreiche andere Erfahrun-gen –, dass die Robert Bosch Stiftung und die für denAdelbert-von-Chamisso-Preis Verantwortlichen mitsolchen Schulveranstaltungen auf dem richtigen Wegsind. Und das für den Erfolg letztlich Entscheidendehat sich in 25 Jahren beständig weiter angereichert:einfach wunderbare, wache, kluge, sensible und folg-lich für solche Veranstaltungen bestens geeigneteChamisso-Preisträger. ::

Fast hundert Schülerinnen des Schwabinger Sophie-Scholl-Gymnasiums verfolgten die Lesung von Zsuzsanna Gahse.