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Neunter Leipziger Religionslehrertag am 19.11.2010 Friedrich Johannsen Von und mit den Propheten lernen Was sind Propheten, von und mit denen zu lernen ist? Zwei Prophetenbilder Michelangelo: Jona (Sixtinische Kapelle) Barlach, Ernst: Zorniger Prophet. Kohlezeichnung 1918/19. WVZ-Nr. 1318 © Ernst und Hans Barlach Lizenzverwaltung Ratzeburg

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Neunter Leipziger Religionslehrertag am 19.11.2010 Friedrich Johannsen Von und mit den Propheten lernen Was sind Propheten, von und mit denen zu lernen ist? Zwei Prophetenbilder

Michelangelo: Jona (Sixtinische Kapelle)

Barlach, Ernst: Zorniger Prophet. Kohlezeichnung 1918/19. WVZ-Nr. 1318 © Ernst und Hans Barlach Lizenzverwaltung Ratzeburg

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Eine erste Annäherung an das Thema sollen die beiden oben angeführten Bilder bie-ten: Barlachs Prophetenzeichnung zeigt einen Mann in Drohgebärde, vorgebeugt zu seinen Zuhörern, mit erhobenen Fäusten. Ganz anders Michelangelos Jona aus der Sixtinischen Kapelle in Rom: Die Körper-haltung des eher plump wirkenden Jünglings kann ambivalent gedeutet werden. Ei-nerseits wirkt die Gestalt wie von einer Übermacht zurückgeworfen. Andererseits wirkt sie so, als wolle sie wie ein Athlet durch das Beugen nach hinten zu einem kraftvollen Wurf ausholen, das Ziel fest im Blick. Diese ambivalente, zweideutige Haltung beschreibt Jürgen Ebach folgendermaßen: „Michelangelos Jona ist ein leidenschaftlicher und leidender, ein niedergeworfener und aufsässiger Mensch“ (Ebach 1987, 137). Die nach rückwärts gewandten Hände drücken den Gestus einer Streitrede aus. Die Zweideutigkeit spiegeln auch die weiteren Bildelemente wider: Der Fisch wirkt vorne wie ein gutmütiger Karpfen, hinten hat er die Attribute eines Seeungeheuers. Die Kürbisranke ist noch grün, beginnt aber schon zu verdorren. Die beiden beige-fügten Kinderfiguren (Genien) drücken einerseits Erstaunen bzw. Erschrecken aus, andererseits Wehmut und Trost. Schrecken und Trost fallen bei Jona auseinander. Für die Bewohner von Ninive wurde das Erschrecken zum Anlass der Umkehr, die zum Trost führte. Eine gängige traditionelle Aufteilung von Prophetenworten orientiert sich am Gegen-satz von Unheilsprophetie und Heilsprophetie. In Analogie dazu kennen wir moderne Sprachformen, die die sich diesem Gegensatz zuordnen lassen. Dazu im Folgenden drei Beispiele aus dem letzen Jahrhundert, die hier unter der Frage betrachtet werden sollen, ob es sich um „prophetische Texte handelt“:

(1) »Es steht nicht gut um uns. Die Hoffnung, dass wir noch einmal, und sei es um Haares-breite, davonkommen könnten, muss als kühn bezeichnet werden. Wer sich die Mühe macht, die überall schon erkennbaren Symptome der beginnenden Katastrophe zur Kenntnis zu nehmen, kann sich der Einsicht nicht verschließen, dass die Chancen unseres Geschlechts, die nächsten beiden Generationen heil zu überstehen, verzweifelt klein sind.

Das eigentümlichste an der Situation ist die Tatsache, dass fast niemand die Gefahr wahrha-ben will. Wir werden daher, aller Voraussicht nach, als die Generation in die Geschichte ein-gehen, die sich über den Ernst der Lage hätte im klaren sein müssen, in deren Händen auch die Möglichkeit gelegen hätte, das Blatt noch in letzter Minute zu wenden, und die vor dieser Aufgabe versagt hat.

Ich weiß, dass man bei den meisten immer noch auf Ungläubigkeit stößt, wenn man versucht, sie aufmerksam zu machen auf das, was da mit scheinbar schicksalhafter Unabwendbarkeit auf uns zukommt. Dass man sich den Vorwurf einhandelt, man verbreite Angst und nehme insbesondere der jungen Generation jede Zukunftshoffnung …«

(Ditfurth 1985, 7)

(2) »… Ich habe einen Traum, dass eines Tages diese Nation sich erheben wird und der wah-ren Bedeutung ihres Credos gemäß leben wird: Wir halten diese Wahrheit für selbstverständ-lich: dass alle Menschen gleich erschaffen sind. …

Ich habe einen Traum, dass eines Tages auf den roten Hügeln von Georgia die Söhne frühe-rer Sklaven und die Söhne früherer Sklavenhalter miteinander am Tisch der Brüderlichkeit sit-zen können.

Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilen wird …

Ich habe einen Traum, dass eines Tages jedes Tal erhöht und jeder Hügel und Berg erniedrigt wird. Die rauhen Orte werden geglättet und die unebenen Orte begradigt werden. Und die

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Herrlichkeit des Herrn wird offenbar werden, und alles Fleisch wird es sehen. Das ist unsere Hoffnung.«

(Auszug aus MARTIN LUTHER KINGs Rede am Lincoln Memorial in Washington vom 28.08.1968, in: ders. 1974, 124)

(3) »Die Welt gleicht einer Titanic auf Kollisionskurs. Vor uns liegt ein Eisberg, dessen Spitze aus dem Wasser herausragt. Ich meine damit die Verschlechterung der Umwelt durch Roh-stoffverknappung, Umweltverschmutzung und als Folge dessen die Verschlechterung der Le-bensqualität. Den großen unsichtbaren Teil des Eisbergs bilden die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Strukturen und die geistige Desorientierung über den Sinn des Lebens. Nur ein Kurswechsel kann das Unheil verhüten. Noch tanzt die politische und wirtschaftliche Füh-rung auf Deck, der Kurs aber bleibt unverändert.«

(Auszug aus einer Rede von CH. BIRCH vor der Vollversammlung des Ökumenischen Rates in Nai-robi 1975, in: ders.1976, 12)

„Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich doch heute ein Ap-felbäumchen pflanzen.“ Dieser Ausspruch wird Martin Luther zugeschrieben. Der Wissenschaftsjournalist Hoimar von Ditfurth formuliert im Anschluss daran den Titel seines Buches, in dem er Material ausbreitet, das in erschreckender Weise den nahen Untergang der Erde entweder durch eine ökologische oder durch eine atomare Katastrophe erkennen lässt: „So lasst uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen. – Es ist soweit!“ Kann man ein Werk in dieser Art als moderne prophetische Schrift bezeichnen? Aus den Überlieferungen wissen wir, dass Propheten von ihren Zeitgenossen gerne mit dem Urteil „Meschuga“ (verrückt) versehen wurden. Es mag zu denken geben, dass gerade diese zu ihrer Zeit als Verrückte qualifizierten später in kanonischen Rang erhoben wurden. Worin liegt das Spezifische, das Besondere des Prophetischen? Das Phänomen alttestamentlicher Prophetie ist vielschichtig. Folgende thematische Aspekte spielen bei der Erforschung der Prophetie eine Rolle:

• Geschichte, Epochen der Prophetie, die mit Beginn des Hellenismus beendet sind (Ps 74,9: Unsere Zeichen sehen wir nicht, kein Prophet ist mehr da, und keiner ist bei uns, der etwas weiß.)

• Berufungen (Jer 1, Jes 6) und Symbolhandlungen. • Biographische Aspekte • Die literarische Kompositionen der Prophetenbücher • Formen der Prophetenrede • Heils- und Unheilsprophetie • Wahre und falsche Prophetie • „Echte“ und „unechte“ Prophetenworten

Wenn wir bibeltheologisches Fachwissen vermitteln wollen, haben wir mit diesen Aspekten eine Aufzählung möglicher Themen. Aber mein Thema lautet ja: „Von und mit den Propheten lernen – nicht etwas über die Propheten lernen.“ Ganz lässt sich allerdings das eine vom anderen nicht trennen: Ein weitgehend durchgängiger Zug derjenigen Prophetie, die in der Hebräischen Bibel Aufnahme gefunden hat, ist eine kritische Haltung und ein engagiertes Auftreten gegen die je-weils herrschende politische, soziale und religiöse Praxis und die damit verbundene Mentalität. Propheten beziehen sich auf ein an sie gerichtetes, nicht weiter ableitba-res Wort Gottes. Dieses Wort wird in produktiver Aufnahme und Auseinandersetzung mit der religiösen Tradition argumentativ entfaltet. Obwohl beide Aspekte (Bezug auf

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ein Gotteswort und Entfaltung) miteinander verbunden sind, lassen sie sich doch analytisch trennen. Der Prophet versteht sich als Bote Gottes, der von seiner Aufgabe total erfüllt ist und sie als unbedingten Anspruch Gottes versteht. Bernhard Lang hat gezeigt, dass diese tiefe Gotteserfahrung, die in der prophetischen Berufung zum Ausdruck kommt, sich keineswegs voraussetzungslos ereignet, sondern einen Lernprozess voraussetzt wie auch die Praxis des Prophetenamtes. Obwohl nicht unumstritten ist Langs Modell gerade für die religionspädagogische Arbeit von besonderem Interes-se. Es geht von der Hypothese aus, dass die Erfahrung Gottes auf hinweisende Er-fahrungen angewiesen ist, die in Lernprozessen erworben werden können. Der Weg ins Prophetenamt beginnt nach Lang mit einer „Phase der Wahrnehmung“, in der der Kandidat das Phänomen Prophetie mit seinen verschiedenen Erschei-nungsbildern in sich aufnimmt. Es folgt eine „Phase des Erlernens“, in der die ent-scheidenden Informationen über die Prophetentätigkeit – vielleicht in der Rolle eines Prophetenschülers – aufgenommen werden. So bereitet er sich auf die entscheiden-de „Phase des Durchbruchs“ vor, in der er seine Berufung ins Prophetenamt erhält, die „so real erwartet wie erfahren wird“. Auf das Berufungserlebnis folgt die „Phase der prophetischen Aktivität“. Obwohl es zur Rolle des Propheten gehört, als einzelner aufzutreten, bleibt er in Kontakt zu prophetischen Zeitgenossen. Im kreativen Um-gang mit der Tradition und symbolischen Handlungen zeigt er seine spezifische In-terpretation der Berufsrolle (vgl. Lang 1980, 42f). Im Denken der Hebräischen Bibel spielt der Tun-Ergehen-Zusammenhang eine entscheidende Rolle. Die Auswirkungen menschlichen Tuns, das sich, bewusst oder ahnungslos, gegen die lebenserhaltenden Grundlagen und Gaben Gottes wendet, fallen auf die Täter selbst zurück. Dieser Aspekt ist vor allem im Blick auf die vorexili-sche Prophetie von Bedeutung, in der Propheten den Grund für bevorstehendes Un-heil aufdecken. Ein eindrucksvoller prophetischer Text, der diesen Zusammenhang aufzeigt ist Hosea 4,1-3: 1 Hört das Wort des HERRN, ihr Söhne Israel! Denn der HERR hat einen Rechtsstreit mit den Be-wohnern des Landes; denn keine Treue und keine Gnade und keine Erkenntnis Gottes ist im Land. 2 Verfluchen und Lügen, Morden, Stehlen und Ehebrechen haben sich ausgebreitet, und Bluttat reiht sich an Bluttat. 3 Darum vertrocknet das Land und welkt jeder, der darin wohnt, samt den Tieren des Feldes und den Vögeln des Himmels; selbst die Fische des Meeres werden dahingerafft. (ELB) Nun kann es beim Lernen von und mit den Propheten ja nicht um die Vorbereitung auf ein Prophetenamt gehen. Wohl aber um eine Analogie des Lernens im Sinne ei-ner Sensibilisierung und theologischen Urteilsbildung. Die Geschichte JHWHs mit Israel ist besonders durch Befreiung, Gabe der Weisung (der Tora) und Gabe des Landes, des Raumes zum Leben gekennzeichnet. Die in der prophetischen Literatur zu erkennende Auseinandersetzung mit der Ge-schichte wird besonders unter dem Gesichtspunkt der Missachtung der lebensför-dernden Gaben JHWHs geführt. Was hat für die Zukunft des Lebens negative Fol-gen, was hält die Zukunft offen? Wahrnehmungsbereitschaft und Wahrnehmungsfä-higkeit für diese Fragen in der jeweiligen Gegenwart wird angeregt. Was ist lebensförderlich, was lebensfeindlich? Das der prophetischen Tradition entsprechende didaktische Modell ist der Modus der Erinnerung, der Erinnerung an dasjenige, was Leben fördert und die Zukunft offen hält, nämlich u.a.:

• Erinnerung an Machtmissbrauch (1Sam 12 – David und Nathan),

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• Erinnerung an die Kritik eines Leben auf Kosten der Armen: „Sie bedrängen den Gerech-ten, nehmen Bestechungsgeld und drängen im Tor den Armen zur Seite“ (Am 5,12b),

• Erinnerung daran, dass es Weisungen für ein gottgemäßes Leben gibt: „Gott hat dir ge-sagt, Mensch, was gut ist und was Adonaj von dir fordert: nichts anderes, als Recht tun und Güte lieben und besonnen mitgehen mit deinem Gott“ (Micha 6,8 nach der Bibel in gerechter Sprache).

„JHWH allein gibt Leben!“, halten die Propheten den angeblich lebensfördernden Kulten und Ritualen des Baalismus, eines Naturkultes entgegen. „JHWH allein befreit!“, wird gegen die Angst bedrohender politischer Mächte gesetzt. „JHWH allein setzt Recht!“, und er ist auf der Seite der Schwachen, auf der Seite de-rer, denen das Recht vorenthalten wird (vgl. Baldermann 1983). Lernen von und mit den Propheten fordert gleichermaßen Kritik und Gestaltung her-aus: Kritik lebt von der Erinnerung an Maßstäbe, Gestaltung von Hoffnungsbildern. „Schwerter zu Pflugscharen“ Wirkungsgeschichtlich spielt im Bereich der Hoffnungsbilder das Beispiel „Schwerter zu Pflugscharen“ eine bedeutende Rolle: Die aus Jes 2 bzw. Mi 4 entnommene Paro-le „Schwerter zu Pflugscharen!“ wurde zunächst in der DDR, dann aber auch in der alten Bundesrepublik zu einem kräftigen Impuls der christlichen Friedensbewegung. Micha 4:1-5 Und am Ende der Tage wird es geschehen, da wird der Berg des Hauses JHWHs feststehen als Haupt der Berge, und erhaben wird er sein über die Hügel. Und Völker werden zu ihm strömen, 2 und viele Nationen werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns hinaufziehen zum Berg JHWHs und zum Haus des Gottes Jakobs, dass er uns aufgrund seiner Wege belehre! Und wir wollen auf seinen Pfaden gehen. Denn von Zion wird Weisung ausgehen und das Wort JHWHs von Jerusalem. 3 Und er wird richten zwischen vielen Völkern und Recht sprechen für mächtige Nationen bis in die Ferne. Dann werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden und ihre Speere zu Winzermessern. Nie mehr wird Nation gegen Nation das Schwert erheben, und sie werden das Kriegführen nicht mehr lernen. 4 Und sie werden sitzen, jeder unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum, und niemand wird sie aufschrecken. Denn der Mund JHWHs der Heerscharen hat geredet. - 5 Ja, alle Völker leben, ein jedes im Namen seines Gottes. Wir aber leben im Namen JHWHs, unseres Gottes, für immer und ewig. Jes 2, 2-5 2 Und es wird geschehen am Ende der Tage, da wird der Berg des Hauses JHWHs feststehen als Haupt der Berge und erhaben sein über die Hügel; und alle Nationen werden zu ihm strömen. 3 Und viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns hinaufziehen zum Berg JHWHs, zum Haus des Gottes Jakobs, dass er uns aufgrund seiner Wege belehre und wir auf seinen Pfaden ge-hen! Denn von Zion wird Weisung ausgehen und das Wort JHWHs von Jerusalem.4 Und er wird rich-ten zwischen den Nationen und für viele Völker Recht sprechen. Dann werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden und ihre Speere zu Winzermessern. Nicht mehr wird Nation gegen Nation das Schwert erheben, und sie werden den Krieg nicht mehr lernen. 5 Haus Jakob, kommt, lasst uns im Licht JHWHs leben! Die Konsequenz aus dieser Erinnerung für die Gegenwart ist nicht unumstritten. So wird z.T. herausgestellt, dass solche prophetische Kritik am Vertrauen auf Rüstung und militärische Stärke nicht als Aufruf zu einseitiger Abrüstung missverstanden wer-den darf. Der Alttestamentler Hans Walter Wolff hält dem entgegen, dass die Pro-phetie und andere Texte der Hebräische Bibel in vielerlei Varianten dem Vertrauen auf Waffen jeglicher Art entgegentreten (vgl. Wolff 1984, 280-292). Es zeigt sich eine Spannung zwischen dem Glauben an den Gott Israels und dem Vertrauen auf militä-rische Macht (vgl. Jes 31,1ff; Hos 14,5; Ps 46,7ff). Der Ablehnung eines Vertrauens auf Rüstung steht eine positive Wertung des Friedens gegenüber. Besonders in allen messianischen Weissagungen ist Friede ein zentrales Thema. So verbindet sich in der Vision von Jes 11 sozialer Friede, ökologischer Friede und Weltfriede. Wie in Jes

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2 und Mi 4 wird mit einer positiven Zukunft gerechnet. Sind solche Weissagungen nun nur eine Ausschau auf Zukünftiges, die die Gegenwart ausschließlich in einem schlechten Licht erscheinen lässt oder können aus diesem Gemälde der von JHWH erwarteten Zukunft konkrete Konsequenzen abgeleitet werden? Für die Beantwor-tung dieser Fragen ist es entscheidend, dass bereits in biblischer Zeit in aktualisie-renden Anhängen die Gegenwartsbedeutung ausgesprochen wird: „Haus Jakob! Kommt und lasst uns Schritte tun ins Licht JHWHs“ (Jes 2,5). Mit der Ermutigung zu ersten Schritten wird die Zukunftsvision für Israel zu einer Gegenwartsorientierung, der es schon jetzt zu folgen gilt. Mit Mi 4,5 verhält es sich ähnlich. Hans Walter Wolff hat dafür im Anschluss an den hebräischen Text folgende sinngemäße Übertragung vorgeschlagen:

„Wenn auch alle Völker (noch ihren Weg) gehen jedes im Namen seines Gottes, so gehen wir doch (jetzt schon unseren Weg) im Namen JHWHs, unseres Gottes, auf immer und ewig“ (Wolff 1984).

Hierin liegt die Ermutigung und Selbstaufforderung der Gemeinde, schon jetzt den verheißenen Weg zu gehen, obwohl andere Völker noch den Kriegsgöttern folgen. „Einspruch um der Zukunft willen“ habe ich das Kapitel über Prophetie in meinem Alttestamentlichen Arbeitsbuch überschrieben. In der prophetischen Kritik werden die freiheits- und lebenseröffnenden Erinnerungen Israels um der Zukunft willen an die Gegenwart herangetragen. Sie wendet sich „gegen die Umkehrung einer Befrei-ungsgeschichte zur Geschichte der Unterdrückung. [....] ihre Folge ist eine Gestal-tung der Gegenwart, die vom Primat der Zukunft bestimmt ist, die nach Entspre-chungen zur Verheißung Gottes in den Lebensverhältnissen der Gegenwart sucht und die Offenheit der Zukunft nicht versperrt“ (Huber 1984, 14). Zur Prophetie gehört auch die Erinnerung an unabgegoltene und überschießende Verheißungen. Die Hebräische Bibel kennt verschiedene Bilder einer heilvollen Zu-kunft. Es finden sich Bilder relativer (vorstellbarer) und absoluter Utopie wie das vom Heu fressenden Löwen, der friedlich neben dem Lamm liegt. Beispiele solcher Ver-heißungen finden sich in folgenden prophetischen Texten: Jes 35, 1-10: Heilsweg zum Zion 35:1 Freuen werden sich die Wüste und das dürre Land, frohlocken wird die Steppe und aufblühen wie eine Narzisse. 2 Sie wird in voller Blüte stehen und frohlocken, ja, frohlockend und jubelnd. Die Herrlichkeit des Libanon ist ihr gegeben, die Pracht von Karmel und Scharon: sehen werden sie die Herrlichkeit JHWHs, die Pracht unseres Gottes. [3Stärkt die schlaffen Hände und festigt die wanken-den Knie! 4 Sagt zu denen, die ein ängstliches Herz haben: Seid stark, fürchtet euch nicht! Siehe, da ist euer Gott, Rache kommt, die Vergeltung Gottes!] Er selbst kommt und wird euch retten. 5 Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet. 6 Dann wird der Lahme springen wie ein Hirsch, und jauchzen wird die Zunge des Stummen. Denn in der Wüste brechen Wasser hervor und Bäche in der Steppe. 7 Und die Wüstenglut wird zum Teich und das dürre Land zu Wasserquellen. [An der Stelle, wo die Schakale lagerten, wird Gras sowie Rohr und Schilf sein. 8 Und dort wird eine Straße sein und ein Weg, und er wird der heilige Weg genannt werden. Kein Unreiner wird darüber hinziehen, sondern er wird für sie sein. Wer auf dem Weg geht – selbst Einfältige werden nicht irregehen.] 9 Kein Löwe wird dort sein, und kein reißendes Tier [wird auf ihm hinaufgehen noch dort gefunden werden, sondern die Erlösten werden darauf gehen.] 10 Und die Befreiten JHWHs wer-den zurückkehren und nach Zion kommen mit Jubel, und ewige Freude wird über ihrem Haupt sein. Sie werden Wonne und Freude erlangen, und Kummer und Seufzen werden entfliehen.

Jes 11,7: Kühe und Bären werden zusammen weiden, dass ihre Jungen beieinander liegen, und die Löwen werden Stroh fressen wie die Rinder.

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Beide Gestalten von Utopie gehören dialektisch zusammen: Wirklicher Friede (Scha-lom) ist nur denkbar, wenn kein Leben mehr auf Kosten von anderem lebt. Von und mit Propheten lernen – Beispiel Jona Am Ende der prophetischen Epoche in Israel zu Beginn des Hellenismus spielt die kleine Jonanovelle die verschiedenen Facetten des Lernens von und mit der Prophe-tie durch. Gott selbst nimmt in dieser Geschichte die Rolle des Pädagogen ein. Die eindruckvolle Novelle zeigt, wie sehr Lernfähigkeit gefragt ist, wenn Gottes Zukunft offen bleiben soll. Ein Pastor erzählte mir, dass er in den 1970er Jahren mit den Worten über Jona ge-predigt hätte: Dass Ninive gerettet wird, ist so unwahrscheinlich, wie dass der eiser-ne Vorhang fällt, so unwahrscheinlich wie die Überwindung der Apartheid in Südafri-ka, so unwahrscheinlich wie der Fall der Berliner Mauer. Die Jonaerzählung eignet sich auf allen Jahrgangsstufen zur Thematisierung des Phänomens biblische Prophetie. Ich möchte sogar weiter gehen, sie eignet sich als Modell des religiösen Lernens, weil in diese Noveller eine Fülle relevanter theologi-scher Themen auf kleinstem Raum zur Sprache kommt und zugleich das Problem religiösen Lernens selbst thematisiert wird. Lernen mit Jona1 In der Erzählgestaltung des Jonabuches wird der spannungsvolle Gegensatz von Lehre und Leben ausgetragen. Sie verweist auf die Resistenz gegen eine neue Wahrnehmung aufgrund verfestigter Erfahrung. Kap. 1 und 2: Flucht vor JHWH Kap. 3 und 4: Ausführung des Auftrags 1,1-3 Gottes Auftrag („Es erging das Wort JHWHs an Jona“) und Jonas Flucht

3,1-3a Erneuter Auftrag Gottes („Es erging das Wort JHWHs an Jona“) und Aufbruch nach Ninive

1,4-16 Auf dem Boot:

• der Seesturm • das Bemühen der „Heiden“ um Ret-

tung • Jonas Passivität

3,3b-4,5 In der Stadt Ninive:

• Reue und Umkehr der Nineviten • Jonas Rebellion gegen Gottes Gnade: Forde-

rung einer strafenden Gerechtigkeit

2,1-11 Im Bauch des Fisches: Jonas Gebet

4,6-11 Vor der Stadt Ninive: Gottes Lehrlektion für Jona

(Johannsen, Friedrich u. Bettina Rosenhagen: Jona. Lesen und Deuten. Kopiervorlagen für den Reli-gionsunterricht ab Klasse 10, Göttingen 2009, 13.) Die Erzählung stammt vermutlich aus der Feder eines theologisch gebildeten Verfas-sers in der spätpersischen oder frühhellenistischen Zeit (2. Hälfte des 4. oder 1. Hälf-te des 3. Jahrhunderts. v. Chr.). Sie ist deutlich in zwei Teile (Kap.1-2 und 3-4) ge-gliedert, die jedes Mal mit „Und das Wort JHWHs erging an Jona“ beginnen. Die Orts- und Zeitangaben bleiben unbestimmt. Der mit den Überlieferungen vertraute Leser wird allerdings durch den Prophetennamen Jona (Taube) an den Heilsprophe-ten Jona ben Amittai des 8. Jahrhunderts erinnert (2Kön 14,25). Zu der Zeit war Nini-ve die Hauptstadt des assyrischen Weltreichs. Der Rückgriff auf Ninive erinnert eine vergangene Konstellation in der Israels Existenz durch eine feindliche Großmacht

1 Auszüge aus: Johannsen, Friedrich: Lernen mit Jona, in: Bell, Desmond (Hg.): Menschen suchen – Zugänge finden (Fs. Chr. Reents), Wuppertal 1999, 347-353.

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bedroht war. Mit dem Untergang Ninives verbindet sich für den Leser zur Zeit der Abfassung der Erzählung vermutlich ein Gefühl der Genugtuung, hatten die Assyrer doch durch die Eroberung Samarias den Untergang des Nordreiches Israel herbeige-führt und galten gleichsam als Inkarnation des Bösen. Der Erzähler setzt vor dem Hintergrund der weitgehend fremdenfeindlichen, nationalreligiös geprägten Politik in der Tradition Esras und Nehemias diese Konstellation der Vergangenheit neu in Szene. Er greift auf die Geschichtskonstellation (Jona, Ninive) zurück, wie sie im 8. vorchristlichen Jahrhundert bestand, inszeniert sie jedoch als fiktive Rekonstruktion so, dass er die abgeschlossene Epoche probeweise neu öffnet, als sei der Gang der Geschichte noch nicht entschieden. Durch dieses Mittel lenkt er einen ungewohnten Blick auf die Situation der eigenen Zeit mit ihren nicht wahrgenommenen Möglichkei-ten. Die Darstellung dieser als Prophetenerzählung komponierten Geschichte ist deutlich durch märchenhaft-fiktive und typisierende Züge geprägt, die einen anderen Blick auf die Wirklichkeit evozieren. In einer Zeit fremdenfeindlicher Restauration mit der Tendenz, religiöse Identität durch Ab- und Ausgrenzung zu bewahren, erzählt der Verfasser des Jonabuches eine Geschichte, in der Fremde modellhaft handeln. Die Dramaturgie der Erzählung zeichnet die Fremden so, dass ihnen das im Vorurteil enthaltene Bedrohliche fehlt. Die Fremden (sowohl auf dem Boot als auch in Ninive) handeln überraschend an-ders, als ein liebgewonnenes Feindbild ihnen zuschreiben möchte. Die märchenhaf-ten Züge und realistische Erfahrungen transzendierende Momente dienen als Stilmit-tel, Wirklichkeit probeweise anders als gewohnt anzusehen. Der Dynamik des Kin-derspiels „Ich sehe was, was du nicht siehst“ entsprechend wird der Leser angehal-ten, den Blick auf etwas zu richten, was er von sich aus nicht wahrgenommen hätte. Das Stilmittel dient so der Eröffnung der Möglichkeit, eine in Lehre gefangene religiö-se Tradition für neue Wahrnehmung von Zukunft zu öffnen, die der liebenden Zu-wendung Gottes entspricht. Die Verfremdung der Wahrnehmung lässt die Wirklichkeit in einem neuen Licht er-scheinen, gewohnte Vorstellungen und Denkmuster werden infrage gestellt. Die „hilf-reiche“ Einteilung der Welt in Gut und Böse, der zwingende Zusammenhang von Tat und Vergeltung, die Lehre von Wahrheit und Gerechtigkeit kommen ins Wanken. „Aufgemischt“ wird aber auch die überlieferte Lehre von der Rolle eines Propheten. Nach der in Dtn 18 formulierten Lehre kann man den wahren Propheten daran er-kennen, dass seine Ansage eintrifft. An der fiktiven prophetischen Gestalt des Jona wird das Dilemma solche Lehre vorgeführt: Er soll gegen Ninive predigen und ihr den Untergang verkündigen. Ja, von Gott wird erwartet, dass er die Bösen bestraft. – Da ist aber auch noch die Erinnerung an die Güte und Barmherzigkeit Gottes. Was be-deutet es für die Glaubwürdigkeit des Propheten, wenn Gott sich durch eine Umkehr Ninives anrühren ließe, die Stadt zu verschonen? Dass jemand sich einem propheti-schen Auftrag durch Flucht zu entziehen versucht, ist angesichts der prophetischen Überlieferungen mit der Erinnerung an Konflikte und Leiden der prophetischen Ge-stalten bereits verständlich. Die Erzählkonstellation der Jonageschichte treibt den Rollenkonflikt des Propheten und die Frage nach der Wahrheit Gottes auf die Spitze (vgl. Ebach 1987). Der Erfolg seiner Predigt würde ihm vor dem Hintergrund der in Dtn 18 formulierten Lehre das Attribut eines falschen Propheten einbringen. Ihm wird zugemutet, eine kritische Wahrheit auszusprechen, im Namen Gottes ein Unheil an-zukündigen, damit es – vielleicht – doch noch eine heilvolle Zukunft gibt (vgl. Ebach 1985, 27ff). Jona hat ein hinreichendes Motiv für seine Flucht. Anders als die ungehörte Schicksalsansage der Kassandra der griechischen Tragö-die zielt das Prophetenwort in der Jonaerzählung auf das Aufbrechen des Tun-Ergehen-Zusammenhangs und das Unterbrechen schicksalhafter Entwicklung. An

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der unerwarteten Reaktion der Ninineviten macht die Erzählung deutlich, dass die Geschichte nicht zwangsläufig so verlaufen musste, wie sie verlaufen ist oder ver-mutlich immer wieder verlaufen wird. Die Möglichkeit der Umkehr kommt ins Spiel als Chance, den determinierten Zusammenhang von Schuld und Schuldfolge aufzubre-chen. Unter der Perspektive dieser Möglichkeit kommt nicht nur die klassische Lehre von der Wahrheit der Prophetie ins Wanken, sondern auch die Lehre von Sünde, die nur durch Strafe und Vergeltung getilgt werden kann, verliert ihre Stimmigkeit. Kei-neswegs wird sie aber schlicht durch eine neue Lehre von der heilenden Kraft der Umkehr ersetzt. Das Buch lädt vielmehr ein, sich in eine Lernbewegung verwickeln zu lassen, die zu einer neuen Selbst- und Weltwahrnehmung führt, die dem Modell der Welt als Schöpfung, der Welt, wie sie in den Augen Gottes gemeint ist, ent-spricht. Weder eine existentiale Hermeneutik, die den Skopus der Erzählung in der Erfahrung der grenzenlose Liebe Gottes findet, noch die Forderung nach weltverbesserndem Handeln können beim pädagogischen Umgang mit der Erzählung hilfreich sein, wenn es dabei um mehr als das äußere Aneignen von Wissen gehen soll. Chancenreicher wäre es, sich auf die Struktur und die Motive der ganzen Erzählung einzulassen, ihre märchenhaften, die Wirklichkeit tranzendierenden Bilder so neu zu entfalten, dass sie unsere Situation aufdecken und dazu anleiten, unsere Möglichkei-ten wahrzunehmen. Die Klage des Jona, „ich wusste dass du barmherzig bist“, ist hermeneutischer Schlüssel für das Verstehen seiner Flucht, seiner Regression und seines halbherzi-gen Engagements. Wie kann aber aus der Klage ein Lob werden, das anders als Jonas Lob im Bauch des Fisches seinen Ort nicht in regressiver Weltabgewandtheit, sondern in der Weltoffenheit, im staunenden Blick auf das vorausgehende Handeln Gottes hat? Es ist die Stärke der Jonaerzählung, dass sie nicht neue gegen alte Leh-re setzt, sondern eine fiktive Handlung inszeniert, die den Leser herausfordert, indem sie ihn in eine andere Wahrnehmungsperspektive versetzt. In Anknüpfung an ein-schlägige Traditionen verwickelt die Erzählung in eine Perspektive, in der Liebe und Gerechtigkeit sowie Wahrheit und Gerechtigkeit spannungsvoll zusammengehen. Auch Umkehr erneuert nicht automatisch eine verspielte Zukunftsperspektive, sie bindet sich an die Hoffnung des „Vielleicht“, das in den Worten des Königs von Nini-ve anklingt (3,9). Die Erzählung sperrt sich dagegen, aus Kritik der überkommenen Lehre eine neue Lehre zu kreieren: Im pädagogischen Handeln korrespondieren hier Hinweise zum Lernen, das Abschied nimmt vom Bescheidwissen und „Aufmerksam-keit, die Leere aushält“ (vgl. Rumpf 1985, 158-177). Die verstehende Aneignung hat nur eine Chance, wenn bei der Auseinandersetzung mit der Erzählhandlung jede lehrhafte Attitüde, jede projizierende Identifikation unter-bleibt bzw. überwunden wird. Der Hinweis auf Jona als Modell des verstockten Ju-den, des uneinsichtigen widerspenstigen Propheten und auf die Heiden als die „bes-seren Juden“ in christlicher Auslegungsgeschichte mag hier genügen. Auch das tra-ditionelle (christlich)-theologische Urteil, bei Jona ginge es um die Wende von Exklu-sivität des (jüdischen) Gottesverhältnis zum Universalen trifft nicht: Jona bekennt nicht den Gott Israels, sondern den der Welt (vgl. Ebach 1985,28). Es gelingt ihm aber nicht, das Konkrete in dieser Universalität wahrzunehmen, das ihm im Verhält-nis zum und im Geschick des anderen zugemutet wird. In der Linie der Theologie Deuterojesajas verknüpft der Dichter der Jonaerzählung die Wahrnehmung Gottes als Schöpfer unlösbar mit seinem Heilshandeln, das auf neue Wahrnehmung der Wirklichkeit und auf Lernen als schöpferischem Akt bezogen ist. Jona wird zugemu-tet zu lernen, dass er den Schöpfer nur preisen kann, wenn ihm die anderen Ge-schöpfe nicht gleichgültig bleiben. Die heile Welt der Privatreligion scheitert an den

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anderen. Die anstehende religionspädagogische Aufgabe klingt in einer von Martin Buber überlieferten Erzählung an: Als Levi Jizchak von seiner ersten Fahrt zu Rabbi Schmelke von Nikolsburg, die er gegen den Willen seines Schwiegervaters unternommen hatte, zu diesem heimkehrte, herrschte er ihn an: „Nun, was hast du schon bei ihm erlernt?!“ „Ich habe erlernt“, antwortete Levi Jizchak, „dass es einen Schöpfer der Welt gibt.“ Der Alte rief einen Diener herbei und befragte den: „Ist dir bekannt, dass es einen Schöpfer der Welt gibt?“ „Ja“, sagte der Diener. „Freilich“, rief Levi Jizchak, „alle sagen es, aber erler-nen sie es auch?“ (Buber 111990, 331f). Die in religionspädagogischer Praxis gern vollzogene Reduktion auf die Rettung Jo-nas aus dem Bauche des Fisches stellt die narrative Intention der Erzählung auf den Kopf. Dass sich Jona im Bauch des Fisches gerettet und geborgen fühlt, ist in der Erzählgestaltung ein Bild mit ironischen Zügen, kein Vorbild an Frömmigkeit. Die an-fängliche Flucht erreicht ihren Tiefpunkt in der im Bild vom Bauch des Fisches ge-zeichneten Regression. Hier, im weltabgewandten, geschützten Raum lässt sich trefflich beten – wer richtig betet, handelt noch lange nicht richtig. Der Bauch des Fisches verweist eher auf esoterische Muster und psychologische Intentionen, die auf das Mit-sich-ins-Reine kommen begrenzt bleiben. In der heilen Welt der Privatreligion kann von der Ambivalenz der Wirklichkeit und dem konkreten Geschick der anderen abgesehen werden. Ist nicht das Gebet des Jona im Bauch des Fisches ein Beispiel eines „gregorianischen Gesangs“ ohne ein „Schreien für die Juden“? Die Metapher von der „Erinnerung im Augenblick der Gefahr“ kann die Ursprungssi-tuation des Jonabuches, kreative Erschließung im Kontext gegenwärtiger Lebenswelt sowie Bedingungen und Ansatz religionspädagogischen Handelns erkenntnisleitend verknüpfen. Im gleichen Boot mit den Fremden entzieht sich Jona der Begegnung mit ihnen durch einen Rückzug ins Innere – bildhaft ins Innere des Bootes (1,5b). Im 3. Kapitel begegnet Jona erneut dem Fremden. Deutlich zeichnet der Verfasser den Gegensatz zwischen halbherzigem Mahnruf des Jona und entschlossener Reak-tion der Ninineviten. Die Reaktion findet ihre symbolische Verdichtung in dem Satz vom König, der von seinem Thron stieg. Im Bild des vom Thron herabsteigenden Kö-nigs bricht das Imaginäre die Erfahrung der Realität auf, dass kein Herrschender freiwillig von seiner Macht lässt. Realität und Fiktionales geraten in ein spannungs-reiches Verhältnis. Die wenig reale Möglichkeit des Herabsteigens, des Machtverzichts als Gestalt der Umkehr kommt ins Spiel. Nicht als Rezept, wohl aber als Lebensperspektive, die „vielleicht“ die einzig mögliche Chance bietet, die tödliche Dynamik der Macht zu un-terbrechen. Zilleßen und Gerber geben ihrem Unterrichtskonzept „religion elementar“ den Titel „Und der König stieg herab von seinem Thron“ (Jona 3,6b). In diesem Satz verdichtet sich ihr programmatischer Ansatz (vgl. Zilleßen/Gerber 1997). Ein Lernarrangement, das die Möglichkeit des Machtverzichts kreativ in Anspruch nimmt, ist weniger auf Verstehen als auf Einfühlung bezogen, indem Leerräume be-reitgestellt werden für neue Gefühle. Dies bedeutet auch, „Raum zu geben für Be-fremdliches, Irritierendes, für die Gefühle von Angst, Bedrohung und Ohnmacht dem Fremden gegenüber“ (Zilleßen/Gerber 1997, 30). Die Bedingung der Möglichkeit, dem bedrohlichen Fremden zu begegnen ohne angstbedingte Abwehr oder Tenden-zen zur Vereinnahmung durch Leugnung der Differenzen, sind reflektierte Übungen neuer Wahrnehmung, nicht ethische Forderung. Raum der Wahrnehmung zu schaf-fen, wäre ein erster Schritt gegen von pädagogischen Allmachtsphantasien gesteuer-te normative Appelle. Verantwortung ist nicht Produkt pädagogischer Anstrengungen,

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sie kann sich einstellen als Ereignis in dialogischen sozialen Prozessen (vgl. Zille-ßen/Gerber 1997, 30). Eine eschatologische Ethik, die sich von Bildern der Möglich-keit leiten lässt, hat keine imperativistische Dimension, sie fragt nach dem, was wir tun können, nicht was wir tun sollen (vgl. Zilleßen/Gerber 1997, 34). „Aber das, was möglich ist, ergibt sich nicht einfach aus unserer Erfahrung oder aus unseren heuti-gen Vorstellungen des Menschenmöglichen, sondern aus Glauben daran, dass es zukünftige Möglichkeiten gibt, die wir noch nicht wahrnehmen oder nicht für wahr hal-ten wollen“ (Zilleßen/Gerber 1997, 34). Im Bild des vom Thron herabsteigenden Kö-nigs erinnert die Jonaerzählung daran, dass der Mensch nicht der Macht des Schick-sals unterliegen muss. Wie auch andere Erzählungen des Glaubens erinnert die Jonageschichte an dasje-nige, was heilsam für unser Leben und unser verantwortliches Tun ist. Sie eröffnet neue Sehweisen, Blickrichtungen auf das Leben, zeigt Wege für Visionen und Ver-heißungen und Strukturen von Lebensordnungen, erschließt Bilder unserer (zukünf-tigen) Möglichkeiten. Eine der biblischen Erinnerung entsprechende Ermunterung zum Handeln korre-spondiert mit einer Ermunterung zum Glauben, dass der Handelnde schon vor sei-nem Tun akzeptiert ist (vgl. Zilleßen/Gerber 1997, 34). An der im Jonabuch erzählten „Didaktik Gottes“ ist erkennbar, dass zwar Situationen arrangiert werden können, in der neue Einsichten möglich werden könnten. Wie bei Jona bleibt jedoch offen, ob sich eine neue Wahrnehmung in einem arrangierten Kommunikationsprozess wirklich ereignet. Ein Lernprozess in dieser Spur muss mit dem Widerständigen rechnen, sich damit bescheiden, dass Planung nur begrenzt möglich ist. Religionspädagogische Arbeit im Kontext der Jonaerzählung kann gerade dann Lernchancen eröffnen, wenn der Erkenntnis gefolgt wird, dass biblische Texte nicht nur einen Sinn haben und – ohne beliebig zu werden – eine Vielfalt von Perspektiven und Wahrnehmungsimpulsen ins Spiel bringen. „Alle Methoden der Bibelauslegung lassen bestimmte Aspekte des biblischen Zeug-nisses besonders hervortreten. Sie führen zu unterschiedlichen Einsichten, die nicht selten in Spannung zueinander stehen“ (Arnoldsheimer Konferenz 1992,184). In der angedeuteten Spanne von Lehre und Leben, Lernen und Verlernen sowie Neu-Lernen kann die Jonageschichte eine Wahrnehmung der Welt als Schöpfung im Sinne einer ökologischen und multikulturellen Gemeinschaft öffnen, deren Zukunft damit beginnen kann, dass „der König von seinem Thron steigt“, dass die imperiale Geste entschlossen verlassen wird zugunsten einer Kommunikationsgemeinschaft, die in der liebenden Zuwendung Gottes gründet. Wichtig dabei ist eine Unterrichts-struktur und ein Miteinanderlernen, die dieser Wahrnehmung entsprechen. „Jona geht zu dem fremden großen König der Weltmacht Babylon: der Fremde tut das Richtige, Jona das Falsche. Jona und der König der Ninineviten: zwei Haltungen zum Leben, zu sich selbst, zu Fremden; zwei Umgangsweisen mit der Angst, mit Be-drohung, mit Zukunft; zwei Bewegungen angesichts der Katastrophe“ (Zille-ßen/Gerber 1997, 34 – mit Verweis auf Ebach und Heinrich). Die Dynamik der Geschichte und die Bilder der Erzählung können einen Lernprozess anregen, der zu neuer Wahrnehmung der Wirklichkeit und zur Entdeckung neuer Bilder und Möglichkeiten anstiftet. Schülerinnen und Schüler könnten in die Überle-gung verwickelt werden, was Jona dazu bringen kann, sein Fluchtverhalten und sei-ne Zuschauerrolle aufzugeben. Im Buch Jona geht es um den Lernprozess eines Einzelnen, Subjektivität ist nicht hintergehbar. Schülerinnen und Schüler können ihre je ganz eigene Differenz und Nähe zur Gestalt des Jona erschließen. Seine gelehrten theologischen Sätze, ein-

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schließlich seiner Gebete (1,9; 2,3-11; 4,2), zeichnen Jona als einen in Glaubensfra-gen gebildeten Menschen, dem es nicht gelingt, das Allgemeine mit den Herausfor-derungen der konkreten Lebenswelt produktiv in Verbindung zu setzen. Er bekennt JHWH als Gott der Erde und des Meeres und versucht, ihm auf dem Meer zu entflie-hen. Seine Flucht ist auch Ausdruck dafür, dass er sich weigert, die Welt so zu sehen wie sie sein könnte. Die Tendenzen von Flüchten oder Standhalten sind mit alltags-weltlichen Bezügen zu vermitteln:

• Welche Herausforderung, welches „Wort“ ruft mich zur Entscheidung?2 • Auf welche Orte könnten Jaffa, Tharsis oder Ninive uns heute verweisen?

Eine weitere Lerndimension bezieht sich auf die Wahrnehmung des Fremden. Die Fremden auf dem Schiff (1,5ff) werden als eine multireligiöse Gesellschaft gezeich-net, die versucht, das anstehende Problem gemeinsam zu lösen und nicht leichtfertig mit dem Leben anderer umzugehen. Das Bild der multikulturellen Gemeinschaft in einem Boot mit seiner Bedrohung und ihren Rettungsperspektiven kann im Kontext der Gegenwartserfahrungen interpretiert werden (Leben und Lernen in multikulturellem/multireligiösem Kontext angesichts einer drohenden Katastrophe). Damit verbindet sich die Perspektive ökologischen Lernens angesichts einer bedrohten Zukunft. Die Erzählung will mit Jona den Leser einladen, die Perspektive Gottes mit seinem Mitleiden und seiner Sorge über die tödliche Bedrohung von Mensch und Vieh ein-zunehmen. – Sie will einladen, ihm zuzustimmen. Literatur – Arnoldsheimer Konferenz: Das Buch Gottes. Elf Zugänge zur Bibel. Ein Votum der Arnoldshainer

Konferenz, Neukirchen-Vluyn 1992. – Baldermann, Ingo: Der Gott des Friedens und die Götter der Macht. Biblische Alternativen, Neu-

kirchen-Vluyn 1983. – Birch, Charles: Es ist an der Zeit zu zahlen. Schöpfung, Technik und Überleben der Menschheit,

in: LIK 1/1976. – Buber, Martin: „Die Erzählungen der Chassidim“, Zürich 111990. – Ditfurth, Hoimar v.: So laßt uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen. Es ist soweit, Hamburg/Zürich

1985. – Ebach, Jürgen: Apokalypse. Zum Ursprung einer Stimmung, in: Marquardt, Friedrich-Wilhelm u.a.

(Hg.): Einwürfe, München 1985, 5-61. – Ebach, Jürgen: Kassandra und Jona. Gegen die Macht des Schicksals, Frankfurt a.M. 1987. – Huber, Wolfgang: Prophetische Kritik und demokratischer Konsens. Vortrag beim Europäischen

Theologenkongress in Zürich am 27. Sept. 1984. – Johannsen, Friedrich: Lernen mit Jona, in: Bell, Desmond (Hg.): Menschen suchen – Zugänge

finden (Fs. Chr. Reents), Wuppertal 1999, 347-353. – Johannsen, Friedrich u. Bettina Rosenhagen: Jona. Lesen und Deuten. Kopiervorlagen für den

Religionsunterricht ab Klasse 10, Göttingen 2009. – King, Martin Luther: Testament der Hoffnung: Letzte Reden, Aufsätze und Predihgten von Martin

Luther King (übersetzt von Heinrich W. Grosse), Gütersloh 1974. – Lang, Bernhard: Wie wird man Prophet in Israel, Düsseldorf 1980. – Rumpf, Horst: Aufmerksamkeit, die Leere aushält. Ein Versuch, sich von Simone Weil etwas sa-

gen zu lassen, in: Heimbrock, Hans-Günther: Religionspädagogik und Phänomenologie. Von der empirischen Wendung zur Lebenswelt, Weinheim 1998, 158-177.

– Wolff, Hans Walter: Schwerter zu Pflugscharen – Mißbrauch eines Prophetenwortes?, in: Evange-lische Theologie 44 (1984), H. 3, 280-292.

– Zilleßen, Dietrich u. Uwe Gerber: Und der König stieg herab von seinem Thron. Das Unterrichts-konzept religion elemementar, Frankfurt a.M. 1997.

2 Das Wort Gottes, das zur Entscheidung ruft, stand im Zentrum der Ev. Unterweisung. Die Jonage-schichte verweist auf einen pädagogischen Prozess, in den das Wort JHWHs verwickelt. Dieser Pro-zess wurde in der Konzeption der Ev. Unterweisung nicht hinreichend reflektiert.

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