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Vorlesung: Einführung in die Soziologie – WS 2009/10 Prof. Dr. Ingrid Artus Sitzung: 20.1.2010 Macht und Herrschaft

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Vorlesung: Einführung in die Soziologie –

WS 2009/10Prof. Dr. Ingrid Artus

Sitzung: 20.1.2010

Macht und Herrschaft

Kurze Wiederholung

• Arbeit als Grundkonstante menschlichen Lebens wurde zu verschiedenen Zeiten (Antike versus Moderne) und von unterschiedlichen Theoretikern (Marx versus Arendt) sehr unterschiedlich bewertet. Die Einengung des Arbeitsbegriffs auf Erwerbsarbeit ist eine moderne Entwicklung.

• Wir leben heute in einer (Erwerbs-)“Arbeitsgesellschaft“.

• Robert Castel beschreibt vier historische Phasen der Entwicklung von Lohnarbeit: „unwürdige Lohnarbeit“ – Lohnarbeit als Vertrag (= Kommodifizierung von Arbeit) Lohnarbeit als Status – die massenhafte Wiederkehr der Verwundbarkeit von Lohnarbeit.

• Als wesentliche Entwicklungstendenzen von Erwerbsarbeit in der BRD sind zu nennen:– Tertiarisierung

– Feminisierung

– Entwicklung einer strukturellen Massenarbeitslosigkeit

– Erosion des Normalarbeitsverhältnisses

– Polarisierung der Erwerbschancen: „Arbeitkraftunternehmer“ versus Prekarisierung

• Die Bedeutung von Erwerbsarbeit ist ungebrochen und nimmt eher zu.

ABER: Gerade in dem Moment, in dem die Lebenschancen eines immer größeren Teils der Bevölkerung immer enger an die Chancen auf dem Arbeitsmarkt geknüpft sind, steht die Verfügbarkeit adäquater Erwerbsmöglichkeiten zunehmend in Frage.

Gliederung1. Macht

– Definition

– Grundtypen der Macht (H.Popitz)

– Machtquellen und Prozesse der Machtentstehung

– Machtmittel (P.Bourdieu)

2. Herrschaft

– Definition

– Typen legitimer Herrschaft

– Marxistischer Herrschaftsbegriff

3. Wer „hat Macht“ in unserer Gesellschaft? Eliten in der BRD

Macht und Herrschaft

…sind auch gängige umgangssprachliche Begriffe. Dies erleichtert und erschwert die Situation für die Soziologie.

…bezeichnen asymmetrische soziale Beziehungen.

…haben besondere Bedeutung im Kontext politischen Handelns, sind jedoch nicht darauf beschränkt

Definition „Macht“

„Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“

„Der Begriff Macht ist soziologisch amorph. Alle denkbaren Qualitäten eines Menschen und alle denkbaren Konstellationen können jemand in die Lage versetzen, seinen Willen in einer gegebenen Situation durchzusetzen.“

(Max Weber; Wirtschaft und Gesellschaft)

Macht ist…

• eine wechselseitige Beziehung, kein Attribut der Akteure.

• nie nur einseitig, sondern Merkmal eines sozialen Austauschverhältnisses.

• kennzeichnend für Beziehungen, die asymmetrisch strukturiert sind.

• ubiquitär.

• ein fragiles Gut. ‚Machthaber‘ versuchen i.d.R. ihre Macht auf Dauer zu stellen, zu institutionalisieren und zu legitimieren, d.h. aus Macht Herrschaft werden zu lassen.

Heinrich Popitz (1925 – 2002)• Studium der Philosophie, Geschichte,

Ökonomie• 1949 Promotion mit einer Arbeit über

den jungen Karl Marx• 1957 (gemeinsam mit H.P.Bahrdt) Das

Gesellschaftsbild des Arbeiters• 1959 Professur in Basel• ab 1964 Ordinarius in Freiburg;• 60er Jahre Studien zur Norm,- Rollen-

und Machttheorie, u.a. „Phänomene der Macht“

Zentrale Themen seines Werks: • Soziologische Anthropologie; • Analyse normativer Grundstrukturen

der Gesellschaft; • Machtsoziologie als eine Theorie der

anthropologischen Grundformen von Macht

Grundtypen der Macht

1.) Aktionsmacht=> typisches Machtverhältnis: pure Gewalt

2.) Instrumentelle Macht (die Macht des Entweder-Oder) => soziale Erpressung oder Konformität erzeugende Angst und Hoffnung

3.) Autoritative Macht (einwilligende Folgebereitschaft) => fraglose Autorität

4.) Datensetzende Macht (objektvermittelte Macht technischen Handelns) => technische Dominanz

Prozesse der Machtbildung

„Die, die die menschlichen Angelegenheiten mit philosophischem Blick betrachten, erstaunt nichts mehr, als die Leichtigkeit, mit der viele von wenigen beherrscht werden können“. (D. Hume)

Erkenntnisziel: Wie kommt es dazu, dass eine Minderheit sich gegen die Interessen und Intentionen der Mehrheit durchsetzen kann?

Um dies zu erklären entwirft Popitz (1968) entwirft drei Szenarien, wie es zur Entstehung, Stabilisierung und Legitimierung von Macht innerhalb von Gruppen kommt.

Prozesse der Machtbildung

Die drei Szenarien von Popitz betreffen:1. Schifffahrt2. Gefangenenlager3. Erziehungsanstalt

Gemeinsamkeit:• kasernierte Vergesellschaftungen• gleiche Ausgangsbedingungen für alle

Machtquellen auf dem Passagierschiff: Solidarität und Organisierung

1. Spontane Solidarität der In-Besitznehmenden 2. Bei Stabilisierung der Lage: überlegene

Organisationsfähigkeit der Besitzenden:– Sie benötigen keine Argumente (Tradition/Gewöhnung)– Differente Solidarisierungsanreize: „Augenblicksvorteile“

versus mittelfristige Änderung d. Ordnung– Legitimierung durch wechselseitige Kooperation;– Möglichkeit der „Bestechung“

Problem der Umsetzung von „dem was jeder will in das, was alle wollen“

Legitimitätsgeltung beginnt horizontal, bevor sie vertikal wird.

Prozesse der Machtbildung

• Ausgangspunkt ist die Definition von Privilegien bzw. die Aneigung „knapper Güter“

• Solidarität ist ein wichtiger Schritt zur Verfestigung von Macht: Die Privilegierten solidarisieren sich

• Macht bekommt durch Institutionen und Organisationen Struktur: soziale Schließungsprozesse finden statt.

• Zustimmung der Wenig-Mächtigen zur Machtordnung, da deren Reproduktion eine beschränkte Umverteilung impliziert.

Pierre Bourdieu (1930 – 2002)1930 geb. in Denguin (Pyrenées Atlantiques);Ab 1950 Philosophiestudium an der Ecole Normale

Superieure in Paris1955-1957 GymnasiallehrerAb 1955 Militärdienst im Algerienkrieg1958 – 1960 Assistent in Algier/Forschungstätigkeit1960-64 Assistent Raymond Arons an der Sorbonne +

Lehrtätigkeit in Lille 1964-1982 Ecole des Hautes Etudes en Sciences

Sociales (ab 1984 Direktor)1982 Collège de France2002 gestorben

Wichtige Werke u.a.: (gem. mit Passeron) Die Illusion der Chancengleichheit (60er Jahre); Entwurf einer Theorie der Praxis auf der Grundlage der kabylischen Gesellschaft (1972) Die zwei Gesichter der Arbeit (1977); Die feinen Unterschiede (1979), Sozialer Sinn (1980); Die männliche Herrschaft (1998)

Seit Beginn der 80er Jahre intensive wissenschaftliche Bourdieu-Rezeption in der BRD. In der 2. Hälfte der 90er Jahre wird er weniger als Soziologe, sondern verstärkt als kritischer Intellektueller rezipiert.

Machtmittel: Ökonomisches, soziales , kulturelles Kapital

Ökonomisches Kapital: alle direkt in Geldform umsetzbaren Güter; Institutionalisierung in Form des Eigentumsrechts; universelles Tauschmittel => höchster „Konvertierungsgrad“

Kulturelles Kapital: erlernbare Fertigkeiten und Kompetenzen; es existiert in verinnerlichtem/inkorporiertem Zustand, in objektiviertem Zustand und in institutionalisiertem Zustand

Soziales Kapital: Quantität und Qualität sozialer Beziehungen; Institutionalisierung z.B. in Form von Adelstiteln

Formen der Machtausübung

• Einfluss, Überzeugung, Motivation• Autorität (als Amts-und Befehlsgewalt oder als

Macht der Persönlichkeit)• Kontrolle und Sanktion; Zwang; Gewalt• Staatliches Gewaltmonopol als Spezialfall von

Zwang„Gewaltsamkeit ist natürlich nicht etwa das

normale oder einzige Mittel des Staates – davon ist keine Rede – wohl aber: das ihm spezifische“ (Weber 1921/1980)

2. Herrschaft – ein Spezialfall von Macht

Definitionen

Herrschaft ist – nach der Definition von Max Weber - legitime Machtausübung, also ein Sonderfall von Macht.

„Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden.“

(Weber 1921/1980)

„Jedes Herrschaftsverhältnis ist ein Machtverhältnis. Aber nicht jedes Machtverhältnis verfestigt sich so, dass man von Herrschaft reden kann.“

(H.P. Bahrdt 1984)

Herrschaftstypen

Max Weber unterscheidet drei Legitimationsweisen von Herrschaft:

1. Charismatische Herrschaft2. Traditionale Herrschaft3. Rationale Herrschaft

Vgl. auch Max Webers Typologie des sozialen Handelns:• affektuell-emotionales Handeln • traditionales Handeln• wertrationales Handeln• zweckrationales Handeln

Charismatische HerrschaftCharisma = griech. Gabe, göttl. Gnadengeschenk, Geistesgabe

Charisma meint eine besondere personelle Autorität, eine außergewöhnliche Ausstrahlung oder Aura, die jmd. besitzt, den Glauben an die außergewöhnliche Begabtheit einer Person.

Charisma lässt sich auch organisieren, z.B. durch einen Kreis von BestätigerInnen oder Jüngern.

Charisma wird erzeugt bzw. verstärkt durch Erfolg, d.h. es ‚verstärkt sich selbst‘.

Charismatische Herrschaft ist instabil, wenn sie nicht durch Organisation abgesichert wird.

Traditionale Herrschaft

…gründet auf dem Glauben an den Wert historisch etablierter und tradierter Institutionen und Einflusschancen.

Beispiele:

- Kirche

- Standesunterschiede (Feudalismus)

- Patriarchat

Rationale HerrschaftRationalität = klares Denken, das auf realen Sachverhalten beruht und weder durch

mystische Vorstellungen, noch durch eingelebtes Gedankengut oder egoistische Eigeninteressen verzerrt wird.

Wertrationalität: Rationales Abwägen von Zielen und Mitteln im Dienst einer Überzeugung von einem Wert

Zweckrationalität: Vergleichendes Abwägen von Zielen und Mitteln mit variablen Zwecken (typisch: Bürokratie)

Rationale Herrschaft beruht auf dem Glauben, dass die Herrschenden eine vernunftbegründete Orientierung einhalten. Diese Orientierung wird in modernen Demokratien in der Form schriftlich niedergelegter Regeln festgehalten

Rationale Herrschaft = (i.d.R.) legale Herrschaft

Achtung: Legal ist nicht identisch mit legitim! Legalität ist eine Form der Legitimation neben anderen. Es kann sowohl illegitime Legalität als auch legitime Illegalität geben.

Macht und Herrschaftskritik der marxistischen und kritischen Theorie:

Herrschaft ist die Machtausübung einer Klasse über eine andere Klasse.

Macht und Herrschaft basieren im Wesentlichen auf ökonomischen Grundlagen, v.a. auf der Verfügungsgewalt über Produktionsmittel.

Frühere Herrschaftsformen basierten auf direktem Zwang; im Kapitalismus erfolgt Herrschaft in verschleierter Form über das Kapitalverhältnis.

Der Staat ist das Instrument der herrschenden Klasse. Wirtschaftliche Ausbeutung wird mittels politischer Herrschaft abgesichert.

Die entwickelte Bürokratie und Naturbeherrschung sowie die Herrschaft der instrumentellen Vernunft lässt neue Gefahren entmenschlichter Herrschaftsformen mit bisher nie da gewesener Potenz entstehen.

Ziel: - Abschaffung der Herrschaft von Menschen über Menschen

- Abschaffung der Privilegien von Minderheiten

3. Wer „hat Macht“ in unserer Gesellschaft?

Eliten in der BRD

Die Struktur der Eliten„Zur Elite gehören alle Mitglieder eines sozialen Systems, die aus

einem Selektionsprozess als den übrigen Mitgliedern überlegen hervorgehen.“

Nach Dahrendorf (1965) lassen sich innerhalb der Machtelite verschiedene Funktionseliten unterscheiden nach den Sektoren:

- Politik- Verwaltung- Justiz- Militär- Wirtschaft- Kommunikation- Kultur- Kirche

Sozialprofil der Elite: Gesetz der zunehmenden sozialen Selektivität

• Empirische Analysen zeigen, dass die Machteliten weder eine in sich geschlossene Kaste sind, noch ein repräsentatives Spiegelbild der Gesamtbevölkerung.

• Das Vordringen nach oben wird umso schwieriger, je tiefer die Herkunftsgruppe in der Schichtungshierarchie angesiedelt ist.

• „Je näher eine politische Führungsposition dem Entscheidungszentrum steht, umso besser kommen die oberen Schichten zum Zuge und umso stärker werden die unteren Schichten an den Rand gedrängt.“ (Geissler 2006, S.125)

• Für Frauen ist der Aufstieg in die Machteliten ähnlich schwierig wie für Angehörige der unteren Schichten.

Empirische Daten zur Zusammensetzung der Führungsschichten

Zusammensetzung der Eliten im Jahr 1995:• Ca. 33% stammen aus dem Kreis der gesellschaftlichen Führungsgruppen (=

Unternehmer,höhere Beamte, Angestellte in Spitzenpositionen) (Gesamtbev. 6%)• 49% stammen aus dem Kreis der mittleren Schichten (Gesamtbev. 40%)• 10% stammen aus der Arbeiterschicht (Gesamtbev. 41%) (Die fehlenden Prozentanteile entfallen auf Mitglieder d. ‚Arbeiterelite‘ + ausführender Dienstleistungsschichten

Anteile von Managern, die aus gesellschaftlichen Führungsgruppen stammen: 40%Führungskräfte der größten deutschen Unternehmen: fast 50% Vorstandsvorsitzende der 100größten dt. Unternehmen: 87%

.

Frauenanteile (2001) im Management:Mittleres Management 8%Geschäftsführer 3%Vorstandsmitglieder der626 umsatzstärksten AGs und GmbHs 0,5% Quelle: Geissler 2004: 124ff,

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Übungsaufgaben• Finden Sie Beispiele für Macht und Herrschaft in Ihrem Alltag!

Grenzen Sie dabei beide Begriffe auch deutlich voneinander ab!

• Kennen Sie ein Beispiel, an dem sich die Entstehung von Macht im Sinne von Popitz erläutern lässt?

• Welche Herrschaftsform(en) findet/en sich gewöhnlich in modernen Industriebetrieben?

• Welche Herrschaftsform(en) findet/en sich im Rahmen der Universität?

• Welche aktuellen Trends der Herrschafts- und Machtausübung charakterisieren Ihrer Ansicht nach moderne Gesellschaften? Welche Grundtypen von Macht und Herrschaft dominieren, nehmen eher zu/ab? Würden Sie der pessimistischen Diagnose der kritischen Theorie eher zustimmen oder ihr widersprechen? Diskutieren Sie!

Literatur zur Vorlesung• Bahrdt, H.P. (1984): Schlüsselbegriffe der Soziologie, München• Bourdieu, P. (1983): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales

Kapital, in: Kreckel, R. (Hg.); Soziale Ungleichheiten, Soziale Welt, Sonderband 2, Gättingen, S.183-198

• Dahrendorf, R. 1965: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München

• Geißler, Rainer (2006): Die Sozialstruktur Deutschlands, 4.Auflage, VS: Wiesbaden

• Imbusch, P. (2008): Macht und Herrschaft, in: Korte, H./Schäfer, B. (Hg.); Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie, 7.Auflage, Wiesbaden, S.163-184

• Pohlmann, F. (2006): Heinrich Popitz – sein Denken und Werk, in: Popitz, H.; Soziale Normen, Frankfurt a.M., S.7-57

• Popitz, H. (1968): Phänomene der Macht, Tübingen• Schäfers, B. (Hg.) (2003): Grundbegriffe der Soziologie, Opladen• Weber, M. (1921/1980): Wirtschaft und Gesellschaft, 5.Auflage, Tübingen