Vormärz und Aufklärung · Literaturgeschichtsschreibung des Vormärz 139 BODO MORAWE:...

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Wolfgang Bunzel / Norbert Otto Eke / Florian Vaßen (Hgg.) Der nahe Spiegel Vormärz und Aufklärung AISTHESIS VERLAG ––––––––––––––––––––––––––––––– Bielefeld 2018 Leseprobe

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Wolfgang Bunzel / Norbert Otto Eke / Florian Vaßen (Hgg.)

Der nahe SpiegelVormärz und Aufklärung

AISTHESIS VERLAG–––––––––––––––––––––––––––––––

Bielefeld 2018

Leseprobe

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© Aisthesis Verlag Bielefeld 2018 Postfach 10 04 27, D-33504 Bielefeld Druck: docupoint GmbH, Magdeburg Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-8498-1323-9www.aisthesis.de

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2. Auflage

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Inhalt

Einführung

WOLFGANG BUNZEL/NORBERT OTTO EKE/FLORIAN VAßEN: Geschichtsprojektionen. Rekurse auf das 18. Jahrhundert und die Konstruktion von ‘Aufklärung’ im deutschen Vormärz 9

Philosophische Geschichtskonstruktionen

WOLFGANG ALBRECHT: Nachklänge und Neuansätze. Thesen zur vormärzlichen Phase der Aufklärungsdebatte 31

OLAF BRIESE: Vom Gottesgericht zum Weltgericht. Apokalyptische Motive in Aufklärung und Vormärz 51

WOLFGANG BUNZEL: Zurück in die Zukunft. Die Junghegelianer in ihrem Verhältnis zur Aufklärung 79

CHRISTIAN WEBER: Universalhistorie als Leitbild im Vormärz. Die Rezeption der Aufklärung in der Wissenschaftsgeschichte bei Karl von Rotteck 99

DIRK OSCHMANN: Mündlichkeit und Mündigkeit. Carl Gustav Jochmanns Reformulierung aufklärerischer Sprachtheorie 117

Gottesbilder – Menschenbilder

RAINER ROSENBERG: Reformation – Aufklärung – Revolution. Zum Aufklärungsdiskurs in der konfessionellen Literaturgeschichtsschreibung des Vormärz 139

BODO MORAWE: Unglaubensgenosse Heine. Religionskritik, Immanenzdenken, radikale Aufklärung 153

GERHARD HÖHN: „Écrasez l’infâme!“ Heinrich Heine und Voltaire 177

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KLAUS F. GILLE: Weltriss und Theodizee. Zu Büchners Lenz 195

LARS LAMBRECHT: Zur Rezeption der Französischen Revolution bei den Junghegelianern 205

WOLFGANG BEUTIN: Die ‘Aufhebung’ religionskritischer Positionen der Aufklärung in Ludwig Feuerbachs Kritik am Christentum 219

Ästhetische Modellierungen

ALEXANDRA BÖHM: „Abbildungen des wirklichen Lebens“ oder „Hirngeburten“? Kontinuität und Wandel der Karikatur in Aufklärung und Vormärz 241

FLORIAN VAßEN: Die literarische Skizze. Anschaulichkeit und Offenheit als Weltsicht in Aufklärung und Vormärz 265

GÜNTER HÄNTZSCHEL: Aufklärerische Impulse und ihre Kritik im Medium der Lyrikanthologien des Vormärz (1840-1848) 281

NORBERT OTTO EKE: „Man muß die Deutschen mit der Novelle fangen“. Theodor Mundt, die Poesie des Lebens und die „Emancipation der Prosa“ im Vormärz 295

SANDRA KERSCHBAUMER: Heinrich Heines Konstruktion von Aufklärung 313

OLIVER RUF: Georg Büchner: Poeta delens. Zur Modellierung und immanenten Demolierung aufklärerischer ‘Elemente’ im literarischen Vormärz 325

JOHANNES ENDRES: Von der Menschheitsfamilie zum Genom. Immermanns Epigonen zwischen Lessing und Mendel 347

CHRISTIAN VON ZIMMERMANN: Jeremias Gotthelf und die Volksaufklärung. Bemerkungen zur Schweizer Literatur zur Zeit des Vormärz 367

Danksagung 385

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bandes 386

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Einführung

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Wolfgang Bunzel/Norbert Otto Eke/Florian Vaßen Geschichtsprojektionen. Rekurse auf das 18. Jahrhundert und die Konstruktion von ‘Aufklärung’ im deutschen Vormärz Diskurs-, feld- und systemtheoretische Modelle haben auch in der Vor-märz-Forschung die mittlerweile lang anhaltende Diskussion über die Einheit dieser ‘Epoche’1 neu belebt.2 ‘Archäologien literarischer Kom-munikation’, die der Komplexität der literarhistorischen Konstellationen jenseits einseitiger Frontstellungen nach dem Muster ‘Romantik’ vs. ‘Vormärz’ oder ‘Vormärz’ vs. ‘Nachmärz’ gerecht zu werden suchen, er-setzen zunehmend die alten Konstrukte einer (Literatur-)Geschichte in Ab-Brüchen und Neu-Anfängen, die der Vormärz-Forschung seit ihrer Etablierung als heuristisches Standardmodell gedient haben. Die vom Forum Vormärz Forschung veranstalteten internationalen Symposien zu den Themenfeldern „Vormärz und Klassik“ (1996), „Vormärz/Nach-märz. Bruch oder Kontinuität?“ (1998) und „Romantik und Vormärz. Differenzen und Kontinuitäten“ (2001) haben auf Gleichzeitigkeiten, In-terferenzen und Konkurrenzen zwischen der Diskursformation ‘Vor-märz’ auf der einen Seite und den vorangehenden, gleichzeitigen und nachfolgenden Diskursformationen ‘Klassik’, ‘Romantik’ und ‘Nach-märz’ auf der anderen Seite aufmerksam gemacht.3

Bislang wenig Beachtung gefunden hat im Rahmen dieser Epochen-Diskussionen indes der signifikante Rückgriff von Autoren der zwanzi-ger, dreißiger und vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts auf ästhetische Problemlösungsstrategien und diskursive Argumentationsfiguren des 1 Siehe etwa Peter Stein: Epochenproblem „Vormärz“. (1815-1848). Stuttgart: Metzler,

1974 (Sammlung Metzler 132), und Helmut Bock: Deutscher Vormärz. Immer noch Fragen nach Definition und Zäsuren einer Epoche? In: Vormärz und Klassik. Interna-tionales Symposium 9.-11. Mai 1996 in Weimar. Hg. Lothar Ehrlich/Hartmut Stein-ecke/Michael Vogt. Bielefeld: Aisthesis, 1999 (Vormärz-Studien 1), S. 9-32.

2 Vgl. hierzu u.a. Norbert Otto Eke: Einführung in die Literatur des Vormärz. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2005 (Einführungen Germanistik).

3 Siehe in diesem Zusammenhang die entsprechenden Tagungsbände: Vormärz und Klassik (Anm. 1); Vormärz – Nachmärz. Bruch oder Kontinuität? Hg. Norbert Otto Eke/ Renate Werner unter Mitarbeit von Tanja Coppola. Bielefeld: Aisthesis, 2000 (Vor-märz-Studien 5); Romantik und Vormärz. Zur Archäologie literarischer Kommunikation in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Hg. Wolfgang Bunzel/Peter Stein/Florian Vaßen. Bie-lefeld: Aisthesis, 2003 (Vormärz-Studien 10).

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18. Jahrhunderts. Zwar gibt es mittlerweile eine Fülle von – z.T. sehr er-giebigen – Detailstudien zu einzelnen Autoren,4 doch haben es deren Verfasser bislang meist vermieden bzw. nicht für nötig erachtet, den Fo-kus über eine Einzelperson hinaus auf Rezeptionsmuster und Wirkungs-formen, intertextuelle Bezüge und überindividuelle Diskursverflechtun-gen auszuweiten. In gewisser Weise hat die Spezialforschung hier sogar zu einer Verschattung des entscheidenden Problemzusammenhangs ge-führt. Anders gesagt: Der text- und personenzentrierte Ansatz ließ den Rückgriff auf das 18. Jahrhundert als autorspezifisches und nicht als zeit-typisches Phänomen erscheinen.

Diesem irreführenden Eindruck will der vorliegende Band entgegen-wirken, der die Beiträge des internationalen Symposiums „Leitbild mit Widersprüchen – Vormärz und Aufklärung“ dokumentiert, das vom 10. bis 12. Mai 2007 in der Bundesakademie Wolfenbüttel stattgefunden hat. Er richtet den Blick auf die verschiedenen Facetten der Aufklärungsre-zeption in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und sucht diese zumin-dest ansatzweise zu systematisieren. Auch ein solcher Zugang kann na-türlich auf die Untersuchung auktorialer Konzepte und textueller Spezi-fika nicht verzichten. Allerdings erfährt die an Personen bzw. Texten an-setzende Detailanalyse eine bedeutsame Umakzentuierung: Erstens wird sie bewusst ausgeweitet auf Gruppenkonstellationen; zweitens ist sie ver-gleichend angelegt, um personenübergreifende Gemeinsamkeiten und Intertextualitätsmerkmale erkennen zu können; und drittens werden die konstatierten Musterbildungen in einem größeren Zusammenhang gese-hen, der die Konturen der Diskursformation ‘Vormärz’ schärfer hervor-treten lässt.

Voraussetzung und Anlass für den ab den zwanziger Jahren zu be-obachtenden sukzessiven Rückgriff auf die Aufklärung in vielen Feldern des kulturellen Lebens ist die weitgehende Wiederherstellung der poli-tisch-territorialen Verhältnisse aus der Zeit vor der Französischen Revo-lution, wie sie auf dem Wiener Kongress (1814/15) von den fünf füh-renden europäischen Mächten beschlossen und anschließend in den Län-dern des Deutschen Bundes durch flankierende Maßnahmen – etwa durch die Karlsbader Beschlüsse (1819) – legislativ abgestützt wurde. Die

4 Zu nennen wären hier vor allem Publikationen zu Heine, darunter: Aufklärung und

Skepsis. Internationaler Heine-Kongreß 1997 zum 200. Geburtstag. Hg. Joseph A. Kruse/ Bernd Witte/Karin Füllner. Stuttgart, Weimar: Metzler, 1999, sowie „Aber der Tod ist nicht poetischer als das Leben“. Heinrich Heines 18. Jahrhundert. Hg. Sikander Singh. Biele-feld: Aisthesis, 2006. Aber auch zu Büchner liegen Arbeiten vor; vgl. etwa Cornelie Ueding: Denken, Sprechen, Handeln. Aufklärung und Aufklärungskritik im Werk Georg Büchners. Bern, Frankfurt a.M.: Lang, 1976 (Tübinger Studien zur deutschen Literatur 2).

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Liquidierung des napoleonischen Staatensystems und die damit einher-gehende Wiedereinsetzung der alten Herrscherdynastien restituierte die alte politische Ordnung in wesentlichen Grundzügen und brachte Euro-pa staatspolitisch in die Phase des ancien régime zurück. Auf diesen ob-rigkeitlichen Versuch, den Geschichtsverlauf durch gouvernementale Maßnahmen rückgängig zu machen, reagierten nicht wenige Intellektuel-le, indem sie die solchermaßen politisch generierten Parallelen zwischen ihrer eigenen Gegenwart und den historischen Zuständen des 18. Jahr-hundert dazu nutzten, um in der Vergangenheit nach Handlungskonzep-ten für die Zukunft zu suchen. Im Zuge dieser Rückwendung wurden überholt geglaubte Ausdrucksschemata wiederbelebt, mussten doch We-ge gefunden werden, den eingetretenen Zustand, der zumindest für die Älteren den Effekt eines déjà vu hatte, sprachlich zu bewältigen. Hierfür bot es sich an, Denk- und Argumentationsmuster zu revitalisieren, die sich bereits früher bewährt hatten. Die eigentliche Widersprüchlichkeit dieser Situation ergab sich freilich daraus, dass ein starrer politisch restaurativer Rahmen gegeben war für eine Realität, die sowohl sozio-ökonomisch als auch epistemologisch nicht mehr der des 18. Jahrhun-derts entsprach. Durch diese Inkongruenz entstand ein eigentümliches Spannungsverhältnis zwischen den einzelnen Segmenten der Gesell-schaft, das von den Zeitgenossen als Form von Ungleichzeitigkeit wahr-genommen wurde. Die temporale Verwerfung kam vor allem dadurch zustande, dass nun hochgradig unterschiedliche gesellschaftliche Ent-wicklungszustände unverbunden nebeneinander existierten. Ausdruck fand die dergestalt bewirkte epochale Verrückung subjektiv erlebter Zeithorizonte etwa in der (Selbst-)Beschreibungsformel des ‘Epigonen’, aber auch in der Perspektive des utopischen Sozialismus.

Der Rückbezug auf Denkkonzepte und Redefiguren des 18. Jahrhun-derts, der im Vormärz auf breiter Ebene zu konstatieren ist und mit Recht als ‘Renaissance der Aufklärung’ bezeichnet werden kann, erlaubt es indes nicht, umstandslos von einer „Fortwirkung des Geistes der Auf-klärung“5 zu sprechen, wie das in Anknüpfung an geistesgeschichtliche Denkmodelle verschiedentlich geschehen ist. Vielmehr muss zumindest beim bewussten Rückgriff auf aufklärerische Konzepte von einer funk-tionalen Indienstnahme ausgegangen werden, von einer gezielten „Re-zeption derjenigen Gedanken der Aufklärung, die im Kampfe des Tages brauchbare Waffen zu sein schienen“6.

5 Hans Rosenberg: Arnold Ruge und die Hallischen Jahrbücher. In: Ders.: Politische Denk-

strömungen im deutschen Vormärz. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1972 (Kriti-sche Studien zur Geschichtswissenschaft 3), S. 97-114, 135-138, hier: S. 98.

6 Ebd.

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Schärft man den Blick für derartige Phänomene einer selektiven Wahrnehmung und Verwendung, dann wird die „Anknüpfung an die Aufklärung“7, die ein Autor wie Arnold Ruge bei sich selbst und den meisten seiner Kollegen konstatiert, als bewusster Akt der (Um-)Deu-tung zum Zweck der Legitimierung und historischen Stützung eigener Programmatik erkennbar. Angestrebt wird dabei gerade nicht eine histo-risierende Betrachtungsweise, vielmehr geht es um eine dezidiert aktuali-sierende Sicht auf eine geschichtliche Konstellation, die nicht als abge-schlossen betrachtet, sondern vielmehr emphatisch zur weiterwirkenden Vorgängerepoche erklärt wird. Ruge zeigt sich denn auch mit Blick auf die historisch gewordene „Aufklärung des 18. Jahrhunderts“, dem weiteren Geschichtsverlauf vertrauend und seiner eigenen Mission gewiss, davon überzeugt: „jetzt kommt die des 19ten“.8 Diese „zweite Aufklärung“9 soll allerdings nicht nur eine ‘unverwässerte’ Fortsetzung sein, sondern die ers-te weiterentwickeln, überbieten und radikalisieren. Dementsprechend heißt es in einem Brief Ruges an Adolf Stahr vom 7. November 1841: „Unsre Zeit ist die fundamentalste Aufklärungsperiode, die es gegeben hat“10. Die mit dem Gebrauch des Superlativs einhergehende Pluralisierung von ‘Auf-klärung’ verweist noch einmal in aller Deutlichkeit darauf, wie projektiv dieser Epochenbegriff verwendet wird. Auf der Grundlage der Konstruk-tion eines spezifischen Modells, wie Geschichte verläuft, formt sich die Vormärzliteratur ein eigenes Bild von Aufklärung.

Ruges Äußerung ist mithin ein Beleg dafür, dass der konkrete Bezug auf die Aufklärung als historisch einigermaßen präzise verortbare Dis-kursformation des 18. Jahrhunderts nicht selten aufgegeben wird und stattdessen ein verallgemeinertes Verständnis sich herausbildet, das einer dualistischen Sicht auf die Geschichte entspringt und ‘Aufklärung’ als pe-riodisch wiederkehrende Phase im historischen Ablauf begreift. Robert Eduard Prutz beispielsweise fordert deshalb, die Aufklärung in einem weiteren und allgemeineren Sinn zu fassen, nämlich als einen lebendigen, inneren „Trieb des Subjekts“ gegen „die starre, konventionell und äußer-lich gewordene Allgemeinheit“,11 der als kontinuierliche Bewegung be-

7 Arnold Ruge an Robert Eduard Prutz, 8.1.1842; Arnold Ruge: Briefwechsel und Tage-

buchblätter aus den Jahren 1825-1880. Hg. Paul Nerrlich. Leipzig: Weidmann, 1886, Bd. 1, S. 258.

8 Ebd., Bd. 1, S. 259. 9 Peter Bürger hat seinen „Versuch über Heine“ nicht zufällig so überschrieben; vgl.

Peter Bürger: Zweite Aufklärung. Ein Versuch über Heine. In: Aufklärung und Skepsis (Anm. 4), S. 19-32.

10 Ruge: Briefwechsel und Tagebuchblätter (Anm. 7), Bd. 1, S. 246. 11 R.[obert] E.[duard] Prutz: Der Göttinger Dichterbund. Zur Geschichte der deut-

schen Literatur (1841). In: Ders.: Schriften zur Literatur und Politik. Ausgewählt und mit

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reits im Zeitalter der Reformation eingesetzt habe. Aufklärung in einem „weiteren und allgemeineren Sinne“12 ist für den Junghegelianer Prutz geradezu Entwicklungsprinzip der Weltgeschichte: Die Idee der Freiheit und Menschlichkeit müsse, soll sie nicht in Dogmatismus erstarren, im-mer wieder aufs Neue über sich selbst ‘aufgeklärt’ werden. Unübersehbar leitet die Hoffnung, die gesellschaftliche Ordnung nach den Grundsätzen des recht verstandenen Nutzens für alle Menschen ändern zu können, Prutz’ Betrachtungsweise. Nebeneffekt der Befreiung des Aufklärungs-begriffs aus seiner moralischen Einengung ist freilich seine Enthistorisie-rung. Nur ein geschichtlich unpräzises Verständnis von ‘Aufklärung’ er-möglicht diesem Terminus im Vormärz den Aufstieg zum projektiven Schlagwort.

Seine besondere Strahlkraft verdankt der Begriff drei Faktoren, die das 18. Jahrhundert zum Synonym von ‘Aufklärung’ werden ließen: der Durchsetzung eines neuen, säkularisierten Menschenbildes, der Erschlie-ßung neuer Wissensformen und des Nachweises, dass ‘Gedanken’ zu ‘Taten’ werden können, das Wort also die Kraft hat, Menschen politisch zu mobilisieren, wie das Jahrhundertereignis der Französischen Revolu-tion eindrucksvoll vorgeführt hat.

Der Gestus einer rational-kritischen Prüfung von Tradition auf allen Ebenen stellt herkömmliche Orientierungsmuster politischen und sozia-len Handelns in Frage und befreit das Subjekt endgültig aus den Fesseln theologisch-absolutistischer Gängelungen. Im Vertrauen auf die befrei-ende Kraft des Verstandes erhebt die Aufklärung nicht nur Einspruch gegen das christliche, auf ein imaginäres Jenseits gerichtete Verständnis von Geschichte, sondern auch gegen das religiös durchwirkte Legitima-tionsgeflecht von Macht und Herrschaft. Mit dem Glauben an die Bil-dungsfähigkeit des Menschen, die über die pädagogisch-didaktische Seite hinaus eine eminent geschichtsphilosophische Bedeutung hat, verwelt-licht die Aufklärung die traditionelle Heilsgeschichte des Christentums und seiner Moral zu einer Heilsgeschichte in dieser und für diese Welt und versieht so das kulturelle Ordnungssystem gleichsam mit einem Zeitkoeffizienten. Vor allem wegen dieser Säkularisierungsleistung, aber auch wegen der machtvollen gesellschaftlichen Umsetzung ihrer Forde-rungen in der Französischen Revolution erscheint die ‘Aufklärung’ im Vormärz als Leitbild mit historischem Modellcharakter, das es neu zu entdecken und dem es nachzueifern gilt, um die politische Restauration und den kulturellen Quietismus der eigenen Gegenwart zu überwinden.

einer Einführung hg. Bernd Hüppauf. Tübingen: Niemeyer, 1973 (Deutsche Texte 27), S. 1-9, hier: S. 7.

12 Ebd., S. 1.

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Der Rückgriff auf die ‘Aufklärung’ in den zwanziger, dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts geht einher mit einer scharfen Ab-grenzung von sämtlichen ästhetischen und philosophischen Folgebewe-gungen, die sich ja – explizit oder implizit – in verschiedener Weise durch ihre Absage an aufklärerische Konzepte bzw. durch deren postu-lierte Überwindung definieren. Vor allem die ‘Romantik’ als zu jener Zeit noch existente und damit rivalisierende Diskursformation13 ist es, die ve-hemente Ablehnung hervorruft. Nicht zufällig wird bei Heine die Auf-wertung des 18. Jahrhunderts flankiert von einer entschiedenen Histori-sierung der Romantik, wie er sie in seiner Schrift Zur Geschichte der neueren schönen Literatur in Deutschland (1833) vornahm, die 1836 unter dem Titel Die romantische Schule in erweiterter Form erneut veröffentlicht wurde. Ganz ähnlich verfahren etwas später Arnold Ruge und Theodor Ech-termeyer in ihrem „Manifest“ Der Protestantismus und die Romantik (1839/ 40), in dem sie kurzerhand die gesamte Geistesgeschichte seit der Auf-klärung als ein Kontinuum betrachten, dem sie den Namen ‘Romantik’ geben. Beide Autoren postulieren solchermaßen die Existenz einer ro-mantischen Makroperiode, die etwa von 1770 an datiere und bis in das Jahr 1840, dem Erscheinungsdatum des zweiten Teils des „Manifests“, reiche. Untergliedert wird diese in mehrere, etwa gleich lange Abschnitte: eine Vorläuferphase („Progonen der Romantik“) von etwa 1770 bis 1790, eine Kernphase der „eigentlichen“ Romantik von 1790 bis 1810, eine Phase der Epigonen von 1810 bis 1830 und schließlich eine Phase des Neueinsetzens romantischer Bestrebungen „seit 1830“.14 Zweck dieses gewagten Konstrukts ist es, die ‘Romantik’ zum – gemessen am Gesamt-verlauf der Geschichte – bedeutungslosen Durchgangsstadium zu stem-peln. So erklärt Ruge in seinem Aufsatz Eine Wendung der deutschen Philoso-phie programmatisch:

Den Boden der Aufklärung hat seitdem weder die herrschende Poesie noch die geltende und eingreifende Philosophie verlassen: die Autonomie des menschli-chen Geistes war und blieb Princip oder Basis, so lange die Philosophie Philoso-phie blieb.15

Ruge und Echtermeyer behaupten also eine ungebrochene Kontinuität im historischen Prozess, allerdings eine, welche die neueste Zeit an das Ende des zweiten Drittels des 18. Jahrhunderts anschließt und so den 13 Siehe hierzu Wolfgang Bunzel/Peter Stein/Florian Vaßen: Romantik und Vormärz

als rivalisierende Diskursformationen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Romantik und Vormärz (Anm. 3), S. 9-46.

14 Arnold Ruge/Theodor Echtermeyer: Der Protestantismus und die Romantik. Zur Verständigung über die Zeit und ihre Gegensätze. Ein Manifest. In: Hallische Jahrbü-cher für deutsche Wissenschaft und Kunst 3 (1840), Sp. 511 und 512.

15 Deutsche Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst 5 (1842), Sp. 511f.

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dazwischen liegenden Zeitraum überspringt. Die Generalabrechnung mit der kurzerhand als ‘Romantik’ deklarierten Kulturepoche von 1770 bis 1840 bietet dabei einen willkommenen Anlass, um den engen Bezug zur Aufklärungsbewegung des 18. Jahrhunderts hervorzuheben.16

Während man von der unmittelbar vorangehenden bzw. noch andau-ernden Diskursformation bewusst abrückt, stellt man gezielt Bezüge zum 18. Jahrhundert her. Es handelt sich dabei um den Versuch, in politi-scher Hinsicht die nachrevolutionäre Entwicklung, die zur napoleoni-schen Besetzung Deutschlands, zu den Befreiungskriegen und zur Res-tauration der alten staatlichen Ordnung geführt hat, und in ästhetischer Hinsicht die Herausbildung eines eigenständigen, von den übrigen sozia-len Teilsystemen weitgehend abgetrennten Feldes ‘Literatur’ in Klassik und Romantik zu hintergehen.17 ‘Hintergehen’ meint in diesem Zusam-menhang einmal ‘Dahinter-Zurückgehen’, d.h. ein Ausgreifen auf einen historisch noch früheren Zustand, aber eben auch ‘Überlisten’, also be-wusst Außer-Funktion-Setzen.

Die Intensität, mit der das 18. Jahrhundert revitalisiert wird, erklärt sich freilich nicht allein aus gewissen Parallelen zwischen der politischen Situation in Vormärz und Aufklärung. Was den Brückenschlag letztlich so überaus attraktiv machte, nachdem die kulturgeschichtliche Periode der Aufklärung bis um 1820 als ästhetisch und philosophisch überholt gegolten hatte,18 war vielmehr eine Zäsur, welche sich zwischenzeitlich ereignet hatte und welche das 19. Jahrhundert fundamental von seiner Vorgängerepoche unterschied. Im Zuge der gesellschaftlichen Ausdiffe-renzierung war es im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts bekanntlich zur endgültigen Herausbildung eines distinkten Literatursystems gekom-men.19 Die Literatur hatte sich von jeder Form außerkünstlerischer In-

16 Gedö spricht in diesem Zusammenhang von der „Affirmation der Aufklärung [...] als

Kernpunkt in der linkshegelianischen Kritik an der Romantik“; András Gedö: Philo-sophie zwischen den Zeiten. Auseinandersetzungen um den Philosophiebegriff im Vormärz. In: Philosophie und Literatur im Vormärz. Der ‘Streit um die Romantik (1820-1854)’. Hg. Walter Jaeschke. Hamburg: Meiner, 1995, S. 1-39; hier: S. 28, Anm. 107.

17 Für die Literaturwissenschaft fruchtbar gemacht hat diesen – bewusst doppeldeuti-gen – Terminus Heinz Schlaffer in seinem Aufsatz: Goethes Versuch, die Neuzeit zu hintergehen. In: Bausteine zu einem neuen Goethe. Hg. Paolo Chiarini. Frankfurt a.M.: Athenäum, 1987, S. 9-21.

18 Ablesbar ist das beispielsweise an Hegels negativer Einschätzung der Aufklärung im Rahmen seiner Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, die in den Jahren 1833-36 postum veröffentlicht wurden. Siehe hierzu Lewis P. Hinchman: Hegel’s critique of the enlightenment. Tampa/Gainesville: University Press of Florida, 1984.

19 Siehe hierzu die beiden Grundlagendarstellungen von Niklas Luhmann: Die Ausdiffe-renzierung des Kunstsystems. Bern: Benteli, 1994 (Reihe „um 9“ – Am Nerv der Zeit) und Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1995.

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dienstnahme zu befreien begonnen und das Feld des Ästhetischen war zu einem Ausdrucksbereich sui generis geworden. Reflex und Transmis-sionsriemen dieser Entwicklung zugleich war das Programm der Auto-nomieästhetik, das im späten 18. Jahrhundert in vielerlei Ansätzen entfal-tet wurde.20 Mit dem Gewinn von funktionaler Autarkie21 ging für die Li-teratur indes auch ein Verlust von gesellschaftlicher Verbindlichkeit ein-her: Sinn war nur noch im fiktionalen Entwurf autonomer Textwelten zu haben, und das Gelingen von deren Konstruktion erforderte mindestens teilweise den Verzicht auf lebensweltliche Referenz. Der tolerierte Frei-raum des Ästhetischen, den sich die Literatur auf diese Weise zu schaf-fen vermochte, war freilich, nüchtern betrachtet, eine Art Reservat und nur autonom im Hinblick auf die konkrete Lebenspraxis, nicht im Hin-blick auf die Gesellschaft als Ganzes.

Schätzte zunächst die Mehrzahl der Autoren weitgehend vorbehaltlos die schier unbegrenzt scheinenden Möglichkeiten, welche dieses Kon-zept bot, so wurde ab dem zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts im-mer deutlicher, dass der Preis für die Autonomie des Ästhetischen die soziale Folgenlosigkeit war. Vollends die einsetzende Konkurrenz der aufstrebenden exakten Wissenschaften verwickelte die Literatur in aus-sichtslose Rückzugsgefechte gegen erfolgreichere Formen der Wissens-speicherung und Weltbewältigung, was schließlich dazu führte, dass eine Reihe von Schriftstellern der jüngeren Generation gegen diese unpro-duktive Form der Selbstmarginalisierung zu rebellieren begann. Zu ihnen gehörten zunächst Ludwig Börne und – mit Einschränkungen – Hein-rich Heine sowie, in ihrem Gefolge, die Autoren des Jungen Deutsch-land, radikaldemokratische und frühsozialistische Schriftsteller, die als Gegenkonzept zur Kunstautonomie eine operative Form von Literatur

20 Einen Überblick bietet der Band Revolution und Autonomie. Deutsche Autonomieästhetik im

Zeitalter der Französischen Revolution. Ein Symposium. Hg. Wolfgang Wittkowski. Tübin-gen: Niemeyer, 1990.

21 Dass der Autonomiestatus der Literatur freilich aufs Ganze gesehen nur prätendiert ist und die tatsächlichen Abhängigkeiten, denen sie unterworfen bleibt, kaschiert, dies haben zahlreiche Untersuchungen gezeigt; vgl. etwa den Band: Autonomie der Kunst. Zur Genese und Kritik einer bürgerlichen Kategorie. Mit Beiträgen von Michael Müller, Horst Bredekamp, Berthold Hinz, Franz-Joachim Verspohl, Jürgen Fredel, Ursula Apitzsch. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1974 (edition suhrkamp 592), und die beiden Aufsätze von Bernd J.[ürgen] Warneken: Autonomie und Indienstnahme. Zu ihrer Beziehung in der Literatur der bürgerlichen Gesellschaft. In: Rhetorik, Ästhetik, Ideolo-gie. Aspekte einer kritischen Literaturwissenschaft. Walter Jens zum 8. März 1973. Stuttgart: Metzler, 1973, S. 79-115, und Burkhardt Lindner: Autonomisierung der Literatur als Kunst, klassisches Werkmodell und auktoriale Schreibweise. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 10 (1975), S. 85-107.

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mit wirkungsästhetischem Anspruch propagierten.22 Diese Art von Lite-raturverständnis aber schien sich mit den ästhetischen Gegebenheiten vor der Konstituierung der Kunst als eigenständiges Feld im 18. Jahr-hundert zu treffen. Während Literatur seit dem Ende des 18. Jahrhun-derts als spezifischer Sonderdiskurs mit eigenen – nämlich ästhetischen – Funktionsregeln institutionalisiert ist, fungiert sie in der Aufklärung noch als unausdifferenzierter, verschiedene soziale Redeordnungen übergrei-fender Interdiskurs.23 Genau diese Form gesellschaftlicher Verbindlich-keit aber war es, die von den Autoren des Vormärz angestrebt wurde. So erklärt beispielsweise Arnold Ruge mit Blick auf die wirkungsästhetische Dimension des geschriebenen Worts und unter lobendem Verweis auf Vertreter der französischen Aufklärung: „[...] es wird nöthig, wie Voltaire und Rousseau zu schreiben [...]. Die Kerle schreiben Schwerter und Dol-che, sie sind mächtiger als Kanonen und Bajonette.“24

Weite Teile der Vormärz-Literatur verfolgten dementsprechend auch ein Kunstprogramm der Entdifferenzierung, dessen Ziel die Depotenzie-rung des „ästhetischen Imperativs“25 ist. Die Autonomiepoetik der ‘Kunstperiode’ (Heine) soll durch wirkungsästhetische Konzepte ersetzt werden. Beliebtes Schlagwort hierfür ist die Verknüpfung von Kunst und ‘Leben’.26 „Wir möchten Wissenschaft u. Leben versöhnen“27, heißt es 22 Siehe hierzu vor allem Peter Stein: Operative Literatur. In: Hansers Sozialgeschichte der

deutschen Literatur vom 16. bis zur Gegenwart. Bd. 5: Zwischen Revolution und Restaura-tion 1815-1848. Hg. Gert Sautermeister und Ulrich Schmid. München, Wien: Hanser, 1998, S. 485-494.

23 Vgl. die beiden einschlägigen Aufsätze von Jürgen Link: Interdiskurs, System der Kollektivsymbole, Literatur. Thesen zu einer generativen Diskurs- und Literaturtheo-rie. In: Perspektiven des Verstehens. Hg. Achim Eschbach. Bochum: Studienverlag Dr. Norbert Brockmeyer, 1986 (Bochumer Beiträge zur Semiotik 5), S. 128-146, und: Li-teraturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs literarischer Sym-bolik in der Kollektivsymbolik. In: Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Hg. Jürgen Fohrmann/Harro Müller. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1988 (suhrkamp taschenbuch 2091; suhrkamp taschenbücher materialien), S. 284-307.

24 Ruge: Briefwechsel und Tagebuchblätter (Anm. 7), Bd. 1, S. 259f. 25 Vgl. Bernd Bräutigam: Leben wie im Roman. Untersuchungen zum ästhetischen Imperativ im

Frühwerk Friedrich Schlegels (1794-1800). Paderborn u.a.: Schöningh, 1986, sowie Jürgen Fohrmann: Schiffbruch mit Strandrecht. Der ästhetische Imperativ in der ‘Kunstperiode’. Mün-chen: Fink, 1998.

26 Vgl. hierzu Michael Vogt: „... die Kunst hat kein Heil als das Leben!“ Zum literari-schen Paradigmenwechsel um 1830. In: Literaturkonzepte im Vormärz. Hg. Michael Vogt/Detlev Kopp. Bielefeld: Aisthesis, 2001 (Jahrbuch Forum Vormärz Forschung 6 – 2000), S. 49-81.

27 H.[einrich] H.[ubert] Houben: Jungdeutscher Sturm und Drang. Ergebnisse und Studien. Leipzig: F.A. Brockhaus, 1911, S. 108. Weitere Belege hierzu bei Helmut Koopmann: Das Junge Deutschland. Analyse seines Selbstverständnisses. Stuttgart: Metzler, 1970 (Ger-manistische Abhandlungen 33), S. 55-58.

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programmatisch in dem Schreiben, mit dem Karl Gutzkow am 14. Sep-tember 1835 Ludwig Börne zur Mitarbeit an der geplanten Zeitschrift Deutsche Revue aufforderte.

Die Anbindung der ästhetischen Sphäre an andere Diskurse bedeute-te zwar eine „Restriktion literarischer Kommunikationsmöglichkeiten“28, eine solche Beschränkung konnte freilich vor dem Hintergrund unlimi-tierter, aber folgenloser und aus den übrigen sozialen Zusammenhängen herausgelöster Kommunikation durchaus verheißungsvoll wirken. Ver-treter des Vormärz bekämpften auf diese Weise das strikte Autonomie-prinzip, das die deutsche Klassik vertreten hatte, ebenso wie die utopi-schen Entdifferenzierungsstrategien der Romantik – beides Haltungen, die angesichts der veränderten politischen und damit auch ästhetischen Verhältnisse unglaubwürdig erschienen. Dass die Auseinandersetzung mit der romantischen Ästhetik dabei mit wesentlich größerer Vehemenz, mit schärferer Polemik und über einen längeren Zeitraum geführt wurde, resultiert sowohl aus der partiellen ästhetischen Nachfolgesituation, die eine Abgrenzung schon aus Gründen der Generationsabfolge nahe legte, als auch aus der schon skizzierten spezifischen Form von Konkurrenz.29

Die Hoffnung, die Zeit zurückdrehen und das Prinzip der Kunst-autonomie, das als steril empfunden wurde,30 entweder ganz aufheben oder doch zumindest aufweichen zu können, speiste sich nicht zuletzt aus der konkreten Erfahrung, dass dessen Geltungsmacht im Vormärz faktisch eingeschränkt war. Die z.T. rigiden staatlichen Restriktionen, die

28 Gerhard Plumpe: Epochen moderner Literatur. Ein systemtheoretischer Entwurf. Opladen:

Westdeutscher Verlag, 1995, S. 67. 29 Wie fruchtbar eine Analyse der Konkurrenzbeziehungen des genannten Zeitraums

sein kann, hat – bezogen auf die Philosophie – Briese vorgeführt; vgl. Olaf Briese: Konkurrenzen. Philosophische Kultur 1830-1850. Porträts und Profile. Würzburg: Königs-hausen & Neumann, 1998.

30 Beredten Ausdruck hat diese Auffassung in Heines Charakterisierung von Goethes Werken gefunden. Über sie heißt es in der Romantischen Schule: „Sie zieren unser teue-res Vaterland, wie schöne Statuen einen Garten zieren, aber es sind Statuen. Man kann sich darin verlieben, aber sie sind unfruchtbar: die Goetheschen Dichtungen bringen nicht die Tat hervor [...]. Die Tat ist das Kind des Wortes, und die Goethe-schen schönen Worte sind kinderlos. Das ist der Fluch alles dessen was bloß durch die Kunst entstanden ist.“ Heinrich Heine: Sämtliche Schriften. Hg. Klaus Briegleb. Bd. 3: Schriften 1831-1837. Hg. Karl Pörnbacher. München, Wien: Hanser, 1976, S. 395. Bettine von Arnim thematisiert in Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde (1835) das Verhältnis von Kunst und ‘Leben’, indem sie in einer – natürlich erfundenen – alle-gorischen Szene in der Weimarer Bibliothek eine Marmorplastik Goethes wachzu-küssen versucht; siehe hierzu Wolfgang Bunzel: Lippen auf Marmor. Bettine von Arnims epistolare Erinnerungspolitik im Kontext der Briefeditorik des 19. Jahr-hunderts. In: Adressat Nachwelt. Briefkultur und Ruhmbildung. Hg. Detlev Schöttker. Pa-derborn: Fink, 2008, S. 161-180.

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in der Restaurationsperiode im Hinblick auf die Verbreitung von Wort und Bild galten und die öffentliche Meinung kanalisierten, nährten jeden-falls die Illusion, das Modell autonomer Kunst sei nur die Ausprägungs-form einer bestimmten ästhetischen Programmatik und nicht das Ergeb-nis gesellschaftlicher Ausdifferenzierung. In der Tat ähnelte ja der Zu-stand der Literatur in den zwanziger, dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts auf weiten Strecken dem des ancien régime insofern, als der Bereich des „Sagbaren erheblich verknappt“ war, da „scharfe The-menfilter“ eine unbehinderte literarische Erörterung politischer, religiö-ser, ökonomischer und sozialer Sachverhalte unmöglich machten.31 Die Literatur konnte deshalb ganz wie in der Aufklärungszeit die Aufgabe ei-ner Ersatzöffentlichkeit und eines Katalysators der gesellschaftlichen Entwicklung übernehmen.

Dies nun bot den Schriftstellern eine einmalige Chance, konnten sie doch auf der Grundlage vormodern restringierter Kommunikation ein mit dem Romantischen konkurrierendes Modell ästhetischer Entdiffe-renzierung entwerfen. Die durch staatlichen Zwang bewirkte partielle Restituierung der gesellschaftlichen Situation des 18. Jahrhunderts be-antworteten sie mit gezielten literarischen Rückgriffen auf Problemlö-sungsstrategien und Argumentationsmuster dieser Zeit; vor allem wir-kungsästhetische Prinzipien, die noch in der Aufklärung zum Grundbe-stand des Literaturverständnisses zählten, erlebten eine erneute Kon-junktur. Indem Heine, Börne und weitere Autoren in ihrer Nachfolge bei partieller Beibehaltung ästhetischer Konzepte der Romantik, aber gegen deren politisch restaurative Tendenzen gerichtet, die Französische Revo-lution als gesellschaftlichen Bezugspunkt besonders hervorhoben und aufklärerische Strategien politisch-literarischer Produktion praktizierten, gelang es ihnen, den plakativen „Gegensatz zwischen Romantik und Aufklärung“32 aufzuheben. Die Rezeption der Aufklärung vollzog sich eben nicht nur unter Ausklammerung der Romantik als einer vernachläs-sigbar kurzen Zwischenphase, sondern quasi durch diese hindurch, was zu sichtbaren Veränderungen des Aufklärungsdiskurses im Vormärz führte.

Im Unterschied zur Romantik jedoch, die sich zum Primat des Ästhe-tischen bekannte und die jeweilige Autorbiographie sowie alle sozialen Bezüge als ins Unermessliche erweiterbares Verwirklichungssubstrat der Kunst behandelte, wurde künstlerische Produktion im Vormärz wieder

31 Plumpe: Epochen moderner Literatur (Anm. 28), S. 256. 32 Jürgen Habermas: Heinrich Heine und die Rolle der Intellektuellen in Deutschland.

In: Ders.: Kleine politische Schriften. Bd. 6: Eine Art Schadensabwicklung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1987 (edition suhrkamp 1453), S. 25-54, hier: S. 39.

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weitgehend funktional gesehen. Die erstrebte soziale Verbindlichkeit von Kunst ergab sich dadurch, dass literarische Texte in starkem Maß als po-tentielle Handlungsanweisungen verstanden wurden, deren Aufgabe u.a. darin bestand, Rollenvorgaben für reales gesellschaftliches Agieren zu liefern. Es ging allerdings nicht mehr darum, einfach nach dem Muster der Kunst zu handeln, Literatur wurde vielmehr als Mittel zur Bewusst-werdung und, in Konsequenz daraus, zur Umgestaltung der sozialen Verhältnisse begriffen. Während die Romantik den Kunstbegriff über den Bereich der Literatur hinaus ausgedehnt und ihn auf diese Weise to-talisiert hatte, bestimmte den Vormärz eher die Tendenz, die Grenzen zwischen Literatur und Alltagskommunikation zu verwischen. Vormärz-Autoren bedienten sich deshalb bevorzugt solcher Textsorten, die auch im lebensweltlichen Kontext existieren, wie Brief, Tagebuch, Skizze, Er-innerung/Memoire, Essay, Reisebericht sowie alle Arten von journalisti-schen Formen.33 Mit ihren Entliterarisierungsbestrebungen konnten sie paradoxerweise an romantische Panästhetisierungsversuche anknüpfen, war durch letztere doch der ‘klassische’ Werkbegriff allererst aufgelöst und jene umfassende Formenverschmelzung herbeigeführt worden, die sich später im Sinne vormärzlicher Diskursmischung neu akzentuieren ließ.34

So partizipiert der Vormärz in vielfältiger Weise an den Errungen-schaften romantischer Totalitätsvisionen, die er jedoch für eine direkt auf Gesellschaft bezogene Form von Literatur fruchtbar zu machen sucht. Im Gegensatz zu den Avantgardebewegungen im frühen 20. Jahrhundert soll ästhetische Kommunikation dabei nicht überflüssig gemacht und aufgelöst werden, sondern es geht im Wesentlichen darum, sie zu ‘ver-wirklichen’, d.h. außerkünstlerischen Zwecken dienstbar zu machen, und Kunst damit zu refunktionalisieren. Gegenüber der Romantik, welche die neugewonnenen fiktionalen Gestaltungsspielräume begeistert nutzt und sich mit Emphase aneignet, können solche literarischen Verfahrenswei-

33 Rosenberg hat etwa darauf hingewiesen, „daß die von den Jungdeutschen betriebene

Auflösung der tradierten Erzähl- und Handlungsformen, ihre Entdifferenzierung der Diskurse und Fragmentarisierung der Texte bereits von den deutschen Frühromanti-kern vorgeführt worden“ ist; Rainer Rosenberg: Eine „neue Literatur“ am „Ende der Kunst“. In: Vormärz und Klassik (Anm. 1), S. 155-161, hier: S. 157.

34 Vgl. hierzu Wulf Wülfing: Stil und Zensur. Zur jungdeutschen Rhetorik als einem Versuch von Diskursintegration. In: Das Junge Deutschland. Kolloquium zum 150. Jah-restag des Verbots vom 10. Dezember 1835, Düsseldorf, 17.-19. Februar 1986. Hg. Joseph A. Kruse/Bernd Kortländer. Hamburg: Hoffmann und Campe, 1987 (Heine-Studien), S. 193-217, sowie Wolfgang Preisendanz: Der Funktionsübergang von Dichtung und Publizistik bei Heine. In: Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen. Hg. H. R. J. München: Fink, 1968 (Poetik und Hermeneutik 3), S. 343-374.

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sen durchaus ästhetisch ‘rückschrittlich’ wirken.35 Doch sollten sowohl die Tatsache, dass auch spätere Literaturbewegungen erneut auf vormo-derne Kommunikationsmuster zurückgreifen, als auch die Einsicht in die – bei allen Differenzen – enge Verzahnung von ‘Romantik’ und ‘Vor-märz’, die letztlich darin gründet, dass beide Strategien ästhetischer Ent-differenzierung entwickeln, deutlich machen, dass das Ausspielen einer Diskursformation gegen die andere keineswegs sinnvoll ist. Versuche, die ‘Leistung’ künstlerischer Entwicklungsperioden auf einer Verfahrensska-la von Modernität oder Traditionalität bestimmen zu wollen, erweisen sich dem historischen Prozess gegenüber als unangebracht. Die Ge-schichte der Literatur verläuft nun einmal nicht linear, sondern vollzieht sich in einer spezifischen Dialektik und weist Rückgriffe, Retardationen, Brüche und Inkongruenzen auf. Im Grunde etabliert sich in der Vor-märz-Zeit eine Strömung der ästhetischen Moderne, die sich nicht allein auf Experimente mit dem ästhetischen Material konzentriert und damit eine Entsemantisierung von Literatur, gezielten Sinnentzug und eine al-leinige Konzentration auf den Signifikanten betreibt, mithin zur Autore-ferentialität führt, sondern sehr wohl außertextuelle Wirklichkeit einbe-zieht und somit die Kunstkommunikation mit ‘sozialer Energie’ (Stephen Greenblatt) auflädt.

Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Orien-tierung an der Aufklärung beileibe nicht nur bei der Fraktion der ‘oppo-sitionellen’ Schriftsteller und Publizisten zu beobachten ist, sondern sämtliche Autorengruppen der Vormärz-Zeit erfasst. Pointiert gesagt: Der Bezug auf das 18. Jahrhundert wird zur Signatur der zwanziger, dreißiger und vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts – und zwar diskurs-formationenübergreifend. Selbstverständlich prägt er in besonderem Maß die politisch engagierte Vormärz-Literatur im engeren Sinne, kennzeich-net freilich ebenso die Spätromantik oder jene Autoren, die sich von den beiden dominierenden Diskursformationen fern zu halten versuchen. Besonders auffällig ist dabei die intensive Thematisierung der Französi-schen Revolution, die als direkte Folge der Aufklärung und als Epochen-schwelle begriffen wird.36 Joseph von Eichendorff etwa thematisiert in Das Schloß Dürande (1837) ausführlich Voraussetzungen und Folgen die-ses Ereignisses37 und liefert in Libertas und ihre Freier. Ein Märchen (1848) 35 In dieses Bewertungsmuster verfällt beispielsweise Bohrer immer wieder; vgl. Karl

Heinz Bohrer: Die Kritik der Romantik. Der Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1991 (edition suhrkamp 1551).

36 Vgl. u.a. Die Ideen von 1789 in der deutschen Rezeption. Hg. Forum für Philosophie Bad Homburg. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1989 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 798).

37 Siehe hierzu Klaus Lindemann: Eichendorffs ‘Schloß Dürande’. Konservative Rezeption der Französischen Revolution. Entstehung, Struktur, Rezeption, Didaktik. Paderborn u.a.: Schö-

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schließlich sogar eine Satire auf die Revolution.38 Selbst bei einem scheinbar so zeitabgewandten Schriftsteller wie Eduard Mörike lässt sich eine Auseinandersetzung mit den Revolutionsgeschehnissen feststellen.39 Daneben gibt es viele liberal gesinnte Autoren, die der Französischen Revolution im Wesentlichen positiv gegenüberstehen; zu nennen wäre hier etwa Adelbert von Chamisso.40 Ähnliches gilt für Bettine von Arnim als diejenige Autorin, deren Werk in vielerlei Hinsicht als Brückenschlag zwischen Romantik und Vormärz angesehen werden kann. Sie bediente sich des Kunstgriffs, mit Hilfe fingierter historischer Briefdokumente auf die Prägewirkung von Figuren der Französischen Revolution hinzuwei-sen. So integrierte sie in ihr Buch Clemens Brentano’s Frühlingskranz (1844), dessen Titel natürlich als Aufbruchssignal für die Zeitgenossen gedacht war, gezielt Zitate aus den Reden und Schriften Mirabeaus und erneuerte auf diese Weise die Erinnerung an einen weitgehend in Vergessenheit ge-ratenen Akteur der Revolution.41

Auch wenn die Thematisierung der Französischen Revolution sicher der deutlichste Beleg für vormärzliche Aufklärungsrezeption ist, er-schöpft sich die Bedeutung des 18. Jahrhunderts doch in keiner Weise im Rekurs auf das Schlüsselereignis der Epoche. Bezüge auf die Aufklärung finden sich in der Literatur der zwanziger, dreißiger und vierziger Jahre vielmehr in breitem Umfang. Besonders deutlich zeigt sich dies im Spät-werk von Ludwig Tieck. Der Autor tritt hier nicht nur in eine Deutungs-

ningh, 1980 (Modellanalysen Literatur 1); Alexander von Bormann: Die Bedeutung der Französischen Revolution im Werk Joseph von Eichendorffs. In: Les romantiques allemands et la Révolution française / Die deutsche Romantik und die Französische Revolution. Colloque international organisé par le Centre de Recherches „Images de l’Etranger“. Hg. Gon-thier-Louis Fink. Strasbourg: Recherches Germaniques, 1989 (Collection Recherches germaniques 3), S. 295-308, und Halina Białek: Eichendorffs Einstellung zur Franzö-sischen Revolution. Ergebnisse der bisherigen Forschung. In: Deutsche Romantik und Französische Revolution. Internationales Kolloquium Karpacz, 28. September – 2. Oktober 1987. Warszawa/Wrocław: Wydawn. Uniw., 1990 (Acta Universitatis Wratislaviensis 1115; Germanica Wratislaviensia 80), S. 225-230.

38 Vgl. etwa Cornelia Nolte: Symbol und historische Wahrheit. Eichendorffs satirische und drama-tische Schriften im Zusammenhang mit dem sozialen und kulturellen Leben seiner Zeit. Pader-born u.a.: Schöningh, 1986 (Schriften des Eichendorff-Instituts an der Universität Düsseldorf. Abhandlungen und Untersuchungen).

39 Siehe Michael Perraudin: Mörikes Mozart auf der Reise nach Prag, die Französische Revolu-tion und die Revolution von 1848. In: 1848 und der deutsche Vormärz. Hg. Peter Stein/Flo-rian Vaßen/Detlev Kopp. Bielefeld: Aisthesis, 1998 (Jahrbuch Forum Vormärz For-schung 3 – 1997), S. 237-257.

40 Vgl. Werner Feudel: Die Französische Revolution und die Restauration im politi-schen Denken Chamissos. In: Les romantiques allemands et la Révolution française (Anm. 37), S. 267-280.

41 Siehe hierzu Heinz Härtl: Mirabeau im Frühlingskranz. In: Ebd., S. 137-147.

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konkurrenz mit seinen Widersachern über die Rolle der Revolution,42 sondern beruft sich in einem umfassenden Sinn auf die Aufklärung, die ihm einerseits als Korrektiv für Selbsttäuschung, Verblendung und jede Form von Fanatismus dient und andererseits bei der ästhetischen Selbst-verortung hilft, weil sie ihm gestattet, Fehlentwicklungen der romanti-schen Bewegung zu erkennen und deren Korrektur einzufordern. Indem er in mehreren Texten der dreißiger Jahre eindringlich nach der „ächten Aufklärung“43 fragt, sucht er die Romantik über ihre eigenen Defizite aufzuklären und von jeder Form von Mystizismus zu befreien. Charles Sealsfield imaginiert in seiner Reisebeschreibung George Howard’s Esq. Brautfahrt (1834) kurzerhand Amerika als das Land, in dem die Ziele der Aufklärung politische Realität geworden seien,44 und schafft damit ein utopisches Modell, das der deutschen bzw. europäischen Geschichte eine Zielperspektive vorgibt. Allerdings hat der Autor im Text Deutsch-ame-rikanische Wahlverwandtschaften (1839) seine Hoffnungen wieder revoziert.

Das beständige Wachrufen der Erinnerung an das 18. Jahrhundert als historische Epoche und die damit verbundene Wiedereinspeisung von aufklärerischen Diskursen und Formen in das kulturelle Gedächtnis sorgten schließlich dafür, dass in Vergessenheit geratene Denktraditio-nen reaktiviert wurden und es zu einem Fortwirken aufklärerischer Kon-zepte in vielen Bereichen der Alltagskultur kam. Vor allem im Bereich des politischen Denkens ist dieser Vorgang unmittelbar greifbar. In den zwanziger und dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts nahm die Aufklä-rung so in der Tat – Hans Rosenberg hat darauf bereits 1972 ohne große

42 Vgl. Gonthier-Louis Fink: „Was ist ein Leben ohne Freiheit“. Ludwig Tieck und die

Französische Revolution. In: Ebd., S. 79-101, Ernst Ribbat: Die Französische Revo-lution im Werk Ludwig Tiecks. In: Ebd., S. 109-118, sowie Diane Gaillard-Kaszczyk: L’écriture nouvellistique de la révolution par Ludwig Tieck dans les années 1830: po-lémique non-conservatrice avec le mouvement „Jeune Allemagne“. In: Ecritures de la révolution dans les pays de langue allemande. Hg. Geoffroy Rémi avec la participation de Lucien Calvié. Saint-Étienne: Publications de l’Université de Saint-Étienne, 2003, S. 145-159.

43 Ludwig Tieck’s Schriften. Bd. 23: Ludwig Tieck’s gesammelte Novellen. Vollständige auf’s Neue durchgesehene Ausgabe. Bd. 7. Berlin: Georg Reimer, 1853, S. 174.

44 Vgl. [Charles Sealsfield:] Transatlantische Reiseskizzen und Christophorus Bärenhäuter. Zü-rich: Orell, Füßli und Compagnie, 1834; siehe hierzu Jerry Schuchalter: Frontier and utopia in the fiction of Charles Sealsfield: a study of the ‘Lebensbilder aus der westlichen Hemisphä-re’. Frankfurt a.M., Bern, New York: Lang, 1986 (European university studies XIV/ 150) und Walter Zettl: Auf der Flucht vor dem habsburgischen Mythos. Charles Sealsfield (Karl Postl) auf der Suche nach dem Land der Aufklärung. In: Verdrängter Humanismus – verzögerte Aufklärung. Hg. Michael Benedikt/Reinhold Knoll. Bd. 3: Bil-dung und Einbildung: vom verfehlten Bürgerlichen zum Liberalismus. Philosophie in Österreich (1820-1880). Klausen-Leopoldsdorf: Verlag Leben, Kunst, Wissenschaft, 1995, S. 517-528.

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Resonanz hingewiesen – „immer mehr den Charakter einer großen Mit-telstandsbewegung an, die schließlich dem Vulgärliberalismus die Bahn gebrochen und der bürgerlich-konstitutionellen Rechtsstaatsdoktrin zum Siege verholfen hat“45. Die Aufklärung wird jedenfalls im 19. Jahrhun-dert auch „sozialgeschichtlich folgenreich“, weil sie „in Verbindung mit dem Deutungsmuster ‘Bildung und Kultur’ und der liberalen Emanzipa-tionsideologie“ freiheitliches Gedankengut „perpetuiert“, zugleich aber auch im Sinne einer ‘eingeschränkten Aufklärung’ banalisiert:

Ihre emanzipativen Vorstellungen prägen die Basis-Semantik des deutschen Bil-dungsbürgertums, jene in Sprache eingebauten Muster der Weltdeutung mit ge-lockerter, aber doch nicht gänzlich unverbindlicher Handlungsanbindung. Diese Basis-Semantik besteht aus einem diskursleitenden Ensemble von Begriffen wie Bildung und Kultur, Öffentlichkeit und Rechtsstaat, Individuum und Menschheit, Volk und Nation, Allgemeinwohl und Fortschritt.46

Was die Literaten und Philosophen des Vormärz also im Zuge einer nicht selten gewagten Geschichtskonstruktion behaupteten, durchtränkte bald den politischen Diskurs und wurde zum Ferment sozialer Massen-bewegungen.

Ähnliches gilt auch für die theologischen Debatten der Vormärz-Zeit, in der sich politische und theologische Fragen oft bis zur Ununter-scheidbarkeit verschränken. Die – mit der Realität des Protestantismus nicht unbedingt deckungsgleiche – semantisch-affektive Aufladung, die das ‘Prinzip des Protestantismus’ in den auf die Revolution zulaufenden Jahren erfährt, macht dies in besonderer Weise evident. Nicht nur nahm eine Vielzahl von Philosophen und Schriftstellern, etwa Wilhelm Trau-gott Krug, Karl Gottlieb Bretschneider oder Johann Friedrich Röhr, die theologisch postulierte Deutung des Protestantismus als Fortschritts- und Bewegungsprinzip auf. Diese erfährt auch eine entscheidende politi-sche Schärfung in der „Umbildung der Dogmen des Christentums in humanitär-religiöse Ideen“47. Insbesondere den Junghegelianern (u.a. David Friedrich Strauß, Arnold Ruge, Ludwig Feuerbach) ging es um die Entmythologisierung der Religion im Horizont der Aufklärung, was in

45 Rosenberg: Arnold Ruge und die Hallischen Jahrbücher (Anm.5), S. 97. 46 Georg Bollenbeck: Die Abwendung des Bildungsbürgertums von der Aufklärung.

Versuch einer Annäherung an die semantische Lage um 1880. In: Nach der Aufklä-rung? Beiträge zum Diskurs der Kulturwissenschaften. Hg. Wolfgang Klein/Waltraud Nau-mann-Beyer. Berlin: Akademie-Verlag, 1995 (LiteraturForschung), S. 151-162, hier: S. 153; vgl. hierzu auch ders.: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deu-tungsmusters. Frankfurt a.M.: Insel, 1994.

47 Kurt Nowak: Geschichte des Christentums in Deutschland. Religion, Politik und Gesellschaft vom Ende der Aufklärung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. München: C. H. Beck, 1995, S. 110.

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der Konsequenz auf eine enttheologisierende theologische Kritik (Kurt Nowak) hinauslief, die wie bei Bruno Bauer mit dem Bekenntnis zum emanzipatorischen Handeln grundsätzliche Züge annahm:

Nein! auf diesem Blatt, auf welchem wir die Religion löschen, auf diesem doppelt beschriebenen Blatte, auf diesem Palimpsest tritt, wenn die Religion gelöst [!] ist, die Urschrift wieder hervor, die von classischem Werthe ist. Mönche haben die Urschrift durch ihr Gekritzel verdorben, wir stellen sie wieder her und der Mensch steht auf dem Blatte, welches wir zur Weltgeschichte herbeibringen.48

‘Protestantismus’ ist in diesem Rahmen das Leitwort eines Geschichts-verständnisses, das die Reformation als den Anfang einer kontinuierli-chen aufklärerischen Bewegung begreift, die im „Proceß der Selbstbe-freiung“49 zu sich kommt. Theodor Echtermeyer und Arnold Ruge bestimmen in ihrem 1839 in den Hallischen Jahrbüchern veröffentlichten „Manifest“ Der Protestantismus und die Romantik die Gegenwart in diesem Sinne als die „letzte Phase der Reformation, die freie Bildung unserer geistigen Wirklichkeit“50. Und Robert Prutz erklärt zwei Jahre später in seiner Dar-stellung der Geschichte der neueren deutschen Literatur, durch die Re-formation sei

[...] der menschliche Geist, und insbesondere die Entwicklung unsers Volkes, in eine Sphäre erhoben worden, welche man nach allen Seiten hin zu durchlaufen und auszumessen die Aufgabe unsrer Geschichte und als solche eine Aufgabe auch noch unsrer Zeit geworden ist. Wo daher wir das Gewebe der letzten Jahr-hunderte auch anfassen mögen, immer führen die Fäden uns zurück zu jenem unschätzbaren Ereignis, welches eine Epoche gemacht hat, ebenso entscheidend fast und ebenso gewaltig, wie Jahrtausende zuvor der erste Eintritt des Christen-tums selbst. Denn gleichwie durch dieses die Erkenntnis des Absoluten, des Göttlichen aus der Natur, dem Endlichen und Äußerlichen, wo bis dahin die Völker es in Bild und Zeichen anzuschauen versucht hatten, in den Geist selbst war verlegt worden; so ward dieselbe jetzt durch die Reformation in die eigene Innerlichkeit jedes einzelnen Individuums gelegt.51

Die konfessionellen Auseinandersetzungen zwischen Protestantismus und Katholizismus in der Vormärz-Zeit, die dem alten Streit zwischen ‘wahrer’ und ‘falscher’ Aufklärung aus den 1780er Jahren52 noch einmal zur Aktualität verhelfen, lassen sich vor dem Hintergrund dieser Be-

48 Bruno Bauer: Die gute Sache der Freiheit und meine eigene Angelegenheit. Zürich, Winterthur:

Verlag des literarischen Comptoirs, 1842, S. 202. 49 Ruge/Echtermeyer: Der Protestantismus und die Romantik (Anm. 14). In: Hallische Jahr-

bücher für deutsche Wissenschaft und Kunst 2 (1839), Sp. 1961. 50 Ebd., Nr. 245/1839, Sp. 1953. 51 Prutz: Der Göttinger Dichterbund (Anm. 11), S. 4. 52 Vgl. dazu Norbert Otto Eke: Signaturen der Revolution. Frankreich – Deutschland: deutsche

Zeitgenossenschaft und deutsches Drama zur Französischen Revolution um 1800. München: Fink, 1997, S. 53f.

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stimmung von Aufklärung und Reformation als zwei Seiten des einen oppositionellen Prinzips als unterschiedlich gelagerte Versuche verste-hen, eine Antwort zu geben auf die drängenden Probleme, die sich den Zeitgenossen aus den seit der Jahrhundertwende zunehmend beschleu-nigten gesellschaftlichen Transformations- und Ausdifferenzierungspro-zessen ergeben haben. Die weltanschaulichen Fronten verliefen dabei im Einzelnen häufig reichlich unübersichtlich, wie u.a. der Kölner Kirchen-streit (1837/38) zeigt, in dessen Verlauf ausgerechnet der autokratische Kölner Erzbischof Clemens August von Droste zu Vischering in seinem Kampf gegen die Omnipotenz des preußischen Staates ‘moderne’ Posi-tionen vertrat. Umgekehrt wirkten im sozialen Protestantismus mit seiner Ethik des Handelns Traditionen der rationalen Aufklärung, aber eben auch des lutherischen Pietismus fort.53 Überhaupt blieben im Protestan-tismus Frömmigkeitstraditionen der Aufklärung – etwa in den Schriften Johann Heinrich Daniel Zschokkes und Heinrich Eberhard Gottlob Paulus’ – bis weit in die Mitte des 19. Jahrhunderts überaus lebendig.54 Die 1841 unter dem Pastor Leberecht Uhlich konstituierten ‘Protestanti-schen Freunde’, die ein dem modernen Bewusstsein entsprechendes Christentum propagierten, lassen sich so einerseits als „Ausläufer der spätaufklärerischen Frömmigkeit“55 begreifen, auch wenn die so genann-ten Lichtfreunde sich andererseits ganz unmittelbar aus Protest gegen den Druck der bestens organisierten konservativen Orthodoxie gegrün-det hatten. Ihr Gegenstück innerhalb des Protestantismus wiederum war die neupietistische Erweckungsbewegung, die sich in den zwanziger Jah-ren in allen protestantischen Gemeinden ausdehnte und in den dreißiger Jahren ein Bündnis mit dem orthodoxen Luthertum und dem politischen Konservativismus einging. Für sich genommen stellt die Erweckungsbe-wegung einen fundamentalistischen Protest dar gegen den theologischen Rationalismus und insbesondere gegen die aufkommende Bibelkritik; Aufklärung und Rationalismus wurden als Irrweg bekämpft, der Ver-standesgläubigkeit die schlichte Gemütsfrömmigkeit als Wert entgegen-gesetzt. Kurt Nowak hat darauf hingewiesen, dass aber auch diese Erwe-ckungsbewegungen „mit wesentlichen Momenten der Aufklärungszeit verbunden“ blieb: „Der Übergang zwischen Aufklärungs- und Erwe-ckungschristentum war fließend.“56 53 Martin Friedrich: Sozialer Protestantismus im Vormärz. In: Literaturkonzepte im Vor-

märz (Anm. 26), S. 303-307; hier: S. 306; Sozialer Protestantismus im Vormärz. Hg. Mar-tin Friedrich/Norbert Friedrich/Traugott Jähnichen/Jochen-Christoph Kaiser. Mün-ster: LIT Verlag, 2001.

54 Vgl. Nowak: Geschichte des Christentums in Deutschland (Anm. 47), S. 95f. 55 Ebd., S. 96. 56 Ebd., S. 97.

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Geschichtsprojektionen 27

Auch die gegenüber dem Protestantismus zeitweise in die Defensive geratene katholische Konfession bietet keineswegs ein so einheitliches Bild, wie dies auf den ersten Blick zu sein scheint. Während ein ultra-montaner Klerus die Abkehr von den bürgerlichen Kulturidealen beton-te und die Idee des Priesteramtes hochhielt, wirkten unterhalb der im 19. Jahrhundert überall zu beobachtenden spezifischen ‘Kirchwerdung’57 in Abgrenzung gegenüber staatlichen Regulierungs- und Zuwendungsan-sprüchen in Teilen des katholischen Weltklerus aber auch aufklärerische Ideen zur Erneuerung der Kirche weiter. Besonders augenfällig ist dies am Beispiel der so genannten ‘Deutschkatholischen Kirche’, die sich 1845 – Anlass war die Wiederbelebung des Trierer Reliquienkultes, der von kritischen Theologen als Rückfall in das tiefste Mittelalter verstan-den wurde – als innerkirchliche Reformpartei gebildet hatte. Ihre Affini-tät zu liberalen und demokratischen Ideen rückt die ‘Deutschkatholiken’ wiederum in die Nähe zum protestantischen Rationalismus und zu den ‘Lichtfreunden’, mit denen sie sich 1859 zu einer freireligiösen Gemein-schaft vereinigten.58

Da sich Aufklärungsrezeption, Bezüge zur Französischen Revolution und die gezielte Reaktivierung von Denkmustern und literarischen Ver-fahrensweisen des 18. Jahrhunderts als entscheidende Prägefaktoren der Literatur der zwanziger, dreißiger und vierziger Jahre erweisen, ermög-licht erst eine breit angelegte Erschließung dieser Aspekte ein vertieftes Verständnis der Kultur im Vormärz. Der vorliegende Band will dazu einen Anstoß geben, indem er nach der Konstruktion von Geschichts-bildern über historische Schwellendaten hinweg fragt („Philosophische Geschichtskonstruktionen“), die Fortsetzung, Revitalisierung und Kritik anthropologischer, theologischer und politischer Denkmodelle zur Dis-kussion stellt („Gottesbilder – Menschenbilder“), literarische und sprach-geschichtliche Fragen im engeren Sinne aufgreift („Ästhetische Model-lierungen“), um so aufzuzeigen, wie Geschichtsprojektionen, d.h. der Rekurs auf das 18. Jahrhundert und die Konstruktion von ‘Aufklärung’, den deutschen Vormärz mitkonstituieren.

57 Zu dieser ‘Kirchwerdung’ vgl. Martin Friedrich: Kirche im gesellschaftlichen Umbruch. Das

19. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2006. 58 Vgl. Eckhart Pilick: Religiöse Opposition im Vormärz: Deutschkatholiken und Licht-

freunde. In: Juden und jüdische Kultur im Vormärz. Hg. Horst Denkler/Norbert Otto Eke/Hartmut Steinecke. Bielefeld: Aisthesis, 1999 (Jahrbuch Forum Vormärz For-schung 4 – 1998), S. 212-232.