Vortrag: Wozu Wahlgeographie? 3. Sächsischer Datensalon – Prof. Dr. Werner J. Patzelt.

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Vortrag: Wozu „Wahlgeographie“? 3. Sächsischer Datensalon – Prof. Dr. Werner J. Patzelt

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Vortrag:

Wozu „Wahlgeographie“?

3. Sächsischer Datensalon – Prof. Dr. Werner J. Patzelt

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3. Sächsischer Datensalon – Prof. Dr. Werner J. Patzelt

Wozu Wahlgeographie?

Stimmenanteile der Linkspartei bei der Bundestagswahl 2013

Was erkennen wir auf diesen Karten?→ Hinsichtlich von Linkspartei und NPD zer- fällt Deutschland in zwei Wahlgebiete.→ Die Grenze verläuft zwischen BRD-alt und ehemaliger DDR.Was fragen wir nach einer solchen „Gestalterkenntnis“?→ Warum zerfällt Deutschland in diese beiden Wahlgebiete?Was unternehmen wir, um auf diese Frage eine Antwort zu finden?→ den Versuch einer Erklärung …→ bei dem uns die Verteilung von Merkmalen im kartographierten Raum Hinweise auf relevante Faktoren gibt! → hier erste Idee: Nachwirken des SED- Staates bzw. der Systemtransformation

… um zu begreifen, von welchen Faktoren konkretes Wahlverhalten abhängt!

„Nachnutzung“: savoir pour prévoir pour pouvoir …

Schön. Doch was ist der Platz solcher „geographischer Erklärungen“ unter den Standarderklärungen des Wahlverhaltens?

Stimmenanteile der NPD bei der Bundestagswahl 2013

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Wahlverhalten wird …

geprägt von ...

ParteienimageKandidatenattrakt

ivitätgerade im

Vordergrund stehenden Themen (‚issues‘)

erklärt durch ...

rational choice- Ansätze

sozialpsychologische Wahltheorien

sozialstrukturelle Wahlmodelle

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… und bei solchen Erklärungen hilft es viel, wenn man die Verteilung von Wahlergebnissen im Raum mit Karten zur Verteilung sonstiger Merkmale vergleicht: wirtschaftliche, gesellschaftliche, kulturelle …

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Was also ist „Wahlgeographie“?

Wahlgeographie ist ein Forschungsansatz, um … auf der Grundlage von Wahlergebnissen und soziographischen Daten Zusammenhänge zu finden

zwischen dem Wahlverhalten und … der räumlichen Verteilung von „Bevölkerungsmerkmalen“ wie ländliche vs.

städtische Gebiete, „Villenviertel vs. Arbeitersiedlungen“, Krisenregionen vs. Wohlstandsregionen usw. (→ Info)

„dahinterliegenden“ kulturellen, wirtschaftlichen, siedlungsstrukturellen, geschichtlichen, geographischen etc. Merkmalen (→ Info)

die im Zeitverlauf konstant bleiben oder sich ändern (→ Info).

Im Vergleich zur wahlanalytischen Umfrageforschung … Kann die Wahlgeographie mit Grundgesamten arbeiten, leidet also nicht am

„Stichprobenfehler“ (→ nicht erreicht, Antwort verweigert, „schlechtes Sampling“) kann die Wahlgeographie auch Hintergrundzusammenhänge erfassen, die von

den Befragten selbst nicht zu beobachten oder systematisch zu deuten sind (klassischer Fall: Wahlverhalten ← Bodenbeschaffenheit & was von ihr geprägt wird)

besteht kein Risiko der Erhebung und Fehlinterpretation von „non-attitudes“ macht die Wahlgeographie Zusammenhänge unmittelbar für Praktiker anschaulich („Wer /

was stößt unter welchen Bedingungen auf Resonanz?“)

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= Verbindung von Wahlsoziologie mit Kultur- und Wirtschaftsgeographie

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Reichstagswahl 1932

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Je weniger grün, sondern röter, desto größer die Stimmenanteile der NSDAP

„höher gelegte“ Gebiete: Bevölkerungsmehrheit von Katholiken „tiefer gelegte Gebiete: Bevölkerungsmehrheit von Protestanten

Fazit: Je höher der Katholikenanteil, desto weniger Stimmen für die NSDAP!… was sich ohne eine solche Karte gewiss nicht so deutlich und einprägsam erkennen ließe wie mit einer solchen Karte!

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Katholizismus und Kommunismus

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Zu erkennen:

• Selten sind die Regionen, in denen ein hoher Katholikenanteil mit einem großen Kommunistenanteil einhergeht

• In der Regel sind die Regionen entweder eher katholisch oder eher kommunistisch

• „vertikales Zentralband“ und „horizontales Mittelmeerband“ sind eher kommunistisch

• „Randgebiete“ wie Bretagne, Baskenland, Grenzland zum „Reich“ und (südliches) Zentralmassiv sind eher katholisch

Erklärung: wohl sozio-kulturelle Strukturen, Konfliktlinien zwischen Staat und Kirche, Geschichte …

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analytische Vorteile konstanter Gebietsstände

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Zusammenfassung der Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen 1996, 2000, 2004 und 2008: Die Republikaner gewannen alle vier Wahlen.Die Republikaner gewannen drei Wahlen.Beide Parteien gewannen jeweils zwei Wahlen.Die Demokraten gewannen drei Wahlen.Die Demokraten gewannen alle vier Wahlen.

Je heller die Farbe, desto die geringer die Bevölkerungszahl im County, das bei der Präsidentschaftswahl 2012 republikanischoder demokratisch wählte.

→ Ist der Gegensatz von Republikanern und Demo-kraten vielleicht (auch) einer von Land und Stadt?

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Analytischer Kern: die „Hintergrundtheorie(n)“ Herausforderung:

Welche Merkmale soll ich zum Vergleich mit der räumlichen Verteilung von Wahlergebnissen kartographieren?

Wenn ich „Ähnlichkeitsmuster“ zwischen der Verteilung von Wahlergebnissen und von „anderen Merkmalen“ erkenne: Was bedeuten sie?

erforderlich zum Bestehen dieser Herausforderung: forschungsleitende Theorie(n), welche die Wahl jener

Vergleichsvariablen festlegen, deren räumliche Verteilung zu kartographieren ist

Erklärungstheorie(n), welche – einfach oder komplex – die (multiplen) beobachteten Muster erklären.

Kernbegriff: „Kontextanalyse“

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Quelle solcher Theorien: Forschungen zum

Wahlverhalten, deren Teil die Wahlgeographie ist!

Heute mögliches heuristisches Vorgehen: am PC die räumliche Verteilung von Wahlergebnissen versuchsweise mit der räumlichen Verteilung anderer, womöglich aufs Wahlverhalten einwirkender Merkmale zu vergleichen – und so zu Einsichten zu gelangen, die man bislang nicht besaß.

Zu vermeidendes Missverständnis: es geht zunächst um konkrete, nicht um allgemeine Zusammenhänge!!

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Wahlgeographie und ihr Praxiszusammenhang

empirische DemokratieforschungVerstehen und Erklären von

Wahlergebnissen „Nichts ist praktischer als eine gute Erklärung“!

„Gerrymandering“Vorbereitung und Führung von

Wahlkämpfenpolitische Geographie

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Empirische Demokratieforschung

Demokratie wird im Wesentlichen über Wahlen verwirklicht

Analyse des Funktionierens von Demokratie ist im Wesentlichen Analyse des Wahlverhaltens

Das lädt ein zur Untersuchung von … Wahlergebnissen, zumal in Wahlsystemen mit

Wahlkreisen Gliederungsstrukturen von Parteien (→ Zusammenhang

mit Wahlkreisen!) Bevölkerungspräferenzen, möglichst aufgegliedert nach

Wahlkreisen und Parteigliederungen Positionsanpassungen von Parteien an die Präferenzen

von in Wahlkreisen für den Sieg wichtigen Bevölkerungsgruppen3. Sächsischer Datensalon – Prof. Dr. Werner J. Patzelt

hilfreich für das alles: Wahlgeographie

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Woraus speist sich die Wählerschaft von AfD und NPD?

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häufige Vermutung: „Die AfD zieht Leute mit rechtspopulistischen Einstellungen an!“

Von der Verteilung der Wählerschaft veranlasste Rückfrage: „Wenn die AfD Leute mit rechtspopulistischen Einstellungen anzieht – wie kann es dann sein, dass die AfD – wenigstens in Ostdeutschland – genau dort besonderes stark ist, wo bereits die NPD Leute mit rechtspopulistischen Einstellungen anzieht?“

Von entsprechendem Nachdenken veranlasste verbesserte Vermutung: „Im Wählen der AfD drückt sich Systemkritik aus, die sich durchaus von jener unterscheidet, die sich im Wählen der NPD niederschlägt!“

NPDAfD

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Politische Geographie

ist Teil der Human- bzw. Kulturgeographie befasst sich mit den Wechselbeziehungen

zwischen (natur-) räumlichen Gegebenheiten und politischem Handeln / politischen Prozessen

blickt zumal auf räumliche Voraussetzungen, Anreize und Kanalisierungen von Machtbildung (→ „Geopolitik“)

hat unter ihren inhaltlich ganz unumstrittenen Teilgebieten gerade auch die Wahlgeographie

wird in Deutschland immer noch unter Verdacht gestellt („Blut-und-Boden-Ideologie“), mit spitzen Fingern angefasst und allzu nachrangig gelehrt

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Stand der Wahlgeographie

besser entwickelt etwa in Frankreich und USA, in Deutschland eher vernachlässigt (wenigstens außerhalb der historischen Wahlforschung)

derzeit vor allem deskriptiv (→ Websites zu „electoral geography“), viel weniger analytisch-verallgemeinernd

hinter den technischen Möglichkeiten im PC-Zeitalter zurückbleibend

liegengebliebene „Baustelle“ zwischen Politikwissenschaft und Geographie

verdiente mehr Beachtung & Lehre verdiente mehr Beachtung auch in der wahlsoziologischen

Forschung, die heute meist „raumblind“ mit Individualdaten arbeitet, die multivariater Statistik unterzogen werden – und raumbezogene Faktoren nur soweit berücksichtigt, wie sie an Individuen (ohne Chance einer Rekonstruktion räumlicher Zusammenhänge!) abgefragt werden können (→ „raumbezogene Homogenitätshypothese“).3. Sächsischer Datensalon – Prof. Dr. Werner J. Patzelt

… und ich hoffe, Ihr Interesse für dieses Forschungsgebiet geweckt zu haben!

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Kontakt

Prof. Dr. Werner J. PatzeltTechnische Universität DresdenInstitut für [email protected]