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VII Vorwort Es liegt eine ausreichende Anzahl von sehr guten Fachbüchern zum ema Notfallpsy- chologie und Krisenintervention vor, die den Bereich der Akutpsychotraumatologie und die klassischen Tätigkeitsfelder der Notfallpsychologie abdecken. Daher ist das Ziel des vorliegenden Buches, den Blick auf- zumachen zu einem erweiterten Begriff von Notfallpsychologie – unter Einbeziehung der emenkreise des psychologischen Kri- senmanagements auf Organisationsebene. Die bisherigen Fachbücher in dieser psy- chologischen Disziplin decken entweder als Lehrbuch einen spezifischen Bereich der Notfallpsychologie oder Psychotraumatolo- gie ab oder als Fachbuch mit starkem Pra- xisbezug den notfallpsychologischen Tätig- keitsbereich – dann stark fokussiert auf die Einsatzorganisationen und die damit ver- bundenen notfallpsychologischen Einsätze. Dies ist aufgrund der historischen Entwick- lung der Notfallpsychologie und vor allem der Krisenintervention nachvollziehbar, entspricht aber nicht mehr der Tätigkeitsre- alität der Notfallpsychologen und -psycho- loginnen. Zudem trägt es dem immer stär- ker werdenden Bedürfnis nach professionel- lem psychologischem Krisenmanagement in Organisationen nicht Rechnung. Die notfallpsychologische Forschung zeigt, dass die klassischen Akutinterventio- nen, die speziell in Einsatzorganisationen Anwendung finden, einer Erweiterung bzw. sogar eines Ersatzes bedürfen (z. B. „Debrie- fing-Debatte“, Kap. 3.6.2). Gerade auch für den Bereich der Organisationen bzw. des Einsatzes notfallpsychologischer Tools in der psychologischen Praxis sind neue An- sätze erforderlich. Die Erkenntnisse, Model- le und eorien aus der (Akut-) Psychotrau- matologie und Notfallpsychologie bilden dafür den Hintergrund, das gut abgesicherte theoretische und praktisch erprobte Gerüst, werden jedoch in einem wesentlich breite- ren Bereich als bisher angewendet. Somit umfasst das vorliegende Buch die Anwen- dung der Notfallpsychologie und des not- fallpsychologischen Krisenmanagements auf individueller und organisationeller Ebe- ne – mit Schwerpunkt auf der psychosozia- len Beratung in Krisen und traumatischen Situationen. Zudem wird den immer wichti- ger werdenden Feldern der Primärpräventi- on und Resilienzförderung – auch in Betrie- ben und Organisationen – ausreichend Platz eingeräumt. Die ausgewählten Autoren und Autorin- nen aus Wissenschaſt und Praxis stellen zum Teil neue wissenschaſtliche Ergebnisse und Konzepte vor, beziehen diese aber im- mer auf die praktische Anwendung. e- menbereiche wie eine Einführung in die Akutpsychotraumatologie, notfallpsycholo- gische und psychosoziale Begleitung von Traumabetroffenen, notfallpsychologische Interventionen in Systemen, Belastungen von Helfern und Helferinnen, professionel- les psychologisches Krisenmanagement in Organisationen und im Bildungsbereich, Kommunikation in der Krise, aber auch Be- wältigung von Krisen (Verursacherfragen, Kompensation) und Resilienzförderung sowie psychische Traumatisierungen bei Kindern und Jugendlichen werden in die- sem Buch aufgegriffen und für die psycholo- gische Praxis anwendungsorientiert – je- doch mit einer starken theoretischen Fun- dierung – auereitet. Ziel ist es, ein Fachbuch für interessierte Psychologen und Psychologinnen sowie für Gerngroß: Notfallpsychologie und psychologisches Krisenmanagement. ISBN: 978-3-7945-3043-4. © Schattauer GmbH

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VII

Vorwort

Es liegt eine ausreichende Anzahl von sehr guten Fachbüchern zum Thema Notfallpsy-chologie und Krisenintervention vor, die den Bereich der Akutpsychotraumatologie und die klassischen Tätigkeitsfelder der Notfallpsychologie abdecken. Daher ist das Ziel des vorliegenden Buches, den Blick auf-zumachen zu einem erweiterten Begriff von Notfallpsychologie – unter Einbeziehung der Themenkreise des psychologischen Kri-senmanagements auf Organisationsebene.

Die bisherigen Fachbücher in dieser psy-chologischen Disziplin decken entweder als Lehrbuch einen spezifischen Bereich der Notfallpsychologie oder Psychotraumatolo-gie ab oder als Fachbuch mit starkem Pra-xisbezug den notfallpsychologischen Tätig-keitsbereich – dann stark fokussiert auf die Einsatzorganisationen und die damit ver-bundenen notfallpsychologischen Einsätze. Dies ist aufgrund der historischen Entwick-lung der Notfallpsychologie und vor allem der Krisenintervention nachvollziehbar, entspricht aber nicht mehr der Tätigkeitsre-alität der Notfallpsychologen und -psycho-loginnen. Zudem trägt es dem immer stär-ker werdenden Bedürfnis nach professionel-lem psychologischem Krisenmanagement in Organisationen nicht Rechnung.

Die notfallpsychologische Forschung zeigt, dass die klassischen Akutinterventio-nen, die speziell in Einsatzorganisationen Anwendung finden, einer Erweiterung bzw. sogar eines Ersatzes bedürfen (z. B. „Debrie-fing-Debatte“, Kap. 3.6.2). Gerade auch für den Bereich der Organisationen bzw. des Einsatzes notfallpsychologischer Tools in der psychologischen Praxis sind neue An-sätze erforderlich. Die Erkenntnisse, Model-le und Theorien aus der (Akut-) Psychotrau-

matologie und Notfallpsychologie bilden dafür den Hintergrund, das gut abgesicherte theoretische und praktisch erprobte Gerüst, werden jedoch in einem wesentlich breite-ren Bereich als bisher angewendet. Somit umfasst das vorliegende Buch die Anwen-dung der Notfallpsychologie und des not-fallpsychologischen Krisenmanagements auf individueller und organisationeller Ebe-ne – mit Schwerpunkt auf der psychosozia-len Beratung in Krisen und traumatischen Situationen. Zudem wird den immer wichti-ger werdenden Feldern der Primärpräventi-on und Resilienzförderung – auch in Betrie-ben und Organisationen – ausreichend Platz eingeräumt.

Die ausgewählten Autoren und Autorin-nen aus Wissenschaft und Praxis stellen zum Teil neue wissenschaftliche Ergebnisse und Konzepte vor, beziehen diese aber im-mer auf die praktische Anwendung. The-menbereiche wie eine Einführung in die Akutpsychotraumatologie, notfallpsycholo-gische und psychosoziale Begleitung von Traumabetroffenen, notfallpsychologische Interventionen in Systemen, Belastungen von Helfern und Helferinnen, professionel-les psychologisches Krisenmanagement in Organisationen und im Bildungsbereich, Kommunikation in der Krise, aber auch Be-wältigung von Krisen (Verursacherfragen, Kompensation) und Resilienzförderung sowie psychische Traumatisierungen bei Kindern und Jugendlichen werden in die-sem Buch aufgegriffen und für die psycholo-gische Praxis anwendungsorientiert – je-doch mit einer starken theoretischen Fun-dierung – aufbereitet.

Ziel ist es, ein Fachbuch für interessierte Psychologen und Psychologinnen sowie für

Gerngroß: Notfallpsychologie und psychologisches Krisenmanagement. ISBN: 978-3-7945-3043-4. © Schattauer GmbH

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VIII Vorwort

Fachkräfte aus anderen Bereichen bereit-zustellen, das auf wissenschaftlicher Grund-lage das erforderliche theoretische Wissen sowie die notwendigen Handlungskom-petenzen für eine professionelle Bewälti-gung von traumatischen Krisen auf indivi-dueller sowie auf organisationeller Ebene vermittelt.

Zielgruppe dieses Buches bilden vorran-gig Psychologen und Psychologinnen aus den verschiedenen Fachgebieten. Krisen-kompetenz ist nicht nur im klinischen All-tag gefordert, sondern auch Schul-, Arbeits-, Organisations- sowie Wirtschaftspsycholo-gen und -psychologinnen sind als Berater und Beraterinnen in Krisensituationen bzw. in der Durchführung präventiver Maßnah-men gefragt. In zweiter Linie richtet sich dieses Buch an alle Berufsgruppen, die als psychosoziale Berater und Beraterinnen mit Krisen und potenziell traumatisierenden Si-tuationen sowohl auf individueller als auch auf organisationeller Ebene konfrontiert sind – beispielsweise Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen, Pädagogen und Pädagoginnen, Arbeitsmediziner und Ar-beitsmedizinerinnen, aber auch interessierte Personen aus Wirtschaft, Einsatzorganisati-onen oder Behörden. Mit seiner starken

Ausrichtung auf die Praxis stellt das vorlie-gende Buch ein Handbuch für Praktiker und Praktikerinnen dar und soll fundiertes Hin-tergrundwissen sowie daraus abgeleitete Handlungsanleitungen zur Verfügung stel-len.

Das Zustandekommen dieses Buches war nur möglich durch die gute und professio-nelle Zusammenarbeit aller Autorinnen und Autoren und die tatkräftige Unterstützung vieler anderer Personen, für die ich mich herzlich bedanken möchte. Besonders zu Dank verpflichtet bin ich Eva Würdinger und Markus Gradwohl für ihr geduldiges kreatives und künstlerisches Engagement, Caroline Wellner für die Beantwortung kniffliger Fragen hinsichtlich Übersetzungen aus dem Englischen sowie Wolfgang Zan-gerl, der mir stets unermüdlich mit Rat und Tat zur Seite steht, aber auch allen, die durch ihren Zuspruch und ihre Ermunterungen einen wertvollen Beitrag geleistet haben.

Schließlich danke ich dem Verlag und vor allem Sandra Schmidt für ihre immer freundliche Begleitung und Bemühungen.

Wien, im August 2014Johanna Gerngroß

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1154.6 Der Notfall

Person sucht Trost oder eine andere Person, an der sie ihren Frust abladen kann. Ihr Si-tuationsmodell – wenn sie nicht zu dem Typ gehört, der auf Notfallsituationen mit for-maler Distanz zu sich und dem Vorfall re-agiert – ist auf ein Reden über die Betroffen-heit ausgerichtet und nicht auf das Rekonst-ruieren des Hergangs, der zu diesem Ereignis geführt hat. Das wird als massive Störung der bisherigen Erwartung erlebt.

Es muss den Helfenden gelingen, den Be-troffenen anzuzeigen, dass sie institutionell versorgt, durch die Organisation Hilfe erfah-ren und so von einem System betreut werden, dem sie sich anvertrauen können. Das öffnet dann einen Handlungsraum, in dem über weitere Handlungen gesprochen werden kann, wie sie die jeweilige Organisation zur Bewältigung des Vorfalls zur Verfügung hat.

4.5.8 Anschluss an die Normalität

Für den Helfer, die Helferin, der oder die auf die Kooperation mit dem oder der Betroffe-nen angewiesen ist, bedeutet das, er oder sie muss im Äußerungsverhalten nach An-schlussstellen suchen, durch die die Kom-munikationspraxis über die Person in eine andere überführt werden kann, welche ge-eignet ist, die Abweichung von der Normali-tät wieder neu zu bestimmen. Der Begriff der Normalität bedeutet aber nicht, dass der vorherige Zustand wieder hergestellt wer-den kann. Das wird nicht möglich sein. Der vorherige Zustand enthält aber Merkmale, die sich nicht unbedingt verändern müssen, und so lässt sich wieder Stabilität in den neuen Zustand hineinbringen, wenn es ge-lingt, solche Merkmale zu erkennen.

Ein dargebotenes Glas Wasser kann so ein Element bedeuten, wenn erkannt wird, dass man die Situation nicht alleine bewältigen muss, dass es Personen gibt, die sich mit sol-

chen Ereignissen auskennen und wissen, was zu tun ist. Kommunikation kann dann solche Elemente aufgreifen und hinsichtlich ihrer Wertigkeit thematisieren. Doch ein solches Umwandeln ist keineswegs sicher. Es kann auch der umgekehrte Fall eintreten, dass der oder die Betroffene sich mit seiner bzw. ihrer Situationsdefinition durchsetzt und ein kon-fliktärer Handlungsraum entsteht.

4.6 Der Notfall

4.6.1 Das Krankenhaus

Die bisherigen Ausführungen haben zu er-klären versucht, warum die Kommunika-tion in Notfallsituationen unter den ver-schiedenen Akteuren und Akteurinnen nicht automatisch zur Kooperation führt. Den Handelnden wird abverlangt, sich auf etwas ihnen Unbekanntes einzulassen und das kann wie eine Barriere wirken. Diese verstärkt sich, wenn eine Institution als rea-ler Ort wahrgenommen wird. Das tritt im-mer dann ein, wenn beispielsweise die von einem Notfall Betroffenen ein Krankenhaus aufsuchen müssen und so mit einem Hand-lungsfeld konfrontiert werden, das für sich eigene Regeln beansprucht, in denen Büro-kratie, Formalisierung, Hierarchie, Techni-sierung und die Unpersönlichkeit der Bezie-hungsformen das System begleiten (Baecker 2007, S. 238; von Eiff u. Stachel 2007, S. 130).

Eine alltägliche Situation ist das Benach-richtigen von Angehörigen, wenn einem Fa-milienmitglied etwas zugestoßen ist und die Verwandten ins Krankenhaus einbestellt werden, um sie über den Zustand des oder der Verunglückten zu informieren. Für die betroffenen Familienmitglieder besteht das Bedürfnis nach Klarheit darüber, ob die Si-tuation lebensbedrohlich ist. Das wiederum beinhaltet in der Regel auch eine hohe Be-

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116 4 Kommunizieren in Krisen

lastung des eigenen Lebenskonzepts. Auch auf die Kommunikation hat das Auswirkun-gen. Denn alles, was geäußert wird, unter-liegt Interpretationen, die zu klären versu-chen, inwieweit das eigene Leben durch den Vorfall existenziell betroffen ist.

Auf der anderen Seite werden die institu-tionellen Vertreter und Vertreterinnen – die Ärzte und Ärztinnen – damit konfrontiert, dass das Selbstverständnis der Institution Krankenhaus ihr Handlungsfeld technisch, bürokratisch und fachlich medizinisch bear-beitet. Das geschieht durch eine entspre-chende Kommunikation, die abklärt, was ihr Handeln rechtfertigt. Dafür braucht die Kommunikation Akzeptanz und darüber hi-naus die Zustimmung zu bestimmten Hand-lungen, die mit ihr vollzogen werden sollen.

Die Erwartungshaltungen differieren deutlich. Die Kommunikation, die das Ver-hältnis der Akteure und Akteurinnen kons-tituiert, hätte das Problem zu lösen, eine Si-tuation zu definieren, die für die Partner und Partnerinnen auf gleiche Weise kont-rollierbar wäre. Im Alltag geschieht das, in-dem die Partner sich gegenseitig Eigenschaf-ten zuschreiben, durch die sie eine ihnen bekannte Beziehung erzeugen und Rollen-merkmale nutzen, welche den Handlungs-raum der Akteure und Akteurinnen vorher-sehbar machen.

4.6.2 Fremde Welten

Wer von der Polizei benachrichtigt wird, dass ein Verwandter bzw. eine Verwandte einen schweren Verkehrsunfall hatte, wird mit emotionaler Betroffenheit darauf reagie-ren. Das gilt besonders für Eltern, deren Kind verunglückt ist. Wenn sie dann gebe-ten werden, mit dem Krankenhaus in Kon-takt zu treten, wohin ihr Kind eingeliefert worden ist, um Näheres über die Verletzung

zu erfahren, werden sie mit einer ihnen fremden Welt konfrontiert. Denn Kontakte zur Polizei oder zum Krankenhaus gehören normalerweise nicht zum Alltag, wenn die so Angesprochenen nicht zufällig beruflich mit diesen Institutionen zu tun haben.

Kommunikativ entsteht Fremdheit. Die Betroffenen können ihren Kontakt nicht da-mit eröffnen, dass sie der Institution erklä-ren, dass sie ihnen unheimlich erscheine oder dass sie ihr misstrauten. Denn die Ins-titutionen selbst haben ihre Routinen für den Umgang mit solchen Situationen entwi-ckelt. Diese sind für die Mitglieder der Ein-richtung nicht ohne Weiteres zu umgehen, weil dadurch das Selbstverständnis der Or-ganisation zum Thema gemacht werden könnte (Baecker 2007, S. 252 f.). So bleibt für die Betroffenen sehr oft das Gefühl der Überforderung im Umgang mit der Institu-tion, weil sie Organisation und Handlungs-feld nicht oder nur rudimentär durchbli-cken.

Der Umgang mit dieser Fremdheit wird auch nicht dadurch überwunden, dass Ärzte und Ärztinnen sehr rücksichtsvoll auf die Betroffenen eingehen und Verständnis für ihre Lage zeigen. Das entlastet die Kontakt-aufnahme für den Moment der Begegnung. Die Kommunikation, die sich dann an-schließt, unterliegt aber den Rahmenbedin-gungen des Handlungsfeldes Krankenhaus und diese beinhalten nicht die Kommunika-tionspraxis einer psychologischen Krisenbe-wältigung. Sie würde anderen Regeln folgen, die zur Lösung des vorliegenden Problems der Mitteilung über einen Notfall nicht ge-eignet sind. Ein Wissen darüber, welcher Kommunikation eine Institution folgt und welche Komplikationen sie damit im Um-gang mit den „Fremden“ auslöst, kann dem Krankenhauspersonal helfen, einen klareren Blick auf die Handlungsmöglichkeiten ihres Gegenübers zu gewinnen. So ist leichter ab-

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1174.6 Der Notfall

schätzbar, warum bestimmte Kooperations-vorhaben nicht oder nur schwer umsetzbar sind (Baecker 2007, S. 241 ff.).

4.6.3 Parallele Kommunikation

Episode 11: Teil 1

A = behandelnder Arzt, M = Mutter

A: Guten Tag, ich bin Dr. R. (reicht M die Hand)

M: (reicht A die Hand) Was ist passiert? Der Junge war schon in der Früh so nervös. Ich sage ihm immer, lass dir mehr Zeit, aber er ist eben hippelig wie sein Vater und dann passiert was. Es passiert immer was mit dem Kind.

A: Ich denke …

M: Gerade letzte Woche auch.

A: Ich …

M: Er wollte unbedingt nochmal zum Volley-ball.

A: Ich …

M: Er macht viel Sport.

A: Wir werden ihren Sohn …

M: Es ist schlimm? Ja?

A: Wir wissen das noch nicht genau.

M: Ich mache mir so Vorwürfe, mein Mann ist aber genauso.

A: Wir müssen …

1 Das Dokument: Es ist eine rekonstruierte Episo-de, über die ein behandelnder Arzt bei einer Weiter-bildung berichtet hat. Die Rekonstruktion versucht den Hergang des Gesprächs zu simulieren, um so einen gewissen Eindruck der Abfolge einzelner Bei-träge und ihrer Wirkung auf den Gesamtverlauf zu gewinnen. Aus ethischen Gründen ist das empirische Erheben von Material in diesem Handlungsfeld nicht zu verantworten.

Die Mutter eines verunglückten Schuljun-gen wurde von der Schule benachrichtigt, dass ihr Kind beim Sport einen schweren Unfall hatte und jetzt im Krankenhaus be-handelt wird. Sie solle sich mit dem Kran-kenhaus in Verbindung setzen. Das hat sie getan und ihr wurde empfohlen, mit dem behandelnden Arzt am besten vor Ort zu sprechen. Diesem Rat ist sie gefolgt. Sie trifft den Arzt auf dem Gang zu seinem Dienst-zimmer und beide begrüßen sich.

Der Kontakt wird durch den üblichen Grußaustausch aufgenommen. Der Arzt fin-det eine Person vor, die auf den Unfall mit einem Fluss von Äußerungen reagiert, die Hinweise geben, wie die Mutter mit dem Er-eignis umgeht. Ihre Äußerungen lassen er-kennen, wie sie das Geschehen als einen Vorfall behandelt, der zu verhindern gewe-sen wäre. Sie gibt dabei keinen Raum zu klä-ren, was genau sie damit meint. Versuche des Arztes, darauf eingehen zu wollen, miss-lingen mehrfach.

Das Äußerungsverhalten der Frau er-zeugt eine Situation, in der sie sich als Per-son sichtbar macht. Dabei thematisiert sie ihr Verhalten gegenüber dem Kind als das einer Frau, die in der Rolle der fürsorgenden Mutter auftritt. Aus der ärztlichen Sicht ent-steht dadurch ein Sinnüberschuss, der nicht unbedingt aufgearbeitet werden kann. Für ein Handlungsfeld Krankenhaus bedeutet das eher eine Störung, die ignoriert werden sollte. Mit den Äußerungsansätzen „ich“ und „wir“ verweist der Arzt auf den für ihn gültigen Handlungsfokus. Seine Kommuni-kation bearbeitet den Unfall als einen me-dizinisch zu behandelnden Auftrag und dar-über hinaus ist er rechtlich verpflichtet, Auskunft zu geben. Das sollte so erfolgen, dass die hier angesprochene Person als Er-ziehungsberechtigte sein Tun akzeptieren kann.

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V

Geleitwort

Die Psychologie, von der Hermann Ebbing-haus meinte, dass sie auf eine lange Vergan-genheit, aber eine nur kurze Geschichte zu-rückblicken kann, hat gleichwohl in ihrer kurzen Geschichte eine Fülle an verläss-lichen Erkenntnissen sichern können. Wie wir Informationen aufnehmen, Entschei-dungen treffen, richtig agieren und reagie-ren, für alles das kann man auf abgesicherte Fakten der psychologischen Forschung zu-rückgreifen. Vergleichsweise neu ist da gegen die Einsicht, dass nahezu alle diese Gesetz-mäßigkeiten durch Untersuchung und Be-obachtung von Personen gewonnen wur-den, die sich in einer ganz bestimmten, „normalen“ Bewusstseinslage befunden haben. Es hat nicht geringe Irritation ausge-löst, als zunehmend Daten auftauchten, die erkennen ließen, dass die bisherige Psy-chologie nur für diesen „Normalzustand“ geschrieben worden war. Befindet sich je-mand in einer belasteten Situation, fühlt er sich bedroht oder ist er angsterfüllt, können viele der festgeschriebenen Gesetze ihre Gültigkeit verlieren. So mag es beispiels-weise sein, dass Leistungen, die jemand un-ter neutralen, ruhigen Bedingungen ohne Schwierigkeiten zu erbringen vermag, in einer Belastungssituation verlorengehen und seine Entscheidungsfähigkeit völlig blockiert ist.

Eine besondere Problematik stellt dabei die Tatsache dar, dass sich ein und dieselbe Belastung höchst unterschiedlich auswirken kann. Für manche kann sie eine Leistungs-blockade sein (Selye prägte den Begriff „Distress“), für andere aber sogar einen leistungssteigernden Impuls darstellen („Eustress“). Schon immer war ein wichtiges

Anliegen von Blaulichtorganisationen her-auszufinden, ob jemand in einer Krisensitu-ation kontrolliert und entscheidungssicher agieren wird. Bald gelang es, dafür geeignete diagnostische Verfahren zu finden sowie auch den nächsten, wichtigen Schritt von der Diagnose zur Therapie zu gehen und Techniken zu entwickeln, um Personen auf eine Belastung vorzubereiten bzw. nach ei-ner solchen zu unterstützen und zu stabili-sieren.

Eine umfassende Übersicht über diese Erkenntnisse sowie über Psychotraumatolo-gie, Notfallpsychologie und psychologisches Krisenmanagement zu geben, stellt schon allein ein überaus verdienstvolles Unterfan-gen dar – ebenso, dass neben Fragen der notfallpsychologischen Betreuung und der Akutintervention auch Probleme der Psy-chischen Ersten Hilfe und der Psychosozia-len Notfallhilfe abgehandelt werden. Doch besonders bemerkenswert ist, dass nicht nur der wichtige Schritt zur Primärprävention und Resilienzförderung gegangen, sondern auch der bislang viel zu wenig beachtete Blickpunkt von der individuellen zur orga-nisationalen Ebene thematisiert wird. Es ist wohl der langjährigen Berufserfahrung der Herausgeberin die Erkenntnis zu danken, dass viele Ergebnisse der Katastrophenfor-schung auch auf Krisen in Institutionen an-wendbar sind und dasselbe Inventar von Werkzeugen auch im bislang zu wenig beachteten Krisenmanagement in Organisa-tionen eingesetzt werden kann. Dieser Brü-ckenschlag gelingt nicht zuletzt deshalb, weil die gesamte Darstellung konsequent das im Schlusskapitel ausgesprochene Motto einer „Kunst des kreativen Vergessens“ ernst

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VI Geleitwort

nimmt und – der dort ausgesprochenen Feststellung folgend, dass die wichtigste Fertigkeit darin besteht, Unwichtiges erfolg-

reich zu ignorieren – den Leser und die Leserin durch eine wohlüberlegte Auswahl von praxisrelevanten Informationen führt.

Univ.-Prof. Dr. Giselher Guttmann Wirkliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften

Professor Emeritus der Universität WienPräsident der Österreichischen Gesellschaft für wissenschaftliche Hypnose

Gründungsrektor der Universität für Humanwissenschaften im Fürstentum LiechtensteinGründungsdekan der Sigmund Freud Privatuniversität Wien (SFU)

Vizerektor (Lehre) der SFU Wien

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